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Im Band enthalten sind fünf Romane des Eulen-Verlages aus den 1950er Jahren. Fred Vic Forest - Die schwarze Hand C. F. Gregg - Kampf mit der Unterwelt Frank I. Noel - Achtung, Atomspione Särge für Ohio Frank I. Noel - Achtung, Atomspione Froschmänner am Werk Frank I. Noel - Achtung, Atomspione Grasill der Spürhund
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2024
Herausgeber
Erik Schreiber
Fred Vic Forest - Die schwarze Hand
C. F. Gregg - Kampf mit der Unterwelt
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Särge für Ohio
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Froschmänner am Werk
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Grasill der Spürhund
Saphir im Stahl
e-book 273
Fred Vic Forest - Die schwarze Hand
C. F. Gregg - Kampf mit der Unterwelt
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione - Särge für Ohio
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione - Froschmänner am Werk
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione - Grasill der Spürhund
Erscheinungstermin 01.12.2024
© Saphir im Stahl Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Pulp Magazin
Lektorat Peter Heller
Vertrieb: neobooks
Herausgeber
Erik Schreiber
Fred Vic Forest - Die schwarze Hand
C. F. Gregg - Kampf mit der Unterwelt
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Särge für Ohio
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Froschmänner am Werk
Frank I. Noel - Achtung, Atomspione
Grasill der Spürhund
Saphir im Stahl
Fred Vic Forest - Die schwarze Hand
Das Läutwerk des Apparates hatte kaum angeschlagen, als Inspektor Clifford auch schon nach dem Hörer griff.
„Hallo?“, fragte er verdrossen. Während er mit der linken den Hörer hielt, räkelte er sich langsam im Bette empor, um mit der rechten Hand die Nachttischlampe anzuknipsen. Sein erster missmutiger Blick fiel auf die Uhr. Es war ½ 12. Wieder einmal also hatte man ihn aus dem besten Schlaf geweckt.
„Hallo, Clifford“, tönte es inzwischen an sein Ohr. „Nicht böse sein, dass ich wieder ’mal Ihren Nachtfrieden stören muss, aber ich glaube, diesmal hab’ ich die große Sache für Sie, auf die Sie schon seit Wochen warten …“
„Das sagen Sie mir nun schon die dritte Nacht, Kommissar“, entgegnete Clifford bissig, „wär es nicht besser gewesen, Sie hätten damit bis morgen gewartet? Am hellen Tag sieht alles ein wenig anders aus!“
„Nein!“ Clifford glaubte beinahe zu sehen, wie Kommissar Hawkens am anderen Ende der Leitung befriedigt zu lächeln begann. „Diesmal konnte ich nicht warten. Sie liegen ja im Bett und darum brauche ich Ihnen auch nicht anzuraten, dass Sie sich setzen sollen. Aber hören Sie zu: Nicht allzu weit von Ihnen, Cornwell Street 17 –“
„Kensington?“, fragte nun Clifford schon etwas interessiert dazwischen.
„Ja, zwischen Kensington und Earls Court, für jeden Taxichauffeur unmöglich zu verfehlen. Ja, also, hören Sie zu? Es passierte ein Mord … unter seltsamen Begleitumständen. Mord in der Verlobungsnacht –“
„Ja?“, schnappte Clifford und sprang aus dem Bett.
„Sie brauchen nicht erst in den Yard zu kommen, die Kommission erwartet Sie vor dem Mordhaus … gute Nacht … Wiedersehen!“
Schon wenige Minuten später stand Clifford auf der Straße. Die erste Begrüssung kam von Elliots Warenhaus herüber, dessen farbige Reklame ihn abwechselnd mit rotem und grünem Licht übergoss. Als er zur Putney Hall einbog, kam eben ein leeres Taxi heran. „Kensington – Cornwell Street!“, rief er und öffnete auch schon den Schlag. Während er sich behaglich in die Polster zurücklehnte, zündete er sich eine Zigarette an. Eben fuhren sie an Putney Station vorüber; Putney Bridge kam in Sicht. Hinter Putney Bridge verfiel er ins Nachdenken. Er war nun durchaus nicht mehr schläfrig, aber der Widerschein und Widerhall des bunten Getriebes um ihm herum erfüllte ihn mit wohligem Behagen. Ja, das war London! Soweit sein Auge über den Fahrer hinweg nach vorne reichte, die hellerleuchtete Straßenschlucht entlang, sah er Leben um sich als wäre es Tag. Vom Piccadilly Circus herauf kam eben eine lange Reihe festlich geschmückter Wagen und jede Querstraße spie noch neue elegante Wagen hinzu. Auf den Gehsteigen wimmelte es noch immer von gutgekleideten Menschen; ab und zu klang ein Lachen auf … Musik … Ja, London! Clifford war keineswegs sentimental; er besaß im Gegenteil beinahe noch um eine kleine Dosis mehr Nüchternheit, als sie der angelsächsischen Rasse im Allgemeinen ohnehin schon zu eigen ist. Aber es tat doch gut, sich als Kind dieser schönen, und reichen Stadt zu wissen, als Bürger dieses Landes mit dem guten Stern … Unwillkürlich fielen ihm zum Vergleich andere Städte und Länder, andere Schicksale ein. Knappe fünf Jahre war es nun her, dass Clifford mit seiner Einheit drüben, am Kontinent gelandet war, um in einer letzten großen Anstrengung die Fackel des Krieges auszublasen. Fünf Jahre … und wie viel Elend und Not und Hässlichkeit hatte er in dieser Zeit schon gesehen …
Als der Wagen in die Cornwell Street einbog, dämpfte Clifford seine Zigarette ab und als er dann Sekunden später aus dem Wagen stieg, war sein Gesicht mit einem Mal seltsam verhärtet.
Im Flur des bezeichneten Hauses stieß Clifford auf die übrigen Herren der Kommission. Die Begrüssung zwischen ihnen war kurz und ernst; der Situation angemessen.
„Waren Sie schon oben?“, fragte Clifford Doktor Gibbson, der nun ihm zur Seite nach oben schritt.
„Nein“, erwidert der Arzt, „wir sind selbst erst vor wenigen Minuten angekommen und hatten uns ausgerechnet, dass auch Sie gleich da sein müssten.“ Der Schimmer eines Lächelns flog über sein kluges Gesicht. „Ich wollte, dass wir den ersten bestimmenden Eindruck gemeinsam empfinden.“
Mittlerweile waren sie im ersten Stockwerk angelangt. „Ich glaube, da drüben“, äußerte Clifford.
