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Eine Studentin ist besessen, aber feiert dennoch in den Tag hinein. Eine Kneipe verwirrt sich über den Ursprung der Germanen. Und ein Polizist foltert Terroristen, die im Namen der Demokratie, die Welt vernichten wollen, während ein Diktator sein geisteskrankes Luxusleben genießt.
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Inhaltsverzeichnis
Drei kleine Geschichten
Impressum
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Von Morbus Sollistimus
„Teufel sind völlig anders, als die Kirche sich das vorstellte. Sie war einfach, wie soll man das sagen: Naiv, nein, eher dumm wie Scheiße. Teufel fahren in die Leute rein, also auch in Päpste, in Bischöfe und Inquisitoren. Sie wählen sich die Hexe zu ihrem Lustfest der Brutalitäten aus. Und foltern mit dem Folterknecht. Und, wenn sie am Ende noch auf das entstellte, zitternde Fleisch der Hexe onanierten.“
„Ach, das beschreiben Sie aber hübsch und bunt.“
„Glauben Sie mir, wenn Sie die anderen Kapitel verstehen wollen, dann sollten Sie den Ernst der Lage verstehen. Wer erlebt denn Dämonen und böse Geister?“
„Die Irren, sonst niemand.“
„Genau.“
Leise wird ihr nächster Gedanke, sie erahnt, worum es geht, und überlegt, ob ein Irrer oder ein Wissender mit ihr redet.
Der scheinbar Wahnsinnige: „Zum Ende des Mittelalters hin übernahm in Deutschland, und überhaupt überall in der christlichen Welt, mehr und mehr die Medizin, also die Psychiatrie, allmählich die Aufgabe, die vorher der Kirche zustand. Die ehemalige Aufgabe der Kirche, den Zustand der psychisch Kranken zu verwalten, die geistig gesunden Verbrecher trennte man von ihnen. Was die Inquisition vor sich hatte, war ein Gemisch von Kranken und Verbrechern. Und noch der Arzt Johann Weyer, ein berühmter Retter der Hexen vor der Inquisition, nannte die Stimmen, die Halluzinationen, die manche Patienten erleben, den Satan. Satanische Phantasien. Das war im Jahr 1563 recht normal, dass man lauter Dinge den Satan nannte, aber man fing an, den Ärzten überhaupt erst einmal zuzuhören, anstatt der Kirche allein. Die Medizin selber fing dann zunehmend in den folgenden Jahrhunderten bis in die Neuzeit an, jeden für verrückt zu erklären, der glaubte es gäbe Dämonen. Und die Patienten, die Einzigen, denen sie sich wirklich zeigen, werden von den Teufeln gequält. Die Ärzte, die Familien, die Leute, die Freunde, in jeden springt ein Teufel einfach rein, und sie zeigen sich nur dem Patienten. Durchgehend quälen sie den Patienten. Sie lügen durch den Mund von Mitmenschen, was ihr Opfer angeht. Üble Nachrede, Verleumdung, seelische Misshandlungen, sie sabotieren das Leben ihrer Opfer. Wer weiß wie schlimm. Die von Dämonen besessenen Ärzte überziehen die Nerven der Opfer-Patienten, vergiften und quälen sie seelisch, sie verstümmeln ihre Menschenwürde und ihr Gehirn, sie bohren ihnen Löcher in den Schädel, wenn sie es noch wollen. Und niemand, einfach niemand kann sich dagegen wehren. Sogar ein Richter ist nur ein Mensch, der schnell von einem Teufel bewohnt wird.“
Sie lächelt: „Und Sie fordern jetzt von mir zu glauben, dass es Dämonen gibt, aber ich Sie deswegen nicht für geisteskrank, wenig intelligent, dement oder gefährlich verwirrt halte?“
Der alte Mann lächelt und nickt, er wirkt schon harmlos, nett und sympathisch: „Absolut, ich weiß, eine unglaubliche Frechheit, scheinbar größer als die sieben Todsünden. Wie gottlos von mir. Das Wichtigste haben Sie aber verstanden?“
Sie: „Ich weiß nicht. Was war Ihnen das Wichtigste?“
„Wir alle, die Menschheit hat den Krieg schon verloren. Unabänderlich, ein Schachmatt. Diese Welt gehört einer fremden Übermacht, für die Menschen Marionetten sind. Die Welt gehört, wie man das in der Religion sagt, dem Satan. Es ist wirklich wahr. Sie glauben es, vielleicht werden Sie deswegen bald Probleme haben, vielleicht auch nicht. Oder Sie glauben es nicht, dann wird vermutlich alles so bleiben, wie es ist. Und, was auch immer wir tun, was auch immer wir sagen werden, wir müssen aufpassen, dass wir keine Patienten werden. Und, egal, wie wir darum flehen, es erbitten und versuchen wollen, die Wahrheit werden wir vermutlich nie verstehen, kaum, dass sie in unsere Nähe kommt, werden wir vermutlich den Verstand verlieren.“
Sie seufzt: „Menschen, die mich nicht langweilen, nennen mich Anne, nennen Sie mich ruhig so. Das ist besser als Annemarie Rosenberg.“
„Ich bleibe beim förmlichen Doktor Segenbach.“
Sie ist enttäuscht und geht weiter daher mit ihrem bis gerade völlig fremden Begleiter – Doktor Segenbach.
