Eine irische Ballade - David Pawn - E-Book

Eine irische Ballade E-Book

David Pawn

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Beschreibung

Die Banshee Síochána verdient sich ihren Lebensunterhalt als Pokerspielerin, während sie die Todesfälle der Familie Carr betrauert. Als der Letzte der Carrs stirbt, muss Síochána sich ein neues Ziel für ihre Trauerarbeit suchen. Ihre Wahl fällt auf Daniel, einen jungen Koch aus Freudenstadt, doch damit beginnen die Komplikationen im Leben der jung-alten Frau erst, denn plötzlich kann sich die Banshee nicht mehr damit zufrieden geben, wenn sie dem Tod heulend zur Seite stehen soll. Immer wieder bemüht sie sich, Todeskandidaten vor ihrem Schicksal zu bewahren und legt sich dabei sogar mit dem Schnitter persönlich an. 2. und verbesserte Auflage

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David Pawn

Eine irische Ballade

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Strophe

2. Strophe

3. Strophe

4. Strophe

5. Strophe

6. Strophe

7. Strophe

8. Strophe

9. Strophe

Danksagung

Impressum neobooks

1. Strophe

Ich brauchte eine neue Familie. Leute wie ich gehören immer zu einer Familie, der sie mit Leib und Seele dienen. Nun war Emerson Carr in der vorherigen Nacht verstorben. Er war der letzte aus der Familie Carr gewesen, die ich so viele Jahre auf ihrem Weg begleitet hatte. Ich hatte es wie immer am Abend zuvor gewusst und mir die ganze Nacht die Augen aus dem Kopf geheult. Ich war so verzweifelt, dass ich am folgenden Tag nicht aus dem Zimmer gehen konnte. Mit meinen rotgeweinten Augen hätten die Leute mich für ein Gespenst gehalten, wenn sie mir ins Gesicht gesehen hätten und damit nur knapp danebengelegen.

Natürlich war abzusehen gewesen, dass so etwas passierte. Emerson Carrs Beziehung zur Firma Jameson war inzwischen deutlich tiefer geworden, als für einen Menschen, selbst für einen Iren, gut war. In der Woche vor seinem Tod war es selbst seinem Chef zu viel geworden und er hatte Emerson entlassen. Es hilft einem Menschen auf dem Weg zum Trinker natürlich nicht, wenn er auch noch seine Arbeit verliert, insbesondere dann nicht, wenn er mit dem Trinken erst angefangen hat, nachdem er zuvor alles verloren hatte, was ihm im Leben teuer gewesen war. Bei Emerson Carr war das der Fall.

Angefangen hatte es damit, dass er seine beiden Eltern verloren hatte als er gerade 16 geworden war. Sie wurden auf der Autobahn von einem Bus zerquetscht, der mit viel zu hoher Geschwindigkeit an ein Stauende heran gefahren war. Der Bus schob den Kleinwagen der Carrs und zwei vor diesem haltende Fahrzeuge ineinander, ehe er endlich zum Stillstand kam. Am Abend vor dem Unfall hatte ich es direkt vor mir gesehen. Ich schrie vor Entsetzen auf, als ich die entstellten Körper vor meinem inneren Auge sah, die sich mit den Teilen aus dem Motorraum zu einem einzigen neuen Ganzen verbanden, das jedoch nicht mehr lebensfähig war. Ich weinte die halbe Nacht und schlief erst kurz vor Sonnenaufgang ermattet ein. Als ich die Carrs am nächsten Morgen ihre Koffer in den Wagen laden und ihrem Jungen winken sah, brach es mir das Herz, doch sagen durfte ich nichts. Ich hatte geklagt, das musste genügen.

Knapp ein Jahr später zog ich aus der Nachbarschaft der Carrs fort aufs Festland. Seit dieser Zeit tingelte ich durch Europa, war mal hier, mal dort zu Hause. Ich lebte von meiner Begabung.

Ich muss erwähnen, dass ich eine besondere Fähigkeit besitze. Ich kann ein wenig in die Zukunft sehen. Eigentlich stimmt das nicht genau. Ich kann zukünftige Ereignisse sehen, wenn sie Menschen betreffen. Bezüglich bestimmter Situationen reicht diese Begabung sogar ziemlich weit. Ich nutze sie am Pokertisch. Ich weiß nicht, welche Karten jemand hat oder welche Karten in der Tischmitte für alle als Gemeinschaftskarten aufgedeckt werden, aber ich sehe voraus, ob sich jemand im Anschluss an eine Spielrunde freuen wird oder nicht. Das reicht für den Verdienst meines Lebensunterhalts in den Casinos.

Aber genug von mir. Kehren wir zu den letzten Carrs zurück. Es war so traurig, als ihr Sohn starb. Der Junge war fünf und geriet beim Spielen auf dem Feld unter eine Scheibenegge. Ich kenne die blutigen Details, will sie hier aber nicht auswalzen. Wer schon mal eine Scheibenegge gesehen hat, weiß, dass da nicht viel von einem kleinen Jungen übrig bleibt. In der Nacht vor dem Unglück hatte ich oben in meinem Hotelzimmer in Monte Carlo gesessen und geheult wie ein Schlosshund. Ich hatte geweint und gekreischt vor Schmerz über den Verlust. Irgendwann bummerten meine Nachbarn an die Wand, und ich hörte eine dumpfe Männerstimme, die „Seien Sie endlich ruhig. Ich muss früh raus.“ brüllte. Sehr mitfühlend sind die Leute heutzutage nicht.