Im selben Augenblick ging auch schon die bezeichnete Türe auf und eine Frau, behaftet mit den typischen Merkmalen hochgradiger Erregung, eilte auf sie zu. „Sie sind wohl die Herren von der Polizei?“, rief sie mit unsicherem Diskant. Ihr Blick irrte dabei fragend von einem zum andern, als suche sie unter ihnen den Mann, der fähig war, sie von dem Grauen dieser Stunden mit einem Schlag zu erlösen. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht. „O Gott!“, rief sie. „Wie konnte mir so etwas Fürchterliches geschehen!“
Doktor Gibbson schob sich unmerklich vor. „Beruhigen Sie sich doch, Mrs. Jenkins“, entgegnete er und fasste sie sanft an den Armen. „Kommen Sie!“ Während er mit der Frau voranschritt, folgten die anderen lächelnd hinterdrein. Ja, sie alle kannten nun seit Jahren schon die wunderbar abgestimmte Zusammenarbeit des Doktors mit dem Inspektor. Während Gibbson alle Register menschlicher Beeinflussung zog, war Clifford der stille Beobachter, der dann zu gegebener Minute in den seelischen Aufruhr des Opfers hineinstieß, um sich die Wesentlichkeiten herauszuholen.
Mrs. Jenkins Küche, sonst das Zubereitungsfeld mehr oder minderer leckerer Vergnüglichkeiten, wurde nun zum Schauplatz solch eines harmonischen Zusammenspiels. Doktor Gibbson hatte Mrs. Jenkins fürsorglich in einen Stuhl plaziert, er selbst saß dicht vor ihr.
„Wollen Sie denn nicht den … den Toten sehen?“, fragte die Frau verwundert, als sie sah, dass auch die übrigen Herren in die Küche traten.
„Doch“, entgegnete der Doktor, während er liebevoll ihr Händchen tätschelte, das sie ihm willig überließ. „Doch! Aber glauben Sie mir, Mrs. Jenkins, das hat Zeit. Mr. Ricardi läuft uns nun nicht mehr davon! Aber Sie, Mrs. Jenkins“, und er drückte ihr Händchen noch etwas liebevoller an sich, „Sie leiden unter all dem und benötigen unsere Fürsorge in erster Linie. Sie wurden hier in schlimmer Weise in das Schicksal eines Menschen hineingezogen, in ein Schicksal, das, so bedauerlich es auch sein mag, Ihnen doch naturgemäß ferner stehen muss und daher –“
„Er war ja nur mein Untermieter!“, empörte sich Mistress Jenkins, als könnte sie mit dieser Feststellung alles von sich weisen, was mit ihm über ihre Schwelle gekommen war.
„Ja, nur Ihr Untermieter“, wiederholte Doktor Gibbson sanft. „Und darum, Mr. Jenkins: So sehr ich, ein fromm erzogener Mensch, Mitgefühl als eine hervorragende christliche Tugend schätze, so kann ich doch nicht einsehen, warum Sie nun so schwer dafür büßen sollen, nur weil – Nein, Mistress Jenkins“, unterbrach er sich missbilligend und schüttelte den Kopf, „man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen, aber ich finde es beinahe ein wenig rücksichtslos, dass er Ihnen das angetan hat, dass er –“
„Wer … was …?“, fragte Mrs. Jenkins und vergaß vor Erstaunen den Mund sogleich wieder zu schließen. „Wer … wer, sagen Sie, war rücksichtslos?“ Sie glaubte, nicht recht gehört zu haben.
„Ricardi natürlich“, entgegnete Doktor Gibbson schlicht. „Schauen Sie, Mrs. Jenkins“, und er rückte bei dieser Einleitung noch näher an sie heran, „Sie müssen mir doch zugestehen, dass man einen Menschen nicht so mir nichts dir nichts tötet. Mord ist zumindest in halbwegs normalen Zeiten kein Sport! Ein Mensch, der ermordet wurde, musste Feinde oder zumindest einen schweren Feind haben. Richtige Todfeinde aber, die wirklich töten, sind selten! Da muss schon etwas sehr Schwerwiegendes dahinter sein. Mein Gott, ja … wenn man mit außergewöhnlichen Dingen zu tun hat, mit Politik, Staatsgeheimnissen und solchen Sachen, da kann manches passieren! Aber Ricardi …? Was war er doch gleich –?“
„Maler!“, antwortete die Frau verächtlich.
„Richtig, Maler“, wiederholte Doktor Gibbson, dem bis zu dieser Sekunde die berufliche Tätigkeit des Ermordeten vollkommen unbekannt gewesen war. „Maler …“ Eine kurze Weile schwieg er, während er einen raschen Blick zu Clifford hinüber warf. Dann begann er wieder: „Sehen Sie, Mistress Jenkins, die Maler! Das ist auch so eine eigene Gesellschaft. Ich will nichts gegen Künstler im Allgemeinen sagen; aber die sind immer ein sehr sinnliches Volk. Kaum einer, der nicht mit Weibergeschichten zu tun hätte. Und Maler überhaupt … diese Modelle … mein Gott …“
„Oh, davon weiß ich ein Lied zu singen“, ereiferte sich Mrs. Jenkins. Ihre Wangen „röteten sich, in ihre Augen kam ein neuer Glanz; sie schien nun offensichtlich bei einem Thema angelangt zu sein, das ihr schon viel zugesetzt hatte. „Die Modelle, diese ekligen, schamlosen Puten … mit ihren Ansprüchen, als ob sie Prinzessinnen wären! Bitte ein Glas Wasser, Frau – bitte haben Sie nicht eine Schale Kaffee, aber stark, bitte, ich bin so erschöpft – ich habe auch Hunger, bitte eine Kleiderbürste – eine Falte in dieses Kleid … wie ein Dienstbote kam ich mir manchmal vor … und dann … Mr. Ricardi hatte dabei nicht einmal genügend Geld, um … er borgte ständig aus … auch von mir …“
„Das ist gemein!“, rief Clifford, scheinbar ehrlich empört, dazwischen und kam nun näher heran.
Mrs. Jenkins sah mit dankbaren Augen auf. „Ja“, setzte sie fort, „er war kein Gentleman und Miss Dorner kann eigentlich froh sein, dass sie ihn nun nicht mehr zu heiraten braucht, denn –“
„Miss Dorner“, fragte Clifford gedehnt, „ist das die Braut?“
„Ja!“
„Doch aber nicht von den Zündholz-Dornern?“, warf nun der Doktor gespannt dazwischen.