Doktor Segenbach geht in Düsseldorf am Rhein-Ufer daher und lächelt, der Mond steht am Himmel: „Wir wissen nicht genau, seit wann das so ist. Wir vermuten, dass die Teufel, wie man sie früher nannte, und wie man in allen Kulturen unabhängig von ihnen erzählte, in Wahrheit seit vielen Jahrtausenden die Menschheit infiltrieren und so die Kontrolle über die Menschheit haben. Wir vermuten, es handelt sich um eine außerirdische Macht, oder sie lebten schon vor dem Menschen auf der Erde. Und, wir verstehen nicht, wie sie das machen, in den Köpfen der Menschen und überall zu sein.“
Anne schüttelt den Kopf und ist schon sichtlich empört: „Hätte ich gewusst, dass Ihre Geschichte sich so religiös entwickelt, wäre ich natürlich nicht gekommen. Ich erwartete eigentlich von Ihnen eine Deutung bestimmter psychiatrischer Phänomene. Von Ihnen als Psychiater und Neurologe. Ihre theologischen Gedanken-Gewächse waren leider nicht mein Interesse.“
Doktor Segenbach: „Sie wollten wissen, was die Stimmen bedeuten, wenn hinter ihnen scheinbar ganze Ichs leben.“
Anne: „Ja, das war meine Absicht. Ich befürchte, dass die Psychiatrie ignoriert, dass in manchen Patienten mehr als ein Ich lebt, aber diese Ichs wehrlos gegen die Kultur sind, die einfach nicht begreift, dass in einem Gehirn mehr als ein Ich leben kann. Ich gehe davon aus, dass diese übersehen und ignorierten Ichs ziemlich leiden, wenn es sie denn gibt.“
Doktor Segenbach: „Ich weiß, ich weiß. Diese Deutung werde ich Ihnen auch lassen. Es ist wahr, dass da Ichs versteckt sind, und sie leiden. Sie leiden wirklich schlimm. Aber, Sie übersehen eine Frage, wer oder was platziert diese Ichs da, wer oder was erschafft sie, und, wer oder was ist bei diesen Ichs, sie alle erschaffend, mit ihnen redend, ihnen Bilder, gar ganze Träume einflößend, sie im Grunde programmierend, und scheinbar auch irgendwohin holend, wenn sie wieder verschwinden.“
Anne runzelt die Stirn: „Ja, das ist wahr, die Ichs entstehen irgendwie, aber sie verschwinden auch wieder. Das erleben etwa die so oft belächelten Patienten der dissoziativen Identitätsstörung. Manche ihrer Ichs verschwinden einfach wieder, und niemand kann wirklich erklären, wo sie herkommen. Sage man, die Theorien sind alle philosophische Luft. Ein Ich bricht durch Belastungen in viele Teile. Leere Worte, kein biologisches Verstehen. Oder, wenn man so frech sein darf, auch Patienten der Schizophrenie hören plötzlich irgendein Ich, das zu ihnen redet, das stirbt dann scheinbar irgendwann ab, oder verstummt, kann nicht mehr reden, etwa, wenn wir den Patienten bestimmte Medikamente geben. Wobei ich hier besonders befürchte, dass ein gequältes Ich, ein nicht erkanntes, zusätzliches Ich im Gehirn das Problem sein kann. Man könnte gar sagen, es geht dann nicht um Schizophrenie, oder man erweitert den Begriff Schizophrenie um einen weiteren Symptom-Typ. Es ist absolut egal. Ich rede von Mord an Ichs, die staatlich nicht anerkannt werden, wenn es hochkommt. Was ist ein Ich, wo ist ein Ich, wenn nicht in einem Gehirn. Und, da sitzen manchmal mehrere Ichs. Ichs, die gelähmt sind und nur zusehen können, Ichs, die den Körper übernehmen, ohne das Wissen des anderen Ichs, Ichs, die nicht wissen, wieso sie nur hören, aber nicht sehen, wieso sie nur sehen, aber nicht hören. Verstehen Sie das Leid von dem ich rede?“
