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Probleme und ihre Lösungen bilden den Kern des Erzählbandes »Einsteins Erben«: Informationsexplosion, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, die Anwendung von Kybernetik und Biotechnik sind die Themen dieser Erzählungen, die »an wissenschaftlicher Fantastik und spannendem Aufbau nichts zu wünschen übrig lassen« (Neue Zürcher Zeitung). »Einsteins Erben« zeigt, wie sehr der Physiker und Schriftsteller Herbert W. Franke sich im Cyberspace und in virtuellen Welten auskennt. Wie sehr er es versteht, Spannung in Nachdenklichkeit münden zu lassen. Was passiert, wenn die von Menschen missbrauchte Wissenschaft zur Entmenschlichung führt? Die Geschichten: Einsteins Erben Programm ETHIC Expedition Geweckte Vergangenheit Asyl Zentrale der Welt Wir wollen Darius Miller sehen Warum schießt du nicht auf Peggy? Mutation Die Enklaven Waffenhandel Kleopatra III. Die Koordinatorin Ein Kyborg namens Joe
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Seitenzahl: 271
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 9
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
EINSTEINS ERBEN
Science-Fiction-Erzählungen
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 9
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1972 im Insel Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 08 9
Es war still. Kein Laut drang durch die schalldicht verglasten Fenster. Nur durch die Tür kam hin und wieder ein Geräusch: das Schleifen von Gummirädern auf dem Kunstharzboden, das Knistern der imprägnierten Kittel, ein geflüstertes Wort. Über allem lag der Geruch eines Desinfektionsmittels. Er hing in den Teppichen, an Büchern und Zimmerpflanzen, in den Haaren des Arztes. Mit der Luft aus der Klimaanlage wehte er in den letzten Winkel.
»Hier ist sie!«, murmelte die Krankenschwester. Sie zog eine Lochkarte aus der Kartei. »Forsythe, James. Sechsundzwanzig Jahre alt. Abteilung R zwei.«
»Abteilung R zwei?«, fragte der blasse, schwarzhaarige Mann, der zusammengekrümmt im orangebezogenen Wannensessel saß.
Der Arzt griff nach der Karte. »R zwei – Abteilung für geisteskranke Verbrecher. Wenn Sie etwas von ihm erfahren wollen, dann beeilen Sie sich, Inspektor. Er wird heute Nachmittag umorientiert.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Kommen Sie!«
Der Arzt ging voran, eilig, aber gemessenen Schrittes, Herr über sechshundert Operationsautomaten, und sich dessen bewusst. Der Inspektor folgte ihm.
Die blanken Stahltüren öffneten sich vor ihnen, bewegt durch verborgene Servomotoren, und glitten dann lautlos wieder zusammen. Sie reagierten auf das Magnetmuster in der Steckplakette des Arztes, das sie mit Tausenden ultrakurzen Stromimpulsen abtasteten. Lange, leere Gänge taten sich vor ihnen auf, ein Lift brachte sie ins Souterrain.
»Sehen Sie: hier!« Der Arzt war vor einer Tür stehen geblieben. In Augenhöhe befand sich ein Guckloch. Der Inspektor blickte in eine Kammer, die nichts als ein Rollbett und eine sanitäre Anlage enthielt. Die Wände waren grau und glänzten. Auf der Schaumgummimatratze saß ein junger Mann, der in keiner Weise auffällig wirkte. Er hatte eine hohe, zerfurchte Stirn und einen tiefsitzenden Mund, der ihm einen leicht verächtlichen oder auch trauernden Zug verlieh.
»Halten Sie ihn nicht unter Somnalin?«, fragte der Inspektor.
»Er ist nicht gefährlich.«
»Wie äußert sich seine Krankheit?«
»Wir haben schon einige Experimente mit ihm gemacht«, antwortete der Arzt. »Warten Sie, vielleicht kann ich es Ihnen demonstrieren …« Er blickte sich um, dann trat er in einen in der Wand eingelassenen Schrank. Er holte einen Staubsauger heraus, einen stromlinienförmigen Körper, mit einer mattbraunen Kunststoffhülle überzogen – und natürlich versiegelt.
Der Arzt öffnete die Tür und schob das Gerät mit dem Fuß hinein. Ohne ein Wort zu sprechen, zog er die Tür wieder zu. Dann winkte er seinem Besucher und deutete auf das Guckloch. Nach einer Weile fragte er: »Was sehen Sie?«
»Nichts«, flüsterte der Inspektor.
Der Arzt lehnte sich an die Wand. »Na, dann warten Sie ein wenig.« Er zog ein Corphorin-Spray aus der Tasche, schob den Ärmel zurück und suchte eine Stelle, die noch nicht vernarbt war. Er legte das Mundstück auf und spritzte sich das belebende Nervenmittel ein. »Wollen Sie auch?«, fragte er.
Der Inspektor hob aufmerksamkeitsheischend die Hand. »Er bewegt sich. Er steht auf … bückt sich … Er hebt das Gerät auf, setzt es auf das Bett.«
»Gut!«, sagte der Arzt mit leichtem Triumph in der Stimme. »Gleich werden Sie es erleben!«
»Er dreht es um, beugt sich darüber … jetzt verdeckt er mir die Sicht!«
»Lassen Sie mich … aha … dachte ich mir’s doch! Jetzt können Sie sich überzeugen!«
Wieder trat der Inspektor an die Luke. »Hat er …? Mein Gott, er hat das Siegel erbrochen!« Er drehte sich um. »Sie lassen das zu, Doktor?«
Der Arzt zuckte die Achseln. »Dieser Raum, mein Lieber, ist extraterritoriales Terrain – gewissermaßen. Hier sind die Gesetze der Ethik außer Kraft gesetzt. Aber gerade jetzt sollten Sie aufpassen!«
Der Inspektor blickte wieder in den Raum, an die Tür gelehnt, gebückt, wie unter einer Last. Er schwieg.