„Doch, ich glaube schon. Zumindest sah man ihr an, dass sie aus guter Familie war. Miss Dorner ist eine wirkliche Lady und es war mir immer unbegreiflich, wie sie sich in einen solchen Fatzken, wie Ricardi es war, vergaffen konnte. Aber was nützt das nun alles? Ich habe ihm mein ganzes Geld geborgt, weil – oh, mein Gott – und nun …!“ Hilflos rang sie die Hände.
„Mr. Jenkins“, sagte Doktor Gibbson gütig, „Sie brauchen jetzt Ruhe. Gestatten Sie mir darum, dass ich Sie in Ihr Zimmer führe. Ich werde Ihnen ein kleines Mittel geben, dann können Sie gut schlafen … morgen früh sieht alles schon wieder ein wenig anders aus.
Als Doktor Gibbson zurückkam, stand Clifford mit Sergeant Burke und dem Fotografen schon vor der Tür des Zimmers, in dem der Mord geschehen war und der Tote noch immer liegen musste.
„Ich habe den Schlüssel“, sagte der Arzt entschuldigend, als er zu ihnen trat. „Doktor Christianson, der den Toten suchte und dann den Yard anrief, hat abgeschlossen.“
Nachdem er aufgesperrt hatte, ließ er den Weg für Inspektor Clifford frei. Clifford trat als erster ein und tastete nach dem Schalter. In der nächsten Sekunde wurde es hell. Die vier Männer standen nun an der Tür eines Raumes, der auf den ersten Blick eher den Eindruck eines Damenboudoirs erweckte; denn das Zimmer eines Junggesellen. „Nicht übel“, bemerkte Clifford ironisch, während seine Augen von dem zierlichen Schreibtisch über den Spiegel, den Toiletteschrank abwärts wanderten zum Boden, auf dem eine dunkle Gestalt, den Kopf vornübergebeugt, zusammengekauert hockte. Auf ein Zeichen des Inspektors wurde Mills, der Fotograf, lebendig. Magnesium flammte auf; das erste Bild wanderte in die Staatstasche. Doktor Gibbson trat an den Toten heran und kniete sich vorsichtig nieder. Clifford bückte sich dazu. Minutenlang starrten sie auf den Toten, ohne ihn zu berühren. Dann endlich fasste ihn Clifford als erster an.
„So könnte es gewesen sein …“, meinte er, „oder so …“ und jedesmal brachte er dabei den erstarrten Körper neben sich in eine bestimmte Stellung. Dann erst griff auch Doktor Gibbson zu. Minuten später standen die beiden Männer wieder auf den Beinen.
„Glatter Herzschuss von rückwärts“, konstatierte der Arzt. „Die Waffe muss sehr zierlich gewesen sein, denn obwohl der Schuss zweifellos aus nächster Nähe abgegeben wurde, blieb die Kugel stecken.“
„Damenpistole?“, fragte Clifford mit hochgezogenen Brauen.
„Scheint so.“ Doktor Gibbson sah sich suchend um. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, von wo aus der Schuss fiel.“
„Oh, ich schon!“ Clifford lächelte … Soll ich Ihnen kurz schildern, wie ich den Fall sehe?“
„Bitte“, entgegnete der Doktor sehr aufmerksam.
„Nun“, begann Clifford, „der Mörder hatte mit Ricardi eine, Hm, sagen wir – Unterhaltung, die nicht ganz harmonisch verlief. Der Eindringling muss um irgendetwas gebeten haben, das Ricardi nicht gewähren konnte oder wollte, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar höhnisch abschlug. Ich weiß natürlich noch nicht, wie lange diese Unterredung gedauert haben mag, aber ich kann mir vorstellen, dass Ricardi zuguterletzt den ungebetenen Besucher dadurch zum Gehen zwingen wollte, dass er sich ganz einfach seinem Toiletteschrank zuwandte, eine Geste, die sowohl unmissverständlich als auch für Herrn Ricardi, diesem ganzen Krimskrams hier entsprechend, sehr bezeichnend gewesen sein muss. Der Besucher musste also gehen, obwohl er wahrscheinlich verzweifelt war. An der Tür zögerte er dann, fragte oder bat nochmals. Ricardi hat diese Bitte abermals abgeschlagen, und zwar, wie ich bestimmt glaube, mit einem höhnischen Lächeln … sehen Sie sich doch nur einmal den Gesichtsausdruck des Toten an“, unterbrach er sich plötzlich, „der spricht Bände! Und dann“, setzte er noch kurzer Pause fort, „dann geschah es eben!“
„Ich bin also wieder einmal gezwungen“, stellte Doktor Gibbson nach einer ebensolchen kurzen Pause fest und es war kein rechter Spott in seiner Stimme, „Ihre außerordentliche Phantasie zu bewundern, Clifford! Können Sie mir unter diesen Umständen vielleicht auch schon sagen, wer der Mörder war?“
„Nicht namentlich natürlich“, entgegnete Clifford lächelnd, „aber ich denke doch immerhin, dass es eine von den von Mrs. Jenkins mit Recht so vielgeschmähten und vielgelästerten Damen war!“
Um drei Uhr morgens war Inspektor Clifford noch immer bei der Arbeit. Doktor Gibbson und der Fotograf hatten ihn schon längst verlassen, nur Sergeant Burke saß drüben in der Küche und braute Kaffee. Nach der Untersuchung des Ermordeten war der Arzt noch bei Mrs. Jenkins gewesen, um zu versuchen, sie in dem willenlosen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlaf zu verhören. In erster Linie galt es zu erfahren, ob und welchen Besuch Mr. Ricardi am Tag vor dem Mord empfangen hatte. Aber Mrs. Jenkins konnte ihnen in dieser Angelegenheit nicht sehr behilflich sein. Es war gerade ein Samstag gewesen und den ganzen Nachmittag über hatte sie Einkäufe und dergleichen Besorgungen getätigt. Sie war erst gegen 6 Uhr abends zurückgekehrt. Danach hatte wohl noch ein Herr, den sie jedoch zuvor noch nie gesehen hatte, bei Herrn Ricardi vorgesprochen. Sie glaubte auch eine erregte Auseinandersetzung zwischen den beiden gehört zu haben, obwohl sie, eine mustergültige Quartierfrau, wie sie sich selbst bezeichnete, darauf nicht weiter geachtet hatte. Jedenfalls hatte sie Mr. Ricardi, nachdem der Besucher gegangen war, noch eine Tasse Tee auf das Zimmer gebracht. Ihr guter Untermieter hatte zu diesem Zeitpunkt zweifellos noch gelebt. Er schien wohl ein wenig verstimmt und ärgerlich zu sein, doch war ihr dies nicht weiter aufgefallen, da Herr Ricardi überhaupt sehr launenhaft gewesen war. Um ungefähr 9 Uhr war dann Mrs. Jenkins schlafen gegangen. Danach hatte es nochmals geklingelt und Mr. Ricardi hatte also offensichtlich nochmals Besuch empfangen. Mrs. Jenkins war jedoch auch über diesen etwas späten Besuch durchaus nicht verwundert gewesen, da Derartiges öfter vorkam und es gerade an diesem für Mr. Ricardi doch besonderen Tag nicht als außergewöhnlich angesehen werden konnte. Auch dieser zweite Besucher war nicht lange geblieben und es hatte sich weder während dessen Anwesenheit noch gleich danach irgendetwas Besonderes ereignet. Auch einen Schuss hatte Mrs. Jenkins nicht gehört. Nur als sich danach lange Zeit nichts mehr bei Mr. Ricardi rührte, ging sie nachsehen, da sie doch wusste, dass er sich zum Ausgehen fertig gemacht hatte. Und als sie also in das Zimmer ihres Untermieters kam, entdeckte sie die Tat …
Soweit also die Aussage von Mrs. Jenkins. Damit konnte Clifford vorläufig noch nicht viel anfangen und er musste sich demnach in diesen Stunden vor allem dem Raum widmen, der das Heim, also intimste Wirkungsstätte des Ermordeten und auch Schauplatz des Mordes selbst gewesen war.