Doktor Segenbach nickt und schaut traurig: „Doch, nur deswegen, weil sie überhaupt im Ansatz verstehen, wie leidvoll es vor sich geht, wollte ich Ihnen diese Geschichte erst einmal mit der alten Seite der Münze zeigen.“
Anne lacht und deutet den Abschied an: „Doktor Segenbach, ich glaube nicht an den Satan. Und ich bin natürlich empört über Ihre Geschichte. Ich nahm ernsthaft an, Sie wären ein Arzt, der bei Verstand ist, und mir wirklich weiterhelfen kann. Wir leben im 21. Jahrhundert. Und Sie reden deutschen Unsinn, der fünfhundert Jahre alt ist. Verzeihen Sie mir, aber damit bin ich natürlich doch wenig erheitert, dass Sie mich herlockten.“
Doktor Segenbach dreht sich darüber nicht überrascht zu ihr, ebenfalls Abschied wirkend: „Melden Sie sich einfach wieder bei mir, wenn Ihnen doch danach ist, an den Satan zu glauben.“
Anne seufzt: „Also gut. Ich verabschiede mich damit bei Ihnen. Genießen Sie noch ein wenig den Abend. Aber, ich gehe besser, bevor ich anfange zu sagen, was ich wirklich denke.“
Sie schüttelt seine Hand, er die ihre. Er nickt, sie seufzt: „Einen guten Abend, Herr Doktor Segenbach.“
Anne schüttelt den Kopf und dreht sich um.
Sie geht, er schaut ihr nach. Sie dreht sich um, er winkt ihr noch nach.
Sie schüttelt wieder den Kopf: „Meine Güte, und solche Menschen sind am Ende echte Ärzte.“
Am Telefonhörer im Badezimmer beim Entkleiden: „Nein, Herr Segenbach ist ein Wahnsinniger. Religion, Aliens, ich musste nicht weiter darauf eingehen, was er dazu meint.“
Annes Mutter: „Schätzchen, was soll ich dazu denn sagen.“
Anne; „Er wollte mir ernsthaft auf meine Anfrage hin erzählen, dass der Satan die Antwort wäre.“
Die Mutter laut: „Ha! Ha!“
„Ich finde das nicht komisch, Mom.“
Ihre Mutter: „Oh, Kindchen, das ist urkomisch. Du und dein Unsinn über die Psychiatrie. Niemand versteht, was du noch von den Ärzten willst. Darum sind es immer solche Verrückten, du bist selber verrückt.“
Sie überlegt: „Da bin ich auch unsicher. Ich meine, was will ich von diesen Ärzten überhaupt. Entweder sie halten sich selber für Gott, sie haben mit vollster Anstrengung keinen Gott, oder sie erzählen mir Unsinn über Teufel, Dämonen und Geister.“
Ihre Mutter wieder: „Ha! Ha!“
Anne ernst und traurig: „Was, wenn ein Ich neben dem Ich im Gehirn lebt, und unsere ganze Kultur ihm nicht einmal sagt, dass es wirklich existiert.“
Schweigen am anderen Ende des Hörers.
Anne wartet auf eine Antwort, aber nach einer halben Minute sagt ihre Mutter nur: „Es ist wirklich spät, wollen wir das Gespräch nicht beenden. Meine Augen sind schon ganz klein.“
Anne: „Ja, entschuldige, Mom. Aber die Geschichte war einfach so merkwürdig, ich musste dir das erzählen. Sorry, ich hab gar nicht auf die Uhr gesehen.“
Es ist kurz vor Mitternacht.