»Nun?«, fragte der Arzt.
Sein Gast schob mit einer entschlossenen Bewegung den Deckel vor die Öffnung. – Er war bleich und seine Stimme zitterte, als er sagte: »Es ist unfassbar. Pervers. Wahnwitzig. Er hat die Schrauben gelöst, den Deckel abgehoben. Er hat etwas herausgezogen, Draht, einen Glaskolben, etwas Glänzendes aus Metall … Es ist ekelhaft – ich kann es nicht ertragen.«
»Nun ja«, sagte der Arzt. »Er ist ein schwerer Fall. Deshalb wird er auch behandelt.« Er wandte sich um. »Das wär’s also.«
»Er darf nicht umorientiert werden«, sagte der Inspektor gepresst.
Der Arzt fuhr herum. Seine Augen mit den vergrößerten Pupillen waren weit geöffnet. »Ich verstehe nicht. Der Mann ist entartet. Krank, ein perverser Verbrecher, wenn Sie so wollen. Er vergeht sich hemmungslos an den Gesetzen. Er verletzt den Anstand und die guten Sitten. Hören Sie, Inspektor …«
Der Polizeibeamte zog ein Schriftstück aus seiner Brusttasche. Das vollsynthetische Papier entfaltete sich von selbst zu einem bedruckten und mit Prägestempeln versehenen Dokument. Der Arzt überflog es.
»Das ist seltsam«, sagte er. »Die Polizei schützt einen Wüstling vor dem Gerichtsvollzug. Darf ich den Grund wissen?«
»Warum nicht? Aber behalten Sie ihn für sich.« Der Inspektor trat näher an den Arzt heran. Er flüsterte: »Es tut sich etwas Geheimnisvolles, ja, es verläuft, es geschieht … wie soll ich es ausdrücken …?«
»Was geschieht?«, unterbrach ihn der Arzt ungeduldig.
Der Inspektor machte eine vage Handbewegung. »Vieles. Vereinzelt. Im Großen und Ganzen Kleinigkeiten. In der Gesamtheit eine Bedrohung: Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Untergrundbahn hat sich in den letzten sechs Wochen um zwanzig Stundenkilometer erhöht. Die neuesten Videoboxen laufen monatelang ohne Beeinträchtigung ihrer Leistung. Das Material der Laufbänder ist praktisch unverwüstlich geworden. Die Glaswände für die Selbstbau-Eigenheime sind unzerbrechlich und dennoch klar, und so weiter und so weiter. Sie verstehen, was das bedeutet?«
»Sind das nicht erfreuliche Verbesserungen? Was gibt es dagegen einzuwenden?«
»Erfreulich? Vielleicht scheint es so. Auf den ersten Blick. Doch Sie übersehen, dass dadurch das ökologische Gleichgewicht gestört wird. Das ist es aber nicht, was uns beunruhigt. Vielmehr … wer steckt dahinter? Es muss doch jemand dahinterstecken!«
Der Arzt war bleich geworden. »Sie meinen doch nicht, dass es wieder Anarchisten gibt … dass sie … nein, es ist unmöglich … alle Wissenschaftler wurden längst umorientiert …«
»Schweigen Sie darüber!« Der magere Körper des Inspektors straffte sich ein wenig. »Ich möchte mit dem Mann reden!«
»Bitte!«, sagte der Arzt gepresst. Er öffnete die Tür. Die beiden Männer traten ein.
Als James Forsythe das Rollen der Tür hörte, suchte er die Teile des Staubsaugers, in die er ihn zerlegt hatte, unter der Schaumgummimatratze zu verbergen, aber es blieb ihm keine Zeit dazu. Er stand auf und stellte sich so, dass man sie nicht gleich sehen sollte. Er zitterte vor Aufregung und Angst.
Der Arzt wollte etwas sagen, doch sein Gast schob ihn beiseite. Beide verzichteten darauf, das näher in Augenschein zu nehmen, was hinter dem Kranken auf dem Bett lag, denn ihnen graute vor diesen auseinandergerissenen Teilen mit den Klammern, Schrauben und losen Drahtenden.
»Schon eine Verletzung des Siegels – selbst aus Unachtsamkeit – ist strafbar. Das wissen Sie doch!«
James nickte.
»Sie wurden festgenommen, weil Sie eine Waschmaschine zerlegt hatten.«
»Sie war kaputt«, sagte James.
»Warum haben Sie sich keine neue besorgt?«
James zuckte die Schultern, denn er wusste, dass ihn niemand verstand.
»Warum also? Antworten Sie!«
»Ich wollte wissen, was mit dem Ding passiert war. Es hatte geknackst – dann stand es still. Ich wollte es reparieren.«
»Reparieren!«, wiederholte der Arzt kopfschüttelnd.
»Wir haben in Ihrem Keller eine Kiste mit Holzspulen, Nägeln, Blech und dergleichen gefunden. An einem Essbesteck bemerkten wir Kratzspuren – als hätten Sie damit hartes Material bearbeitet. Was hatten Sie vor?«
James blickte zu Boden. Seine Mundwinkel waren noch tiefer herabgezogen als gewöhnlich.