Stunden waren nun schon an dieser Untersuchung vergangen. Es gab bald kein Fleckchen mehr im Zimmer, das von dem Inspektor unbeachtet geblieben wäre. Die Summe all seiner Entdeckungen, aller Gegenstände des Raumes und vor allem ihre Anordnung, vermitteln ihm allmählich ein Bild von des Toten Art, die sich immer mehr zu einem Ganzen formte. Inspektor Clifford war trotz seiner geistreichen Großzügigkeit, die ihn schon manchen schwierigen Fall hatte mit Elan lösen helfen, auch ein gründlicher Arbeiter – oder vielmehr: Gerade auf seine gründliche Kleinarbeit basierten seine kühnen Schlussfolgerungen! Er hatte nichts vergessen. Jeden im Raum für sein geübtes Auge erkennbaren Daumenabdruck hatte er sichergestellt, jedes kleinste Stück beschriebenen Papieres wurde von ihm genauest untersucht und auf seinen Inhalt geprüft. Aber was half dies alles? Er hatte vier, fünf verschiedene Daumenabdrücke vorgefunden. Die häufigsten rührten aller Wahrscheinlichkeit nach von Mr. Ricardi selber her. Sicherlich waren auch die Abdrücke von Mrs. Jenkins darunter. Aber in der Auswahl der zwei, drei anderen Abdrücke: Musste da unbedingt auch der des Mörders darunter sein. Dann die Korrespondenz! Mr. Ricardi, wie schon aus dem Namen zu schließen, war Italiener. Er war noch nicht allzu lange in England und darum war auch sein Briefwechsel mit Personen innerhalb des Landes noch nicht sehr rege. Die paar Leute, hauptsächlich Frauen, die mit ihm korrespondiert hatten, würden ja vielleicht mit einer Mühe aufzufinden sein. Aber musste der Mörder unter diesen Leuten gesucht werden … War es nicht eher möglich, dass die Beziehungen Ricardis zu dem Mörder in eine frühere Zeit und in ein ganz anderes Land, aller Wahrscheinlichkeit nach in seine Heimat zurückreichte? War es nicht auch möglich, dass, wenn selbst eine Korrespondenz mit dem Mörder vorhanden gewesen war, dieser sie nach der Tat entwendet hatte? Zeit würde er dazu bestimmt gehabt haben! War es nicht auch möglich, dass –? Nein … nein! Fragen, nichts als Fragen! Clifford spürte, wie ihn die Problematik des Falles zu verwirren begann. Als er sich einen Augenblick setzte, kam es ihm mit einem Mal zu Bewusstsein, wie müde er eigentlich war. Selbst Kaffee und Zigaretten halfen ihm nicht mehr über den toten Punkt, dem er nun langsam zustrebte. Er war in eine Verfassung geraten, in der er nicht mehr ruhig überlegen konnte. Seine Gereiztheit musste sich in Bewegung umsetzen. Einige Male ging er im Zimmer hin und her, dann blieb er endlich aufatmend vor dem Fenster stehen. Das kalte Glas an seiner Stirne tat wohl. „Man muss bis morgen warten“, sagte er sich, „ein wenig Ruhe haben und den guten alten Leitspruch loben: Morgen sieht alles schon wieder ein wenig anders aus!“ In diesem Augenblick schrillte das Telefon …
Der Tote war ja auf Doktor Gibbsons Veranlassung hin schon vor Stunden abgeholt worden. Inspektor Clifford befand sich ganz allein im Raum. Aber wenn der ermordete Mister Ricardi noch hier gewesen wäre und sich nun aufgerichtet hätte, um ihn beispielsweise zu einer Partie Bridge einzuladen, Clifford hatte nicht erstarrter sein können, als er in diesem Augenblick war. Sekundenlang vermochte er sich kaum zu rühren, nur seine Augen hingen gebannt an dem kleinen metallischen Kasten, dessen Läutwerk sich eben in Bewegung gesetzt hatte. Dann plötzlich sprang er mit einem Mal zu. Mit einer starken inneren Erregung, jedoch beinahe liebevoller Geste hob er den Hörer ab. „Hallo?“, rief er mit gedämpfter, verstellter Stimme hinein, dabei ganz leicht den Akzent nachahmend, mit dem Italiener im allgemeinen Englisch sprechen. „Hallo, wer dort?“ Er war nun schon wieder ganz klar und kühl. Blitzschnell rasten ein paar Gedanken, neuerliche Fragen durch seinen Kopf. Wer mochte die Person am anderen Ende der Leitung sein? Kam nun endlich die erste Spur zum Vorschein, die zum Mörder führte? War es nur der Mörder selbst? Oder war es bloß … nein … Miss Dorner konnte es nicht sein! Doktor Gibbson war ja von hier aus sofort in das Dornersche Haus gefahren, um dort Bescheid zu geben. Nein!
