Engel trifft man überall ... - Brigitta Rudolf - E-Book

Engel trifft man überall ... E-Book

Brigitta Rudolf

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Beschreibung

Vierundzwanzig neue Weihnachtsgeschichten, stimmungsvoll, besinnlich, nachdenklich, und auf Wunsch vieler Leser spielen dieses Mal gleich in mehreren Geschichten auch Haustiere mit.

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Liebe Leserinnen und Leser!

Ich liebe diese geheimnisvolle und

wunderschöne Vorweihnachtszeit sehr.

Daher hat es mir viel Freude bereitet, noch

einmal vierundzwanzig Geschichten zu

erfinden, die in dieser Jahreszeit

angesiedelt sind. In mehreren dieser

Geschichten, und das ist Absicht, spielen

auch unsere geliebten Haustiere eine Rolle.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen immer

wieder eine gemütliche Adventszeit und ein

frohes Weihnachtsfest.

Herzlichst

Ihre Brigitta Rudolf

Inhaltsverzeichnis

Besuch auf dem Martinsmarkt

Nachbarschaftshilfe

Weihnachten im Schuhkarton

Ein seltsames Christkind

Vom Weihnachtsmann entführt…

Nikolaustag

Die Puppe

Engel trifft man überall…

Eine Kreuzfahrt zu Weihnachten und ihre Folgen

Heiligabend in der Notaufnahme

Flaschenpost

Der Ausflug

Die Weihnachtsfeier

Back Dir Deinen Engel

Schneeflöckchen

Das neue Weihnachtspostamt

Das bisschen Haushalt…

Ein weihnachtliches Missgeschick

Der Weihnachtshund

Wenn Engel reisen…

Philippa

Philippa und die kleine Katze

Weihnachten – im Juli?

Ein unvergessliches Krippenspiel

Besuch auf dem Martinsmarkt

Die Zwillinge Mirka und Lennart freuten sich auf den Klassenausflug. So wie alle anderen Kinder standen sie am Morgen aufgeregt auf dem großen Parkplatz vor ihrer Schule und warteten auf den Bus. Ihre Lehrerin, Frau Henning, hatte Mühe ihre Rasselbande zur Ruhe zu bringen. Nur gut, dass sich einige Mütter bereit erklärt hatten, an diesem Ausflug teilzunehmen. Es sollte zum Martinsmarkt in der Kreisstadt gehen. Endlich rollte der bestellte Bus auf den Platz, und alle drängten zur Tür, um die begehrtesten Plätze für sich zu reservieren. Nachdem alle Kinder einen Sitzplatz gefunden hatten, konnten sie starten. Kaum war der Bus losgefahren, griff Frau Henning zum Mikrophon, um die Anweisungen, die sie den Schülern schon am Tag zuvor gegeben hatte, noch einmal zu wiederholen. Dann teilte sie die Gruppen ein, so dass jedes Kind wusste, mit welcher Mutter es über den Markt gehen würde. Lennart, Mirka, Jana und Timo durften mit Frau Henning selbst die Stände anschauen. Etwa eine Stunde später waren sie am Ziel. Noch einmal die Ermahnung an alle, in der Nähe der Erwachsenen zu bleiben, und dann durften sie ausschwärmen.

Auf der großen Festwiese am Fluss, vor den Toren der Stadt, waren viele bunte Stände aufgebaut. Natürlich gab es bereits etliche weihnachtliche Leckereien wie Lebkuchen, Waffeln und vieles mehr, und überall duftete es nach dem Tannengrün mit dem die meisten Stände geschmückt waren. Ein Karussell drehte sich, und mehrere Händler boten auch kunsthandwerkliche Dinge an. Eigentlich hatten die Zwillinge vor, hier für ihre Mutter ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen, so wie zum Beispiel einen der hübschen getöpferten Teebecher mit ihrem Namen, so hatte Mirka vorgeschlagen.

„Ach, lass uns doch erst mal alles ansehen, bevor wir uns entscheiden“, schlug Lennart vor, und seine Schwester stimmte ihm zu. Also zog die kleine Gruppe zunächst weiter.

