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Anne McCaffrey

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Beschreibung

Der Meisterharfner von Pern

Die Zeit des Fädenfalls rückt näher, doch einige der kleineren Gutsbesitzer schätzen die Gefahr gering und lehnen es ab, ihre Untertanen gegen die Invasion zu wappnen. Sie verachten die Harfner, deren Aufgabe es ist, an die Traditionen zu erinnern, und halten die Drachenreiter, die einzige Waffe gegen die tödlichen Sporen aus dem All, für ein schmarotzendes, faules Gesindel. In dieser Zeit der Konflikte wächst Robinton heran, der sich schon in jungen Jahren als ein begnadetes musikalisches Talent hervortut. Trotz harter Schicksalsschläge gibt er nicht auf, erobert sich die Sympathien der Bewohner von Pern und wird schließlich zum Meisterharfner gekürt …

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ANNE McCAFFREY

 

 

 

DRACHENKLÄNGE

Die Drachenreiter von Pern

Band 15

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Die Zeit des Fädenfalls rückt näher, doch einige der kleineren Gutsbesitzer schätzen die Gefahr gering und lehnen es ab, ihre Untertanen gegen die Invasion zu wappnen. Sie verachten die Harfner, deren Aufgabe es ist, an die Traditionen zu erinnern, und halten die Drachenreiter, die einzige Waffe gegen die tödlichen Sporen aus dem All, für ein schmarotzendes, faules Gesindel. In dieser Zeit der Konflikte wächst Robinton heran, der sich schon in jungen Jahren als ein begnadetes musikalisches Talent hervortut. Trotz harter Schicksalsschläge gibt er nicht auf, erobert sich die Sympathien der Bewohner von Pern und wird schließlich zum Meisterharfner gekürt …

 

 

 

 

Die Autorin

Anne McCaffrey wurde am 1. April 1926 in Cambridge, Massachusetts, geboren, und schloss 1947 ihr Slawistik-Studium am Radcliffe College ab. Danach studierte sie Gesang und Opernregie. In den Fünfzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, ab 1956 widmete sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 1967 erschien die erste Story über die Drachenreiter von Pern, »Weyr Search«, und gewann den Hugo Award im darauffolgenden Jahr. Für ihre zweite Drachenreiter-Story »Dragonrider« wurde sie 1969 mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Anne McCaffrey war die erste Frau, die diese beiden Preise gewann, und kombinierte die beiden Geschichten später zu ihrem ersten Drachenreiter-Roman »Die Welt der Drachen«. 1970 wanderte sie nach Irland aus, wo sie Rennpferde züchtete. Bis zu ihrem Tod am 21. November 2011 im Alter von 85 Jahren setzte sie ihre große Drachenreiter-Saga fort, zuletzt zusammen mit ihrem Sohn Todd.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

 

THE MASTERHARPER OF PERN

 

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1998 by Anne McCaffrey

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Karte: Andreas Hancock

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-20886-8V002

 

 

 

Weil sie mich stets wohlwollend unterstützt hat,

widme ich dieses Buch in aufrichtiger Zuneigung

Shelly Shapiro, sowie ihrem Ehemann,

Tom Hitchins, und ihrer Tochter Adrianna.

Kapitel 1

 

»Eines ist sicher«, meinte Betrice trocken, als sie das zappelnde, kreischende Baby in das Tuch aus feinem Leinen wickelte, das seine Mutter eigens zu diesem Zweck gewebt hatte, »er hat deine Lungen geerbt, Petiron. Hier! Ich muss mich jetzt um Merelan kümmern.«

Sie legte das brüllende, die kleinen Fäustchen ballende Baby, dessen Gesicht von der Anstrengung hochrot angelaufen war, in die Arme seines erschrockenen Vaters.

Petiron wiegte den Säugling, so wie er es bei anderen Vätern gesehen hatte, und trug ihn ans Fenster, um seinen Erstgeborenen gründlich in Augenschein zu nehmen.

Er bemerkte die Blicke nicht, die die Hebamme und ihre Gehilfin tauschten, und er bekam auch nicht mit, wie die jüngere Frau lautlos nach draußen huschte, um eine Heilerin zu holen. Merelans Blutungen ließen sich nicht stillen. Die Hebamme vermutete einen Dammriss; das Baby war in Steißlage geboren worden und hatte einen außergewöhnlich großen Kopf.

Eilig packte sie in Tücher gewickeltes Eis um Merelans schmale Hüften. Es war eine lange, schwere Geburt gewesen. Merelan lag völlig erschöpft im Bett, das Gesicht weiß und eingefallen. Am meisten sorgte sich Betrice wegen des starken Blutverlusts. Eine Transfusion stellte ein großes Risiko dar. Obwohl Blut immer wie Blut aussah, schien es bei jedem Menschen irgendwie anders zu sein. Vor langer Zeit hatten die Heiler die Unterschiede gekannt und wussten, welche Sorten von Blut sich miteinander vertrugen. Jedenfalls hatte Betrice davon gehört.

Betrice hatte geahnt, dass Merelan die Entbindung nicht leicht fallen würde, denn sie konnte die Größe und die Lage des Kindes im Mutterleib ertasten, und deshalb hatte sie in der Heilerhalle vorsorglich um Beistand ersucht. Es gab eine Lösung aus speziellen Salzen, die einem Patienten halfen, schwere Blutverluste zu überstehen.

Betrice schaute kurz zum Fenster hinüber und schmunzelte ein wenig über die Unbeholfenheit des frisch gebackenen Vaters. Petiron war ein ausgezeichneter Harfner und konnte auf Versammlungen stundenlang sein Instrument spielen, doch im Umgang mit Babys musste er noch viel lernen. Er konnte von Glück sagen, dass er überhaupt einen Sohn in den Armen halten durfte, denn Merelan hatte bereits drei Fehlgeburten hinter sich. Manche Frauen waren zum Gebären geschaffen, doch Merelan gehörte nicht zu ihnen.

Merelan öffnete die flatternden Lider und dann strahlten ihre Augen, als sie das kräftige Brüllen ihres Kindes hörte.

»Du hast es überstanden, und euer Sohn ist gesund und munter. Jetzt darfst du dich ausruhen, Sängerin Merelan«, redete Betrice beruhigend auf die junge Frau ein und streichelte ihre Wange.

»Mein Sohn ...«, flüsterte Merelan. Ihre sonst so melodische Stimme klang rau vor Entkräftung. Sie drehte das Gesicht in die Richtung, aus der das Kindergeschrei ertönte, und ihre Finger zuckten auf dem blutigen Laken.

»Bald kannst du ihn bei dir haben. Zuerst werde ich dich waschen ...«

»Ich muss ihn in den Armen halten«, forderte Merelan matt, aber bestimmt.

»Du wirst ihn noch oft genug an dein Herz drücken, das verspreche ich dir«, erwiderte Betrice nicht ohne Strenge und wünschte sich inbrünstig, dass sie die Wahrheit sprach.

In diesem Moment traten Sirrie und die Heilerin ein. Betrice atmete erleichtert auf, als sie Ginia sah, die eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit mitbrachte. Diese den Blutverlust ausgleichende Lösung konnte der jungen Mutter das Leben retten.

»Petiron, nimm dein plärrendes Balg und zeig ihn den anderen«, befahl Ginia dem nervösen Vater in barschem Ton. »Sie warten schon in der Halle und wollen ihn sich ansehen. Das Gebrüll ist ja nicht zu überhören. Und nun ab mit euch!«

Petiron machte sich nur zu gern aus dem Staub. Er hatte nach Kräften geholfen, Merelans Rücken massiert und ihr während der langen Wehen den Schweiß von der Stirn getupft; nun sehnte er sich nach einem Glas Wein, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Schluss hatte er um Merelans Leben gefürchtet, vor allem unmittelbar nach der Geburt, als sie wie leblos in dem blutbefleckten Bett lag. Man würde ihn nicht fortschicken, wenn seine Frau noch in Gefahr wäre, davon war er fest überzeugt. Und noch etwas wusste er mit absoluter Bestimmtheit: Nie wieder würde er Merelan einem solchen Risiko aussetzen. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie gefährlich das Kinderkriegen war.

»Das Organ hat der Kleine von ihm!«, erklärte Ginia mit grimmigem Lächeln. Sie beugte sich über Merelan, um sie zu untersuchen. »Sie hat wirklich einen Dammriss. Du kannst ihr jetzt etwas Fellissaft einflößen, Betrice. Sirrie, binde ihren Arm an der Schiene fest. Sie braucht Flüssigkeit. Ich wünschte, wir wüssten mehr über Bluttransfusionen. Denn was sie jetzt dringend brauchte, ist richtiges Blut. Du weißt ja wohl, wie du mit dem Nadeldorn eine Vene anstichst, Sirrie, doch wenn es Probleme gibt, frag mich ruhig.«

Sirrie nickte und begann mit den Vorbereitungen, während Ginia den Dammriss behandelte. Das Protestgeheul des Babys war immer noch zu hören, trotz der Entfernung, die zwischen der Gebärstube und der Großen Halle lag.

»Sie wehrt sich gegen den Fellissaft, Ginia«, verkündete Betrice besorgt.

»Was sagt sie?«

»Sie will ihr Baby.« Stimmlos formte Betrice die Worte, die Ginia ihr von den Lippen ablas. »Sie glaubt, dass sie sterben wird.«

»Nicht, solange ich bei ihr bin!«, entgegnete Ginia energisch. »Von mir aus holt das Kind. Es kann ihr nicht schaden, wenn sie es an die Brust legt, und durch das Stillen zieht sich die Gebärmutter zusammen. Auf jeden Fall trägt es dazu bei, sie zu beruhigen, und darauf kommt es mir im Moment am meisten an.«

Betrice ging selbst in die Große Halle und brachte den lauthals schreienden Jungen zurück. Angesichts seines zähen Lebenswillens musste sie breit lächeln.

