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Weitere bewegende Zeugnisse der Lebensreise des Autors im Fluss der Zeit: nach Jahrzehnten gesuchte erneute Begegnungen mit Menschen in Australien, Israel, den USA und Deutschland ebenso wie unfreiwillige „Schattenbegegnungen" beim Studium seiner Stasi-Akten in Berlin. „In dieser meisterlichen Kurzprosa zeigt sich die Spannweite zwischen Region und weiter Welt, zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen kleinen Verhältnissen und exotischen Abenteuern, zwischen sozialer und künstlerisch-literarischer Erfahrung." (Aus der Laudatio zur Verleihung des Literaturpreises Ruhrgebiet - Hauptpreis für das Lebenswerk - 1993)
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Seitenzahl: 164
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Walter Kaufmann
Ein jegliches hat seine Zeit
Wiederbegegnungen auf drei Kontinenten
ISBN 978-3-96521-274-9 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
Das Buch erschien erstmals 1994 bei der edition q Verlags-GmbH, Berlin
Für Angela
2020 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
www.edition-digital.de
Da steht er nun im Licht des schwindenden Tages – Luke Murphy, schmächtig, braun gebrannt, Strandgänger wohl noch immer, das Haar schlohweiß geworden in all den Jahren, das Bärtchen modisch gestutzt, und wie er sich kleidet zeigt, er will die Jahre zurückdrängen: enge Jeans, Spangenschuhe mit erhöhten Absätzen, ein Kettchen im offenen Hemd. Und ehe wir noch die paar Schritte von der Haustür meines Melbourner Gastwirts zu seinem zerbeulten Volkswagenbus gemacht haben, hat er die Brücke zu unserer gemeinsamen Vergangenheit geschlagen, zu jener Nachkriegszeit, als wir beide allwöchentlich von Kirche zu Kirche zogen, um mit Hochzeitsfotos unseren Lebensunterhalt einzubringen, der mit den Geschichten, die wir schrieben, nicht einzubringen war – „Weißt du noch? Löcher in den Schuhsohlen, aber Bügelfalten in den Hosen und blütenweiße Hemden."
Und schon ist er wie eh und je im Erzählen. Irland taucht auf, er war kürzlich in Irland, das musste sein, koste es, was es wolle, der Kreis musste geschlossen werden, ehe ihn die Spannkraft für ein solches Unternehmen verließ – von Melbourne nach Belfast, wo er geboren ist, und was er von dort zurückgebracht hat, ist nichts Heutiges. Es wurde eine Reise in die Kindheit. Wie war das doch, als ihn die Mutter zum Krämerladen schickte und er die Pfundnote verlor? Eine Tragödie. Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat er noch einmal den Weg abgesteckt, den er damals auf der Suche nach dieser Pfundnote gegangen ist. Das rußige kleine Reihenhäuschen jener Zeit gab es noch, den Krämerladen in der Falls Road auch, und alles war wieder wach in ihm – Angst, Schrecken, Verzweiflung. Ein furchtbarer Verlust, an dem Mutter, Brüder, die Schwestern, besonders aber er zu leiden hatten, bis plötzlich, wundersame Fügung, die Pfundnote wieder aufgetaucht war.
Vom Steuer des Busses wirft Luke mir einen Blick zu.
Als Kind hatte er sehr wohl an den Windstoß geglaubt, der den Geldschein über die Kirchhofmauer getragen haben sollte, wo ihn der Pfarrer fand. Und das Mädchen, das der Familie das Geld zurückgebracht hatte, war ihm nicht wie der Sendbote des Pfarrers vorgekommen, sondern eher wie der Sendbote Gottes.
In South Melbourne lenkt er das Fahrzeug in eine Parklücke, und ehe wir noch aussteigen, sagt er: „Wunder meiner Kindheit – diese Mauer aus Backstein und hoch wie ein Haus! Nicht einmal ein Wirbelwind hätte die Pfundnote über solch ein Hindernis geweht. Wie also soll ich heute die Geschichte schreiben?" Er gibt sich selbst die Antwort – der Leser, nicht jenes verwirrt-verzweifelte Belfaster Kind, wird erkennen, dass der Pfarrer das Geld aus eigener Tasche opferte.
Irische Geschichten!