„Es gibt hier einen kleinen Viehmarkt, wollt Ihr Euch da auch umschauen?“, fragte Frau Henning.

„Oh ja bitte“, rief Jana begeistert. Sie war eine große Tierfreundin, und zuhause wartete ihre Hündin Hexe auf sie.

„Klar, auf jeden Fall“, meinte auch Timo.

Die Zwillinge wollten die Tiere natürlich auch gern ansehen, also marschierten sie zunächst dorthin. Es gab mehrere kleine Hunde, zwei Ponys, einen Pferch, in dem sich Kaninchen tummelten, und etliche Hühner verschiedener Rassen konnte man auch kaufen. Ganz am Ende des Platzes, etwas abseits, stand ein Käfig in dem eine einzelne Gans saß. Die erregte sofort Lennart´s Aufmerksamkeit.

„Schaut mal, sie hat so große, ängstliche Augen!“, meinte er.

„Kein Wunder, so allein in einem engen Käfig zu sitzen, das ist bestimmt kein Spaß!“, antwortete Jana mitfühlend. Direkt daneben stand ein Mann, der Lose verkaufte. „Wollt ihr welche kaufen? Die Gans ist der Hauptgewinn! Dann könnt Ihr Euch bald über einen leckeren Gänsebraten freuen“, erklärte er den entsetzten Kindern. Sofort wurden Mirka und Jana ganz blass.

„Nein, das geht doch nicht!“, empörte sich auch Timo, und Lennart nestelte sofort sein Taschengeld, das er für den Besuch des Martinsmarktes bekommen hatte, aus seiner Hosentasche. Dann entschied er: „Mama´s Weihnachtsgeschenk muss warten, ich kaufe lieber Lose!“

Frau Henning tat das offenbar jetzt schon verängstigte Tier ebenfalls sehr leid, aber sie ahnte, dass die Eltern der Zwillinge ganz bestimmt nicht begeistert wären, wenn sie mit einer lebendigen Gans nach Hause kommen würden. Also versuchte sie den Kindern ihr Vorhaben auszureden, aber da war absolut nichts mehr zu machen, denn alle Kinder, außer Lennart standen nun vor der Gans und versprachen ihr das Leben. Es war zu rührend, und ehe sie einschreiten konnte, hatte Lennart dem Losverkäufer bereits einen Fünf-Euro-Schein gegeben und zog ein Los nach dem anderen aus dessen Körbchen. Er gewann tatsächlich eine Tafel Schokolade, eine Tüte mit Waffeln und Seifenblasen, die restlichen Lose erwiesen sich als Nieten.

„Das ist Pech, aber noch mehr Geld gibst Du jetzt nicht aus, Lennart“, befahl Frau Henning in ungewohnt strengem Ton.

„Aber ich muss doch die Gans retten!“, beharrte der Junge auf seinem Vorhaben. Auch Mirka, Timo und Jana hatten inzwischen mehrere Lose gekauft und einige Kleinigkeiten gewonnen, aber auch hier war der Hauptgewinn natürlich nicht dabei.

Traurig sahen die Kinder sich an.

„Hören Sie, jetzt ist aber Schluss damit, dass Sie meinen Schülern das Geld aus der Tasche ziehen!“, beschimpfte Frau Henning den Mann. Mirka hatte inzwischen ganz leise zu weinen begonnen und Jana verzog ebenfalls ihr Gesicht und schluchzte mit.

„Wir haben ihr doch schon einen Namen gegeben – sie soll Lulu heißen und nicht gebraten werden!“, stammelte sie unter Tränen, und die Jungen nickten dazu. Währenddessen verfolgte die Gans weiterhin aufmerksam mit großen, angstvollen Augen das Geschehen, und ab und zu schnatterte sie leise. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass sie wusste, dass sich in diesem Augenblick ihr weiteres Schicksal entscheiden würde. Auch dem Losverkäufer wurde die Situation langsam ungemütlich. Er sah in vier, nein, mit der Lehrerin waren es fünf entsetzte Augenpaare, die ihn flehentlich fixierten. Schließlich gab er sich einen Ruck.