»Sein Kampfgeist wird sich bestimmt auf sie übertragen«, meinte sie und legte das Baby neben die junge Mutter. Instinktiv nahm Merelan ihr Kind in den Arm. Der Junge fand sofort die Brust und begann zu saugen. Und Merelan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich wusste, dass es ihr hilft«, flüsterte Betrice und staunte über die plötzlich zurückkehrende Farbe in Merelans Wangen.

»Ich habe schon seltsamere Dinge erlebt«, entgegnete Ginia und blickte hoch. »So. Mehr kann ich nicht tun ... außer Petiron ans Herz legen, dass sie nicht noch einmal schwanger werden darf. Vermutlich könnte sie gar nicht mehr empfangen, aber er muss sich beherrschen.«

Die drei Frauen blickten einander an und lächelten, denn die ganze Burg wusste, wie sehr dieses Paar einander liebte. Auf ganz Pern kursierten Balladen, in denen besungen wurde, wie Merelan und Petiron sich gegenseitig anhimmelten.

»Hierzulande gibt es genug musikalische Talente, so dass Petiron es nicht nötig hat, einen ganzen Chor zu zeugen«, stellte Ginia fest und stand auf.

Die Frauen bezogen das Bett neu. Währenddessen rührte sich Merelan kaum. Ganz still lag sie da, ihr Neugeborenes im Arm. Als Ginia und Betrice den Eindruck gewannen, dass sie sie getrost in Sirries Obhut lassen konnten, war sie eingeschlummert, sah jedoch längst nicht mehr so blass aus.

»Eines kann ich dir sagen«, vertraute Betrice der Heilerin an, »sie wird ganz und gar nicht begeistert sein, sich auf dieses eine Kind beschränken zu müssen.«

»Sie kann ja welche in Pflege nehmen. Es ist ohnehin viel besser, wenn Kinder zusammen mit Geschwistern aufwachsen, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr Merelan ihren Sprössling verwöhnen wird. Nächstes Jahr kümmern wir uns darum. Das heißt, falls sie bis dahin wieder vollständig genesen ist.«

Betrice schnaubte durch die Nase. »Sie soll sich anstrengen. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.«

»Das geht uns doch allen so!«

 

Petiron untersagte es seiner Frau jedoch, fremder Leute Kinder großzuziehen. Es fiel ihm schon schwer genug, Merelan mit ihrem gemeinsamen Sohn zu teilen, und er wollte nichts davon wissen, wenn andere ihm erklärten, Robinton, so nannten sie ihren Jungen im Gedenken an Merelans Vater, Roblyn, sei ein artiges und anspruchsloses Kind.

»Früher hielt ich Petiron immer für großzügig«, erklärte Betrice ihrem Mann, dem Meisterharfner Gennell.

»Und was hat deinen Meinungsumschwung bewirkt?«, fragte Gennell mit gelindem Staunen.

Sie legte eine Pause ein und schürzte die Lippen, denn sie war keine Tratsche. »Ich finde, er ist eifersüchtig, weil Merelan so viel Zeit mit Robie verbringt.«

»Tatsächlich?«

»Dabei schränkt sie sich noch ein, denn sie scheint seinen Unmut zu spüren und bemüht sich, ihn zu besänftigen. Dabei hat die junge Mardy trotz all meiner Warnungen schon wieder ein Kind in die Welt gesetzt, und ihr drittes ist noch nicht mal einen vollen Planetenumlauf alt.« Betrice seufzte resigniert. »Merelan könnte einspringen ... wenn Petiron es ihr nur erlaubte.«

»Wie alt ist eigentlich der kleine Robinton?«

»Demnächst wird er einen Planetenumlauf alt. Ein stämmiger Bursche, er kann schon laufen. Für Merelan wäre es ein Leichtes, sich tagsüber um einen Säugling zu kümmern, der in der Wiege liegt, und für Mardy wäre es eine Entlastung. Robie ist ein lieber, unkomplizierter Bub, genauso umgänglich wie seine Mutter.« Betrice strahlte in beinahe mütterlichem Stolz.

»Misch dich am besten nicht ein, Betrice«, riet ihr Gennell. »Zur Zeit herrscht große Aufregung wegen Petirons neuer Moreta-Kantate zur Sonnenwendfeier, bei der Merelan den wichtigsten Solopart übernimmt.«

»Es gefällt mir überhaupt nicht, dass sie so hart daran arbeitet, Gen, denn im Grunde hat sie sich immer noch nicht von der schweren Geburt erholt ...«

Gennell tätschelte die tüchtigen Hände seiner Frau. »Petiron hat die Musik eigens für sie geschrieben, und auf ganz Pern gibt es keinen zweiten Sopran mit ihrem Stimmumfang. Ich kann verstehen, dass er eifersüchtig auf jeden ist, der die Zeit seiner Frau in Anspruch nimmt.«

»Aber er darf ganz nach Lust und Laune über ihre Zeit verfügen!«, konterte sie spitz.

»Ach, weißt du, es gibt mehr als einen Weg, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.« Schmunzelnd blickte er ihr in die Augen.

»Fängst du schon wieder damit an?«, erwiderte Betrice gutmütig.

»Jetzt, wo du mich auf den Gedanken gebracht hast ...«, witzelte er gut gelaunt. »Aber im Ernst, Betrice, Petiron ist kein übler Kerl. Und er liebt seinen Jungen von ganzem Herzen.«

Betrice kniff die Lippen zusammen. »Glaubst du?«

»Zweifelst du etwa daran?«

Sie maß ihren Mann mit einem kritischen Blick. »In der Tat. Ich habe diesbezüglich meine Zweifel.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich brauche ihn nur mit dir zu vergleichen. Du hast dich um jedes unserer fünf Kinder aufopfernd gekümmert, und alle sind gut geraten. Freilich, ab und zu schaut Petiron in Robies Bettchen hinein, und er sieht auch hin, wenn der Kleine auf dem Hof spielt. Aber nur, wenn man ihn daran erinnert, dass er ein Kind gezeugt hat.«

Gennell kaute auf seiner Unterlippe und nickte bedächtig. »Nun ja, ich verstehe, was du meinst. Aber ich glaube nicht, dass es Petirons Vaterinstinkten förderlich ist, wenn man Merelan Mardys jüngsten Sprössling aufhalst. Vor allen Dingen, weil Petiron wirklich mit den Proben für die Sonnenwendfeier vollauf beschäftigt ist.«

»Diese ewigen Proben! Hoffentlich bricht Merelan vor der Feier nicht vor Entkräftung zusammen!«

»Ich kann und werde dafür sorgen, dass das nicht passiert«, warf Gennell hastig ein. »Und jetzt lass mich bitte allein.« Als sie sich zum Gehen wandte, gab er ihr einen liebevollen Klaps auf das Hinterteil, ehe er sich wieder der Aufgabe widmete, die frisch beförderten Gesellen den Burgen und Hallen zuzuteilen, die um ihre Dienste ersuchten.

 

Merelan sang den schwierigen Part der Moreta in der Kantate, die zur Sonnenwendfeier aufgeführt wurde, und sie bewältigte die Kadenzen mit einer Leichtigkeit, als handele es sich um schlichte Melodien. Ihre seelenvolle Stimme und die Mühelosigkeit ihres Vortrags entzückten das Publikum sowie Petiron.

Selbst die Bewohner der Halle, die sie ständig üben hörten und ihre Fähigkeiten kannten, spendeten ihr stehende Ovationen. Merelan beherrschte nicht nur eine perfekte Atemtechnik, die ihren Koloratursopran unterstützte, sie legte auch so viele Emotionen in ihre Stimme, dass nicht wenige Zuhörer zu Tränen gerührt waren, als die letzten Worten verklangen, mit denen sie Moretas Ende beschrieb, die mit ihrem Drachen ein letztes Mal ins Dazwischen und in den Tod sprang. Der Burgherr von Fort und seine Gemahlin eilten vor Begeisterung zur Bühne, um sicher zu gehen, dass Merelan ihr überschwängliches Lob hörte.

Petiron strahlte, als sie bescheiden die Komplimente entgegennahm und das Publikum dezent darauf hinwies, dass es ihr Freude bereitete, die Kompositionen ihres Mannes zu interpretieren. Er schien nicht zu sehen, wie blass sie war. Doch Betrice bemerkte es, und in der kurzen Pause, in der die Chormitglieder, die für den nächsten Teil des Programms nicht gebraucht wurden, ihre Plätze verließen, reichte sie der Sängerin einen wirksamen Stärkungstrunk. Merelan würde später noch einmal auftreten, aber mit einem weniger kräftezehrenden Repertoire, und während der Männerchor in Aktion trat, durfte sie sich ausruhen.

Betrice behielt die Sängerin aufmerksam im Auge, und zu ihrer Erleichterung sah sie, wie allmählich Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. Und als sie zum Abschluss der Feier aufstand und einen Diskantpart sang, machte sie nicht mehr einen so erschöpften Eindruck wie zuvor.

Nach den musikalischen Darbietungen, als eine freie Fläche für das allgemeine Tanzvergnügen geschaffen wurde, suchte Lady Winalla, die Burgherrin von Fort, Betrice auf.