Veronica Carr, Emersons Frau, verkraftete diesen Verlust nicht. Sie war schon immer eine stille, zerbrechliche Person. Nach dem Tod des Jungen wirkte sie fast durchscheinend. Ihr Mann bemühte sich nach Kräften, ihr den Lebensmut zurückzugeben, doch es half alles nichts. Er überredete sie zu einer Therapie, sie ging jedoch nur zu fünf Sitzungen, dann brach sie diese ab. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Jungen erhängte sie sich im Keller. Emerson kam von der Arbeit heim und suchte seine Frau im ganzen Haus. Als er sie endlich fand, nahm er sie vom Seil ab und brachte sie nach draußen in den Vorgarten, wo er sie ins Gras legte. Dann erst kamen die ersten Laute über seine Lippen. Er schrie die gesamte Nachbarschaft zusammen. Immer wieder rief er den Namen seiner Frau und „Nein!“.

Auch ich konnte nichts weiter tun als zu weinen und zu klagen, als ich von dem schrecklichen Ereignis erfuhr. Ich erfuhr es wie immer im Vorhinein.

Gestern war nun auch Emerson von uns gegangen. Man hatte ihm den Strom abgestellt, weil er drei Monate lang seine Rechnung nicht bezahlt hatte. Also behalf er sich mit Kerzen. Offenes Feuer und Suff waren noch nie eine gute Mischung. Er warf eine Kerze um, die Vorhänge seines Zimmers fingen Feuer und dann auch das Mobiliar. Carr versuchte in seinem Wahn, irgendwelche alten Fotos von seiner Frau und seinem Sohn zu retten statt sich selbst. Er ist an Rauchvergiftung verstorben, bevor er verbrannte. Das könnte man als eine Gnade betrachten, wenn es nicht insgesamt so traurig wäre.

Mit Emerson war der allerletzte Carr gestorben und ich musste mich nach einer neuen Familie umsehen, deren Leben und besonders deren Sterben ich im Auge zu behalten hatte.

Vor zwei Wochen war ich in Baden in der Schweiz und machte die dortigen Pokertische unsicher. ‚Rabenschwinge‘ nannten mich die Kollegen dort wegen meiner schwarzen Haare, die meinen sehr hellen Teint besonders hervorheben. Profipokerspieler, zumindest die guten, bekommen alle früher oder später einen Spitznamen verpasst oder geben sich selbst einen, um vor den anderen besser da zu stehen. Wer keinen Spitznamen hat, ist nicht wirklich gefährlich.

Ich fand es eine lustige Idee, meine Wirkungsstätte zu verlegen und dabei aufzudoppeln: Ich ging von Baden nach Baden-Baden. Ich war vor zehn Jahren schon einmal hier gewesen und hatte gute Erinnerungen sowohl an das Casino als auch an das Queens Hotel. Letzteres gab es nicht mehr. Es gab noch das Haus, aber inzwischen firmierte es als Leonardo Royal. Mir sollte es egal sein, wenn nur die Kundschaft im Casino aus den gleichen reichen Fischen bestand wie damals. Fische, das ist die interne Bezeichnung der Pokerprofis für die armen Irren, die sich allzu bereitwillig ihr Geld abnehmen lassen, weil sie von Wahrscheinlichkeiten und Strategie keinen Schimmer haben und denken, Poker sei wie Roulette. Was für diese Leute auch stimmt, sie verlieren bei beiden Spielen.

Ich saß also im Baden-Badener Casino und schaute mir sehr gründlich die Herren an, mit denen ich gemeinsam am Tisch war. Während dies sonst nur dazu dient, meine Gewinnchancen zu verbessern, hatte ich an diesem Tag noch ein weiteres Ziel. Ich suchte einen neuen Herrn, eine neue Familie.

Mir gegenüber saß ein dicker Amerikaner. Er war mir unsympathisch und hatte keine Chance, weder auf einen Gewinn noch auf meine Gunst. Auch der neben ihm sitzende Scheich nicht, bei dem die Dollarscheine aus jedem Knopfloch guckten. Ich bin eigentlich nicht voreingenommen, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass der sich tatsächlich noch einen Harem in seiner Heimat hielt. Zumindest hatten Frauen bei ihm nichts zu melden. Wenn er zu mir rüber schaute, hatte ich jedes Mal das Gefühl, er hielte mich für eine niedere Spezies – eine Bettwanze oder so.

Links von mir saß ein alter Mann. Ich hatte in der vergangenen Woche ein paarmal mit ihm am Tisch gesessen. Er spielte sehr vorsichtig. Seine Gewinne waren klein, seine Verluste waren klein. Ich nahm an, er käme nur ins Casino, um die Zeit totzuschlagen, die ihm vom Leben blieb. Das fortgeschrittene Alter war an sich egal, weil er drei Kinder hatte, zwei Töchter, einen Sohn. Aber die wohnten alle viel zu verstreut. Ich suchte einen richtigen Herrn, wenn schon nicht mit Familienstammsitz, so doch wenigstens mit einem Haus.

Rechts von mir saß ein weiterer Profi. Scharf geschnittenes Adlerprofil, dunkle gegelte Haare, dicke goldene Ringe an den Fingern. Die anderen Profis nennen ihn ‚Protzke‘. Er hat keine Familie und hatte mir auch mal gestanden, dass er schwul ist. Das war während meines ersten Aufenthalts in Baden-Baden gewesen.