Er hat sie alle parat jetzt nach der großen Reise, die Schleusen der Erinnerung sind geöffnet, und wenn er sparsam lebt, er, wie zeitlebens gewohnt, Früchte und Gemüse auf dem Victoria-Markt kauft, im Ausverkauf spätnachmittags, wird die Rente reichen, wird er Zeit haben fürs Schreiben – keine Hochzeitsfotos wird er mehr zu machen, kein Taxi mehr zu fahren brauchen. Schreiben, schreiben, schreiben.
„Ich trink nicht mehr, weißt du. Damit ist's vorbei!"
Ach, der Alkohol – das Kreuz seines Lebens! Und er berichtet, was ihn in all den Jahren die Trinksucht gekostet hat: die Frau, die Tochter, das kleine Haus in Malvern. Die Töchter und das Häuschen sind auf den Fotos zu sehen, die er aus der Brieftasche zieht. Kathleen, schön und schlank und siebzehn Jahre, hat heute Geburtstag, doch er wird sie nicht besuchen können, denn bis zum nächsten, gerichtlich festgelegten Treffen sind es noch zehn Tage.
„Schade, Luke!"
Er winkt ab. Ach was, die Töchter bleiben ihm, lieben ihn, und von der Frau fühlt er sich befreit. „Sie hat mich nie verstanden. Jedes ihrer Worte wuchs sich am Ende zu einem Vorwurf aus, bis ich's leid war und mit nichts als einem Köfferchen verschwand."
Und wohin?
Seine Unterkunft, er nennt sie Bungalow, im Hinterhof eines Reihenhäuschens beim Hafen ist kaum mehr als ein Verschlag – Tisch, Stuhl, Bett, Schrank, und dazwischen, wie er sagt, kaum Platz für eine Katze.
„Besser als 'ne Parkbank", meint er, „oder unter Brücken."
Und wieder offenbart er sich, vergegenwärtigt mir jene Nacht, als ihn die Polizei im Park auflas, volltrunken war er und wie betäubt vom Alkohol, und ihn zusammen mit anderen in eine Zelle warf.
„Da lag ich also, bis ich allmählich zu Bewusstsein kam und es dumpf in mir zu bohren anfing – wer bist du, wo kommst du her, wie bist du hier gelandet? Und hatte keine Antwort darauf, stieß immer nur ins Leere. Weißt du, wie furchtbar das ist! Und dann höre ich irgendwo in der Zelle jemand was von einem Mädchen sagen, ein Kind noch, das im Park vergewaltigt worden ist, und dass sie den Kerl noch suchen. Im Park. In welchem Park? Und mit einem Beben in der Seele, mit Angst und Schrecken frage ich mich, kann ich das gewesen sein, ich, ich selbst? Das frage ich mich, und das Beben in mir legt sich erst, als sich herumspricht, dass sie den Kerl endlich haben. Und da schwöre ich mir, nie, nie wieder im Leben auch nur einen Tropfen anzurühren. Und so hab ich's bis heute gehalten. Schreiben, schreiben, schreiben. Nur dafür lebe ich noch."
Er merkt, dass ich ihn mustere – die Spangenschuhe, das Kettchen am Hals.
„Talmi", sagt er und legt die Hand aufs Herz. „Das Echte steckt tiefer."
Das war in Münster, im Westfälischen, und gerade hatte der Richter die Verhandlung eröffnet, als die Tür zum Gerichtssaal aufflog und laut gegen die Wand schlug. Im Rahmen zeigte sich ein bärtiger Mann mit zwei prallen Aktentaschen, ein fülliger, dunkelhäutiger Kerl mit dichtem Kraushaar, das ihm in die Stirn fiel. Er trug Jeans und eine Militärkutte und, als sei das nicht auffällig genug, ließ er polternd seine Taschen fallen und klopfte seine Kutte nach etwas ab. Er wirkte alles andere als von der Zeitung, musste es aber sein, denn der Gerichtsdiener ließ ihn nach einem Blick auf den Ausweis ein.
Der Mann nickte ungerührt, griff sich seine Taschen und ging schwerfällig wie ein Ringer zur Pressebank. Dort hielt er mir die Hand hin und nahm neben mir Platz.
„Nenn mich Mo", sagte er.
Schon pochte der Richter mit dem Hammer aufs Pult. Der Gerichtsdiener forderte Ruhe, was meinen Nebenmann nicht beirrte.
„Woher und für welches Blatt?", wollte er wissen.
Ich raunte es ihm zu.
„Ostberlin", wiederholte er vernehmlich und legte mir die Hand auf die Schulter. „Sieh einer an!"