»Geht es der Meistersängerin Merelan nicht gut, Betrice? Als Grogellan und ich mit ihr sprachen, zitterte sie so stark, dass ich Angst hatte, ihre Hand loszulassen.«

»Ich verabreichte ihr ein stärkendes Getränk«, erwiderte Betrice so unverbindlich wie möglich. Sie rechnete es Lady Winalla hoch an, dass sie sich Sorgen machte, doch das war eine Angelegenheit der Harfnerhalle und ging die Burg nichts an. »Sie legt ihre ganze Kraft in ihren Gesang, und das wirkt sich natürlich aus.«

»Hmm, gewiss doch, das wird es sein.« Winalla verstand den Wink und ließ Betrice stehen, um sich anderen Gästen zu widmen.

Als Merelan bald darauf an einer fiebrigen Erkältung und Husten erkrankte, schien Petiron der Einzige zu sein, der sich darüber wunderte.

»Manchmal glaube ich, der Mann liebt sie nur wegen ihrer Stimme«, erklärte Betrice erbost, als sie nach einer Krankenwache am Bett der Sängerin in ihr eigenes Quartier zurückkehrte.

»Ihre musikalische Begabung spielt für Petiron gewiss eine wichtige Rolle«, räumte Gennell ein. »Außer ihr bewältigt keine die schwierigen Gesangspartituren, die er komponiert. Doch darüber hinaus bedeutet sie ihm sehr viel.« Er räusperte sich. »Vom ersten Augenblick an, als sie von Süd-Boll zu uns kam, um mit ihrer Ausbildung zu beginnen, war er von ihr hingerissen. Er vergötterte sie schon, als noch keiner von uns ahnte, welch überragendes Talent sie besitzt.« Er blickte in die Dunkelheit, die der matte Schein des Leuchtkorbs neben dem Bett nicht mehr erreichte und erinnerte sich an den Moment, als er zum ersten Mal die herrliche Stimme hörte. Die gesamte Harfnerhalle hatte innegehalten, um verzückt zu lauschen.

Betrice gluckste vergnügt, als sie unter die neue Pelzdecke kroch, ein Geschenk der frisch gebackenen Gesellen zur Sonnenwende. Die einzelnen Fellstücke waren zu einem wunderschönen Muster zusammengenäht. Mit der Hand strich sie über die Umrandung aus seidenweichem Haar. »Noch nie zuvor habe ich einen so verliebten Mann gesehen. Er starrte sie nur an. Und sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Wenn er nicht ständig diesen mürrischen Zug um den Mund hätte, sähe er gar nicht übel aus. Zum Glück war Agust ihr Gesangslehrer, sonst wäre sie nicht über Wald- und Wiesenliedchen hinausgekommen.«

»Ich weiß noch, wie Petiron dauernd im Hof herumlungerte und ihr beim Proben zuhörte, als hätte er nichts anderes zu tun«, meinte Gennell und streckte den Arm aus, um den Leuchtkorb zu schließen. Gedankenverloren tätschelte er Betrices Schulter, dann klopfte er sein Kissen zurecht, ehe er den Kopf darauf legte.

 

Gerade als Gennell dachte, er hätte die Frage geklärt, welcher Geselle wohin geschickt würde, verlangten weitere Burgherren nach ausgebildetem Personal, das ihm indessen fehlte. In diesem strengen Winter konnte man es den Gesellen nicht zumuten, von einer Burg zur nächsten zu ziehen und überall nur vier Siebenspannen zu bleiben. Eine gleichmäßige Verteilung ihrer Dienste kam wegen des schlechten Wetters nicht infrage. Allerdings stand jeder Familie das Recht auf Unterricht und Bildung zu. Man musste ihnen die Lehrballaden beibringen, damit jeder seine vom Gesetz festgelegten Ansprüche und Pflichten kannte.

Er sehnte sich nach den Zeiten, die mittlerweile Hunderte von Planetenumläufen zurücklagen, als die sechs Weyr von Pern den bedeutendsten Hallen und Felsenfestungen Drachen für Transportzwecke bereitstellen. An der Ostküste gab es immer noch den Benden-Weyr, und Lord Maidir konnte per Drache selbst die entlegensten Burgen und Versammlungen besuchen, wann immer ihm der Sinn danach stand. Doch der Fort-Weyr war seit über vierhundert Planetenumdrehungen verwaist, und keiner wusste so recht, warum.

Gennell hatte Einsicht in die Berichte genommen, die in den Archiven der Harfnerhalle und Burg Fort aufbewahrt wurden, und lediglich einen einzigen knappen Eintrag entdeckt, der kurz nach dem letzten Vorbeizug des Roten Sterns stattfand.

»Am fünften Tag des siebenten Monats im ersten Planetenumlauf nach dem Vorbeizug bestellte man den Meisterharfner in den Fort-Weyr.«

Das war alles. Eine unergiebige, geheimnisvolle Notiz. Bei ähnlichen Anlässen, wenn man den Meisterharfner in den Weyr gebeten hatte, wurde der Grund für den Besuch ausführlich erklärt.

Der nächste Vermerk stammte vom damaligen Meisterharfner Creline und war mehr als zwei Monate später datiert. Etwas höchst Merkwürdiges hatte sich zugetragen. Die Zehnt-Karawane mit den Vorräten brach pünktlich von Burg Fort auf, doch als sie beim Weyr anlangte, war dieser leer und verlassen, nur auf dem Abfallhaufen fand sich jede Menge zerbrochenes Geschirr.

Andere Burgherren erzählten, dass die Flaggen, die man hisste, wenn man die Unterstützung der Drachen anforderte, unbeachtet blieben; doch während man sich einerseits über die Nachlässigkeit ärgerte, waren die Menschen nach einer fünfzig Planetenumdrehungen dauernden Phase des Fädenfalls viel zu erleichtert ob des Endes dieser Plage, dass sie sich über die fehlenden Drachen am Himmel keine Gedanken machten. Ihnen genügte es, dass sie nicht länger die Fäden bekämpfen mussten.

Ein Konklave war einberufen worden, als endgültig feststand, dass fünf der sechs Weyr unbewohnt waren. Auch die beiden Weyrführer von Benden standen vor einem Rätsel, und sie vermochten sich das Verschwinden der Drachen mitsamt ihrer Reiter und Reiterinnen nicht zu erklären. Nunmehr war Benden der einzige noch verbliebene Weyr.

Es entwickelten sich viele Theorien. Die vielleicht plausibelste besagte, eine geheimnisvolle Krankheit habe die Weyr befallen und Drachen sowie deren menschliche Gefährten dahingerafft. Doch diese Auslegung berücksichtigte nicht die abwesenden Weyrleute und das Fehlen sämtlicher Habe und Gebrauchsgüter.

Der Benden-Weyr schickte sogar ein ganzes Geschwader los, um den Südkontinent abzusuchen, für den Fall, dass sich alle fünf Weyr – aus unerfindlichen Gründen – dazu entschlossen hätten, sich trotz der Fährnisse und Risiken auf der südlichen Halbkugel niederzulassen.

Noch viele Planetenumläufe später diskutierte man heftig über dieses Thema, ohne hinterher klüger zu sein.

Dann schuf Creline ein neues Werk, das er »Das Lied der Fragen« nannte, und das der Sammlung der Lehrballaden einverleibt werden sollte, die quasi als Pflichtfach auf Pern unterrichtet wurden. Gennell nahm sich vor, das Lied neuerlich in diese Kategorie einzustufen, da zwischenzeitlich jemand – er wollte keinen Namen nennen – die lehrreiche Weise aus dem Unterrichtsplan gestrichen hatte. Es war passiert, ehe er zum Meisterharfner ernannt wurde. Derlei Dinge kamen immer wieder mal vor, doch in diesem Fall galt es, den Vorgang rückgängig zu machen. Ihm ging nicht aus dem Kopf, wie wichtig Creline diese Ballade damals fand. Ein eigentümliches Lied mit einer Melodie, die unter die Haut ging. Es lohnte sich, es wieder auszugraben und allen zugänglich zu machen.

Ein neuer Fädeneinfall wurde erst in ungefähr fünfundfünfzig Planetenumläufen erwartet. Falls es überhaupt noch einmal Fäden vom Himmel regnen würde, korrigierte sich Gennell in Gedanken. Viele Leute glaubten, diese Pest sei ein für allemal überstanden. Einer beliebten Hypothese zufolge hatten sich die Weyr auf einen bizarren Selbstmordpakt eingeschworen und sich selbst vernichtet, bis auf Benden, der die Tradition der Drachenreiter fortführen sollte.

Für jeden, der auch nur einen Funken Verstand besaß, ergab diese Theorie keinen Sinn. Doch zumindest mit diesem Problem brauchte er sich während seiner Zeit als Meisterharfner nicht zu befassen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und konzentrierte sich auf das Einschlafen.

 

Kurz nach der Sonnenwende verschlimmerte sich Merelans Husten zu einer Bronchitis. Zu Beginn eines jeden neuen Planetenumlaufs grassierten aufgrund der unfreundlichen Witterung immer Erkältungskrankheiten, und auch der kleine Robinton und Petiron litten unter Schnupfen und einem rauen Hals, doch sie hatten die Unpässlichkeit bald überwunden. Merelans Husten hingegen schien chronisch zu werden, und sie stand keine Gesangsübung durch, ohne von Hustenkrämpfen geschüttelt zu werden. Zum ersten Mal machte sich Petiron ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit.

Auch Betrice und Ginia waren beunruhigt, denn die Sängerin hatte stark an Gewicht verloren.