Als Protzke am heutigen Abend ankam, sah ich, wie er sich draußen von einem anderen Mann verabschiedete, der etwa zehn Jahre jünger war. Die beiden waren tatsächlich Hand in Hand durch die Kolonnaden gekommen. Vor zehn Jahren hätte es das noch nicht gegeben.

Blieben die beiden jungen Männer zwischen dem Scheich und Protzke übrig. Ich hatte sie Pat und Patachon getauft. Einer war groß und schlank, sehr kontrolliert in seinen Bewegungen. Der Denkertyp. Der andere war füllig, redete immer mal wieder jovial mit Protzke oder dem Ami. Er war der typische Ich-will-nur-meinen-Spaß-Spieler.

Der dicke Amerikaner guckte gerade zum zweiten Mal in seine Karten und schwitzte vor sich hin. Selbst jemand, der nicht meine Begabung besaß, erkannte sofort, dass er ein Spitzenblatt hatte, das nicht mehr zu schlagen war. Der Scheich neben ihm schien aber nichts zu ahnen. Er sagte: „Raise!“ und schob 1000 Euro in Chips in die Mitte. Ich hatte Muße, mir diese Show anzugucken, denn ich hatte bereits vor dem Flop meine Karten dem Dealer rübergeschoben. Keine guten Karten für die einzige Frau am Tisch. So ging es schon den ganzen Abend.

Bis zum River spielten die beiden Geldverteiler am Tisch um 25000 Euro. Der Ami hatte ein Full House und grinste über das ganze Gesicht.

Ich guckte in mein nächstes Blatt, fand wieder nur Müll und schob meine Karten zur Seite, sobald ich an der Reihe war. Ich lächelte zu dem langen Denkertyp rüber, der im sogenannten Big Blind saß, wo man einen Standardeinsatz bringen muss. Viele Anfänger sehen es als Pflicht an, in diesem Fall in der Hand zu bleiben und dem schlechten Geld gutes hinterher zu werfen. Der Denker nicht. Der schob seine Karten dem Dealer zu, blickte auf und lächelte mich an.

Ich hatte das oft genug erlebt. Als Frau ist man selbst heutzutage ein seltener Falter am Pokertisch, und viele Männer fühlen sich offenbar geradezu verpflichtet, einen dummen Anmachspruch loszuwerden. Aber der junge Mann gegenüber lächelte nur still vor sich hin und sagte gar nichts. Das erledigte sein rundlicher Begleiter.

„Na, Lady, kein Kartenglück heute?“ Ich schaute ihn nur betroffen an. „Macht nichts, Pech im Spiel, Glück in der Liebe.“

Die älteste Kamelle der Welt. Ich verdrehte die Augen in Richtung Kristalllüster.

„Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?“, fragte mich der dickliche Typ.

„Nein, kein Bedarf“, antwortete ich und konzentrierte mich wieder auf seinen schlanken Begleiter.

Der andere aber gab nicht auf. „Wir kommen aus Freudenstadt“, sagte er. „Wenn das kein gutes Omen ist, weiß ich auch nicht.“

Ich wandte dem Typen, der nicht begreifen wollte, dass ich kein Interesse an ihm hatte, jetzt mein Gesicht zu und schaute ihm direkt in die Augen. Ich kann mit meinem Blick zwar niemanden zu Stein erstarren lassen, aber man sagt, ich könne dafür sorgen, dass Menschen ihre eigene Seele erkennen. Wenn das stimmte, musste der dickliche Kerl jetzt irgendetwas Schleimiges mit Tentakeln in meinen Augen sehen. „Willst du es mir gleich hier auf dem Tisch besorgen?“, fragte ich mit freundlicher Stimme.

Protzke lachte schallend und der Alte links von mir gab ein meckerndes Geräusch von sich, das wohl auch ein Lachen sein sollte.

„Leg dich nicht mit Rabenschwinge an, Kleiner“, sagte Protzke noch.

Der Dicke wurde erst rot, dann blass. Danach nahm er einen Stapel seiner Chips und begann zu sortieren und umzuschichten, während er an mir vorbei an die Wand blickte.

„Ich hab’s dir doch vorher gesagt“, wandte sich der Lange plötzlich an seinen Begleiter. „Freudenstadt ist Provinz. Damit kannst du in einem so mondänen Kurbad keinen Eindruck schinden.“ Er sagte es laut genug, so dass wir anderen am Tisch es auch hören konnten. Das Ironie-Schild musste er nicht extra hochhalten.

„Also, wie können wir unseren Fehler wieder gut machen? Ich muss allerdings gleich sagen, für eine Runde Champagner reicht unser Budget nicht.“ Er lächelte in die Runde.

„Dann spendierst du uns halt ein Bier“, brummte Protzke jovial. „Aber erst wird hier geraised.“ Er schob ein paar Chips in die Mitte.

Während das Spiel weiterging, bestellte der junge Mann eine Runde für den Tisch. Alle außer dem Alten und mir nahmen Bier. Der Alte trank ein Wasser, ich ein Ginger Ale. Während ich den ersten Schluck nahm, fragte ich mich, ob dieser junge Mann wohl als neuer Herr geeignet sei. Er sah gut aus, war schlank, aber durchaus muskulös. Sicherlich machte er irgendeinen Sport.

Der Schlanke hatte gepasst und schaute zu mir rüber. Ich prostete ihm mit meinem Ginger Ale zu, lächelte freundlich und sagte: „Wie heißt ihr beiden Provinzler denn?“

„Ich bin Daniel“, antwortete er, dann wies er mit dem Daumen auf den Dicken an seiner Seite, der gerade seine Karten zusammenschob und erklärte: „Und das ist Christian. Er hat heute nicht seinen besten Tag. Eigentlich ist er ganz nett.“

Christian guckte, als ob sein Begleiter ein Außerirdischer wäre.