Der Richter blickte zornig auf, und während er die Verhandlung in Gang brachte, zog der Mann namens Mo eine Kladde aus einer der Aktentaschen und machte sich mit mehrfarbigen Stiften an die Arbeit – in Rot, in Grün, in Blau. Er schrieb unentwegt, und wie auch immer er auf den Richter gewirkt haben musste, Fleiß war ihm nicht abzusprechen. Keiner der Presseleute zeigte sich aufmerksamer, auch ich nicht, zumal mir später am Nachmittag ein Treffen mit dem Angeklagten in Aussicht stand und ich nur Stichworte zu notieren brauchte: Studentendemonstration mit Todesopfer – Universitätsprofessor bezichtigt Polizei vorsetzlichen Mordes – riskiert Verleumdungsklage – Beweggründe dafür genau herausfinden.
„Wäre gern dabei", sagte Mo, als er während der Gerichtspause von der Verabredung erfuhr, „werden uns bestimmt nicht in die Quere kommen – grundverschieden unsere Zeitungen."
Das sah ich auch so und nannte ihm Zeit und Ort. Er aber verfehlte die Verabredung, weil er beim Verlassen des Gerichts wegen Klärung eines Sachverhalts auf ein Polizeirevier gebracht worden war.
„Freiheit, die ich meine", sagte er, als er, lang nachdem der Professor schon gegangen war, in der Gaststätte auftauchte.
Trotz des Lächelns, das er sich mir zuliebe aufzwang, wirkte er aufgebracht, aus den Fugen geradezu – der struppige Bart, das wirre Haupthaar, der Ausdruck seiner dunklen Augen, und wie er da stand in der zerschlissenen Kutte, den verwaschenen Jeans: von Kopf bis Fuß trotziger Bürgerschreck. Er setzte die Aktentaschen ab, wischte sich Bart und Gesicht mit einem übergroßen karierten Schnauztuch, und dann bestellte er zwei Bier.
„Wirst du mit mir teilen, was unser Mann zu sagen hatte?", fragte er, alles andere als fordernd.
„Kein Problem."
„Danke", erwiderte er, und wie schon im Gerichtssaal legte er mir die Hand auf die Schulter. „Geht schließlich um die Sache."
Das bestätigte ich ihm.
„Na also", sagte er und versicherte mich seiner Freundschaft.
Bis zum Prozessende sahen wir uns mehrfach, und auch später in Berlin begegneten wir uns. Inzwischen hatte ich längst erkannt, dass sich unter Mo's wüstem Äußeren ein liebenswerter Mensch verbarg, einer mit Herz für die Schwachen – besonders aber auch für deren Verfechter. Nicht zufällig hatte er jenen Prozess in Münster aufgegriffen, und es ehrte ihn, wie er seine Reportage angelegt hatte.
Auf der Suche nach weiteren Publikationen von ihm entdeckte ich in einer Reihe linker Blätter ähnlich streitbare Berichte. Der sich da, wo immer er auftauchte, schlicht als Mo vorstellte, war mehr, als er vorgab, war ein genauer Beobachter und gewissenhafter Reporter mit Namen Moriscos.
Moriscos – unaufgefordert hatte er mir von seiner maurischen Herkunft erzählt, sie bis weit in die Vergangenheit hinein verfolgt, als seine Urväter aus Spanien vertrieben worden waren. Auch wie sein Vater nach Österreich gelangt war, erfuhr ich, und von dessen Heirat mit einer offenbar recht lebenstüchtigen Frau aus Graz. „Sie hatte es nicht leicht mit uns Berbern", sagte er lächelnd, und spielte damit auf das nomadenhafte Leben des Vaters und das eigene an. Zu Besitztum oder Geld seien sie nie gekommen, er so wenig wie der Vater, stets habe er von der Hand in den Mund gelebt und sich wie die Blätter, für die er schrieb, schlecht und recht über Wasser gehalten. Ein Berberleben eben, aber mit österreichischem Pass, weil in Graz gebürtig, mit dem er mühelos durch die Welt kam. Dass er unbeschadet Länder bereiste, in denen mit tödlicher Gewalt geherrscht wurde, schrieb ich jener Paarung von Furchtlosigkeit und Schlichtheit zu, die er an den Tag legte, dieser kindlich-offenen Art, die so entwaffnend war wie seine Großherzigkeit. Wo er hinkam, teilte er mit Freuden und erwartete dabei auf der Gegenseite nur, dass man ihn akzeptierte, so wie er war. Ich erlebte, wie er in Restaurants leere Tische ignorierte, sich gesellig zu Fremden setzte und es durch seine ungezwungene Art sehr bald schaffte, mehr als nur oberflächlichen Kontakt herzustellen, wobei seine Stimme und der Ausdruck seiner Augen keine unwesentliche Rolle spielten. Ich selbst hatte ja deren Wirkung verspürt und ihn zunehmend angenommen. Und dabei war ich mir sicher, er würde zu der Freundschaft stehen, die er gleich anfangs angeboten hatte – wie es sich dann auch ein Jahrzehnt später im fernen Australien erwies.