„Mr. Ricardi, sind Sie es?“, tönte inzwischen die Stimme des Unbekannten an sein Ohr. „Ich dachte mir, dass Sie ungefähr um diese Zeit nach Hause kommen würden. Welchen Bescheid können Sie mir nun geben, haben Sie sich entschieden?“
„Hm, ja“, machte Clifford, natürlich bloß, um Zeit zu gewinnen. Innerlich war er etwas enttäuscht, obwohl er gleichzeitig irgendwie auch eine Erleichterung verspürte. Die außerordentliche Spannung, in der er sich eben befunden hatte, wich nun von ihm. Der Mann, mit dem er hier sprach, war nicht der Mörder! Er wusste offenbar noch gar nichts von Ricardis Tod, denn andernfalls hätte er sicherlich nicht angerufen und in dieser Form mit Ricardi zu sprechen versucht. Da er in seinen Schlussfolgerungen so weit gekommen war, hob er erneut die Muschel. „Es tut mir leid“, sprach er nun mit seiner gewöhnlichen Stimme hinein, „aber ich bin nicht Ricardi. Mr. Ricardi ist heute, besser gesagt: schon gestern Nacht ermordet worden!“ Kaum, dass er diese Worte ausgesprochen hatte, presste er den Hörer fest an sein Ohr, damit ihm nichts von der Reaktion des anderen entging.
„Was sagen Sie?“, fragte der andere auch wunschgemäß zurück; man konnte dem Tonfall seiner Stimme nicht genau entnehmen, ob er erschreckt oder bloß ärgerlich war. „Was sagen Sie da … Sie machen wohl einen schlechten Scherz?“
„Nein“, entgegnete Clifford ernst. „Es ist durchaus kein Scherz. Aber bevor ich mich mit Ihnen weiter unterhalte, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten zu sagen, wer Sie sind. Ich hoffe, dass Sie das ungescheut tun können. Ich selbst bin Inspektor Clifford vom Scottland Yard!“
„Clifford?“, tönte es erstaunt zurück. „Mein Gott, Clifford, haben Sie mich denn noch nicht erkannt? Hier spricht Shearer, Tim Shearer, Sie wissen doch wohl …?“
„Ob ich weiß“, sagte Clifford lächelnd. Weiß der Teufel, aber es tat ihm plötzlich wohl, mit einem alten Bekannten ein paar freundliche Worte wechseln zu können. „Wie kommen Sie denn mit Ricardi in Verbindung?“, fragte er schließlich, nachdem er Shearer den Fall ganz kurz und auf seine besondere Art zu Gehör gebracht hatte. „War denn Ricardi auch Literat?“
„Teils – teils“, entgegnete der andere etwas stockend, und diese Antwort war das erste von seinem Gespräch mit Shearer, das ihm nicht recht gefiel. „Aber wenn Sie erlauben“, tönte es inzwischen weiter an sein Ohr, „dann komme ich einen Sprung zu Ihnen hinüber, um Ihnen diese Sache genauer zu erklären. Ich bin gar nicht weit von Ihnen entfernt.“
Und damit war Clifford sehr gerne einverstanden.
Der berühmte Kriminalschriftsteller Tim Shearer war ein noch junger und zweifellos, hübscher, stattlicher Mann anfangs der Dreißig, dessen Äußeres in keinem Verhältnis zu den düsteren Figuren stand, die er oftmals in seinen Romanen zu beschreiben hatte. „Als er nun zu Inspektor Clifford in das Zimmer trat, war er von derselben aufgeschlossenen Liebenswürdigkeit, die Clifford immer an ihm kannte und nur seinem geübten Blick entging es nicht, dass diesmal die zur. Schau getragene Ruhe ein wenig gekünstelt war.
„Ich freue mich, dass sie gekommen sind!“, begrüßte der Inspektor den späten Gast und er meinte es durchaus ehrlich. Nicht nur, dass er den Schriftsteller wirklich gut leiden konnte, er war auch froh, dass sein allmählich im Kreise laufender Geist durch einen Partner wieder neue Richtungshinweise erhielt. „Sie finden zwar einen müden, alten Mann vor“, meinte er, ein wenig resigniert lächelnd, „aber ich denke, das wird uns wieder ein wenig helfen!“ Bei diesen Worten zeigte er auf ein kleines Rauchtischchen, auf dem schon zwei Schalen dampfenden Kaffees vorbereitet standen. Minuten später saßen sie schon gemütlich in der Ecke beisammen, und während sie zu dem belebenden Getränk noch den Rauch guter Zigaretten in sich einsogen, besprachen sie den Fall.
„Es ist immer dasselbe“, erläuterte Clifford. „Wenn man einmal mitten drin ist, dann geht’s schon irgendwie. Aber der Beginn, der Start ist immer das Schwere! Da geschieht irgendwo ein Mord, und zwar unter ganz normalen Umständen, das heißt: Der Mörder war nicht nur nicht anständig genug, sich erwischen zu lassen, sondern hatte darüber hinaus noch die gewöhnliche Frechheit dieser Leute, auch jede Spur, die ihn eventuell überführen könnte, zu verwischen. Man steht nun da und muss sich aus der einem zugänglichen Vorgeschichte, den Beziehungen und dem wahrscheinlichen Charakter des Ermordeten ein Bild formen, das einem zu dem möglichen Motiv der Tat hinführt, um so allmählich doch vielleicht eine Spur des Mörders zu erwischen. Das alles hört sich ja ganz leicht an und ist auch gewiss nicht allzu schwer! Aber, mein Gott, wenn man dann einmal so weit ist, beginnt erst der große Katzenjammer! In diesem Fall zum Beispiel habe ich allein drei mögliche Motive in engerer Auswahl und demgemäß auch drei verschiedene mögliche Mörder, beziehungsweise Mördergruppen, deren Spur ich nun aufnehmen muss, ganz abgesehen jedoch davon, dass jede Minute ein neues Motiv und ein neuer möglicher Mörder auftauchen kann! Um nun alle diese Möglichkeiten bewältigen zu können, würde ich einen Apparat benötigen, der meine Kompetenzen weit übersteigt. In einer Sache alle Möglichkeiten auszuschöpfen ist unmöglich und auch sinnlos! Die Virtuosität oder Unfähigkeit eines Kriminalisten beweist sich eben dort, wo es heißt, aus der Fülle von Möglichkeiten zumindest annähernd die Wahrheit zu erkennen und aus dem Wirrwarr sich überschneidender Fährten mit Instinkt die richtige Spur herauszufinden. Aber das ist leichter gefordert als getan! Es wird selbst dem tüchtigsten Kriminalisten nichts geschenkt und –“
„Haben Sie die Waffe gefunden?“, unterbrach ihn plötzlich Shearer interessiert.