Ihre Mutter: „Danke, ich werde mich dann hinlegen. Und dir empfehle ich das auch zu tun.“
„Ja, Mom. ich leg mich gleich hin.“
Ihre Mutter: „Und fang ja nicht an Bücher über den Satan zu wälzen. Und hör mir ja nicht hinterher noch diese furchtbare Rockmusik. Ha! Ha!“
Anne schmunzelt: „Ja, Mom, ich werde nur noch Mozart hören.“
Die Mutter lacht: „Gute Nacht.“ Und legt auf.
Zwei Stunden später sitzt Anne im Bett und liest Artikel über die Hexenverfolgung. Erlebnisse, die Hexen unter Folter erfanden. Oder, die wohl Halluzinationen von ihnen gewesen sein könnten.
Sie hört dabei Nirvana: „ … Here we are now, entertain us ...“
Sie schaut sich Bilder von Fabelwesen und Dämonen an, die damals von Hexen wohl angebetet wurden. Bilder aus der ars goetia und der pseudomonarchia daemonum. Letzteres ein Buch von dem Arzt Johann Weyer. Und sie landete dort nur wegen Doktor Segenbach.
Sie schmunzelt doch: „Angenommen, viele dieser Geschichten sind nicht nur erzwungene Falschaussagen, sondern darunter sind die Erlebnisse von Psychosen, Rauschgiften und Vergiftungen, dann ist das schon wie eine merkwürdige Landkarte in das Reich des Wahnsinns dieser mittelalterlichen Patienten der noch jungen Psychiatrie.“
Anne macht die Musik aus, das Müsli fällt von ihrem Bett, und sie stolpert in die Küche.
Dort geht sie zur Kaffee-Maschine und nimmt noch eine Tasse: „Drogen aus der Natur, Hexen und der Teufel. Ein Hoch auf Mr. Koffein.“
Plötzlich spielt die Musik wieder im Schlafzimmer, so laut durch die dicken Kopfhörer, sie hört den Text: „Think I need a devil to help me get things right.“
Sie runzelt die Stirn und geht wieder ins Schlafzimmer und macht die Musik wieder aus.
Sie macht den Fernseher an und will kurz abspannten.
Der Fernseher: „Gerade in unser Welt übersehen wir, welche Informationen, bei den vielen, vielen neuen Erkenntnissen, die wichtigen sind.“
Sie trinkt Kaffee und schaut gelangweilt in den Bildschirm.
Ein alter Glatzkopf und ein Moderator, der ihm alles glaubt, der Glatzkopf: „Heute geht es um Gier. Früher ging es um Enthaltsamkeit. Und heute bestrafen wir die Enthaltsamen. Wir haben eine ganze Schule davon errichtet.“
„Aber, was wollen Sie uns sagen?“
„Der Teufel ist das Nichts. Er ist nirgendwo und dennoch ist er überall. Er existiert nicht, aber deswegen gibt es ihn doch. Er ist wie die Null, sie können die Null nicht aus dem System löschen.“
Zisch geht der Fernseher aus.
Anne geht der Mund auf: „Scheiße, nein. Alter, mein Fernseher! Nein, nicht jetzt.“
Sie nimmt die Fernbedienung und drückt wütend drauf herum, der Fernseher geht wieder an, Anne: „Ja! Gut.“
Der Glatzkopf: „Goethes Teufel, Mephistopheles, der Geist, der stets verneint, ist eine Metapher für die Vergänglichkeit, den Tod, der ultimative Antagonist, der Willen zur allgemeinen Zerstörung des Seins, die Negation der Existenz, er ist quasi der Neinismus, der höchste Nihilist.“
Sie schaltet um, ein Bauer zu einer Bäuerin: „Und könntest du der Menschheit eine Geschichte erzählen, die sie immer wieder an die wahren Werte erinnert, was würdest du erzählen?“
Anne schaltet wieder um, Werbung: „Denken Sie daran! Was wirklich zählt. Ein Auto steht im Bild.“
Sie schaltet den Fernseher wieder aus und trinkt am Kaffee: „Wieso habe ich vergessen, warum ich kein Fernsehen mehr sehe.“
Vor sich die Bibel von Dämonen, einer fällt ihr auf, eine kleine Eule steht da und hat ein Krönchen auf.