Neue Karten, neues Glück.

„Raisy Daisy“, Protzke kopierte wieder sein großes Vorbild, Sammy Farha, einen amerikanischen Profi, der hin und wieder im Fernsehen zu bewundern war.

Ich schüttelte den Kopf und sagte gelangweilt: „Aber du spielst wenigstens mit eigenem Geld, wenn du anderen schon die Sprüche klauen musst?“

„Letzte Nacht wieder schlecht geschlafen, Rabenschwinge?“

„Nicht schlechter als sonst.“

„Vielleicht solltest du dir wirklich mal ‘nen Freund zulegen, wenn du immer so grantig bist.“

Das sind die üblichen Frotzeleien, um den anderen ein bisschen nervös zu machen. Es ist nichts Persönliches, aber an diesem Abend war ich ein wenig von der Rolle, weil ich im Augenblick keine Familie zu betreuen hatte. Und das ist eigentlich die Aufgabe, für die ich lebe.

Ich guckte in meine Karten, sah zwei Asse und erhöhte. Protzke guckte mich forschend von der Seite an. Er wollte von meinen Augen ablesen, ob ich nur aus Ärger über seine Sprüche erhöht hatte. Eigentlich sollte er mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich das nicht machen würde. Aber an diesem Abend kannte ich mich ja selbst nicht richtig.

Doch noch ehe er an der Reihe war, ging Daniel aus Freudenstadt mit. Ich blickte ihm ins Gesicht und versuchte zu ergründen, wohin uns der Weg führen würde. Ich sah so etwas wie Verzweiflung.

Natürlich blieb jetzt auch Protzke dabei. Er bekam genug Geld falls er gewann, wenn wir zu dritt in der Hand blieben, so dass es sich für ihn lohnte, wenigstens mal zu gucken, was der Flop so zu bieten hätte. Und als ich mich ihm kurz zuwandte, erkannte ich den kommenden Triumph. Ich würde diese Spielrunde nicht gewinnen. Bye, bye Asse.

Der Dealer deckte drei kleine Herzen auf. Im ersten Augenblick dachte ich, Protzke würde zwei Herz halten, aber dann wanderte mein Blick rüber zu Daniel, der das Leuchten einfach nicht aus seinen Augen verbannen konnte. Es war wie eine aufdringlich blinkende Neonreklame in seinem Gesicht. Auch Protzke sah es sofort. Jeder, der mit Poker Geld verdienen will, muss das erkennen können.

Und um alles noch schlimmer zu machen, schüttelte Daniel theatralisch den Kopf, guckte in sein Blatt, guckte auf den Tisch und sagte: „Check.“

Protzke war offenbar ziemlich zufrieden mit der Situation, setzte auch nichts und auch ich hielt mich zurück. Ich wusste schließlich, dass meine Asse nichts mehr wert waren. Ich hatte nicht mal ein Herzass, um mich verbessern zu können. Der Dealer legte eine vierte Karte auf den Tisch. Es war irgendein König, den alle ignorierten. Jetzt sah sich Daniel bemüßigt zu setzen. Aber klein, ganz klein. Er wollte schließlich niemanden vertreiben. Mich vertrieb er allerdings. Protzke blieb dabei und ich wusste, was passieren würde. Ich wusste es ganz genau, denn ich sah vor meinem inneren Auge, wie er den riesigen Berg Chips an sich raffte, der sich nach der fünften Gemeinschaftskarte auf dem Tisch aufhäufen würde. Ich sah, wie Daniel Augen wie Suppenteller bekommen und in stummem Entsetzen den Kopf schütteln würde. Aber dann würde es zu spät sein, er würde seinen gesamten Chipstapel abgegeben haben. Und ich konnte ihn nicht warnen. Das sind die Regeln, die Regeln am Pokertisch und in meinem Leben.

Die fünfte Karte war eine Kreuz-Zwei, die sich zu einer Zwei in Herz auf dem Tisch gesellte.

Daniel setzte. Protzke erhöhte, Daniel erhöhte seinerseits immer noch vorsichtig, weil er seinen Gegner nicht verschrecken wollte. Er wollte Protzke in die Falle locken und stand selbst mit beiden Beinen drin. Protzke schob einfach seine ganzen Chips in die Mitte und verkündete: „All in!“

„Call!“ Das kam wie aus der Pistole geschossen.

„Showdown“, verkündete der Dealer, „zwei Spieler All-In.“

Natürlich hatte Daniel einen Flush. Das stand ja die ganze Zeit auf seiner Stirn geschrieben. Und Protzke zeigte sein Full House. Der Alte neben mir kicherte in sich hinein. Er hatte es auch gewusst.

„Very unlucky“, ließ sich der Amerikaner vernehmen und zu Protzke sagte er: „Nice hand.“ Das Standardlob der Pokerspieler.

Christian schlug seinem Kumpel auf die Schulter und sagte: „Tja, das war wohl nichts. Die spielen hier besser als bei uns in der Runde.“

Protzke zog die Chips zu sich herüber und begann zu sortieren. Es ging immerhin um 4000 Euro. Für ihn und mich ist das nicht viel, aber Daniel sah aus, als hätte er einen Tritt in den Magen bekommen. Er hätte wohl bei den heimatlichen Spielen am Wohnzimmertisch bleiben sollen.