„Na gut, ich kann noch mal eine andere Gans vom Bauern holen – nehmt sie in Gottes Namen mit, aber gleich, ehe ich es mir anders überlege!“, brummte er, und sogar Frau Henning ertappte sich in dem Augenblick dabei, wie sich eine kleine Träne in ihre Augen stahl. Sofort versiegten die Tränen der Mädchen, und auch die beiden Jungen brachen in lauten Jubel aus.

„Dankeschön, vielen, vielen Dank!“, brachte Lennart noch mit Mühe heraus, bevor er sich den Käfig mit Lulu schnappte.

„Hoffentlich ist unser Busfahrer in der Nähe, dann können wir die Gans da lassen. Wir können sie doch schlecht über den ganzen Markt mitschleppen“, sorgte sich Frau Henning, als sie zum Bus zurück gingen. Sie hatten Glück, Herr Brandt war dort. Er war sichtlich erstaunt über diesen zusätzlichen Fahrgast, versprach aber für Lulu noch ein Plätzchen zu finden, nachdem er von den Kindern die Geschichte ihrer Rettung gehört hatte.

„So, jetzt wollen wir uns aber die anderen Stände wenigstens noch kurz anschauen“, bestimmte Frau Henning.

„Was Mama und Papa wohl dazu sagen werden, wenn wir ihnen Lulu mitbringen?“ überlegte Mirka - nun doch etwas bang.

„Ach, die sind doch tierlieb und werden sich bestimmt freuen“, beruhigte ihr Bruder sie. Als die Kinder zwei Stunden später alle wieder im Bus saßen, Lulu´s Käfig hatte im Gepäckraum einen Platz gefunden, machte die Geschichte natürlich erst mal die Runde. Selbstverständlich wollten alle Kinder Lulu gleich bewundern. Das hatte Herr Brandt schon voraus gesehen und sie deshalb im Gepäckraum untergebracht.

„Wenn wir zurück sind, dann könnt Ihr alle Lulu anschauen“, versprach Frau Henning ihren Schülern. Danach durfte jedes Kind erzählen, was ihm auf dem Martinsmarkt am besten gefallen oder was es gekauft hatte. So verging die Rückfahrt wie im Flug, und als sie wieder an der Schule ankamen, warteten schon die Eltern um ihre Sprösslinge in Empfang zu nehmen.

Statt ihrer Eltern war die Oma von Mirka und Lennart gekommen, um sie abzuholen. Beide Enkel stürmten gleich auf sie los und plapperten gleichzeitig, um ihr von Lulu zu berichten.

„Langsam Kinder, ich verstehe ja kein Wort!“, versuchte sie die beiden zu bremsen. Sie staunte nicht schlecht, als der nette Busfahrer, Herr Brandt, den großen Käfig mit der lebenden Gans vor ihr abstellte.

„Wir möchten unsere Lulu unbedingt behalten, Oma, Du musst uns helfen, bitte, bitte“, so bettelten Mirka und Lennart gleichzeitig. Währenddessen standen fast alle anderen Kinder um sie herum, um Lulu nun endlich kennenzulernen. Auch ihre Klassenlehrerin war hinzu getreten und erklärte, dass sie wirklich machtlos gewesen war, und diese Situation nicht hatte verhindern können. Aber unterwegs war ihr eine Lösung des Problems eingefallen.

„Wenn Sie die Gans zuhause nicht behalten wollen oder können, dann bringen sie Lulu doch zum Laurentius-Hof. Der ist ganz in der Nähe. Das ist zwar eigentlich ein Gnadenhof für alte und kranke Tiere, aber da wird Lulu sicher unterkommen, und Ihr könnt sie bestimmt ab und zu da auch besuchen“, schlug sie vor.