Aus purer Freundschaft hatte sich Mo in der Ruine eines alten Chevrolets, der nicht jünger als die Vehikel war, die er in Europa fuhr, auf die Zweitagereise von Sydney nach Melbourne gemacht – über Berg und Tal und staubige Landstraßen, entlang endloser Zäune vor weidenden Schafherden, durch Niederungen von Mulgagestrüpp und Eukalyptusbäumen, auf hügelige Landschaften zu, wo in der Ferne Kängurus grasten, weit hinter sich jetzt die Blauen Berge von Neusüdwales, vor sich die Ausläufer der Australischen Alpen, durch Wagga Wagga und Albury und etliche Dörfer war er gefahren über eine Strecke, die ich von meiner Jugend her kannte, und niemals hätte ich sie ihm zugemutet nur um mich aufzusuchen. Doch Mo hatte die Strapaze auf sich genommen und war unbeschadet, wie wohl stets vor jedem von ihm gesuchten Haus in Orten rund um die Welt, vor der Pension, in der ich wohnte, eingetroffen.
Drei Tage zuvor war ich in einem obskuren linken Blatt namens Eureka, das in Sydney erschien, auf eine Reportage über den Teufelskreis gestoßen, in den junge Schwarze am Rand der Städte unweigerlich gerieten, Menschen, die entwurzelt waren, losgelöst von ihren Stämmen, und arbeitslos verkamen, dem Alkohol, dem Rauschgift verfallen, der Prostitution und dem Diebstahl – und die alle vor dem Richter und in Gefängnissen gelandet waren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich las, von wem die Arbeit stammte – Moriscos. Ich sah ihn in Kutte und Jeans, beladen mit zwei Aktentaschen durch La Perouse wandern, draußen am Rand von Sydney, wo die Aborigines hausen, sah ihn das Leben der Schwarzen teilen – und dabei hergeben, was er besaß. Mo auf dem fünften Kontinent – darum also hatte ich seit langem nichts mehr von ihm gehört, es hatte ihn, Nomade, der er war, und Experte in Sachen billigster No-show Tickets, bis ans andere Ende der Welt verschlagen, so wie es auch mich in diesem Jahr hierher verschlagen hatte. Und wie er, war auch ich mit dem Schicksal der Aborigines befasst, einem im besonderen, dem von Ricki Vincenti, einem australischen Mischlingskind, das einst ins heutige Chemnitz gelangt war und später wieder nach Australien – eine anrührende Asylgeschichte, die zwölf Jahre zurücklag und deren Ausgang ich nachgehen wollte.
Die mögliche Wiederbegegnung mit Mo schien mir in dem Augenblick nicht weniger abenteuerlich als meine Suche nach Ricki, und kurz entschlossen wählte ich die Nummer jenes linken Blattes in Sydney. Nein, Mo – auch hier also nannte man ihn so – war nicht im Haus, doch falls ich eine Telefonnummer hinterlassen wollte, man würde zusehen, dass er zurückrief, und keine zwei Stunden später redeten wir miteinander.
„Mo, old boy, how come, how come?"
Ich sprach Englisch, und prompt antwortete er in Englisch – welch eine Überraschung es sei und was er für mich tun könne.
„Nichts eigentlich", antwortete ich ihm, besann mich dann aber und erwähnte mein Vorhaben auf den Spuren von Ricki Vincenti. Ob er da Hinweise hätte oder in La Perouse Auskünfte erhalten könne?
„Will see, will see", sagte Mo, und keine weiteren zwei Stunden waren vergangen, da hatte er wieder angerufen: „Ich mach mich noch heute auf den Weg zu dir."
Ich protestierte. Er aber legte unbeirrt die Stunde fest, in der er vorfahren würde. „Be ready for me. I'll be there!"