»Ich wollte eine Klingel bauen«, antwortete er.
»Eine Türklingel? Aber Ihre Wohnung ist doch mit Telefon und Video ausgestattet! Wozu brauchten Sie eine Klingel?«
»Für eine Zeitanzeige, eine Art Weckeruhr.«
Der Inspektor blickte ihn groß an. »Wozu soll das gut sein? Sie können sich jederzeit durch die Automatik wecken lassen.«
»Ich brauchte keinen Wecker«, antwortete James resignierend, »ich hatte nur Lust, einen zu bauen.«
»Sie hatten Lust? Und deshalb begehen Sie ein Verbrechen?«, fragte der Inspektor kopfschüttelnd. »Aber weiter! Dieser Staubsauger! Warum haben Sie ihn zerlegt? Dazu bestand doch nicht die geringste Notwendigkeit.«
»Nein«, sagte James, und dann schrie er: »Nein, es bestand keine Notwendigkeit. Aber ich sitze jetzt seit sechs Wochen in dieser Zelle, ohne Radio, ohne Video, ohne Illustrierte! Mir ist langweilig, wenn Sie das verstehen! Und es macht mir Spaß, in die Apparate hineinzusehen. Es interessiert mich, wie sie funktionieren: ein Hebel, eine Schraube, ein Zahnrad! Was wollen Sie von mir: Morgen werde ich umorientiert …« Er warf sich aufs Bett und drehte sich zur Wand.
Der Inspektor blickte auf ihn herab. »Vielleicht können wir Ihnen die Umorientierung ersparen. Es kommt ganz auf Sie an, Forsythe.«
Eine Woche lang war James Forsythe ruhelos durch die Stadt gestrichen, war über die Rolltreppen in die Geschäftsetagen hinuntergefahren, hatte sich mit dem Hängelift hoch über den Straßenschluchten der Stadt dahintragen lassen. Er war noch benommen von der langen Haft. Die Autokolonnen auf der Verkehrsetage und die durcheinandertreibenden Menschenmassen auf den Hochbrücken verwirrten ihn. Lufttaxis oder Sitzschweber benutzte er nicht – nach dem langen Aufenthalt auf dem festen Boden hatte er Angst, in den luftigen Höhen von Schwindel erfasst zu werden.
Und trotzdem empfand er die wiedergewonnene Freiheit wie ein überraschendes Geschenk. Er versuchte zu vergessen, dass sie nur geborgt war – falls er seine Aufgabe nicht erfüllte. Er hoffte, dass er dazu fähig war.
James Forsythe hatte nicht allzu viel Selbstvertrauen. Er war schwächlich, litt oft an Kopfschmerzen und hatte sich schon einige Male einer therapeutischen Behandlung im Euphorium unterziehen müssen. Vor allem aber litt er unter seltsamen Neigungen, die seine Gedanken zu den Maschinen lenkten und ihn zwangen, darüber zu grübeln, wie sie funktionierten. Er wusste, dass dieser Drang ungewöhnlich war. Er hatte schon oft vergeblich versucht, ihn zu unterdrücken, diese Faszination des Verbotenen, die ihm nicht einmal Lust bereitete, sondern ihn quälte, weil sie ihn nie zum Ziel führte: Hatte er den Zweck eines Rades oder eines Hebels begriffen, dann taten sich sofort Fragen nach größeren Zusammenhängen auf, und sein Versagen – die Gewissheit, nie zum Ziel zu kommen, nie eine endgültige, umfassende Erklärung zu finden – machte ihn traurig und verzagt. Und das alles geschah gegen seinen Willen: Er war kein Revolutionär und schon gar kein Held, und er hätte nur den Wunsch gehabt, von seiner quälenden Krankheit befreit zu sein: nichts als ein harmloser Bürger, den Gesetzen treu.
Nun stand er vor der Tür von Eva Rußmoller, der Enkelin des letzten großen Physikers nach Einstein – jenes Mannes, der vor rund achtzig Jahren der Wissenschaft abgeschworen hatte. Aber hatte er seinen Schwur gehalten? James kannte die Leidenschaft, die die Beschäftigung mit den physikalischen Erscheinungen in einem auflodern lässt, und er bezweifelte, ob jemand, der ihr einmal verfallen war, jemals von ihr abzulassen vermochte. Würde ihm Eva Rußmoller eine Verbindung zu einer geheimen Organisation weisen, zu Menschen, die heimlich Wissenschaft betrieben und heute noch an technischen Aufgaben arbeiteten? Er wagte kaum noch auf Erfolg zu hoffen, aber nachdem alle anderen Versuche fehlgeschlagen waren, musste er auch das noch versuchen. Die Polizei hatte ihm die Adresse besorgt.
Das Mädchen, das ihm öffnete, musste Eva Rußmoller sein. Sie war schlank, fast mager, blass und hatte große, erschreckte Augen. »Was wünschen Sie?«
»Darf ich Sie fünf Minuten sprechen?«
»Wer sind Sie?«, fragte sie unsicher. Sie stand auf der Terrasse des vierzigsten Stockwerks. Wicken und Zierkürbisranken hingen von den Blumenschalen in die Tiefe. Rundherum, aber doch fern genug, um eine freie Atmosphäre zu schaffen, standen andere Hochbauten, Pilz- und Trichterhäuser, Wohntürme, Staffel- und Fächergebäude, dazwischen hingen die Tragschienen der Hängebahn und die Brückenzüge der Hochstraßen.