Er erhob sich langsam von seinem Platz, legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter, wie um sich zu stützen und sagte: „Ich gehe zur Bar rüber. Von dem Schreck muss ich mich erst mal erholen.“

Christian sah von seinen Karten auf und nickte. „Ich warte hier. Sag Bescheid, wenn du verschwinden willst.“

„Mach ich.“ Daniel bewegte bereits sich in Richtung Bar.

Ich hatte an diesem Abend auch nicht wirklich Glück gehabt. Gerade wurden meine Asse plattgemacht, bloß dass ich vorher Bescheid wusste, hatte mir den Arsch gerettet. Ich schob meine zwei Karten dem Dealer rüber, als ich an der Reihe war, und verkündete: „Heute läuft gar nichts. Ich brauche mal ‘ne Pause.“ Protzke lächelte süffisant und blickte bedeutungsvoll dem jungen Daniel hinterher. Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

Daniel hatte es sich neben der Bar in einem Sessel gemütlich gemacht und guckte überrascht, als er mich auf die Sitzgruppe zusteuern sah.

„Läuft heute nicht“, sagte ich, als ich mich zu ihm setzte. „Ich darf doch?“, fragte ich unnötigerweise, obwohl ich schon saß.

„Aber gern, darf ich Ihnen einen Drink spedieren?“ Daniel lächelte, doch es wirkte ein bisschen gequält.

„Eher umgekehrt, denke ich. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber das war sicher nicht das, was Sie sich für diesen Abend vorgenommen hatten, oder?“

„Bestimmt nicht. Wir, Christian und ich, sind in unserer Runde immer am Gewinnen. Ich weiß gar nicht, wie das da gerade passieren konnte.“ Er sah frustriert und auch ein wenig hilflos aus.

„Hier spielen Profis, Berufsspieler, die lesen Sie wie ein offenes Buch. Und so wie Sie den Flush gespielt haben, war es einfach offensichtlich. Wenn Protzke sein House nicht trifft, gibt er einfach auf. Er musste doch nicht viel investieren. Also, wie ist es, nehmen Sie meine Einladung zum Drink an?“

„Weit ist es gekommen“, Daniel grinste, aber es sah noch immer gequält aus. „Da muss ich mich von einer Frau aushalten lassen.“

„Wer spricht von aushalten lassen. Ein Drink. Mehr gibt es sowieso nicht. Sie müssen schließlich nach Freudenstadt zurück.“ Ich wollte meinen neuen Herrn (und ich war mir inzwischen sicher, dass ich mir Daniel erwählen würde) nicht schon in dieser Nacht beweinen müssen. „Was soll es denn sein?“

„Ein Glas Wein wäre okay.“ Der junge Mann wirkte noch immer verlegen.

Ich winkte einen Kellner herbei und bestellte für uns beide einen Schoppen.

„Es wäre alles nicht so schlimm“, sagte Daniel, als der Kellner wieder verschwunden war, „aber es wird Luisa das Herz brechen.“

„Ihre Freundin?“ Oh, was für eine bescheuerte Frage.

„Nein, meine Schwester. Wir fahren jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub. Ich hatte ihr für dieses Jahr eine Seereise versprochen. So eine richtige Kreuzfahrt. Damit ist es nun Essig. Sie wird todunglücklich sein. Sie ist ja noch wie ein Kind.“

Ich sagte nichts und sah ihm nur interessiert ins Gesicht. Das ist ein guter Trick, um jemanden dazu zu bringen, weiterzusprechen.

„Down-Syndrom“, erklärte Daniel. „Sie ist zwei Jahre jünger als ich. Meine Eltern kümmern sich um sie, aber hin und wieder brauchen sie auch mal eine Auszeit, und dann fahre ich mit ihr in den Urlaub. Ein paar Wochen an der Nordsee machen sie natürlich genau so glücklich wie eine Reise in die Karibik. Aber ich hatte ihr von dem großen Schiff erzählt, auf dem wir dieses Jahr fahren wollen, und das hat sie sich gemerkt. Immer wenn ich zu Besuch komme, fragt sie nach.“

Das war natürlich traurig. Ich schaute Daniel tief in die Augen. Er hatte Williams Augen. William …

Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen oder zumindest vor zehn Jahren. Aber inzwischen ist es beinahe sechshundert Jahre her. Ja, so alt bin ich und ich bin eine bean sí, wie die alten Iren sagten oder, wie es heute heißt, eine Banshee, eine Todesfee. Aber das haben Sie sicher erraten.

Ich kann mich genau an den Tag erinnern, als plötzlich Williams Mutter in unserem Garten vor mir stand, während ich gerade Zwiebeln steckte. Ihre Augen waren rot von den Tränen, die sie in den letzten Tagen um ihren liebsten Sohn vergossen hatte. William hatte sich auf dem Hügel erhängt, weil ich ihn nicht erhört hatte, wie man so sagt.

William und ich hatten uns auf einem Dorffest kennengelernt. Wir hatten an diesem Tag viel miteinander getanzt und gelacht. In den Wochen danach waren wir immer wieder gemeinsam durch die Felder spaziert. Und, ja, William hatte mich auch küssen dürfen, und einmal hatte er wie zufällig meine Brust gestreichelt. Natürlich war dabei der Stoff des Kleides zwischen meiner Haut und seiner Hand, aber all dies zusammen hatte den Jungen wohl ermutigt.