„Nein“, antwortete Clifford, „wozu auch? Ihr Kriminalschriftsteller habt immer so obskure Einfälle. Wenn in euern Büchern ein Mord passiert, dann lässt ihr euerm Detektiv die Waffe, mit der die Tat verübt wurde, finden und alles andere ist nur mehr halb so schlimm. Ich muss gestehen, dass ich da, nie recht mitgekommen bin und mich schon manchmal bei solchen Spitzfindigkeiten halb totgelacht habe. Ich habe den Eindruck, dass ihr alle ein wenig Fetischisten seid, Götzenanbeter, die in dem billigen Aberglauben leben oder ihn zumindest ihren Lesern aufnötigen wollen, dass dort, wo einmal eine Waffe vorhanden ist, auch der Mörder nicht mehr weit entfernt sein kann. Die Waffe ist bei euch der nervus rerum des Ganzen, dem komische, magnetische Wirkungen zugesprochen werden. Ich weiß nur auch beim besten Willen nicht, wieso!?“
„Nun“, entgegnete Shearer lächelnd, „Sie wissen wohl selbst, Clifford, dass es um unsere Logik und unsere Phantasie nicht ganz so schlimm steht, als Sie uns hier vorwerfen. Ich habe nur deshalb nach der Waffe gefragt, weil doch immerhin auch die Möglichkeit eines Selbstmordes gegeben sein kann!“
„Bei einem glatten Herzschuss von rückwärts?“, entgegnetet der Inspektor mit leichter Ironie.
„Nun, ja“, meinte Shearer etwas verlegen. „Dann natürlich nicht. Diese Tatsache muss ich vorhin glatt überhört haben …! Aber wie wollen Sie dann doch dem Fall zu Leibe rücken?“, fragte er nach einer kurzen Pause.
„Nun, wie gesagt, habe ich mir natürlich schon eine eigene Theorie gebildet, von der ich hoffe, dass sie sich zumindest nicht mehr allzu weit von der Wahrheit entfernt befindet. Die paar Steine, die mir für das Gesamtbild noch fehlen oder die nicht recht hineinpassen wollen, hoffe ich mir schon noch zu beschaffen oder eben durch passendere zu ersetzen. Unter anderem denke ich, dass auch Sie mir mit Ihrer Erklärung ein wenig weiterhelfen können“, setzte er schließlich hinzu.
Shearer räusperte sich.
„Ich fürchte, Inspektor“, antwortete er, „dass Sie enttäuscht sein werden. Meine Verbindung mit Ricardi ist tatsächlich mehr als loser Natur. Er war für mich nur gewissermaßen ein interessantes Objekt.“ Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort. „Durch irgendjemanden, ich weiß nicht mehr genau durch wen, erfuhr ich, dass Ricardi ein interessanter Ausländer sei, der ein ziemlich abenteuerliches Leben hinter sich habe und demnach für meinen nächsten großen Roman eine gute Figur abgeben könnte. Aus diesem Grunde also trat ich mit ihm in Verbindung. Ich bat ihn, dass er mir aus seinem Leben erzählen möge, und bot ihm dafür auch ein sehr anständiges Honorar. Trotzdem lehnte er zuerst mein Anerbieten überhaupt brüsk ab. Diese Weigerung jedoch machte den Mann nur noch interessanter für mich. Ich ließ nicht locker und schließlich versprach er mir, dass er mir sogleich nach seiner Verlobung Bescheid geben würde, wie er sich entschieden hätte. Aus diesem Grunde rief ich auch an …“
Nach den Ausführungen Shearers entstand eine kurze Pause. Inspektor Clifford, dem das Sitzen nun scheinbar nicht mehr zu behagen schien, stand auf und begann im Zimmer hin und her zu wandern. Für eine Weile war nichts weiter zu hören im Raum als seine gleichmäßigen Schritte und dazwischen das Ticken einer unsichtbaren Uhr. Plötzlich blieb Clifford dicht vor Shearer stehen.
„Was Sie mir das erzählt haben, Shearer, klingt sehr glaubhaft“, sagte er sehr ernst und sah dabei fest in die Augen des andern, „aber Hand aufs Herz, alter Freund, könnten Sie diese Aussagen unter Eid wiederholen?“
Sekundenlang gab Shearer den Blick des Inspektors fest zurück, dann senkte er die Augen; seine Wangen liefen rot an. „Das ist nicht fair, Clifford!“, verteidigte er sich. „Und darum verweigere ich auch die Antwort darauf.“ Er schien nun richtig gekränkt zu sein.
Aber der Inspektor blieb von dem Stimmungsumschwung des andern völlig unberührt. „Dann weiß ich aber auch, was ich davon zu halten habe!“, stellte er ganz ruhig fest und nahm nun seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf.
Shearer rührte sich eine ganze Weile nicht und Clifford schien ihn nicht zu beachten. Aber plötzlich stand der Schriftsteller auf.
„Clifford“, wandte er sich an den Inspektor und am Tonfall seiner Stimme merkte man, dass er sich sehr bedrückt fühlte. „Sagen Sie es mir bitte ehrlich: Verdächtigen Sie mich … halten Sie mich für den Mörder?“
Clifford unterbrach seine Wanderung und sah sein Gegenüber sehr ernst und forschend an.
„Nun“, entgegnete er schließlich, „so weit habe ich mich nicht verstiegen. Sie dürfen mir auch glauben, dass ich mich unter diesen Umständen Ihnen gegenüber ganz anders verhalten hätte. Nein –“, setzte er dann nach einer kurzen Pause fort, während er seine Wanderung wieder aufgenommen hatte. Er sprach nun beinahe mehr zu sich selbst als zu dem andern. „Ich habe Ihnen ja zuvor erklärt, dass ein guter Kriminalist auch viel Instinkt haben muss. Und mein Gefühl sagt mir, dass Sie nicht der Mörder sind; meine Theorie verläuft da in eine ganz andere Richtung. Ich denke, und bin davon beinahe überzeugt, dass dieser Mord von einer Frau begangen wurde. Vieles deutet darauf hin! Aber trotzdem: So sehr ich auch bei Ihnen die Empfindung habe, nicht unmittelbar dem Mörder gegenüberzustehen, so warnt mich doch wieder etwas vor Ihnen und sagt mir, dass Sie irgendwie in dieser Sache mitverwickelt sind, und zwar anders und mehr als Sie mir vorhin zugestehen wollten!“
Er war bei diesen letzten Worten einige Schritte vor Shearer stehen geblieben und sah ihn nun fragend an, als erwarte er doch noch eine zusätzliche Erklärung …
Aber Shearer blieb stumm.