»Wollen wir nicht hineingehen?«, fragte James.
»Ich weiß nicht … lieber nicht … Warum sind Sie gekommen?«
»Es handelt sich um Ihren Großvater.«
Das offene Gesicht des Mädchens verschloss sich, als hätte sie eine Maske übergezogen. »Polizei?«
James antwortete nicht darauf.
»Kommen Sie«, sagte Eva Rußmoller. Sie führte ihn auf eine Terrasse. Zwischen Florapexschalen mit wurzellosen Blattgewächsen setzten sie sich.
»Ich habe meinen Großvater nicht gekannt.« Eva schob ihm ein Corphorin-Spray hin, aber er nahm es nicht. Sie spritzte sich eine Dosis an den Nacken, und James bemerkte, dass ihre Arme bis zu den Gelenken hinab vernarbt waren. »Auch meine Mutter hat nichts mehr von ihm gehört, seit er vor fast fünfzig Jahren verschwand. Damals war ich noch ein kleines Mädchen. Aber das habe ich ja schon Dutzende Male zu Protokoll gegeben.«
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte James.
»Nicht von der Polizei?« Sie richtete sich misstrauisch auf. »Was wollen Sie dann von mir?«
»Ihr Großvater kann doch nicht spurlos verschwunden sein. Er war ein berühmter Mann, ein weltbekannter Wissenschaftler. Vor dem Verbot war er Rektor des Yukawa-Instituts für Mesonenforschung. Seine Verurteilung ging durch alle Zeitungen.«
»Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?«, flüsterte das Mädchen. »Hört das denn nie auf! Gewiss, mein Großvater war schuldig. Er hat die Nullwertbatterie erfunden, den Mesonenverstärker, die Gravitationslinse. Er entdeckte die Konvektion in der Sialschicht und wollte Schächte hinuntertreiben, um die Energien auszunutzen. Das alles hätte schreckliche Folgen haben können. Aber seine Pläne sind vernichtet worden. Es ist nichts geschehen. Warum verfolgt man uns dann über Generationen hinweg?!«
James tat das Mädchen leid, das so wehrlos und schutzbedürftig aussah. Er hätte sie unter anderen Umständen kennenlernen mögen! Aber zuerst musste er sich selbst retten.
»Beruhigen Sie sich! Niemand tut Ihnen was! Und ich bin kein Polizist!«
»Es ist ein neuer Trick, sonst nichts.«
James überlegte kurz. »Ich werde es Ihnen beweisen«, sagte er dann. Er holte ein Feuerzeug aus der Tasche, ein altmodisches Ding mit einem Schnapper. Er ließ den Deckel aufspringen – dort wo die Gaskapseln einzuführen waren und zeigte ihr das Siegel. Mit einer raschen Bewegung riss er es ab. Noch einige Griffe, und auf dem Tisch lagen Röhrchen, Blechteile, ein kleines Zahnrad.
Voll Abscheu wandte sich das Mädchen ab, dann erst zuckte es erschrocken zusammen – weil ihm bewusst wurde, dass ein Entarteter vor ihm saß, ein Mensch, der zu allem fähig war. »Um Gottes willen tun Sie mir nichts!«
James war über diese starke Reaktion erstaunt. Sie bewies ihm, dass Professor Rußmollers Enkelin wirklich nichts mit Wissenschaft und Technik zu tun hatte.
»Aber, Kind, ich tue Ihnen doch nichts, beruhigen Sie sich.« Und als sie zu weinen begann, fügte er hinzu: »Ich gehe ja schon.«
Er öffnete selbst die Tür, lief die halbe Etage zum Lift hinunter und wollte gerade den Rufer für die Abfahrt betätigen, als sich eine Hand auf die seine legte. Er fuhr herum und erblickte einen jungen Mann mit rundem Gesicht und Bürstenschnitt, dessen Züge durch stark gewölbte Haftschalen etwas Starres besaßen.
»Nicht hinunter! Wir fahren hinauf! Sekunde.« Er drückte einen Knopf, und der Lift setzte sich nach oben in Bewegung. Aber schon nach fünf Etagen unterbrach der Unbekannte die Fahrt und zog James auf den Flur. Ihn immer noch hinter sich nachzerrend lief er auf eine Terrasse hinaus, die offenbar unbewohnt war. In einer Ecke war ein zweisitziger Düsenschweber abgestellt, und der junge Mann befahl James, sich festzuschnallen. Dann lief er zum Geländer vor, blickte nach allen Seiten, und rief gedämpft: »Die Luft ist rein!« Er setzte sich an den Steuerhebel, und sie erhoben sich sanft. Zuerst glitten sie langsam dahin, dann verschnellerte sich die Fahrt, aber nicht über das Geschwindigkeitslimit hinaus.
Der Unbekannte sah sich aufmerksam um; dann stieß er James an: »Da kommen sie schon – schau, wie sie flitzen!«
»Wer kommt?«, fragte James.
»Na, die Polizei! Wer sonst? Mensch, bist du naiv!«
Unten am Rand der Schnellstraße sah James einen blauen Kombischweber aufsetzen. Einige Männer sprangen heraus.