»Es stehen doch hoffentlich keine anstrengenden Proben bevor, oder?«, fragte Ginia Petiron unter vier Augen, nachdem sie eine weitere Flasche mit Hustensaft abgeliefert hatte. Zögerlich schüttelte er den Kopf. Wäre er selbst nicht krank gewesen, hätte er sicherlich eine extravagante Komposition für die demnächst stattfindenden Frühlingsfeiern kreiert.

»Das ist gut so«, erwiderte Ginia. »Zufällig weiß ich, dass der Meisterharfner jemanden sucht, der in einer Burg in Süd-Boll Grundkenntnisse in Musik vermittelt. Diese Festung liegt nicht weit von Merelans Heimatort entfernt. Warum bewirbst du dich nicht um den Posten? Für eine kleine Familie wie deine ist eine ausreichende Unterkunft vorhanden. Gerade ist die Ritecamp Handelskarawane hier eingetroffen, und ihre Route führt dicht an Burg Pierie vorbei.«

Ehe Petiron ein triftiges Argument einfallen konnte, weshalb er zu dieser Zeit die Harfnerhalle nicht verlassen dürfe, befanden er, Merelan und Robinton sich auf dem Weg in Richtung Süden. Ihr Gepäck wurde auf Lasttieren befördert, die Meister Gennell angefordert hatte. Außerdem organisierte er zwei gute Reittiere aus der Zucht Ruatha. Meister Sev Ritecamp erwies der Harfnerhalle nur allzu gern einen Gefallen und hatte versprochen, seine Gäste bis vor das Portal der Burg Pierie zu geleiten.

»Vielleicht wäre Meister Petiron so gütig, etwas von seiner kostbaren Zeit zu opfern und den jungen Leuten in meinem Treck die Lehrballaden beizubringen«, schlug er bescheiden vor. »Sie haben den Unterricht bitter nötig. Und wir würden uns freuen, wenn er an den Abenden beim Lagerfeuer ein paar neue Lieder zum Besten gäbe.«

»Selbstverständlich tragen wir unseren Teil zur Ausbildung der Kinder und zur allgemeinen Unterhaltung bei«, erwiderte Merelan, als Petiron sich zu viel Zeit mit der Antwort nahm. Sie zwinkerte ihrem Mann zu, denn sie wusste, wie sehr es ihm widerstrebte, sich mit Anfängern abzugeben, derweil sie gern junge Leute unterwies. Schließlich kam es nicht darauf an, wer das Wissen vermittelte, so lange die Kinder überhaupt etwas lernten. Als Meistersängerin kannte sie die Lehrballaden und Lieder genauso gut wie Petiron.

Die jüngste Tochter des Treckführers hatte ein Kind im selben Alter wie Robie, obwohl es nicht so kräftig war wie ihr Sohn, wie sie insgeheim dachte. Aber Dalma hatte sicher nichts dagegen, auf beide aufzupassen, die ja zusammen spielen konnten, während sie, Merelan, unterrichtete.

Meisterharfner Gennell war entzückt, die freie Stelle auf Burg Pierie mit einem Meister zu besetzen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Betrice klärte die Heilerin der Ritecamp Karawane über Merelans angegriffene Gesundheit auf, und dann stand sie gemeinsam mit den anderen Bewohnern der Harfnerhalle vor dem Tor und winkte dem aufbrechenden Treck zum Abschied hinterher.

 

Obwohl die Renner von Ruatha gut trainiert und leicht zu reiten waren, reiste Merelan anfangs in Dalmas bequemem Wohnwagen, da sie sich noch keine körperlichen Strapazen zutraute. Petiron, der kein erfahrener Reiter war, saß oft auf dem Kutschbock des ersten Wagens und unterhielt sich mit Sev Ritecamp, dessen Vater oder Onkel, je nachdem, wer gerade den Zug anführte.

Trotz seines anfänglichen Unmuts besserte sich Petirons Laune rasch, er entspannte sich und genoss die Reise. Als er ein paar lobende Bemerkungen über die Renner von Ruatha aufschnappte, bot er Sevs ältestem Sohn an, sein Tier zu reiten, und prompt behandelte ihn der gesamte Ritecamp Clan erheblich freundlicher.

Er freute sich sogar auf die abendlichen Musikeinlagen, denn fast jeder in der dreißig Wagen umfassenden Karawane spielte irgendein Instrument und beherrschte auch schwierige Passagen. Viele besaßen eine gute Stimme, und so kam es, dass er zu manchen ihrer beliebtesten Balladen nicht nur vier- und fünfstimmige Harmonien dirigierte, sondern ihnen auch die neuesten Lieder beibrachte.

»Sie sind ja beinahe so gut wie Lehrlinge im vierten Ausbildungsjahr«, erklärte er Merelan mit gelinder Überraschung, nachdem der dritte musikalische Abend am Lagerfeuer zu Ende ging.

»Sie singen und spielen, weil es ihnen Spaß macht«, entgegnete sie milde.

»Sie können ihre Freude am Musizieren behalten, auch wenn sie ihre Technik verbessern«, versetzte er unwirsch, weil er annahm, Merelan kritisiere ihn für seine Versuche, das Niveau der Sänger und Musikanten zu erhöhen.

»Jetzt halt still, damit ich dir Salbe ins Gesicht schmieren kann«, fuhr sie ungerührt fort, während sie seine Nase und die Wangen mit einer Paste gegen Sonnenbrand behandelte.

Aus der Nähe sah er, dass wieder Farbe in ihre blassen Wangen zurückgekehrt war, obwohl sie immer noch so heftig hustete, dass er um ihre Stimmbänder fürchtete. Doch allmählich verlor sich der angespannte Zug um ihren Mund und ihre Augen.

»Geht es dir gut, Merelan?«, fragte er, sie bei den Armen haltend.

»Natürlich geht es mir gut. Mein Kindheitstraum wird wahr. Ich hatte mir schon immer gewünscht, mit einer Handelskarawane mitzureisen.«

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das Grübchen in ihre Wangen zauberte, und auf einmal war sie wieder seine Merelan, wie er sie aus der Zeit vor ihrer Schwangerschaft kannte. Er schloss sie in die Arme und drückte sie fest an sich; als er ihre Zerbrechlichkeit spürte, erinnerte er sich daran, wie rücksichtsvoll er mit ihr umgehen musste. Gewisse Dinge durften einfach nicht sein, und entschlossen schob er sie von sich fort. Aber sie klammerte sich an ihn.

»Ich bin mir sicher, dass es keine Konsequenzen hat«, flüsterte sie. Er umarmte sie mit einer Leidenschaft, die sich in ihm angestaut hatte und nun endlich zum Ausdruck gebracht werden durfte. Nicht einmal das Baby konnte sie stören, denn Robie schlief in einer Wiege in Dalmas Wagen.

Er liebte Merelan voller Inbrunst und Begierde, und sie erwiderte seine Liebkosungen mit der gleichen ungehemmten Lust.

Die Reise nach Süden war in der Tat eine ausgezeichnete Idee gewesen.

 

Zu irgendeinem Zeitpunkt während des gemächlichen, drei Wochen dauernden Trecks zur südlichsten Spitze von Süd-Boll vergegenwärtigte sich Petiron, dass er emotional und physisch beinahe genauso erschöpft war wie Merelan. In der Harfnerhalle wurde er tagtäglich mit Musik, Musikern und Instrumenten konfrontiert, bis seine Gedanken nur noch um Gesang, Stimmen und Kompositionen kreisten.

Auf der Straße hingegen brauchte er sich nicht an der latenten Konkurrenz zu beteiligen, die mittlerweile in der Harfnergilde um sich griff und ihn dazu zwang, immer komplexere und grandiosere Werke zu komponieren. Zum ersten Mal seit er seine Lehre in der Harfnerhalle antrat, fand er die Gelegenheit und die Muße, sowohl die Fülle als auch die Schlichtheit des ihn umgebenden Lebens wahrzunehmen.

Er stammte aus Burg Telgar, eine der größten Festungen, und deshalb hatte er nie die Dinge des alltäglichen Bedarfs entbehrt. Das Leben in der Harfnerhalle stellte eine Fortsetzung dieser günstigen Umstände dar. Er hielt so vieles für selbstverständlich, dass er regelrecht geschockt war, als ihm plötzlich nicht mehr ausreichend gegerbte Häute zur Verfügung standen, auf denen er seine musikalischen Kompositionen mit einer großen, verschwenderischen Notenschrift festhielt. Nun lernte er, sparsam mit dem Material umzugehen, indem er enger schrieb und kleinere Zeichen benutzte.

Die Verpflegung war ein weiteres Thema, über das er sich noch nie Gedanken gemacht hatte. Er aß, was er vorgesetzt bekam, ohne zu wissen, wer die Nahrungsmittel beschaffte oder zubereitete. Während der Reise brachten ihm die Männer der Karawane bei, wie man jagte und fischte, derweil die Frauen Feuerholz und Nüsse sammelten, und, je weiter man in wärmere Gefilde vordrang, auch Obst und Beeren pflückten.

Mittlerweile konnte Petiron den ganzen Tag lang zu Fuß marschieren. Auch Merelan erholte sich, nahm an Gewicht zu und ließ sich vom Wind und der Sonne bräunen. Zusammen mit Dalma und anderen jungen Müttern wanderte sie täglich einen Teil der Strecke neben den Wagen einher, ein gemächliches Tempo einschlagend, damit die Kinder mit ihnen Schritt halten konnten.

Ihr Husten heilte aus, und sie war wieder ganz die strahlende Schönheit, die vor fünf Planetenumdrehungen Petiron in ihren Bann gezogen hatte. Ihm selbst dämmerte, wie eingeengt er in der Harfnerhalle lebte, so beschäftigt mit Komponieren und Proben, dass er gar nicht mehr wusste, wie ein normales Leben aussah.