„Gehen Sie jetzt schlafen“, mahnte Clifford schließlich, als er sah, dass der andere sich kaum zu rühren wagte. „Gehen Sie jetzt schlafen. Morgen sieht alles schon wieder ein wenig anders aus … und ich hoffe sehr, dass Sie dann, auch wieder anders denken werden!“
Auf diese Aufforderung hin ging Shearer zur Tür und mit einem stummen Nicken verließ er den Raum. Clifford beobachtete, wie sich hinter ihm die Türe schloss, dann wandte er sich wieder um, gewillt, noch ein wenig seinen Gedanken nachzuhängen. Aber plötzlich riss es ihn scharf herum. Soeben war die Tür erneut aufgestoßen worden und in ihrem Rahmen stand wieder Shearer, nun allerdings mit einem sonderbar verstörten Ausdruck in seinem Gesicht.
„Was ist denn los?“, fragte der Inspektor; und war mit zwei, drei großen Sprüngen ebenfalls an der Tür.
„Da – da. – –!“, stotterte Shearer und zeigte auf einen dunklen Fleck an der Außenseite der Tür.
Clifford erkannte in dem Gebilde sofort eine normalgroße, schwarze Hand …
„Weißt du, Bob“, sagte Mrs. Clifford zu ihrem Mann, der eben bei der zweiten Schale seines geliebten Frühstückskaffees saß, „ich habe das Gefühl, das mich Mr. Hawkens nicht mag!“
„Wie kommst du darauf?“, fragte der Inspektor, nicht sonderlich interessiert an dieser etwas seltsamen Feststellung seiner Frau, aber doch sehr höflich und ergeben.
Aber Mrs. Clifford hörte doch die Gleichgültigkeit aus der Frage ihres Mannes heraus und war darüber auch, wie sie überzeugt zu sein glaubte, mit Recht empört.
„Wieso?“, äffte sie ihm nach. „Es ist jedenfalls bezeichnend für deine Aufmerksamkeit und dein Interesse an mir, wenn dir, dem ach so scharfsinnigen Herrn Kriminalinspektor, solche Dinge vollkommen entgehen!“ Während sie die Butterbrote mit einer Energie zu streichen begann, die für weit widerstandsfähigere Objekte passend gewesen wäre, setzte sie fort: „Du wirst mir doch zugestehen müssen, dass eine Frau nicht zusehen kann, wenn ihr Mann Nacht für Nacht aus dem Bett geholt wird. Und wofür? Ich würde ja nichts sagen, wenn es sich um weiß Gott was für dringende und schwere Fälle handelte, die man dir dabei übergibt. Aber du sagtest doch selbst, dass man dich in den letzten Nächten so gut wie umsonst weckte und dafür, Bob, solltest du dir zu gut sein und –“
„Man ist nie für etwas zu gut, Ann!“, warf Clifford milde und lächelnd ein.
„Doch, Bob“, entgegnete Mrs. Clifford heftig. „Dinge, die jeder Schutzmann von der Straße erledigen kann, sind zu läppisch, als dass du dich damit befasst. Und diese Meinung hat auch Mr. Hawkens bis vor kurzem sicherlich noch gehabt, denn soweit ich mich erinnern kann, kam es früher nur sehr selten vor, dass –“
„Du vergisst, dass Inspektor Hoover krank ist, Ann!“
„Och, Inspektor Hoover! Versuch mir ja nicht weiszumachen, dass es für ihn keinen anderen Ersatz gibt als dich. Nein, nein, Bob. Ich weiß, was da gespielt wird. Die ganze Sache ist zu augenfällig, um sie zu übersehen. Man stört erst unsere Nachtruhe, seitdem Mr. Hawkens hier bei uns zu Besuch war und mich kennenlernte. Sie haben eine reizende junge Frau, Clifford, sagte er mit einem süßlichen Lächeln, aber ich habe es deutlich gespürt, dass das nicht ernst gemeint war.“
„Aber Ann!“, entsetzte sich der Inspektor.
„Ja. ja, es stimmt schon! Er kann mich nicht täuschen. Der gute Kommissar ist ein hartgesottener Junggeselle und bedauert dich insgeheim, dass du dich von einer Frau einfangen ließest, wie derartige Männer es bezeichnen. Und indem er dich nun jede Nacht wegholt, will er unsere Ehe zerstören, dieser grausame Teufel!“
Mrs. Clifford hatte sich so in Rage gesprochen, dass sie nun dem Weinen nahe war.
Der Inspektor aber, der sich zuerst über die Vorhaltungen seiner Frau ein wenig geärgert hatte, stand nun auf und ging langsam zu ihr hinüber. Er musste sich eingestehen, dass sie durch die Störungen der letzten Nächte tatsächlich etwas Grund hatte, verstimmt zu sein. Und was ihre Befürchtungen wegen Kommissar Hawkens anbetraf, mein Gott, durch seinen Beruf hatte er das Leben und die Menschen in einer Weise kennengelernt, die ihm auch die Psyche der Frau in ihren mannigfaltigen Variationen nicht gänzlich verborgen bleiben ließ. Die lieben guten Frauen, dachte er, Störungen in der Harmonie ihres Daseins, gleichgültig, aus welchen Ursachen entstanden, werden sie immer gleich als gegen ihre Person gerichtete Feindseligkeiten betrachten! Laut aber sagte er:
„Ann!“, sagte er milde lächelnd, während er ihre Hände nahm und sanft an sich zog. „Ann, Dummerchen!“ Er hatte nunmehr seinen Mund ganz nahe an ihr Ohr gekuschelt und indem er sie ganz sachte zu liebkosen begann, sprach er auf sie ein in der altbewährten, einschmeichelnden Art, die ihm einst eine Hilfe gewesen war, um diese trotz allem liebenswerte Frau zu gewinnen. „Ann, Dummerchen!“, wiederholte er. „Ich kann verstehen, dass dir dieses manchmal unruhevolle Leben an meiner Seite etwas auf die Nerven geht. Aber anderseits erwartete ich mir gerade von dir Verständnis dafür und –“
„Das hab ich doch auch!“, entgegnete Ann Clifford, schon wesentlich ruhiger als zuvor. „Aber was sich in der letzten Woche tat, war entschieden zu viel, um nicht selbst mir –“
„Ja, ja“, nickte der Inspektor beistimmend in die schon bekannten Feststellungen seiner Gattin hinein, nur, um sie nicht wieder allzu sehr erweitert vorgetragen zu erhalten. „Ja, ja, das geb ich alles gerne zu. Aber du darfst das nicht gleiche als eine Feindseligkeit von Mr. Hawkens werten.“
„Oh, das weiß ich besser! Ich bin durchaus nicht –“
„Nein, Ann. Es ist nicht so, wie du denkst, daran festzuhalten wäre ungerecht von dir. Wenn man eine Theorie entwickelt, und mag sie noch so festfundiert erscheinen, so darf man sich doch niemals Gegenargumenten verschließen. Tatsächlich ist es nun so, dass unsere Abteilung in letzter Zeit nicht viel zu tun hatte. Und mag der gewöhnliche Bürger froh und glücklich sein, wenn er und seine Umgebung von kriminellen Delikten verschont bleiben, im Yard wird man nervös davon, Hawkens ist ein Beispiel dafür. In den letzten Nächten wollte er direkt mit Gewalt einen ordentlichen Fall herbeizerren, und wenn ihm dies auch nicht sogleich gelang, nun –“
„Was hat es denn diesmal gegeben?“ Mrs. Clifford schien nun endlich wieder einmal so weit, dass sie ihre eigenen Sorgen zurückstellte und sich willig und mit Interesse in das Leben ihres Mannes verspann.