Anne vor Wikipedia: „Der Dämon Stolas, Stolos oder Solas ist ein Dämon und Großfürst und Prinz der Hölle und zeigt sich meistens in Gestalt einer Eule mit Ibisbeinen, wobei er gleichzeitig eine Krone auf dem Kopf trägt. Zusätzlich kann er aber auch menschliche Gestalt annehmen, sofern er von einem Exorzisten beschworen wird und den Befehl dazu erhält. Stolas lehrt seinem Beschwörer, das Schätzen von kostbaren Edelsteinen und unterrichtet ihn in Astronomie und Botanik, besonders in der Lehre der giftigen Pflanzen und Heilkräuter. Ihm gehorchen 26 dämonische Legionen und er ist einer der 72 Geister der Ars Goetia.“
Anne schaut schief in den Artikel: „Besessene, den Begriff der Besessenheit gibt es heute noch in der Psychiatrie. Wenn ich einen Patienten bestimmter Schizophrenien, vielleicht auch einen Epileptiker, einen Borderliner, oder jemanden, der an dissoziativer Identitätsstörung leidet, hypnotisiere, und versuche, Stolas zu rufen, dann kommt er auch?“
Anne schmollt und schaut schief zur Decke, sie erwägt es kurz, sie nimmt es ernst, sie nimmt es nicht ernst, sie nimmt es natürlich nicht ernst, sie schüttelt den Kopf: „Was für ein Unsinn.“
Ein paar Stunden später, Anne hat nicht geschlafen und sitzt in der Psychologie-Vorlesung, der Professor: „Was ist ein Ich. Niemand weiß das, aber Sigmund Freud.“
Der Saal ist erheitert, der Professor ganz im Element, Anne hat schwarze Augenränder und schaut ihn gelangweilt an.
Der Professor: „Ein Ich, das ist eine Singularität mit einem Speicher und einer Rechenmaschine verbunden. Die Rechenmaschine, das Unterbewusstsein zwingt einem Gefühle auf, aber es macht und kann auch andere Dinge. Die, nennen wir es mal so, Rechenmaschine benutzt angeborene und angelernte Algorithmen. Was eindeutig ist, wir müssen etwa Sprache erst erlernen, aber, ob wir Sprache erlernen können, mag zu großen Teilen angeboren sein. Tiere können rechnen, sie können zählen, also kleine Mengen, wie etwa bis sechs, viele Vögel können das, ihre Gene bringen das her. Und, irgendwie ist das menschliche Bewusstsein, das Ich, das aus den Genen des homo sapiens resultiert, ein großes Gebäude von Fähigkeiten. Über Milliarden Jahre hat das Leben entlang der Evolution Algorithmen gesammelt. Das Programm der Fortbewegung, der Orientierung, der Bedeutung der Sinne, die Deutung der Daten, die durch Nase, Augen, Ohren und so manchem Organ über die Welt zum Ich vordringen, die Leiber wie Produkte von Algorithmen mit diesen Daten umzugehen, das Verhalten der Leiber ein Sammelsurium von Algorithmen. Die größte Frage, die sich vielleicht endlich mal ein Programmierer fragen sollte, wie kompiliert man genetische Programme, sodass sie etwa auf einem PC ausgeführt werden können. Stellen Sie sich das vor, Sie würden die Gene von Tante Emma aus dem Dorf Irgendwo als JSON-Datenformat auf ihrem Rechner haben, ein paar Megabyte, und laden Tante Emma dann in ihrem Computer, sodass der das Programm der Gene ausführt. Tante Emma wäre noch nichts, sie wäre unwissend, könnte nicht sprechen, sie hätte keinen Namen und wüsste nicht wie ihre Mutter hieß, außer man würde ihr Programm mit Daten befüllen. Aber, wäre sie schon lebendig, oder wäre sie ein totes Programm?“
Anne trinkt einen Energie-Drink auf Ex. Der Professor redet, sie trinkt und trinkt. Es ist eine große Flasche.