Drei Tage lang kampierte der Treck an einer der Kurier-Stationen. Wie üblich, schickte der Stationsmeister seine Eilmelder in alle Richtungen, um die Bewohner der entlegeneren Siedlungen von der Ankunft der Handelskarawane zu unterrichten.

»Ein paar dieser Menschen sind sehr scheu«, eröffnete der Stationsmeister seinen Gästen. »Mitunter regelrecht ... na ja, sonderbar.«

»Weil sie so abgeschieden in den Bergen wohnen?«, fragte Merelan.

Sev kratzte sich am Kopf. »Sie sind etwas einfältig, könnte man sagen.«

Merelan spürte, dass er ihr etwas verschwieg, und sie wunderte sich über seine unerklärliche Zurückhaltung.

»Habt ihr auch Bekleidung dabei, die nicht in Harfnerblau ist?«, platzte er heraus.

»Ich schon«, entgegnete Merelan, »aber Petiron vermutlich nicht. Könnte er mit dieser Farbe jemanden verprellen?« Sie lächelte, um anzudeuten, dass sie die Anspielung verstand.

»Nun ja, darauf läuft es wohl hinaus.«

»Ich werde mir etwas ausdenken, um ihn von diesen Leuten fern zu halten«, versprach sie.

Am ersten und zweiten Tag ergaben sich keine besonderen Vorkommnisse. Alles verlief reibungslos. Am Morgen des dritten Tages unterhielt Merelan die Kinder der Karawane mit Scherzliedern und brachte ihnen die dazu gehörigen Gesten bei. Dabei fiel ihr auf, dass sich ein zerlumptes Mädchen, die Augen vor Entzücken weit aufgerissen, der Gruppe verstohlen näherte. Merelan lächelte ihr aufmunternd zu.

»Möchtest du mitmachen?«, fragte sie freundlich.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. In ihre Augen trat ein halb sehnsüchtiger, halb furchtsamer Ausdruck.

»Nur zu, alle anderen Kinder sind auch hier«, fuhr Merelan fort, um dem Mädel die Scheu zu nehmen. »Rob, rück zur Seite und mach Platz für das Mädchen.«

Das Mädchen trat einen weiteren Schritt vor, dann schrie sie entsetzt auf, als ein Mann aus dem Wagen eines Händlers stürmte und direkt auf Merelan zuhielt.

»Du da ... hör sofort auf damit, du Luder! Du böses Weib lockst Kinder von ihren Eltern fort ...«

Zuerst begriff Merelan nicht, dass er sie meinte. Das Mädchen flüchtete sich in das verfilzte Walddickicht, das die Lichtung säumte, doch die Wut des Mannes war dadurch nicht verraucht. Mit zum Schlag erhobenem Arm wollte er sich auf Merelan stürzen.

Robinton rannte zu seiner Mutter und klammerte sich an ihre Röcke, zu Tode erschrocken von den Beschimpfungen und dem gewalttätigen Gebaren des Kerls. Der Stationsmeister, zwei seiner Kuriere, Sev und drei weitere Händler eilten herbei, um Merelan zu beschützen. Sev stieß den Kerl zur Seite, sodass sein Schlag ins Leere ging. Die Kinder waren mittlerweile weinend davongelaufen.

»Ruhig Blut, Rochers, sie ist nur eine Mutter, die Kindern Lieder beibringt«, versuchte Sev den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen.

»Aber sie singt, oder? Singen ist wichtig für sie. Sie singt, um Kinder an sich zu ziehen, sie zu entführen. Sie ist böse. Böse wie das ganze Harfnerpack, das den Leuten Dinge beibringt, die kein anständiger Mensch zum Leben braucht.«

»Rochers, lass es gut sein«, drängte der Stationsmeister und zog den Mann unter Aufbietung all seiner Kräfte fort, während er Merelan verlegene und um Entschuldigung heischende Blicke zuwarf.

»Komm mit, Rochers, wir müssen unseren Handel zum Abschluss bringen«, mischte sich einer der Händler ein. »Es fehlt nur noch der Handschlag ...«

»Harfnerhure!«, brüllte Rochers und drohte Merelan mit der geballten Faust. Die Sängerin klammerte sich genauso fest an Rob, wie er sich an sie klammerte.

»Sie ist keine Harfnerin, Rochers. Nur eine Mutter, die mit den Kindern spielt«, schnauzte der Stationsmeister in dem Versuch, Rochers Krakeelen zu übertönen.

»Sie hat sie tanzen lassen!« Speichel schäumte in den Mundwinkeln des tobenden Kerls, derweil die Männer ihn zu der Wagenkolonne zurückzerrten.

»Steig in Dalmas Wohnwagen, Merelan«, zischelte Sev ihr hastig zu. »Wir sorgen dafür, dass der Typ dich nicht mehr belästigt.«

Merelan nahm Robie auf den Arm und bemühte sich, das schluchzende Kind zu trösten. Sie huschte zwischen die Bäume, die die Lichtung begrenzten, und hastete im Schutz des Waldes zu Dalmas Wagen, der als einer der Letzten in der Karawane stand. Als sie endlich hineinkletterte, zitterte sie am ganzen Leib, und vor Angst hätte sei beinahe laut geschrien, als die Tür aufging und jemand hereinkam. Doch es war nur Dalma, bleich vor Aufregung und Anspannung. Sie umarmte Merelan und versuchte gleichzeitig, Robie zu beruhigen.

»Diese Hinterwäldler sind total verrückt«, murmelte sie. »Vermutlich kriegen sie vor lauter Einsamkeit einen Bergkoller. Wer hätte gedacht, dass der Kerl dich überhaupt wahrnimmt, wo du doch so schön mit den Kleinen gespielt hast.«

»Was meinte er überhaupt?«, fragte Merelan, ihr Schluchzen unterdrückend. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so gefürchtet. Besonders in der Harfnerhalle hatte sie sich immer sicher und geborgen gefühlt, warm umhüllt von der allgemeinen Freundlichkeit und dem Respekt, den sie dort als Meistersängerin genoss. »Was könnte er gemeint haben? Er nannte mich eine Harfnerhure. Und was ist an Gesang auszusetzen? Wie kann Singen etwas Schlechtes sein, etwas Böses?«

»Bitte, beruhige dich.« Dalma schloss Merelan fest in die Arme und tätschelte abwechselnd Robie oder seine Mutter. Der Junge hatte sich von seinem Schrecken bereits wieder erholt, wobei die Sicherheit des Wohnwagens und Dalmas Anwesenheit sich besänftigend auf ihn auswirkten. »Hin und wieder treffen wir auf die wunderlichsten Leute. Einige haben noch nie einen Harfner zu Gesicht bekommen, andere wiederum missbilligen Singen, Tanzen und Trinken. Sev meint, es läge daran, dass sie selbst weder Wein noch Bier herstellen können und diese Getränke allein deshalb verteufeln. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder etwas lernen, weil sie wohl befürchten, sie könnten mit ihrem Leben unzufrieden werden und diese vermaledeite Wildnis verlassen.« Dalma stieß ein trockenes Lachen aus.

»Aber die Art und Weise, wie er das Wort ›Harfner‹ aussprach ...« Merelan schluckte, als sie sich an den vor Hass triefenden Tonfall erinnerte.

»Schon gut, jetzt ist ja alles vorbei. Sev und die anderen werden dafür sorgen, dass diese Hinterwäldler in ihre Behausungen zurückkehren.«

»Und dieses kleine Mädchen ...«

»Denk nicht mehr an sie. Bitte.«

Merelan nickte fügsam, doch sie bezweifelte, ob sie je den sehnsüchtigen Hunger in den Augen des Kindes würde vergessen können. Das Mädchen gierte nach Musik oder danach, mit Gleichaltrigen spielen zu dürfen, vermutlich kam beides zusammen. Doch sie blieb in Dalmas Wagen, bis Sev kam, um ihr zu berichten, dass die Hinterwäldler gegangen seien. Außerdem drängte es den Karawanenführer, sich bei Merelan für den peinlichen Zwischenfall zu entschuldigen.

Auftritte dieser Art ereigneten sich nie wieder, obwohl Merelan erfuhr, dass nicht jede Burg, die der Treck ansteuerte, in den Genuss einer schulischen Ausbildung kam. Gewiss, es gab nicht genug Harfner, die dort längere Zeit verweilen und unterrichten konnten, und meistens einigte man sich auf ein bis zwei Aufenthalte pro Jahr. Doch zu Merelans Entsetzen gab es eine nicht geringe Anzahl von Pachthöfen und kleineren Felssiedlungen, in denen Menschen wohnten, die weder lesen noch schreiben und höchstens bis zwanzig zählen konnten.

Sie wagte es nicht, mit Petiron darüber zu diskutieren, doch sie nahm sich vor, Gennell nach ihrer Rückkehr auf diesen Missstand hinzuweisen. Obwohl er mit Sicherheit längst darüber im Bilde war.

Im Allgemeinen sorgte die Handelskarawane an den Orten, an denen sie kampierte, für Unterhaltung. In Petiron hatte sich ein grundlegender Wandel vollzogen; anfangs fand er sich damit ab, seinen Teil zu den musikalischen Abenden beizutragen, nun indessen genoss er die Auftritte in vollen Zügen. Er staunte über die vielen schönen Stimmen und die begabten Musiker, die sich überall fanden. Es waren nicht die Virtuosen, die er von daheim kannte, doch sie verfügten über beachtliche Talente und – was noch wichtiger war – eine unverdrossene Spielfreude und Begeisterungsfähigkeit, die jede Vorstellung zu einem hoch befriedigenden Erlebnis machten.