»Und da ist auch schon die Luftflotte!« Der Unbekannte lachte. »Na, dampfen wir ab!« Er ließ die Düse aufheulen. Gerade noch innerhalb der erlaubten Geschwindigkeit sausten sie dahin.
»Was hat das zu bedeuten?«, schrie James dem anderen ins Ohr.
»Jetzt können wir uns unterhalten«, schrie dieser zurück. »Hier belauscht uns niemand. Also hör zu! Ich bin Horri Bleiner, und ich gehöre zu den Eggheads.« Als er die verständnislose Miene von James bemerkte, setzte er hinzu: »Mensch, du bist doch einer von uns! Ich hab’ dich mit dem Fernglas beobachtet. Ja, ich hab’ es gesehen: Du hast das Feuerzeug geöffnet.«
James zuckte zusammen. Was das auch immer bedeuten sollte – der andere hatte ihn in der Hand.
Horri lachte. »Du brauchst doch keine Angst zu haben! Auch wir finden diese Gesetze idiotisch. Es ist verboten, das Siegel zu erbrechen. Es ist verboten, eine Maschine zu zerlegen. Diese Spießer! Aber wir werden es ihnen zeigen!«
Horri lenkte den Schweber nach Süden, zum Sportzentrum. Es war ein riesiger Komplex von Turnhallen, Eislaufbahnen, Spielplätzen, Schwimmbecken, Boxringen, ausgestattet mit genauesten Messapparaturen für die Abnahme von Zeiten, Weiten, Höhen, Gewichten, Apparaten für das Hochleistungstraining, zum Trockenrudern, zum Radfahren auf der Stelle, Massagegeräte, Expander – kurz, die perfekteste Sportmaschinerie, die man sich denken konnte. Ein großer Teil des Gebiets war von einem riesigen Zeltdach aus durchsichtigem Kunststoff überdeckt. In der Mitte lagen das Oval des Stadions und das Wahrzeichen des Sportzentrums, der Fallschirmspringerturm. In Abständen von wenigen Sekunden wurden die Parachutisten in den dämmernden Abend hinauskatapultiert und schwebten dann an ihren Schirmen wie Daunen auf das Schaumgummibecken hinab.
»Du hast Glück«, sagte Horri. »Heute haben wir ein Happening.« Er verlangsamte das Tempo und ging auf einer Landerampe nieder. »Na, komm schon!« Er sprang auf einen Schienenteppich, der sie in Kurven durch matt beleuchtete Flure trug. Von Zeit zu Zeit verlangsamte sich die Fahrt – das waren die Umsteigestellen: Man griff nach einer der Haltelaschen, die an riesigen Rädern befestigt waren und hielt sich daran fest, bis sie einen zu jener Laufbahn getragen hatten, die man für die Weiterfahrt benutzen wollte. Für James, der für Sport nie viel übrig gehabt hatte, war das alles neu, die Art der Fortbewegung, zu der man allerhand Geschicklichkeit brauchte, fiel ihm schwer, um so mehr, als er auf Halbwüchsige aufpassen musste, die die Anlage offenbar für eine Art Fangspiel benutzten, verwegen von einem Schienenteppich auf den anderen sprangen und ihn einige Mal rücksichtslos beiseite stießen.
»Seid Ihr Sportler?«, fragte er seinen Gefährten misstrauisch, als er bemerkte, dass es diesem offenbar Freude bereitete, die Jugendlichen bei ihrer tollen Jagd zu behindern.
»Unsinn«, antwortete Horri und hielt James rasch fest, den es fast aus einer Kurve getragen hätte. »Für uns ist das nur Tarnung. Das Gelände ist ideal. Wer sich hier nicht auskennt, hat sich bald rettungslos verirrt. Die Hallen und Säle liegen vielfach ineinander verschachtelt und übereinander – Platzmangel, das ist es. Wir treffen uns immer in einem anderen Saal. Bisher haben sie uns noch nicht erwischt.«
»Eggheads«, sagte James. »So wurden früher die Wissenschaftler genannt. Was habt ihr mit Wissenschaft zu tun?«
Horri grinste. Er zog James mit sich, vom Rollteppich herab und auf eine Rutsche. In sausender Fahrt ging es bergab. »Wir sind moderne Menschen. Wissenschaft ist schick. Die Spießer haben nur Angst – vor neuen Waffen, vor Raketen, vor Tanks. Darum ist es so langweilig hier. Nichts passiert. Da waren die alten Physiker schon andere Burschen – mit ihren Napalmbomben und Atomgranaten. Sie haben recht gehabt: Man muss diese miese Welt ankratzen, damit sich wieder etwas tut.« Sie liefen einige Stufen hinab und standen in einer kleineren Halle, die offenbar sportmedizinischen Untersuchungen gewidmet war. Überall standen fahrbare Kardiografen, Enzephalografen, Oszillografen herum, dazwischen gab es Testplätze für Gewichtheber, Schwimmer, Schnellläufer. Eine große Röntgeneinrichtung stand bereit, um die Koordination der Skelettbewegungen während des Trainings beobachtbar zu machen. Auf den Bänken an der Wand, den Liegematten, selbst auf den Schalttischen saßen und hockten junge Männer zwischen fünfzehn und dreißig Jahren, alle hatten kurz geschorenes Haar, die meisten trugen Sandalen und Overalls aus weißem Nappaleder.