Aber ich war damals ein junges, dummes Ding gewesen. Ich hatte ihn ausgelacht, als er mit seinem Strauß Feldblumen und seinem Antrag vor unserer Tür gestanden hatte. Und jetzt stand seine Mutter vor mir wie eine Rachegöttin.

„Keine Träne“, fauchte sie, „keine einzige Träne hast du vergossen für meinen Sohn.“ Feuer loderte ihn ihren Augen. Sie war wie ein Drache, der jeden Augenblick Flammen und Schwefel auf mich regnen lassen konnte. „Aber du wirst weinen. Du wirst um den Tod jeden Carrs bittere Tränen vergießen bis zum Ende unserer Tage. Und du wirst nie einen besseren finden als meinen William.“ Dann spuckte sie mir ins Gesicht und ging.

Als sie starb, wusste ich es drei Tage im Voraus und konnte bis zur Nacht ihres Todes die Tränen nicht aufhalten. Wie Bäche flossen sie aus mir heraus. Aber ein so schweres Los, wie Sie vielleicht denken, war dieser Fluch nicht, den die alte Hexe mir auferlegt hatte. Sozusagen als Gegenleistung alterte ich so gut wie nicht mehr. Ich war ein dummes Ding von 17 gewesen, als William gestorben war, und seitdem bin ich alle hundert Jahre biologisch ein Jahr älter geworden. So stand es jedenfalls in einem Buch, aus dem mir Jahre später durch eine andere Banshee immer wieder vorgelesen wurde, um mich zu belehren, bis ich es ihr eines Tages an den Kopf warf. Es war eine Art Lehrbuch der Hexerei und ich habe oft gedacht, Williams Mutter hätte es wohl wiedererkannt.

Ich wurde also, der Traum jeder Frau, kaum älter. Allerdings konnte ich mich nicht mit Männern einlassen. Es war nicht so, dass sie starben, wenn ich mich ihnen näherte, oder dass ich starb oder zu Staub zerfiel oder so etwas. Nein, irgendetwas an mir warnt die Männer früher oder später und sie ziehen sich zurück. Manchmal war ich mit ihnen bis zur Schlafzimmertür gekommen, und plötzlich waren die Männer diejenigen gewesen, die Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit oder sonst etwas vortäuschten, um den letzten Schritt nicht machen zu müssen.

Aber jetzt war der letzte Carr gestorben und ich fühlte mich ein wenig haltlos. So viele Jahre hatte ich den Tod eines Carrs mit Tränen und Schluchzen angekündigt, dass sich jetzt eine gewisse Leere in mir ausbreitete, die ich mit einer neuen Familie füllen wollte. Und die Familie dieses Daniel war sehr interessant.

Ich kehrte aus meinen Erinnerungen zurück und stellte fest, dass ich noch immer in Daniels Augen schaute. Er hatte inzwischen einen Blick, als hätte ich ihn hypnotisiert. Ich hob den Arm und schnipste mit den Fingern vor seinem Gesicht und er schrak zurück.

„Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht anstarren. Aber Sie sahen gerade so verträumt aus.“

„Sagen wir doch du“, erwiderte ich, statt auf seine unausgesprochene Frage, wovon ich geträumt hatte, einzugehen. „Am Spieltisch sagt man immer du. Du bist Daniel, das weiß ich schon. Ich heiße Síochána. Die anderen Profis nennen mich Rabenschwinge, aber das klingt so nach Gruselgeschichte, das mag ich eigentlich nicht.“

„Gut Schischana, du.“ Daniel sprach es in unvergleichlicher Weise badisch aus und wir stießen an.

„Das spricht man Schi-chraana. Ist ein alter Name, bedeutet Frieden“, fügte ich hinzu.

„Habe den Namen noch nie zuvor gehört. Du bist nicht von hier, oder?“, wollte Daniel wissen.

„Ich komme aus Irland. Ist aber schon ein paar Jahre her, seit ich da weg bin.“

„Ach, aus Irland“, Daniel staunte, „dafür sprichst du aber perfekt deutsch. Zu Anfang hatte ich auf das Hannöversche getippt. Die sprechen ziemlich akzentfrei da oben.“

Ich lachte. „Ach, ich spreche zu gut deutsch für die Gegend hier?“

„Das kann man sagen. Wie lautet unser Motto? Wir können alles – außer Hochdeutsch.“

„So schlimm ist es auch wieder nicht.“

Er lächelte, und endlich wirkte es nicht mehr gequält oder erzwungen. Mein Herz machte einen plötzlichen Sprung, und praktisch im gleichen Moment sah ich es und wollte am liebsten sofort auf die Toilette flüchten. Ich hatte meinen neuen Herrn offensichtlich gefunden, denn ich konnte seinen Tod sehen. Heute Nacht!

Ich wollte schreien. Ich wollte heulen. Ich wollte weinen. Und ich wollte es aufhalten. Ich hatte diesen Wunsch in den vergangenen Jahrhunderten hin und wieder verspürt, vor allem wenn der Tod junge Carrs oder gar Kinder ereilt hatte. Aber nie vorher war dieses Drängen so stark gewesen. ‚Sag was. Tu was. Halt es auf.‘

Aber die Regeln waren streng. Ich durfte nur wissen und weinen. Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn ich mich nicht daran hielt.

Daniel sah mich erschrocken an. „Was hast du? Du siehst plötzlich aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Ich versuchte ein Lächeln und diesmal war ich es, der es dabei in den Mundwinkeln schmerzte. „Ich hatte mal einen Freund. Sah dir sehr ähnlich.“

„Und?“, forschte Daniel weiter.