„Heute Nacht“, entgegnete der Inspektor gewichtig, „heute Nacht nun, glaube ich, ist uns wieder einmal eine harte Nuss vor die Füße gerollt …!“
„Geheimnisvoller Mord in Kensington!“
„Mord in der Verlobungsnacht!“
„Blutige Tragödie in der Cornwell Street!“
Mit stillem Lächeln blätterte Inspektor Clifford die verschiedenen Morgenzeitungen durch, die das grausige Ereignis der vergangenen Nacht je nach Niveau placiert und ausgewertet hatten. Neben den trockenen Tatsachen, die ihm ja selber am besten bekannt waren, brachten die zweitrangigen Blätter auch viel Unsinn mit in diesen Fall hinein, Gewäsch, das der verdorbenen Phantasie sensationsmachender Schreiberlinge entstammte. Über all dies flog Cliffords Blick rasch und uninteressiert hinweg. Aber plötzlich stutzte er doch. Da gab es auf der dritten Seite der „Morning Post“ einen Artikel, dessen Titel allein ihn schon bannte.
„Hier spricht die Schwarze Hand!“ stand da.
Eilig und aufmerksam verfolgte Clifford die folgenden Zeilen:
„Der Polizeibericht meldet und auf den Titelblättern sämtlicher Morgenzeitungen Londons ist heute in großer Schlagzeile zu lesen, dass in der vergangenen Nacht in Kensington, Cornwell Street 17, sich etwas ereignete, das man gemeinhin mit dem Ausdruck Mord bezeichnet!
Was aber geschah wirklich?
Auf oben angeführter Adresse wohnte ein Mann, ein Ausländer, der ungefähr vor einem halben Jahr nach London kam, um hier das Leben fortzusetzen, das ihn bisher von Land zu Land jagte, verflucht und verfolgt von Hunderten von Opfern, die er schon seinen Gelüsten dargebracht hatte, wo immer er sie auch fand. Bei dem bewussten Mann handelte es sich um einen berüchtigten internationalen Hochstapler, Heiratsschwindler und Mitgiftjäger, der nun hier, in unserer geliebten Stadt, nahe daran war, seine dunklen Ziele in einer außerordentlichen Weise zu krönen. Er hatte das Geschick, sich in die besten Familien Londons einzuführen und dabei Liebe und Vertrauen eines Mädchens zu erringen, das einem sehr angesehenen und untadeligen Hause entstammt.
In der vergangenen Nacht nun hätte die Verlobung dieser beiden Extreme stattfinden sollen! Aber die Schwarze Hand war auf der Wacht! Nachdem vorangegangene Warnungen sowohl an den Mann als auch an das Opfer keinerlei Erfolg gezeitigt hatten, musste zu diesem letzten Mittel der Unschädlichmachung eines Raubtiers in Menschengestalt gegriffen werden. Die Tat soll allen ähnlichen Subjekten eine unmissverständliche Mahnung sein! Die Schwarze Hand!“
Nachdem Clifford diesen Artikel zu Ende gelesen hatte, starrte er noch eine Weile auf das Papier, ohne auch nur einen einzigen Buchstaben der folgenden Sätze zu sehen. Beinahe völlig gedankenlos saß er da, eine notwendige Erholungspause für seine fleißigen, grauen Zellen. Dann plötzlich aber kam neues Leben über ihn. Mit einem Mal stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Ein kurzes Suchen im Telefonbuch, die Wahl einer Nummer, dann sprach er auch schon in den Apparat hinein. „Hallo …? Ist dort die Redaktion der Morning Post, ja? Kann ich den verantwortlichen Nachtredakteur sprechen? Ja, hallo? Hier Inspektor Clifford von Scottland Yard! Ihr Artikel: Hier spricht die Schwarze Hand! interessiert mich. Können Sie mir sagen, wie Sie dazu gekommen sind? Wie bitte – ach so – anonym – nun ja, freilich, hab mirs ja so gleich gedacht. Aber kann ich wenigstens das Manuskript sehen – hallo – ja, also gut – ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen …“
Befriedigt legte der Inspektor den Hörer auf den Apparat.
Sowohl die vornehm gepflegte Umgebung als auch die äußere Fassade des Hauses Park Lane Nr. 7a gaben darüber Zeugnis ab, dass man sich hier in unmittelbarer Nähe soliden Reichtums befand. Als aber Inspektor Clifford bis in das Innere der Dornerschen Wohnung vorgedrungen war, staunte er doch über Geschmack und Einrichtung dieser Behausung, die selbst ihm, dem erfahrenen Polizeibeamten, wie ein kleines Märchen der Großstadt erschien. Auf sein Klingelzeichen war ihm von dem Hauskeeper in Gestalt eines reizenden jungen Mädchens geöffnet worden und nun stand er in der Bibliothek, deren Fülle von Büchern zumindest davon zeugte, dass ein Teil des Dornerschen Geldes auch den geistig Schaffenden zugeflossen war.
Der Inspektor betrachtete eben mit liebevollen Blicken den Schweinsrücken einer alten Milton-Ausgabe, als sich die Türe öffnete und in ihrem Rahmen Miss Elisabeth Dorner, die Tochter des Hauses, erschien.
„Ich habe Ihren Besuch erwartet“, sagte sie mit etwas matter Stimme; dabei kam sie langsam auf ihn zu.