Außerdem hörte er Variationen von Balladen und Weisen, die in den abgelegenen Burgen und Siedlungen traditionsgemäß überliefert wurden, ihm jedoch fremd waren. Eifrig notierte er sich jede Variante. Einige waren recht kompliziert und er fragte sich, was das Original war – die Version der Harfnerhalle oder die Interpretation, die seit vielen Generationen in der Provinz kursierte.

Eine der nostalgischsten Balladen – sie handelte von der Großen Überfahrt – wollte er in ein Instrumentalstück umschreiben. Die Grundmelodie war ein richtiger Ohrwurm, und die einzelnen Motive ließen sich nach Lust und Laune ausschmücken.

Petiron machte sich unverzüglich ans Transkribieren, wobei er das örtlich hergestellte Schreibmaterial aus Schilfgras benutzte. Es sog die Tinte so stark auf, dass die Notenschrift verschwommen wirkte, doch Nachbessern konnte er nach seiner Rückkehr in die Harfnerhalle. Auf sein perfektes musikalisches Gedächtnis war er schon immer stolz gewesen.

 

Am Vormittag des einundzwanzigsten Reisetages erreichten sie Burg Pierie, obwohl sie eine Rast von zwei vollen Tage in Merelans Heimatfestung eingelegt hatten. Sie erhielt die Gelegenheit, ihre Familie wiederzusehen, Neuigkeiten auszutauschen, die während der letzten Jahre geborenen Babys zu bewundern, frisch getrauten Ehepaaren zu gratulieren – und Robinton vorzuzeigen.

Petiron wurde von der Tante und dem Onkel, die Merelan großgezogen hatten, mit offenen Armen empfangen. Merelans Eltern waren bei einem der heftigen Herbststürme, die regelmäßig die Westküste heimsuchten, ums Leben gekommen. Petiron staunte, wie viele ausgezeichnete, wenn auch ungeschulte, Sänger und Sängerinnen Merelans Heimstatt hervorgebracht hatte.

»Keiner hier singt auch nur einen falschen Ton«, wunderte er sich am ersten Abend. »Welche deiner Tanten gab dir den ersten Gesangsunterricht?«

»Das war Segoina«, erwiderte sie, während sie über seine aufrichtige Verblüffung schmunzelte.

»Der Kontraalt?«

Sie nickte.

Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Sie bestand darauf, dass man mich in die Harfnerhalle schickte«, fuhr Merelan fort. »Eigentlich hätte sie gehen sollen, doch sie war schon mit Dugall verbunden und wollte ihn nicht verlassen.«

»Und verschwendete ihre herrliche Stimme an eine Burg ...« Mit einer ziemlich abfälligen Gebärde deutete Petiron auf die weitläufige Festung aus rotem Sandstein.

»Segoina hat ihr Talent nicht verschwendet«, widersprach Merelan ein bisschen verschnupft.

»So hatte ich das nicht gemeint, Merelan, das weißt du«, korrigierte Petiron sich hastig. Er hatte gesehen, mit wie viel Respekt und Liebe die Frauen einander begegneten. »Aber aus ihr hätte eine Meistersängerin werden können ...«

»Nicht jeder findet diese Berufung so zufrieden stellend wie wir, Petiron«, ermahnte sie ihn freundlich aber bestimmt. Petiron begriff, dass er mit jeder weiteren Bemerkung nur noch tiefer ins Fettnäpfchen treten würde. Und in Gedanken fügte Merelan hinzu, dass es sogar Perneser gab, wie diesen Hinterwäldler Rochers, die einen regelrechten Hass gegen alle Harfner und Musikanten hegten.

Als sie sich in Burg Pierie niederließen, kehrte Petirons Unmut über diesen Auftrag zurück. Ihr Quartier bestand lediglich aus drei Räumen. Robinton musste mit ihnen im selben Zimmer schlafen; sein Bettchen stand am Fußende der ehelichen Lagerstatt, die nahezu den gesamten Raum ausfüllte, trotz der Aushöhlungen, die man quasi als Schrankersatz in die hintere Felswand geschlagen hatte.

Die größere Kammer diente als Wohnstube und schloss eine Küchennische ein. Toilette und Bad befanden sich in einem winzigen, engen Kabuff, und Merelan erklärte fröhlich, dass man hier ohnehin meistens im Meer badete. Missmutig beäugte Petiron die lange, steile Treppe, die zu einer sandigen, sichelförmigen Bucht hinabführte, in der ein paar der burgeigenen Fischereischaluppen ankerten.

Schon bald stellte er fest, dass sich das Leben hier größtenteils draußen abspielte, entweder auf dem enormen, offenen Innenhof, der mehrere Werkstätten beherbergte, oder im Schatten einer mit Weinreben umrankten Laube, die größer war als sämtliche Privatunterkünfte zusammen.

Zwei eingezäunte Abschnitte blieben Kleinkindern vorbehalten; dort konnten sie in einem flachen Schwimmbecken plantschen, im Sand spielen oder sich mit einer reichhaltigen Auswahl von Spielsachen vergnügen. Robinton watschelte schon vergnügt umher, ein buntes Plüschtier im Arm.

»Ist das etwa ein Drache?«, fragte Petiron Merelan. Drachen waren kein Spielzeug, es wäre einer Blasphemie gleichgekommen.

»Nein, du Dummer. Das soll eine ... Feuerechse sein«, klärte Merelan ihren verdutzten Ehemann auf.

»Eine Feuerechse? Die sind doch schon vor Hunderten von Planetenumläufen ausgestorben.«

»Das stimmt nicht. Es gibt immer noch welche. Mein Vater sah eine, und Onkel Patry behauptet, er hätte erst neulich eine gesichtet.«

»Und er irrt sich auch ganz bestimmt nicht?« Petirons pragmatisches Naturell verlangte immer nach einem Beweis.

»Er ist sich absolut sicher. Und hin und wieder finden wir im Treibgut am Strand Eierschalen, die darauf hindeuten, dass die Feuerechsen irgendwo immer noch existieren, auch wenn man sie kaum zu Gesicht bekommt.«

»Nun ja, wenn das so ist ...« Petiron schien überzeugt. Merelan wandte ihr Gesicht ab, damit er ihr verschmitztes Grinsen nicht sah.

Sie war sich völlig darüber im Klaren, welche Vorurteile und falschen Auffassungen über das Leben in Burg Pierie ihr Ehemann hätschelte, doch es hätte nichts genützt, mit ihm darüber zu diskutieren. Im Großen und Ganzen war Petiron fair und besaß einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, und sie hoffte, dass er seine vorgefassten negativen Meinungen von sich aus ändern würde.

Vielleicht gefiel es ihm eines Tages sogar, hier zu wohnen, weit weg von der Hektik und Überstimulierung der Harfnerhalle. Sie hatte sich über die Art und Weise gefreut, wie er sich bei Sev, Dalma und den anderen Mitgliedern der Handelskarawane bedankte. Jedes Wort, das er aussprach, war ehrlich gemeint; er hatte unterwegs wirklich dazugelernt, die Abende genossen und Gefallen am Unterrichten gefunden.

Er hatte gelernt, sich auf dem Rücken eines Renners wohl zu fühlen, und sie wollte ihn zu Ausflügen in die nähere Umgebung überreden, bis hin zu den benachbarten Burgen, in denen ihre Geschwister lebten. Sie nahm sich vor, Robinton nicht mitzunehmen, damit ihr Mann sie ganz für sich allein haben konnte. Der Kleine war mittlerweile abgestillt, und Segoina lauerte nur darauf, ihn in ihre Obhut zu bekommen. Doch Merelan bedauerte es sehr, dass Petiron seinen Sohn nicht so lieben konnte, wie es sich gehört hätte, und ihn stattdessen als Rivalen um ihre Gunst betrachtete.

 

Das Wichtigste war der Unterricht, und Petiron teilte die zweiundvierzig künftigen Schüler in fünf Gruppen ein. Das Alter spielte dabei keine große Rolle, denn einige waren bereits von ihren Eltern unterwiesen worden und den Mitstudenten voraus. Lediglich die ältesten Lernwilligen wurden in einer separaten Gruppe zusammengefasst und abends unterrichtet, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.

»Durch dat einsame Leben da oben inne Berge konnte ich nie nix lernen«, erklärte Rantou frei heraus. Der vierschrötige Holzfäller hatte dabei liebevoll seine hochschwangere junge Frau angesehen. »War mich auch egal, bis ich meine Carral kennen lernte.« Nun wurde er rot. »Ich liebe Musik, wirklich, auch wenn ich nix davon versteh. Und jetz will ich wat lernen, damit mein Kind keinen Blödmann als Vater hat.«

 

Obwohl Rantou niemals unterrichtet worden war, vermochte er einer Panflöte die bezauberndsten Melodien zu entlocken. Aber als Petiron ihm vorschlug, ihm das Notenlesen beizubringen, lehnte er ab.

»Spielen Se mir 'ne Melodie einmal vor, dat reicht mir völlig.«

Später wanderte Petiron rastlos in seinem privaten Quartier hin und her, während er sich wortreich darüber aufregte, dass ein geborener, mit einem herausragenden Talent gesegneter Musiker tagtäglich die Unversehrtheit seiner Hände riskierte, indem er mit Äxten, Sägen und Breitbeilen umging. Merelan schickte sich an, ihren empörten Gemahl zu beschwichtigen.