Der Professor: „ ... und, ob der Teufel existiert, das fragen sie am besten mal eine Halluzination.“
Der Saal wird still, der Professor: „Ja, doch. Denken Sie mal darüber nach. Wenn ein Ich in einem Gehirn lebt, woher wollen wir wissen, dass die Halluzination des Ichs nicht auch lebendig ist?“
Anne nickt, endlich gehen ihre Augen auf!
Der Professor ernst und vertiefend: „Was ist ein Ich?“
Anne zeigt auf, vor sich, was für ein Zufall, das Element ihres Themas, der Professor fragt sie auch gleich: „Ja?“
Anne: „Wenn eine Halluzination ein Ich hat, wie fühlt sich dieses Ich eigentlich? Muss es nicht unheimlich verwirrend für das Ich sein, wie es entstand. Also, irgendwie als Defekt der Natur? Oder gar mit Absicht der Natur? Plötzlich ist es da und lebt.“
Der Saal lacht.
Der Professor, die Zeit vor Augen: „Also, so psychedelisch wollte ich jetzt nicht werden, aber ich denke, die Halluzination ist ziemlich high.“
Der Saal lacht lauter. Anne äfft den Professor leise nach: „Ziemlich high.“
Der Saal lacht immer noch.
Sie packt ihre Flasche wütend in den Rucksack. Und zieht eine Fratze, der Professor findet es komisch, alle ebenso, sie muss sich dem fügen.
Der Professor: „So, das war es jetzt auch schon wieder. Wir sehen uns nächste Woche wieder.“
Alle klatschen.
Der Professor zeigt auf Anne, viel zu cool, um auf ihn wütend zu sein. Als wäre er ein Rockstar.
Ein spätes Mittagessen. Anne sitzt bei McDonald's. Vor ihr sitzt eine Familie, das schwarze Kind hängt über der Schulter des scheinbaren Vaters. Die Familie ist doch recht laut. Das Kind zieht ihr eine Fratze, immer wieder mal. Breiter Mund mit Hilfe der Finger, schiefes Grinsen mit Hilfe der Finger, die lange Zunge und der schielende Idiot.
Anne ist nicht beeindruckt, macht Fratzen zurück.
Ein paar Minuten vergehen so. Anne schaut schon absichtlich nicht mehr hin, was das Kind auf der Schulter des Vaters so macht.
Sie liest angeblich den Philosophen Schopenhauer: Über das Geistersehen.
Anne denkt nur: „Ja, auch bei Schopenhauer sind Geister, Dämonen und dergleichen wohl nur Halluzinationen.“
Anne gähnt: „Ist die Welt eigentlich eine Halluzination.“
Sie schaut zufällig wieder hin. Das Kind macht die dicke untere Lippe, mit aggressivem Blick.
Am Abend, ein Freund, Metti, sitzt bei ihr am Küchentisch, Metti: „Verstehst du! Die fressen meine Seele auf. Meine Familie ist die Hölle.“
Anne müde: „Ja, die reden dann halt so einen Unsinn, als würden sie mit ihrer Sprache einen ins 32. Jahrhundert hacken, aber nichts steckt dahinter.“
„Genau! Sie so, Hacks sind erlaubt, willkommen in der richtigen Welt.“
Seit einer halben Stunde redet Metti über seinen Vater, seine Onkel, Tanten und Großeltern.
Metti: „Mein Vater ist ein geisteskrankes Arschloch, aber er weiß es nicht. Und er kommt mir mit Psychologie, ohne es zuzugeben! Er ist ein Arschloch-Zombie. Ein Dummkopf der Über-Verdrängung aller Wirklichkeit. Immer nichts ist wahr, und ich bin bei ihm ein Faschist, wenn ich sage, es gäbe üble Nachrede, Verleumdung und Beleidigungen. Das wären Gesetze weswegen ich ihn anzeigen sollte! Er ist der Scheiß Faschist in Pseudo-Hippie-Kleidern.“
Anne: „Aber er erzählt dennoch herum, du wärst beschränkt wie ein Hosenscheißer, in der 3. Klasse auf der Sonderschule. Und hättest die Störung, dass du ein Doktor werden willst.“
Metti: „Üble Nachrede, verflucht! Ich studiere Medizin! Und er redet so!“
Anne zuckt mit den Schultern: „Nein, ich verstehe immer noch nicht, warum das Sigmund Freud zum Verbrecher macht.“
Metti steht auf und fasst sich an den Kopf: „Ahhh!“
Sie trinken Bier, sie erträgt seine Geschichten. Er weint, sie lacht, er lacht, sie weint. Irgendwann ist er gegangen, die große alte Uhr hing an der Wand und tickte, während sie Joints rauchte, und die Uhr anstarrte.