„Das ist eine gute Idee, ich denke, so machen wir es“, stimmte Oma Erna erleichtert zu. Sie konnte ihre Enkel ja nur zu gut verstehen, und um ehrlich zu sein, sie aß auch gern Gänsebraten, aber in diesem Fall sah die Sache etwas anders aus – Lulu sollte leben, das fand sie auch!

Nachbarschaftshilfe

Ihre Vierer-Wohngemeinschaft hatte sich bewährt, zwei Männer, zwei Frauen, aber keine Pärchenbildung. Seit Sandra vor einigen Monaten ausgezogen war um zu heiraten, war Konstanze zu ihnen gestoßen, und auch mit ihr kamen alle prächtig aus. Zusätzliche Pluspunkte hatte sie gesammelt, als sie alle anderen WG-Mitglieder, kurz nach dem Einzug, mit einem wirklich leckeren Abendessen zu ihrem Einstand überrascht hatte. Kochen sei ihr Hobby, hatte sie anschließend verraten, und so waren alle begeistert, als Konstanze sich bereit erklärte, auch am Heiligen Abend für die Bewirtung zu sorgen.

„Ich mache meinen Spezialauflauf, den gab es früher zu Weihnachten immer bei meinen Eltern“, schlug sie vor, und damit waren alle einverstanden. Ansgar, der sich gelegentlich auch gern in die Küche stellte, er liebte vor allem die süßen Sachen, bot daraufhin an, sich um den Nachtisch zu kümmern. So weit, so gut.

So werkelten Ansgar und Konstanze, am späten Nachmittag des Heiligen Abends, einträchtig eine Weile zusammen in der Küche, während Louis und Tessa sich bemühten, ihr gemeinsames Wohnzimmer weihnachtlich herzurichten und den Tisch zur Feier des Tages festlich zu decken. Tessa hatte eigens dafür Kerzen und weihnachtliche Servietten gekauft, die holte sie jetzt hervor. Louis hatte eine kleine Tanne besorgt, und er und Tessa waren gerade dabei sie zu schmücken, als Ansgar ins Zimmer stürzte und atemlos verkündete: „Ich fürchte, unser Hauptgang fällt aus, der Backofen hat eben seinen Geist aufgegeben. Konstanze sitzt in der Küche und heult.“

„Was, das gibt´s doch gar nicht, gerade heute; verflixt noch mal!“, schimpfte Tessa, und lief sofort in die Küche, um sich die Sache selbst anzuschauen.

„Hast Du mal nach den Schaltern im Zählerkasten geguckt, vielleicht ist ja nur eine Sicherung rausgeflogen“, erkundigte sich Louis bei Ansgar.

Der winkte nur lässig ab: „Klar, aber da war alles in Ordnung. Es ist nix mehr zu machen, das alte Ding ist absolut fertig mit der Welt – tut mir leid!“

Währenddessen tröstete Tessa in der Küche die unglückliche Konstanze.

„Mach Dir nichts daraus, der alte Ofen hatte schon länger seine Macken, wir wussten, dass wir ihn früher oder später sowieso hätten austauschen müssen.“

„Ja, das weiß ich, trotzdem“, schluchzte Konstanze, „aber ich habe mir mit dem Rezept so viel Mühe gegeben, und jetzt kann ich womöglich alles in die Biotonne kippen. Außerdem, was essen wir denn stattdessen?“ Tessa wusste, es war nicht nur der Auflauf, um den Konstanze weinte, es war auch das Heimweh nach vielen früheren gemütlichen Weihnachtsfesten zuhause.

Liebevoll legte sie den Arm um die Schulter ihrer Mitbewohnerin und sagte mitfühlend: „Ach, das macht doch nichts, irgendein Imbiss wird wohl auch heute noch offen haben – vielleicht der Chinese?“

Ansgar und Louis waren inzwischen auch in die Küche gekommen und versuchten ebenfalls die arme, unglückliche Konstanze aufzuheitern. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass der alte Ofen ausgerechnet heute beschlossen hatte, seine Pflicht und Schuldigkeit endgültig getan zu haben.