»Nicht jeder ist für ein Leben in der Harfnerhalle geschaffen, Liebster.«

»Aber er ...«

»Er ist ein tüchtiger junger Mann und angehender Familienvater und hat glänzende Zukunftsaussichten«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Musik wird ihm immer viel bedeuten, auch wenn er damit nicht seinen Lebensunterhalt bestreitet, so wie wir.«

»Er ist ein Naturtalent. Du weißt, wie schwer ich arbeiten musste, um Musiktheorie und Komposition zu lernen, um komplizierte Tempi zu meistern – und er beherrscht nach nur einmaligem Hinhören Kadenzen, die selbst einer begnadeten Sängerin wie dir tagelanges Üben abverlangen. Segoina erzählte mir, dass er sämtliche Musikinstrumente, die in der Burg im Umlauf sind, herstellt.« Frustriert rang er die Hände. »Mir fehlen die Worte, wenn ich daran denke, dass ihm Fertigkeiten praktisch zufliegen, die ich mir in vielen Jahren erkämpft habe, um endlich in den Gesellenstand erhoben zu werden.«

»Rantou will kein berufsmäßiger Musiker sein, Liebster. Er ist vollauf zufrieden mit seiner Tätigkeit, dem Verarbeiten von Holz. Sogar den Bau von Musikinstrumenten fasst er als Hobby, als Zeitvertreib, auf.«

»Das mag ja stimmen, Merelan, aber du scheinst nicht zu begreifen, dass die Harfnerhalle viel mehr junge Leute braucht, als derzeit bei uns vorstellig werden. Es mangelt uns an talentiertem Nachwuchs. In Burg Pierie sollte ständig ein Harfner beschäftigt sein, nicht nur wochenweise, wie es jetzt der Fall ist.« Petiron schritt in der Kammer auf und ab, sich die Hände reibend, ein sicheres Zeichen für seine wachsende Nervosität. »Jeder hat ein Recht auf Bildung, und das Vermitteln von Wissen gehört zu den traditionellen Pflichten der Harfnerhalle. Bei uns herrscht ein akuter Mangel an Harfnern, die diesen Dienst übernehmen.«

»Aber die Leute hier kennen die Lehrballaden und Lieder«, hielt Merelan ihm entgegen. »Ich habe sie doch auch gelernt.«

»Nur die gängigsten, das heißt, dass eine Menge an wichtigem Lehrstoff gar nicht erst vermittelt wird«, beschied ihr Petiron stirnrunzelnd. Wenn er so finster dreinblickte wie jetzt, zogen sich seine dichten Augenbrauen über dem Rücken seiner Adlernase zusammen. Merelan liebte seine buschigen Brauen, obwohl sie es nie vor ihm zugegeben hätte. »Zum Beispiel kennt hier niemand die Balladen, die von den Pflichten der Drachenreiter handeln.«

Merelan unterdrückte einen Seufzer. Glaubten vielleicht nur die Leute, die in der streng konservativen Tradition der Harfnerhalle erzogen waren, an die periodische Wiederkehr der Fäden? Angeblich wäre es dann in ungefähr fünfzig Planetenumdrehungen so weit.

»Du und ich, wir beide unterrichten doch diese Lehrballaden. Außerdem könnte es nicht schaden, wenn du in der Burg anregst, ein paar der begabteren jungen Leute sollten es sich überlegen, den Beruf des Harfners zu ergreifen. Jetzt, da man dich kennt und mich wiedergesehen hat, finden sich vielleicht ein paar Interessierte.«

Petiron maß sie mit einem tadelnden Blick. »Mir scheint, du hast eine recht lasche Auffassung von diesem Stand.«

Sie schürzte die Lippen. Er schlug einen trockenen, autoritären Ton an, den er sich normalerweise für Lehrlinge aufsparte, die seinen hohen Ansprüchen nicht genügten.

»Wie du weißt, gab es hier eine Epidemie, und obendrein wütete noch ein schrecklicher Sturm. Beide Vorfälle kosteten die Burg viele Menschenleben«, erwiderte sie so gelassen wie möglich. »Diese Festung mag zwar nicht besonders groß sein, trotzdem benötigt man eine gewisse Anzahl von Personen, um sie zu bewirtschaften. Manchmal kann man keine Arbeitskräfte entbehren.«

»Aber zwei junge Burschen durften in den Weyr abwandern«, beschwerte sich Petiron.

Nur mit Mühe verbiss sich Merelan ein Schmunzeln. Sein offenkundiger Neid blickte ihm aus den Augen.

»Hättest du denn abgelehnt, wenn ein Weyr dich als Kandidat für eine Gegenüberstellung ausgesucht hätte?«

»Keine Ahnung. Man hat mich nicht gefragt.«

»Ich weiß. Aber stell dir vor, der Benden-Weyr hätte dich gebeten, beim Schlüpfen der Jungdrachen anwesend zu sein. Wärst du nicht hingegangen?«

»Nun ja«, wich er aus, »ich streite ja gar nicht ab, dass es eine große Ehre bedeutet, wenn man als Kandidat ausgewählt wird ... aber nicht jeder vermag einen Drachen für sich zu gewinnen.«

»Beide Jungen von hier konnten einen grünen Drachen auf sich prägen.«

»Sie haben halt Glück gehabt.«

»Falls es dir ein Trost ist, aus ihnen wären nie gute Harfner geworden.« In Merelans Augen blitzte der Schalk.

»Das war gemein, Merelan«, versetzte Petiron steif.

»Denk mal ein bisschen darüber nach, Liebster«, riet sie ihm und fuhr fort, die Kleidung zusammenzufalten, die sie am Nachmittag gewaschen und getrocknet hatte.

 

Petiron traf vor Angst beinahe der Schlag, als er hörte, dass Merelan Robinton Schwimmen beibrachte.

»Aber er hat doch gerade erst angefangen zu laufen«, protestierte er. »Wie kann er da schwimmen?«

»Hier lernen alle Kinder in ihrem ersten Lebensjahr schwimmen«, erklärte Segoina. »Es geht am besten, wenn sie noch nicht richtig laufen können, weil sie sich dann noch an ihre Zeit im Mutterleib erinnern. In der Gebärmutter schwimmen sie ja auch.«

»Wie bitte?«

Merelan legte eine Hand auf Petirons Arm, denn er war starr vor Schreck ob der Gefahren, die seinem Sohn drohten.

»Es stimmt«, bekräftigte Segoina. »Frag in der Heilerhalle nach, wenn ihr zurückkehrt.« Petiron zuckte leicht zusammen, doch Segoina fuhr ungerührt fort: »Ein kleines Kind empfindet Schwimmen als etwas ganz Natürliches. Und wir brauchen uns dann nicht ständig zu sorgen, wenn sie am Strand spielen.« Sie deutete nach unten, wo die Treppe im weißen Sand mündete, der von einer sanften Dünung stetig benetzt wurde.

Dann zeigte sie auf eine steile, felsige Landzunge, die weit ins Meer hineinragte. »Von dort aus springen unsere jungen Burschen ins Wasser, um zu beweisen, dass sie zum Mann gereift sind. Es ist eine Art Initiationsritus.«

Petiron schluckte krampfhaft und blinzelte nervös.

»Kannst du schwimmen?«, fragte Segoina ihn rundheraus.

»Ja, allerdings. Unweit von Burg Telgar gibt es einen Fluss, in dem wir schwimmen lernten.«

»Im Meer lässt es sich viel leichter schwimmen als in einem See oder Fluss. Das Wasser trägt einen.« Segoina wandte sich ab, ohne auf Petirons angespannte Miene zu achten.

Merelan ließ sich ihre Belustigung nicht anmerken. Offensichtlich befürchtete er, Segoina könnte sich ihm als Schwimmlehrerin anbieten, wenn er ihr eingestand, dass er nicht schwimmen konnte. Dabei war er sogar ein recht guter Schwimmer, wusste Merelan, und die hochsommerlichen Wettkämpfe fanden erst in einigen Monaten statt. Zu der Zeit waren sie längst wieder daheim in der Harfnerhalle.

Sie seufzte bedauernd. Wie gern wäre sie den ganzen Sommer über hier geblieben und hätte an der Großen Versammlung teilgenommen. Dann traf sich die gesamte Halbinsel zu sportlichen Ereignissen, um die besten Schwimmer und Segler auszumachen.

Merelan fand es beruhigend, dass Petiron zu alt war, um zu einem Sprung vom Felsen aufgefordert zu werden. Dieser Ritus fand ebenfalls auf der Versammlung im Hochsommer statt. Vielleicht konnte sie Petiron doch noch dazu überreden, ihren Aufenthalt auszudehnen ...

Auf dieser Reise hatte er viel über sich selbst und über das Leben der gewöhnlichen Leute erfahren. Als Junge in Telgar ging er hauptsächlich seinen Studien nach, weshalb man ihm nahelegte, der Harfnergilde beizutreten. Auch als Erwachsener hatte er kaum Gelegenheit bekommen, seinen Horizont zu erweitern und sich auf Reisen weiterzubilden – bis jetzt.

Und er hatte nie vitaler und attraktiver ausgesehen. Das Haar hing ihm bis auf die Schultern, die Haut war tief gebräunt, er hatte sich zu einem geschickten Reiter gemausert und vermochte mühelos lange Wanderungen zu Fuß durchzustehen. In dieser entspannten Atmosphäre entfaltete sich seine Kreativität, und er schuf mehr Werke, als seine Pflichten in der Harfnerhalle es erforderten. Wenn er nur seine Einstellung zu Robinton ändern, sich mit seinem eigenen Sohn anfreunden könnte ...