Am späten Abend, kurz vor Mitternacht, sitzt Anne wieder im Bett, und arbeitetet an ihren Theorien über das zusätzlich Ich im Gehirn, das sich durch Halluzinationen manifestiert, den Kugelschreiber klickend. Anne: „Was soll sie nur schreiben: Das Ich ist ein Irrtum der Kultur, es gibt kein Ich …“
Die Stille umgibt sie, da hört sie merkwürdig deutlich in ihrer Wohnung sich von dem Lärm des Hauses unterscheidend eine Stimme. Sie scheint irgendwie im Nebenzimmer zu sein. Also, in der Küche, sie klingt merkwürdig, es ist nur ein Wispern, dass man kaum versteht.
Anne runzelt die Stirn. Dann kommt eine Stimme laut und deutlich, wie eine Person, die im Türrahmen ihres Schlafzimmers steht, doch die Stimme ist unheimlich tief, klingt auch unmenschlich tief: „Dele deum.“
Anne erschreckt und schreit kurz und leise auf.
Sie schaut rasch zum Türrahmen: Da steht niemand.
Der Schauder läuft ihr über den Rücken.
Anne: „Hallo?“
Nichts passiert, niemand antwortet ihr.
Und sie sitzt da: „Scheiße. Ich denke ich habe heute Abend doch zu viel gekifft.“
Dann lacht Anne, ihr Ereignis: „Fuck, Scheiße, so klingen halluzinierte Stimmen?!“
Sie freut sich richtig und fragt gleich los: „Hallo? Kommt da noch mehr?“
Sie schaut auf den leeren Türrahmen, doch nichts hört sie mehr und nichts passiert. Sie freut sich: „Geil, ich habe eine Stimme halluziniert.“
Sie rennt schnell durch die Wohnung, Küche, Bad, Wohnzimmer und zurück ins Schlafzimmer, sie freut sich: „Ja, niemand hier. Das war eine Halluzination!“
Sie setzt sich wieder ins Schlafzimmer, ein paar Minuten und schaut hin und her, und horcht, doch nichts passiert.
Anne zuckt die Schultern und googelt: „Dele deum.“
Google: „Lösche den Gott.“
Latein-Vokabeln. Delere: Vernichten, zerstören, Imperativ: Dele. Deus: Gott. Deum, Akkusativ Gott. Wie sie es schon beim Latinum hätte wissen sollen.
Anne zögert kurz, ihr fällt jetzt erst wieder ein, was Doktor Segenbach zu ihr sagte: „Melden Sie sich einfach wieder bei mir, wenn Ihnen doch danach ist, an den Satan zu glauben.“
Anne fühlt sich immer noch nur manipuliert: „Dieser Wichser.“
Das Telefon klingelt, sie zuckt die Schultern und nimmt ab, ihre Freundin Sarah: „Lass abzappeln gehen.“
Anne: „Ok.“
Drei Stunden später auf der Toilette einer Disco, dumpfe Töne der Musik. Sie nehmen Speed und rauchen einen Joint.
Sarah: „Arschlöcher, Dreckswichser, Missgeburten der Hölle, das sage ich dir!“
Anne, den Geldschein in der Nase: „Ja, richtig, das sind die Leute, die reich werden, und in der Politik die Kontrolle haben.“
Sarah: „Und das ist, was ich auch erreichen will!“
Anne: „Was, Politiker werden.“
Sarah: „Nein, Politiker haben doch keine politische Kontrolle, das haben nur die Reichen.“
Sie gehen tanzen, Anne rutscht beinahe auf Kotze aus, und dann tanzen und tanzen sie eben.
Stunden später, ohne Hunger, Müdigkeit, Pause oder das Gefühl von Langeweile: Sonnenaufgang. Anne und Sarah tanzen immer noch.
Und dann hat Sarahs Freund Uli LSD mitgebracht. Alle drei legen ein Stück Papier auf ihre Zunge.
Uli: „Aber achtet auf das Setting, und nimmt Rücksicht auf die anderen.