„Wir stellen Deinen Auflauf erst mal in den Kühlschrank, vielleicht hält er sich ja bis nach den Feiertagen. Dann kümmere ich mich gleich um einen neuen Backofen“, versprach Ansgar.

Konstanze nickte nur, was blieb ihr auch anderes übrig. Während sie gemeinsam beratschlagten wo einer der Männer etwas zum Essen holen sollte, hatte Tessa eine bessere Idee. Wozu hatte man schließlich Nachbarn. -

„Wisst Ihr was, ich klingele mal kurz bei den Grothes nebenan, vielleicht können die unseren Auflauf bei sich in den Ofen schieben.“

„Super, das wär´s doch!“, pflichtete Ansgar ihr sofort bei. „Bei denen habe ich mir schon mal eine Tasse Zucker oder ein paar Eier geliehen, das sind nette Leute. Warte, ich komme mit, mich kennen sie ja schon ganz gut“.

„Ich stehe auch mit allen Nachbarn auf Grüßfuß, aber klar komm mit, das kann nicht schaden“, bekundete Tessa ihr Einverständnis, und schon waren die beiden verschwunden.

„Das ist doch eine Zumutung, gerade heute“, sorgte sich Konstanze.

„Nein, das ist ein kulinarischer Notfall, meine liebes Mädchen“, beruhigte Louis sie. Nur wenige Minuten später waren Tessa und Ansgar zurück.

„Die Grothes haben leider selbst eine große Gans im Backofen, sie erwarten ihre beiden Elternpaare zu Besuch, aber sie haben uns zu dem alten Herrn Roth geschickt. Das ist der nette ältere Herr aus dem zweiten Stock. Der macht für sich allein ganz sicher keinen großen Braten oder so etwas in der Art, bei dem sollten wir mal nachfragen, hat Frau Grothe gesagt.“

„Seid Ihr etwa da hingegangen?“, fragte Konstanze entsetzt.

„Klar doch!“, grinste Ansgar und fuhr fort: „Er war sogar begeistert uns aus der Patsche helfen zu können. Er ist Weihnachten immer allein, hat er gesagt, das wäre doch mal eine Abwechslung für ihn. Wir sollen sofort mit dem Auflauf rüber kommen, wie lange muss der denn ins Rohr? Den Backofen hat er auch gleich angestellt.“

„So etwa eine Stunde bei 220 Grad, denke ich“, hauchte Konstanze schwach.

„Wisst Ihr was, es ist doch sicher genug da, ich finde, wir sollten den alten Herrn für seine Hilfsbereitschaft nachher zum Essen einladen!“, schlug Louis vor.

„Das ist eine gute Idee, das machen wir. Ich lege sofort ein Gedeck mehr auf, und einer von Euch bringt den Auflauf rüber“, bestimmte Tessa.

„Geht klar“, salutierte Ansgar, schnappte sich die Schüssel und verschwand. Als er zurück kam, berichte er, dass Herr Roth sich über die Einladung tüchtig gefreut habe und sie gern annehmen würde.

„Na also, dann haben wir heute ja sogar durch unser Pech noch ein gutes Werk getan“, freute sich Tessa.

Es wurde ein sehr gelungener Abend, denn das Festessen schmeckte allen bestens, und der freundliche Herr Roth erwies sich sogar als begnadeter Unterhalter. Als er sich später verabschieden wollte, beschlossen alle, dass dies nicht der letzte Abend sein sollte, den man gemeinsam verbracht hatte.

„Wie schön, wenn man so nette Nachbarn im Haus hat“, meinte Konstanze.

Nach diesem Abend fühlte sie sich endlich richtig wohl in ihrem neuen Zuhause.