Und so kam es, dass ich am Spätnachmittag des übernächsten Tages eine Autohupe krächzen hörte und einen gealterten, ergrauten Mo, füllig noch immer, wie eh und je in Kutte und Jeans die Straße überqueren und die Stufen meiner Melbourner Pension hochkommen sah. Er schleppte zwei Aktentaschen, und er schleppte sich selbst, sichtlich angegriffen von der langen Fahrt – und, wie sich zeigte, von der Nachricht, die er zu überbringen hatte.
„Der, den du suchst, ist tot."
Ich sah Mo an. „Was sagst du da?"
„Sie haben ihn ermordet. Deinen Ricki Vincenti haben die Gefängnisbullen ermordet. Ein Fluchtversuch, wie ich höre. Mehr weiß ich nicht. Ist ja auch erst ein paar Tage her und weit weg im Westen passiert – warst du je in Perth?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Du wirst dorthin fliegen müssen."
Ich nickte.
Ich dachte an den langen Flug, und dass Mo nun allein die beschwerliche Strecke nach Sydney würde zurückfahren müssen.
„Warum bloß hast du nicht einfach angerufen?", fragte ich ihn.
„Sind wir Freunde oder nicht?"
Erst da begrüßten wir uns wie Freunde, lagen wir uns in den Armen.
„Natürlich bin ich froh – ist doch klar!"
Er schob seine zwei Aktentaschen in die Zimmerecke, ging zum Waschbecken und erfrischte sich. Beim Abtrocknen sah er sich um und entdeckte das Sofa. Er ließ das Handtuch fallen und ging dorthin. „Erst schlaf ich mal", sagte er und, schon ausgestreckt und halb eingeschlafen, fügte er hinzu: „Denk an Münster – so was bindet doch, oder?"
Damals hieß Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt, und als ich mein Auto vor dem alten Mietshaus mit der bröckelnden Fassade parkte, dachte ich, wie schon so oft zuvor, warum, in Gottes Namen, hat sich Joan O'Leary nicht ein einziges Mal gemeldet! Wen, wenn nicht mich, hatte sie denn um Hilfe ersucht, als es um Asylrecht für sie und ihr schwarzes Pflegekind ging, und wer hatte sich in Berlin um eine Arbeitsstelle und einen Krippenplatz bemüht? Das war kein einfaches Unterfangen gewesen – schließlich ging es um ein australisches Aboriginekind und dessen Pflegemutter, die keiner kannte. Nur durch Zufall und nach dreimal zwölf Monaten hatte ich erfahren, dass die Frau dann das Asylrecht anderswie erwirkt, in Karl-Marx-Stadt eine Wohnung zugewiesen bekommen und dort in einer Fabrik als Kranfahrerin zu arbeiten begonnen hatte.
Nun war es Spätherbst, November, und es dämmerte längst. Die Straßenlaternen spendeten dürftiges Licht, das nicht weit reichte. Im obersten Stockwerk des Mietshauses, in dem sie wohnte, war nur ein Fenster schwach erleuchtet, wie von einem Notlicht. Womöglich war Joan O'Leary gar nicht von der Arbeit zurück und das Kind noch im Kindergarten. Trotzdem zögerte ich nicht, stieg aus, fand das Mietshaus unverschlossen und, so weit, so gut, an einem der Briefkästen den Namen Joan O'Leary.
Im Treppenhaus fragte mich ein alter Mann in breitem Sächsisch, zu wem ich wollte, und als ich es ihm sagte, sah er mich an wie einen Geisteskranken.
„Die mit dem Buschbaby im Beiwagen", meinte er, was mich stutzig machte, bis ich mitbekam, dass er den Beiwagen des Motorrads meinte, das Joan O'Leary offenbar fuhr.
„Lederkappe, Lederjacke, und so rollt die mit dem Buschbaby in die Stadt. Wenn das Motorrad nicht im Hof steht, sind die zwei noch weg."
Ich öffnete das Treppenhausfenster, und in dem diffusen Licht sahen wir unten im Hof ein Motorrad mit Beiwagen. Noch immer ließ mich der Alte nicht fort. Ob ich Englisch spräche, wollte er wissen, Deutsch könne die nämlich noch immer keins.
„Da kann das Buschbaby mehr."
Eine gutwilligere Beschreibung für den Jungen wollte ihm offenbar nicht einfallen.