Horri blieb am Eingang stehen. Als sie ihn mit seinem Schützling bemerkten, traten sie auf ihn zu, schlugen ihn auf die Schulter und grüßten ihn mit »He!« oder »Crazy!«. Einer reichte James eine Flasche; mit Widerwillen zwang er sich zu einem Schluck vom milchig-trüben Inhalt, der nach Chemie roch und wie Kleister schmeckte.
»Feine Burschen«, sagte Horri. »Es war gar nicht leicht, sie zusammenzukriegen. Mindestens ein Dutzend haben wir bei der kleinen Rußmoller abgefangen. Netter Käfer, aber dumm – verständigt die Polizei, wenn sich einer nach ihrem Großvater erkundigt. Fast hätte sie dich auf dem Gewissen.« James fühlte Hustenreiz – gelber Rauch quoll von einigen zusammengeknüllten Papierfetzen. Horri zog ihn tief ein, er wirkte eigentümlich betäubend und aufreizend zugleich.
»Präpariert«, erklärte Horri. »Ich weiß nicht, womit. Bringt einen richtig in Schuss.« James beobachtete, wie einige junge Männer nahe am Feuer niederknieten und ihre Gesichter in die Schwaden hielten. Jemand stimmte ein eintöniges Lied an, andere fielen ein. Allmählich wurden die Stimmen undeutlich, die Gesten fahrig.
Auch Horri taumelte schon ein wenig hin und her. Er boxte James in die Seite und rief: »Fein, dass du da bist! Ich bin froh, dass gerade ich dich herausgeholt habe. Ich habe eben Glück. Schon seit ein paar Monaten halten wir abwechselnd Wache. War schon lang keiner mehr da!« Seine Stimme wurde undeutlich. Auch James hatte Mühe, klaren Kopf zu behalten. Ein magerer Jüngling neben ihm begann zu toben. Er riss eine Querstange für die Halterung von Gewichten für Schwerathleten von der Wand und ließ sie auf die medizinischen Apparaturen niedersausen. Glas splitterte, der Lack sprang ab. Vom misshandelten Blech kamen hässliche Geräusche. Plötzlich spürte James einen unangenehmen Druck im Magen.
»Der ist nicht schlecht«, lallte Horri. »Schau ihn dir an, schon völlig out. Aber keiner ist solche Klasse wie du. Ich hab’ noch niemand gesehen, der es hätte tun können, ohne im Tran zu sein. Mensch, mir selbst wurde fast schlecht, wie ich das Feuerzeug sah, das du zerlegt hast. Es ist schon eine Schweinerei, Kollege, aber das soll es ja auch sein: eine tolle Schweinerei – das Einzige, was noch Spaß macht.« Horri stieß James nach vorn, drückte ihm eine Keule in die Hand. »Zeig es ihnen, Kerl! Na los, zeig es ihnen schon!«
James’ Hoffnungen, über diese Leute den technischen Neuerungen auf die Spur zu kommen, die die Polizei beunruhigten, war schon längst zusammengesunken, und nun löste sich auch der letzte Rest in nichts auf. Verzweifelt riss er Horri am Ärmel zurück. »Warte doch! Ich muss dich etwas fragen. So hör doch!« Er schüttelte den anderen. Endlich hatte er ihn so weit, dass er ihm den Kopf zuwandte. »Was hat denn dieser Unfug mit Wissenschaft zu tun? Habt ihr nie daran gedacht, etwas zu bauen? Eine Maschine, ein Gerät, ein Werkzeug?«
Horri stierte ihn an. »Du machst mir Spaß! Oder spinnst du? Dann kannst du ja gleich in die Assisi-Kirche gehen – zum Einstein-Club.« Grob griff er nach James Unterarm. »Los, mach mit! Nieder mit dem Kram.« Er riss einem anderen die Keule aus der Hand und ließ sie in eine blinkende Skalenscheibe sausen. »Zusammenschlagen, niederdreschen … ach, wenn ich nur ein Maschinengewehr hätte!«
Um James herum gebärdete sich schon fast jeder in sinnloser Zerstörungswut. Die Verkleidungen der Apparate wurden heruntergerissen, die Schaltungen zerstört, die Vakuumröhren zerschlagen. In James stieg ein leises Grauen auf, es ekelte ihn, zum ersten Mal ekelte ihn richtig vor diesen hässlich, nackten, bloßgelegten Teilen, den Eingeweiden der Maschinen, die ihre Tätigkeit, obschon sie unentbehrlich war, im Verborgenen zu verrichten hatten. Was da ans Licht gezerrt wurde, war scheußlich, schreckhaft und abstoßend. Und zugleich stieg eine tiefe Scham in ihm auf – die Scham, irgendwie dazuzugehören. Er fragte sich, ob er fähig wäre, mitzutun, in diesem Schmutz zu wühlen, und er war sich nicht sicher. Wenn er in anderer Stimmung wäre, nicht ein Ziel vor Augen hätte … wer weiß? Um ihn herum wogte es, dumpfe Schreie klangen auf, alle arbeiteten wie rasend, fielen in den Rhythmus ihres Gesangs … er fühlte, wie er mitschaukelte, sich mitwiegte … eine Stange befand sich in seinen Händen, er wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, und er holte weit aus …
Da erklang ein Schrei: »Die Rocketts!« Eine Sekunde lang standen alle wie erstarrt, aber dann wandten sie sich um, dem Eingang zu. Von dorther stürmte ein Schwarm von jungen Männern in schwarzen Bluejeans und kurzen Jacken aus silbrigem Metallgeflecht herein. Sie schwangen Paddel, Sprungstangen, Stafettenstücke und ähnliche als Waffen brauchbare Geräte, und mit einem Aufheulen, das an eine Sirene erinnerte, warfen sich die beiden Parteien gegeneinander, schlugen aufeinander los, verkeilten sich …
Plötzlich war James wieder nüchtern. Er schlich zur Seite, schob sich, den Rücken zur Wand gedreht, zu einer schmalen Tür, die er im Hintergrund des Raumes bemerkt hatte. Sie ließ sich öffnen, und er tauchte in die Dämmerung eines Flurs.