Wenn Robinton erst älter wurde und die Dinge lernen musste, die ein Vater traditionsgemäß seinem Jungen beibrachte, würden sich bei Petiron Stolz und Liebe vermutlich von selbst entwickeln, redete Merelan sich ein. Zumindest hatte er sich äußerst besorgt gezeigt, als es darum ging, Robie das Schwimmen beizubringen.

In der Tat war Petiron sehr ängstlich, als er tags darauf Merelan und Robie zur Bucht hinunter begleitete. Robinton paddelte fröhlich in den Wellen, und es schien ihm nicht das Geringste auszumachen, wenn er immer wieder unter Wasser gedrückt wurde. Einmal hielt Petiron es nicht länger aus und schnappte sich den kleinen, sonnengebräunten Körper.

Erschrocken und enttäuscht fing der Junge an zu zappeln und wollte wieder ins Wasser getaucht werden. Es gefiel ihm, wenn die Wellen gurgelnd seine Beine umspülten und ihm allerlei Treibgut zuschwemmten, das er untersuchen konnte. Als er bald darauf einen glatten runden Stein fand, rot mit weißen Einschlüssen, reichte er ihn sogar seinem Vater, damit der ihn bewunderte. Und Petiron machte keinen Hehl aus seinem Entzücken, ohne von Merelan eigens dazu aufgefordert zu sein.

Er gab Robinton den Stein zurück, der ihn auf einen rasch anwachsenden Haufen anderer ungewöhnlicher Objekte stapelte, die er am Strand gefunden hatte. Dann lief er so schnell ihn seine Beinchen tragen konnten in die entgegengesetzte Richtung, wo seine Cousins und Cousinen in einem Wust von Seetang stöberten.

»Setz dich hin, Liebster«, schlug Merelan Petiron vor und klopfte auf die Bastmatte im Schatten. »Wenn etwas passiert, ist Hilfe ganz in der Nähe.«

»Ist er nicht jünger als Naylors Sohn?«, erkundigte sich Petiron, wobei er zum ersten Mal so etwas wie einen väterlich rivalisierenden Ton anschlug.

»Ja, ungefähr zwei Monate«, erwiderte Merelan gelassen.

»Aber er ist um eine volle Handbreit größer«, fuhr Petiron beinahe selbstgefällig fort.

»Er wird groß sein, wenn er erst einmal ausgewachsen ist«, meinte sie. »Du bist schließlich auch nicht klein, und auch ich stamme aus einer großwüchsigen Familie. Wie groß sind eigentlich deine Brüder?«

»Forist dürfte mich überragen, die drei anderen sind vermutlich kleiner als ich«, überlegte Petiron, der zu seinen Brüdern kein gutes Verhältnis hatte.

»Das glaube ich auch.« Müßig kämmte sie ihm den Sand aus seinem vollen, dunkelbraunen Haar, schnippte die Körnchen von seinen Schultern und nutzte den Vorwand, um seine glatte, warme Haut zu streicheln. Stolz bemerkte sie, dass er Muskeln angesetzt hatte. Allerdings kein Gramm Fett. Petiron würde niemals dick sein, dazu war er viel zu rastlos. Doch noch nie hatte er so gut ausgesehen, und sie liebte ihn mehr denn je.

Er schaute ihr in die Augen und ließ sich von der zärtlichen Stimmung einfangen. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, führte er ihre Hand an die Lippen und küsste jeden einzelnen Finger.

»Wenn Robie seinen Mittagsschlaf hält, könnten wir uns vielleicht auch an ein ruhiges Plätzchen zurückziehen«, murmelte er, während sein Atem sich beschleunigte.

»Das wäre schön«, erwiderte sie leise und spürte, wie ihr Verlangen nach ihm wuchs. »Segoina hat mir einen Trank gegeben, der eine Schwangerschaft verhindert.«

 

Als sie in die Harfnerhalle zurückkehrten, fiel jedem auf, wie erholt Merelan aussah, wie sehr Robinton in den sechs Monaten gewachsen war, und wie günstig sich die Abwechslung auf Petirons Temperament auswirkte.

Kapitel 2

 

Petiron arbeitete an seiner neuesten Komposition, als ihn ein leises Geräusch ablenkte. Bei genauem Hinhören stellte er fest, dass es aus dem Nebenzimmer kam. Merelan war zu Besorgungen unterwegs. Robinton hielt seinen Mittagsschlaf.

Es handelte sich um das Echo der Melodie, die er gerade schwungvoll niederschrieb. Er hatte nicht gemerkt, dass er sie dabei vor sich hin summte. Gereizt forschte er nach der Ursache für diesen Nachhall.

Und entdeckte seinen Sohn, der wach in seinem Bettchen saß und summte.

»Lass das, Robinton«, schnauzte er ihn an.

Rob zog sich die leichte Zudecke bis unters Kinn. »Du hast auch gesummt«, verteidigte er sich.

»Ich darf das, du aber nicht!« Petiron drohte dem Jungen mit dem Finger, und eingeschüchtert steckte Rob seinen Kopf unter die Decke. Petiron zerrte die Decke weg und beugte sich über das Bett. »Du darfst mich nie wieder nachahmen. Bei meiner Arbeit will ich nicht gestört werden. Hast du mich verstanden?«

»Was hat er denn getan, Petiron?«, rief Merelan, die ins Zimmer stürmte und sich beschützend vor das Kinderbett stellte. »Als ich ging, schlief er tief und fest. Was ist passiert?«

Robinton, der selten weinte, stopfte sich einen Zipfel der Decke in den Mund, während ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Das war mehr, als Merelan ertragen konnte. Sie nahm ihren schluchzenden Sohn auf den Arm und wiegte ihn tröstend hin und her.

Petiron funkelte sie wütend an. »Er hat gesummt, während ich eine neue Partitur schrieb.«

»Du summst doch auch, warum darf er es nicht?«

»Weil ich gearbeitet habe! Wie kann ich etwas leisten, wenn er mich dauernd ablenkt? Er weiß, dass er mich nicht stören darf.«

»Er ist ein Kind, Petiron. Wenn er etwas aufschnappt, ahmt er es nach.«

»Wie dem auch sei, ich will nicht, dass er zusammen mit mir eine Melodie summt«, regte sich Petiron auf.

»Dabei hast du ihn aus seinem Mittagsschlaf geweckt!«

»Wie soll ich arbeiten, wenn ihr beide mir keine Ruhe gebt?« Er warf die Arme in die Höhe und stakste aus dem Schlafzimmer. »Bring ihn weg. Ich vertrage es nicht, wenn er im Hintergrund summt.«

Merelan schickte sich bereits an zu gehen, ihren weinenden Sohn auf dem Arm. »Keine Sorge, er wird dir nie wieder zur Last fallen!«, fauchte sie erbost.

 

»Ich habe mich noch nie so über ihn geärgert«, vertraute sie Betrice an, die zum Glück daheim war, als Merelan bei ihr anklopfte.

»Wahrscheinlich ist ihm gar nicht aufgefallen, dass das Kind in der richtigen Tonart summt«, versetzte Betrice mit dem für sie typischen trockenen Humor. Sie nahm ihre Stopfarbeit von dem gepolsterten Schaukelstuhl, um für Merelan und Rob Platz zu machen.

Wider Willen begann Merelan zu kichern. »Aber er hätte es ganz gewiss gemerkt, wenn Robie eine einzige falsche Note gesummt hätte. Das hätte ihn nicht nur gestört, sondern ihm auch in den Ohren wehgetan.« Sie legte eine Pause ein. »Weißt du, Betrice, Robie summt immer mit, wenn ich meine Gesangsübungen abhalte. Ich hatte mir nur nie etwas dabei gedacht.« Sie trocknete Robies Tränen mit der Decke, die sich der Kleine immer noch in den Mund steckte. »Schon gut, mein Junge. Dein Vater hat es nicht so gemeint.«

»Ha!«, schnaubte Betrice.

»Aber wir müssen halt still sein, wenn dein Vater zu Hause arbeitet.«

»Er hat doch ein eigenes Studio«, erwiderte Betrice.

»Washell hat es sich ausgeborgt, um dort mit den Eltern zu sprechen, die ohne Voranmeldung hier aufgetaucht sind.«

»Das kann sich auch nur Washell erlauben!«

»So, mein kleiner Liebling, ab jetzt wirst du nur summen, wenn du mit mir allein bist. Und Vater kann sich in aller Ruhe seiner wichtigen Arbeit widmen.«

»Ha! Diese musikalischen Rätsel, die ohnehin keiner versteht! Entschuldige bitte!« In gespielter Reue hielt sich Betrice die Hand vor den Mund. »Ich weiß natürlich, dass Petiron der bedeutendste Komponist der Gegenwart ist, Merelan, aber könnte er nicht auch einmal eine schlichte Melodie erschaffen, die jeder nachsingen kann – und nicht nur sein eigener Sohn?« Sie stand auf und trat an einen Wandschrank.

Merelan betrachtete Betrice ohne Groll. »Er hat sich nun mal auf diese komplizierten Musikstücke verlegt.« Sie lächelte verschmitzt. »Ohne Ausschmückungen läuft bei ihm nichts.«

»Ach, so nennt man das? Mir sind die einfachen Weisen lieber, die einem gar nicht mehr aus dem Kopf gehen.« Nachdem Betrice gefunden hatte, was sie suchte, wandte sie sich wieder an Merelan. »Aber von Musik verstehe ich nichts, auch wenn ich nun seit dreißig Planetenumläufen mit einem Meisterharfner verheiratet bin. Bitte sehr, mein Junge. Eine süße Stange schmeckt doch viel besser als diese Decke. Magst du Pfefferminz?« Sie reichte Rob etwas zum Naschen.