Weihnachten im Schuhkarton

Genau diese Aktion war es, die Olga eines Tages auf die Idee brachte, sich für die Kinder in ihrer alten Heimat in Russland zu engagieren. Weihnachtsgrüße, die in einen Schuhkarton passten, mit so wenig Aufwand so viel Freude machen zu können, das war eine ganz wunderbare Sache, fand sie. Olga und Igor waren als Kinder mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, und in Russland gab es zwar noch immer einige entfernte Verwandte, allerdings war der Kontakt zu ihnen inzwischen recht spärlich geworden. Er beschränkte sich in der Regel auf ein Päckchen zu Weihnachten und ab und schrieben sie den Leuten dort eine Karte zum Geburtstag, auf die allerdings nur sporadisch eine Antwort kam. Das Leben dort hatte eben ganz andere Dimensionen. Aber ihre Idee ließ Olga keine Ruhe, und Igor stimmte ihren Plänen sich darum zu kümmern gleich vorbehaltlos zu. Die beiden wünschten sich schon lange ein Kind, bisher leider vergeblich, vielleicht war sie deshalb schon im Sommer auf diesen Gedanken gekommen, das vermutete Igor jedenfalls. Olga beschloss, ihre Cousine Tatjana zu kontaktieren und sich bei ihr zu erkundigen, ob es eventuell in der Nähe ein Waisenhaus gab, das man unterstützen konnte. Deshalb setzte sie sich hin und schrieb an Tatjana. Unerwartet schnell kam die Antwort. Die Leiterin des Waisenhauses, das sie ausfindig gemacht hatte, hieß Frau Poltowa. Sie würde sich sehr freuen, wenn Olga und Igor sich bei ihr melden würden. Tatjana schrieb weiterhin, dass auch sie sehr glücklich wäre, die beiden einmal wiederzusehen, falls Igor und Olga tatsächlich selbst nach Russland kommen sollten.

Olga war in den letzten Wochen nicht untätig geblieben und hatte etliche ihrer Freunde, Nachbarn und auch einige Arbeitskollegen für ihr geplantes Projekt gewinnen können. Daher lagerten bereits viele Sachspenden in ihrem geräumigen Keller. Kinderkleidung in verschiedenen Größen, Handtücher, Putzmittel und sogar Konserven hatte sie erhalten. Nachdem sie von Frau Poltowa eine Liste mit den Namen ihrer Schützlinge sowie deren Alter erhalten hatte, konnten ihre Helfer sich danach jeweils ein Kind aussuchen, für das sie gern ein Päckchen packen wollten. In dem Waisenhaus wurde wirklich alles gebraucht, das hatte die Heimleiterin durchblicken lassen.

Nachdem sich Igor zunächst einmal um die Einreiseformalitäten gekümmert hatte, was gar nicht so einfach gewesen war, konnten Olga und er einige Tage vor Weihnachten ihr Auto voll packen und sich auf den Weg machen. Dafür hatten beide einen Teil ihres Jahresurlaubs aufgespart. Es war eine lange und anstrengende Fahrt, und sie waren heilfroh, als sie endlich dort ankamen. Schnell hatten sie in dem verschlafenen kleinen Ort das Waisenhaus gefunden. Die Heimleiterin empfing das Paar aus Deutschland sehr herzlich und bot ihnen gastfreundlich auch eine Schlafgelegenheit an, die Olga und Igor allerdings ablehnten, da sie von Tatjana erwartet wurden. Frau Poltowa staunte über die vielen Dinge, die ihre Gäste aus dem Auto holten. Einige Kinder hatten ihre Ankunft natürlich bemerkt, wurden aber von Frau Poltowa schnellstens wieder fort geschickt, denn die vielen bunt verpackten Weihnachtspäckchen sollten doch eine Überraschung bleiben. Olga schluckte, als sie bemerkte, wie ärmlich die Kinder gekleidet waren. Sie und Igor waren gewiss nicht reich, aber eine solche Armut, die kannte man bei ihnen in Deutschland kaum. Sogar Igor, der längst nicht so empfindsam war wie seine Frau, fiel das gleich auf. Morgen war Heiligabend und er freute sich riesig darauf, einmal selbst den Weihnachtsmann spielen zu dürfen!