Das Geräusch verebbte und drang nur noch wie ein Rauschen durch die schallabsorbierenden Mauern. Vom anderen Ende des Ganges erreichten ihn schleifende Geräusche – dort musste eine Rollbahn münden. Rasch lief er hinüber, eine der Standplatten, der »Teppiche«, näherte sich, verringerte die Geschwindigkeit, und James sprang auf. Nach einer ermüdenden Irrfahrt erreichte er einen der zweihundertachtzig Ausgänge.
Alles Unheil kommt von der Wissenschaft. Naturwissenschaftler und Techniker waren es, die die Luft verpesteten, das Wasser verschmutzten, Lebensmittel chemisch verseuchten. Sie brachten den Lärm, den Gestank und den Unrat in unsere Welt. Sie machten die Berge zu Schutthalden und die Seen zu Kloaken. Sie erfanden Maschinen, die der Mensch bedienen musste, und zwangen ihn zu stupider Fließbandarbeit. Sie bauten Städte, in denen Krankheiten und Psychosen entstanden. Sie führten den programmierten Unterricht ein und übertrugen auf die Kinder ihre eigene unnatürliche Neigung, sich mit Naturwissenschaft und Technik zu beschäftigen, neue Maschinen zu konstruieren, neue Methoden zu erfinden, die bestehenden Programme zu verändern. Sie manipulierten die Gensubstanz und brachten Monstren hervor statt besserer Menschen. Sie experimentierten mit Materie und Energie, mit der Erde, mit dem Mond, mit Pflanzen und Tieren, mit dem menschlichen Gehirn. Sie synthetisierten Substanzen, die das Verhalten beeinflussen, die Psyche entarten lassen, Emotionen hervorrufen und unterdrücken. Sie beriefen sich auf die absolute Instanz der Naturgesetze und dachten nicht daran, diese im Hinblick auf humanistische Werte zu relativieren. Sie setzten sich über die Regeln der Ethik und der Moral hinweg, redeten sich mit Sachzwang heraus, strebten nach uneingeschränkter Macht. Ihr Ziel war nicht die Ruhe, sondern der Zweifel, nicht das Gleichgewicht, sondern die Veränderung, nicht die Permanenz, sondern die Evolution. Sie zwangen den Menschen, hinter dem Fortschritt herzulaufen, hinter den Anzeigen, Signalen, Leuchtziffern, hinter Formeln und Leitsätzen. Sie machten den Menschen zur Testperson der Wissenschaft, zum Spielball der Technik, zum Sklaven der Industrie. Sie zwangen ihn zur Arbeit, zum Wettbewerb, zum Konsum. Sie schufen die theoretischen Grundlagen der Manipulation. Sie verstrickten den Menschen in ein Netz von Zwang, versahen ihn mit Nummern, führten über seine Krankheiten und Vorstrafen Buch, unterzogen ihn Prüfungen und Tests, überwachten ihn, kontrollierten ihn, drangen in seine Intimsphäre ein, belobigten ihn, bestraften ihn, erzogen ihn zu Gehorsam und Leistungsbereitschaft. Sie berechneten ihn mit Computern, sagten seine Reaktionen voraus, extrapolierten Wahlergebnisse, programmierten und verplanten ihn. Sie schufen ein Zerrbild des Menschen, eine gehetzte Kreatur, die nicht fähig ist, die Geschehnisse in ihrer eigenen Welt zu verstehen, und hilflos den Frustrationen einer lebensfeindlichen Umgebung ausgeliefert ist.
Naturwissenschaft und Technik sind zerstörerische Kräfte, die in einer Welt der Freiheit nichts zu suchen haben.
Es war Nacht geworden, und die stützenlos fixierten Riesenleuchten warfen ihre Lichtkaskaden über die Stadt. Lufttaxis und Düsenschweber zogen weiße, blaue und grüne Striche vor das ferne Grau des Himmels, und tausend helle Fenster zeichneten Lichtmuster an die Fronten der Hochhäuser.
James Forsythe hatte keinen Blick für das bunte Spiel des Lichts. Allmählich erholte er sich von dem Taumel der Zerstörungswut, der auch ihn erfasst hatte, und je mehr die Nachwirkungen in ihm abklangen, um so furchterregender stieg die Angst in ihm auf, seiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Dabei brachte er alle Voraussetzungen dazu mit – als einziger Mitarbeiter der Polizei, der nicht nur den Anblick aufgerissener Maschinen ertragen, sondern solche auch selbst zerlegen konnte. Aber konnte er es wirklich noch? Die grässlichen Szenen hatten in ihm eine Abscheu zurückgelassen, die seiner alten, krankhaften Neigung entgegenwirkte, sie dämpfte. War er auf dem Weg zur Heilung? Er wusste nicht, ob er es vermochte, auch weiterhin Beweise seiner Außenseiterposition zu liefern, wie er es tun musste, um die gewünschte Verbindung herzustellen.
Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er überdachte alle Wege, auf die ihn der hagere Inspektor des Sonderkommandos aufmerksam gemacht hatte, doch sie alle hatten in Enttäuschungen geendet. Die letzte war die schlimmste gewesen. Er zwang sich, seine Erlebnisse noch einmal zu überdenken; es gab noch eine vage Spur – Horris Bemerkung: »Geh in die Assisi-Kirche!«
Er kannte die Kirche – sie lag im ältesten Teil der Stadt, der gleich nach dem Atomkrieg aufgebaut worden war, und ein wenig ärmlicher wirkte als die übrigen Bezirke. Das Gebäude, ein altmodischer grauer Block, gehörte einer der vielen kleinen Sekten, die ihr Heil im Jenseits suchten und ein wenig beachtetes Dasein fristeten. Niemand brauchte sich noch mit der Hoffnung auf ein Paradies über die Unbilden der diesseitigen Welt hinwegzutrösten. Wie hätte ein solches Paradies aussehen sollen, da die reale Welt doch alles bot, was man sich nur wünschen konnte – Nahrung, Kleidung, sämtliche Bedarfsartikel von der Seife bis zum Sitzschweber, und das alles für jeden und kostenlos? Niemand brauchte sich Sorgen zu machen. Der medizinische Dienst sorgte für Gesundheit, für Jugend bis ins hohe Alter. Die prozessgesteuerten Fabriken auf der tiefsten Ebene, weit unten in der Erde, weitab von den Menschen, waren für die Ewigkeit gebaut. Sie synthetisierten die Esswaren, lieferten die Bausteine für die Gebäude, die man mithilfe weniger Maschinen zusammensetzen konnte, schufen diese Maschinen und andere – lauter hochleistungsfähige Automaten, an deren Knöpfen man nur zu drehen brauchte; jeder konnte es, keiner brauchte mehr zu lernen, als ihm in einem durchdachten System von Kinderspielen fast von selbst und unbemerkt vertraut wurde. Und sie reparierten sich selbst.
James wusste nicht, was für Menschen das waren, die in Kirchen und Tempel gingen. Vielleicht waren es Mystiker oder Unzufriedene. Vielleicht Anarchisten – vielleicht aber waren wirklich noch ein paar von jenen dabei, die Jahrzehnte nach dem Verbot der Wissenschaft geheim um deren Rehabilitierung gekämpft hatten. James fühlte plötzlich wieder Zuversicht. Er ging zum nächsten Abstellplatz für Sitzschweber, schnallte sich an und stieg auf. In leichtem Bogen nahm er Richtung auf das alte Stadtviertel, den ersten Bezirk.
Noch nie hatte er eine Kirche von innen gesehen. Als er eintrat, glaubte er in ein verlassenes Theater geraten zu sein, in der Dunkelheit nahm er Reihen von geschnitzten Sitzbänken auf, an der Wand brannten einige Kerzen. Vorn führten Stufen zu einer Art Bühne. Das Bild eines bärtigen Mannes mit einem langen und strengen Gesicht reichte gut sechs Meter bis zur gewölbten, sich in Schwärze verlierenden Decke hinauf. In halber Höhe lief eine Rampe hufeisenförmig um den Baum herum. James hörte leises Scharren herabdringen, doch er konnte niemand sehen. Vorn, in der ersten Bankreihe, knieten einige gebückte Gestalten. Was sie murmelten, waren wohl Gebete.
Sich immer wieder nach allen Seiten umdrehend ging James die Wand entlang, an zahlreichen Nischen, Schränken und Gittern vorbei, die wächsernen Gesichter von holzgeschnitzten Heiligen schienen auf ihn herabzusehen. Auf gedunkelten Bildern sah er Szenen voll Grausamkeit, Menschen, die in Flammen schmorten, Männer, auf Kreuze genagelt, Kinder, fliehend vor einer gehörnten Schreckgestalt. Es knisterte im Gebälk, und ein modriger Hauch, der manchmal an ihm vorbeistrich, verriet, dass es noch versteckte Öffnungen zu inneren, noch unheimlicheren Regionen gab.
Irgendwo oben schlug eine Glocke an. Neun Schläge – sieben komma sieben fünf Dekaden vor Mitternacht nach dem uralten Ritus der Zeitmessung. Waren das Schritte? Niemand hatte sich gerührt. James war einmal rundherum gegangen, ohne etwas zu entdecken, was ihm weiterhalf. Die Dunkelheit bedrückte ihn, die Ungewissheit machte ihn unruhig, die Fremdheit der Umgebung ließ Angst in ihm aufsteigen. Das Gefühl, dass man ihn beobachtete, wurde immer stärker. Die Erinnerung an eine Situation, in der er auch heimlich beobachtet worden war, bereitete ihm Unbehagen, und dieses Unbehagen war umso stärker, da er sich nicht erinnerte, wann er es erlebt hatte. Er grübelte darüber nach, und dann fiel ihm sein Besuch bei Eva Rußmoller ein: Es war Horri Bleiner gewesen, der durch den Luftvorhang der Terrasse hindurch jeden seiner Handgriffe mit dem Feldstecher beobachtet hatte. Sollte auch hier jemand … ja, sollten die Wissenschaftler, wenn es welche gab, ähnliche Mittel anwenden wie die jugendlichen Banden, um Anhänger ausfindig zu machen? Aber wie sollte er sich zu erkennen geben? War die alte Methode auch hier wirksam?