„Und wild ist der. Ist der wild!"
Das traf zu – der Kleine, der auf mein Klingeln hin die Tür aufriss, rannte mich fast um. Er war hellhäutiger als Aboriginekinder normalerweise sind, ein hübsches Kerlchen mit dunklem Haar und strahlenden, kohlschwarzen Augen, das jetzt kraftvoll meine Beine umklammerte.
„Ein Mann", rief er, und was folgte klang so sächsisch wie die Sprechweise des Alten. „Ein fremder Onkel."
Ich hob ihn hoch. Er aber boxte mich so wild gegen die Brust, dass ich ihn wieder auf die Füße stellte. Sofort rannte er in die Wohnung und zerrte Joan O'Leary zur Tür – und nicht lange danach wusste ich, warum sie sich nie gemeldet hatte. Schon bei der Visaerteilung in Belgrad sei ihr mitgeteilt worden, es wäre zwecklos, sich weiterhin auf mich zu berufen, weil ich inzwischen nicht mehr in Berlin, sondern im Ausland tätig sei. Natürlich versöhnte mich die Erklärung – ich war zu der Zeit tatsächlich im Ausland, allerdings nur vorübergehend.
Von dem Tag an blieben wir nicht nur in Verbindung, ich wurde sogar eine Art Pate von Ricki, Pate eines Findlings, der zwar Joan O'Learys Pflegekind, rechtlich aber unter staatlicher Vormundschaft war. Drei Jahre später jedoch brach unsere Verbindung ab. Joan O'Leary, so erfuhr ich, hatte von einem Tag zum anderen Karl-Marx- Stadt verlassen – ihr Pflegerecht war aufgehoben worden und die australischen Behörden hatten Ricki gegen ihren Willen von Westberlin aus in die Heimat zurückbefördert – und dorthin war sie ihm gefolgt.
Und nach zwölf Jahren, der Unterstützung eines Verlages gewiss, machte auch ich mich auf die Suche nach Ricki, weil ich wissen wollte, was aus dem inzwischen Neunzehnjährigen geworden war. Ich erfuhr Erschütterndes, und mit dem Zeitungsbericht über seine Erschießung bei einem Gefängnisausbruch in Westaustralien reiste ich zunächst nach Perth und dann in die Goldgräberstadt Kalgoorlie zu der jungen Schwarzen, die ihm ein Kind geboren und ohne die er, so die Zeitung, keinen Tag länger hatte leben wollen.
In der sandigen Ebene jenseits des Förderturms der Goldgrube wirbelte Wind eine Wolke von Staub auf, und erst als Wind und Staub sich legten, sah ich die gesuchte Hütte, ein hölzerner Unterschlupf, dessen Tür und Fenster gegen den Staub mit nassen Lappen verhangen waren. Bald trat eine junge Schwarze ins Freie, schlank und hochgewachsen in einem Baumwollkleid, das ihr um die Beine wehte. Sie sah mich erst, als ich schon nah war, warf sich das strähnige braune Haar aus der Stirn und musterte mich schweigend aus großen dunklen Augen.
Sie verstand mich sehr wohl, als ich fragte, ob sie Sheryl Koori sei, und das Lächeln, das sie mir schenkte, als ich über Ricki zu sprechen begann, ließ mich ahnen, dass sie noch nichts über den tragischen Gefängnisausbruch wusste. Ich besann mich sofort, erwähnte ihn nicht und wies mit weit ausholender Geste in die Ferne, um anzudeuten, ich käme von weither. Deutschland anzusprechen, Karl-Marx-tadt gar, begriff ich als sinnlos, und als ich, noch immer gestenreich, den Ricki von damals beschrieb, jenes Pflegekind, wegen dem ich nun hier stünde, schien sie zu glauben, ich spräche von ihrem Kind. Bereitwillig wies sie durch die Tür in die Hütte, und ich folgte ihr zu der Ecke, wo ein mit Leinen ausgelegtes Körbchen stand, in dem sich ein Wesen regte, das wohlgeformt, rundlich und so dunkelhäutig war wie die Mutter.
„Ricki", sagte sie mit verhaltenem Stolz – und da wusste ich mit Bestimmtheit, ich würde vom Vater nichts weiter sagen dürfen.
Inzwischen war das Baby wach geworden, hatte zu schreien begonnen, und die Mutter hob es hoch, wiegte es sanft, dann öffnete sie ihr Kleid und stillte es.