Nachdem sie alle mitgebrachten Sachen ausgeladen und die hübsch verpackten Geschenkpäckchen vor den neugierigen Kinderaugen in Sicherheit gebracht hatten, lud Frau Poltowa ihre Gäste sehr freundlich zum Abendessen ein.

„Kommen Sie, dann stelle ich Ihnen unsere Kinder vor“, bat sie so herzlich, dass Olga und Igor es ihr nicht abschlagen mochten. Dann ertönte der Gong, und die Kinder kamen aus ihren Zimmern in den großen Speisesaal, um sich dort zu der abendlichen Mahlzeit zu versammeln. Einige der Jüngsten wurden von ihren Erzieherinnen herein gebracht. Eine der Damen hielt einen blonden kleinen Jungen an der Hand, als sie den Speisesaat betrat. Als der Kleine Olga sah, wurde er blass und riss sich von der Hand seiner Erzieherin los. Dann stürzte er, so schnell ihn seine kleinen Beinchen trugen, auf Olga zu und stammelte atemlos: „Mama, Mama!“

Dabei klammerte er sich so fest er konnte an sie und begann haltlos zu schluchzen. Olga beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihn auf den Arm. Bei dieser rührenden Szene schossen auch Igor Tränen in die Augen, die er sofort verstohlen wegwischte.

„Tatsächlich, hat Ihre Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Mutter, das muss man sagen“, stellte Frau Poltowa fest, während sie versuchte, Olga den Kleinen abzunehmen. Allerdings ohne Erfolg, denn der klammerte sich nur umso fester an seine vermeintliche Mama, gerade so, als wolle er sie nie mehr loslassen. Er gab erst Ruhe, als man ihm versprach, er dürfe während des Abendessens auf ihrem Schoß sitzen bleiben. Der Knirps hieß Michail und war zweieinhalb Jahre alt, erfuhren Igor und Olga. Michail schmiegte sich ganz fest an Olga und ließ sie nicht aus den Augen, während sie ihn fütterte. Ab und zu strich sie ihm dabei zart über seine Wange und jedes Mal, wenn sie es tat, strahlte er sie dankbar und glücklich an. Auch später, nach dem Abendessen, weigerte er sich strikt, sich von jemand anderem anfassen zu lassen. Als es Zeit für ihn wurde, zu Bett gebracht zu werden, begann er erneut zu weinen und beruhigte sich erst, als man ihm versprach, dass Olga auch am nächsten Tag wieder herkommen würde. Mit Tränen in den Augen sah auch Olga ihm gedankenvoll nach. Dann wurde es für sie und Igor allerhöchste Zeit sich zu verabschieden, denn Tatjana wartete inzwischen sicher schon ungeduldig auf sie.

Als Olga und Igor endlich bei ihr ankamen, war es schon sehr spät geworden, aber der Wiedersehensfreude tat das keinen Abbruch. Als Kinder hatten sich Olga und Tatjana zuletzt gesehen, aber es war vom ersten Augenblick an so. als wären sie nie getrennt gewesen. Sie hatten sich viel zu erzählen, und Olga berichtete ihrer älteren Cousine natürlich auch von der Begegnung mit Michail.

„Stell Dir vor, ich soll seiner Mama ähnlich sehen“, erzählte sie Tatjana.

„Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er gedacht hat, sie ist zurück gekommen, der Arme!“, sagte Tatjana mitleidig.

Sie verstand nur zu gut, dass es vor allem diese Begegnung war, die ihre Gäste sehr aufgewühlt hatte.

Nachdem Olga und Igor sich zurückgezogen hatten, fanden beide keine Ruhe, sondern wälzten sich schlaflos hin und her. Bis Igor es schließlich doch wagte seine Frau anzusprechen, indem er fragte: „Kannst Du auch nicht schlafen?“

„Nein, ich muss immer an die Kinder denken, vor allem an Michail!“, gab sie zu.

„Mir geht es nicht anders.“

„Er ist doch noch so klein, er braucht eine Mama!“, flüsterte Olga erstickt.