„Ist gestorben.“ Fast wahr. „War noch nicht mal zwanzig. Du siehst ihm wirklich sehr ähnlich.“

„Das hört sich unheimlich an“, erwiderte Daniel. „Ich denke aber nicht, dass ich ein Wiedergänger bin.“

„Nein, nein“, sagte ich und fasste ihn kurz an der Hand. „Es war nur ein Moment. Hat mich ein bisschen überwältigt. Ist schon wieder vorbei. Sonst bin ich eigentlich nicht so zart besaitet.“ Das war eine glatte Lüge. Meine Aufgabe ist es, bei jedem verdammten Todesfall wie ein Schlosshund zu heulen, und das kann ich hervorragend.

Am Pokertisch jubelte Daniels Freund gerade über einen großen Coup.

„Dein Freund hat offenbar mehr Glück als du.“

„Da bin ich mir gar nicht so sicher“, erwiderte Daniel und sah mir direkt ins Gesicht. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, nicht weil der arme Junge nicht wusste, dass er noch knapp vier Stunden zu leben hatte, sondern weil alles in mir verlangte, diese Zukunft nicht wahr werden zu lassen. Ich griff jetzt fest nach seiner Hand.

Ich wusste, dass die Regeln unserer Spezies erlauben, den Tod vorauszusehen und im Vorhinein zu trauern, denn nichts anderes ist es, was wir immer und immer wieder tun. Es ist ein böswilliges Gerücht, das behauptet, wir würden den Tod herbeirufen. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich von der Regel abwiche, wenn ich nicht trauerte, sondern versuchte der Zukunft eine andere Wendung zu geben.

Übrigens, wenn Sie denken, Daniel wollte aus dem Leben scheiden, weil er einen großen Pot verloren hatte, ein Kreuzfahrtticket für seine Schwester, dann sind Sie im Irrtum. Es sollte ein dummer Unfall sein. Der Drink hatte damit zu tun, ja, und die Gedanken, die er sich wegen seiner Schwester machte. Er würde unaufmerksam sein und den Holztransporter zu spät sehen, den irgendein nachlässiger Waldarbeiter dort auf der Straße gelassen hatte. Er würde bremsen und in einen Baum auf der linken Seite krachen. Christian auf dem Beifahrersitz würde schwerverletzt überleben, aber Daniel nicht.

„Das ist nicht der Abend, den wir uns beide erhofft hatten“, sagte ich. „Aber wir können ja noch was Besseres draus machen.“

„Und das wäre?“

Statt einer vernünftigen Antwort stand ich einfach auf, zog an seiner Hand und sagte: „Komm mit.“

„Christian“, versuchte Daniel einzuwenden. „Ich habe versprochen, nach Hause den Chauffeur zu spielen.“

„Der hat gewonnen und kann ein Taxi nehmen“, sagte ich. „Jedenfalls würde er sich nicht so zieren, wenn ich ihm sagte, er soll mitkommen.“

„Warte einen Moment, ich geb‘ ihm die Autoschlüssel. Er wird sauer sein, weil er nichts mehr trinken kann. Aber besser als laufen.“ Daniel huschte zum Pokertisch zurück, legte Christian die Autoschlüssel auf den Filz und sagte irgendetwas, was mit lautem Gelächter der anderen Spieler quittiert wurde. Dann stand er auch schon wieder neben mir. Das Bild von seinem Unfall waberte in meinem Kopf, es zog Schlieren, als würde ich es durch Hitzeflimmern beobachten.

Wir gingen nach draußen.

„Fahrt ihr immer über die Landesstraße?“, fragte ich, kaum dass wir an der frischen Luft waren. Man kann einen romantischen Abend auch intelligenter einleiten. Entsprechend verdutzt sah mich auch Daniel an.

„Ist die schönere Strecke, so quer durch den Wald“, antwortete er. „Aber ich dachte, wir bleiben hier.“

„Bleiben wir.“ Ich nahm seine Hand und wir bogen in Richtung Trinkhalle ab. Das war nicht gerade die Richtung zu meinem Hotel, aber ich wollte mir selbst zuerst darüber klar werden, wie dieser Abend zu Ende gehen sollte. Ich wusste nur eines genau. Er sollte nicht mit meinem Geheul im Badezimmer und Daniels Tod enden. Die Trinkhalle war verwaist. Auch sonst waren keine Leute mehr unterwegs, nicht mal andere Pärchen. In diesen Kurorten ticken die Uhren anders. Irgendwann kurz nach dem Ende der Theatervorstellungen werden die Bürgersteige hochgeklappt und alle braven Bürger sind im Bett. Die Zocker bleiben bis zum frühen Morgen im Casino, aber es treibt sich keiner auf den Straßen herum.

„Kann man tatsächlich davon leben?“, fragte Daniel unvermittelt.

„Wovon?“ Ich war nicht aufmerksam gewesen. Ich wälzte noch immer mein Problem im Kopf herum.

„Na, vom Poker? Du hast doch gesagt, das ist dein Beruf.“

„Ich komme gut über die Runden. Es gibt ein paar, die es wirklich drauf haben. Aber die große Masse bezahlt. Selbst unsereins kann immer mal eine Pechsträhne haben, einen sogenannten Downswing. Es kommen die falschen Enden der Wahrscheinlichkeiten. Nicht die 80%, sondern die 20% treffen. Solche Zeiten muss ein Profi durchstehen können, dazu braucht man ein solides Polster an Kapital.“ Oder man muss hellsichtig sein, aber das sagte ich nicht.

Wir bogen am Steigenberger Hotel in Richtung Innenstadt ab, wenn man die paar Geschäftsstraßen in der Fußgängerzone euphemistisch so nennen will. Ich nahm Daniels Hand, und wir schlenderten durch die stillen Straßen mit den dunklen Fenstern.

„Vielleicht stimmt das Sprichwort ja wirklich.“ Daniel schaute in die Auslagen eines Juweliers, offenbar ohne wirklich etwas wahrzunehmen.

„Welches Sprichwort?“

„Pech im Spiel … du weißt, wie es weitergeht. Ich kam heute Abend an den Tisch, und dann …“ Daniel schluckte und sprach nicht weiter.

„Ja? Was dann?“

„Ich weiß auch nicht. Liebe auf den ersten Blick? Nein, nein … Das ist zu hoch gegriffen. Aber es war schon so, dass ich mir vorgestellt habe, wie es wäre …“ Er brach wieder ab, und ich musste lachen.

„Das sind die Hormone“, frotzelte ich.

„Wahrscheinlich, wir Männer sind wohl so.“ Daniel nahm es mit Humor und stimmte in mein Lachen ein. „Was wird jetzt?“

„Wir gehen in mein Hotel. Die geben dir immer ein Doppelzimmer, auch wenn du allein bist. Vermutlich haben die gar keine richtigen Einzelzimmer. Ich habe jedenfalls noch nie eins gehabt und ich habe schon in vielen Hotels übernachtet. Ich bin ja sozusagen immer auf Dienstreise.“

„Muss ein tolles Leben sein. All diese noblen Kurbäder mit den Reichen und Schönen, die durch die Parks flanieren und am Abend im Casino sitzen.“

„Schmus. Es ist ein Zigeunerleben. Heute hier, morgen da. Wie einer vom Zirkus. Am Tag schläft man lange, man hat ja immer bis spät in der Nacht am Tisch gesessen. Und man muss ausgeschlafen und fit sein, wenn man erfolgreich sein will. Wer müde ist, verliert.“

Wir passierten den Leopoldplatz mit seinem Frühaufsteherimbiss. Am Augustaplatz bogen wir wieder Richtung Grünanlagen ab. Ich wollte lieber durch den Park laufen als die Straße entlang. Es war ein Anfall von Romantik, den ich mir gar nicht recht erklären konnte. Verwaiste Parkbänke, verwaiste Tennisplätze. Alles still und friedlich. Auch die Vögel hatten schon lang die Köpfe unter die Flügel gesteckt und schliefen.

„Du weißt ja, wie ich mein Geld verdiene“, sagte ich, als wir Brenners Parkhotel passierten. „Was machst du eigentlich?“

„Ich bin Koch. Zurzeit arbeite ich am Mummelsee, aber in so einem feinen Hotel“, er deutete nach links zu Brenners, „das wäre es natürlich.“

„So schlecht ist es da oben aber auch nicht“, wandte ich ein. Ich hatte vor zehn Jahren dort nachts gesessen und Tränen vergossen für den Großvater von Emerson. Wenn man sich im Schwarzwald irgendwo eine Banshee vorstellen kann, so gewiss an diesem tiefen See mit seinem dunklen Wasser.

Am Tage, wenn die Touristen über den See herfallen, ist es laut und hektisch, aber wenn die Dämmerung sich niedersenkt, kehren Ruhe und Beschaulichkeit an diesem Ort ein. Zur blauen Stunde kommen auch die ursprünglichen Bewohner des Mummelsees, die Mümmlein, zu ihm zurück. Ich glaube einer der Gründe, warum ich nach Baden-Baden zurückgekehrt war, bestand in der Tatsache, dass hier im Schwarzwald, so wie in Irland, die alten Sagengestalten noch immer lebendig waren.

Als ich am See gesessen hatte, hatte ich darüber nachgedacht, wie seltsam die Menschen doch waren. Sie suchten die Stille und den Frieden des Waldes – aber in Massen und natürlich mit erstklassigem Service. Ich erzählte Daniel von diesen Gedanken.

Er nickte und sagte: „Das ist überall das Gleiche. Irgendwer findet einen goldenen Strand, ein atemberaubendes Korallenriff oder eine malerische Stelle im Wald, und dann klotzt er da ein Hotel hin und bestellt busladungsweise Touristen, die sich fragen, warum sie ausgerechnet dorthin gefahren sind, wo es doch genauso chaotisch ist wie an allen anderen Orten, an denen sie bisher waren. Aber ich kann mich nicht beschweren. Von diesen Leuten lebe ich.“

„Wie ich“, erwiderte ich und sah ihm von der Seite ins Gesicht. „Bloß bin ich eher für die Abendunterhaltung zuständig.“

Wir hatten das Hotel fast erreicht. Ich fragte mich, ob die Dame an der Rezeption sich etwas anmerken lassen würde. Ob ich Daniel vielleicht vorausschicken sollte, damit wir nicht gemeinsam dort vorbei mussten? Ich hatte nie zuvor einen Mann mit in mein Hotelzimmer genommen und wusste daher nicht, ob solcherart Doppelbelegung ein Problem sein würde.

„Ich nehme einfach einen Drink aus der Minibar und dann gehe ich wieder“, sagte Daniel, als ich ihm meine Überlegungen mitteilte. Ich guckte ihn mit gerunzelter Stirn an. Meinte er das jetzt ernst?