Gegenblende - Joke Frerichs - E-Book

Gegenblende E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

In meinem Journal halte ich fest, was mir im Jahr wichtig war: Leseeindrücke. Berichte von Ausstellungen und Konzerten. Begegnungen. Naturschilderungen. Reiseberichte. Reflexionen. Erlebnisse der besonderen Art. Es handelt sich um Schreibversuche, Fingerübungen, Arbeitsnotizen, Materialsammlungen, kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

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Haben einen sehr ruhigen Silvestertag verbracht; mit Wandern, Schachspiel, klassischer und Rockmusik, gutem Essen und Wein. Die Texte der neuen Bücher sind gelesen und teilweise korrigiert. Sie harren der weiteren Bearbeitung und Gestaltung.

*

Schicke meinen Essay Der Idealist und der Zweifler, der im Blog der Republik erschienen ist, an meinen alten Deutschlehrer vom Hessen-Kolleg Manfred Peter. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung eines Schulaufsatzes von 1967. Er antwortet mir wie folgt:

Ich erinnere mich sehr gut an Ihren Aufsatz von damals und bewundere die weiterführende Reife, die diese initiale Idee gefunden hat.

Es ist ein großartiger Text entstanden. Es geht wie alles in unserem Bewusstsein um die Gegenwart, die wir im Spiegel der Zeugnisse der Vergangenheit wahrnehmen. Es ist sicher richtig, dass weder Cervantes noch Shakespeare im Grunde wussten, was sie taten.

Wissen kommt immer zu spät. Die handelnden Personen verlieren sich im alltäglichen Betrieb, doch ihre sensible Wahrnehmung erhellt, was ihnen widerfährt.

"Zu spät erst weise" ist ein Satz aus dem Parzival von Wolfram von Eschenbach. Das ist eine schicksalhafte Sentenz. Das Wissen nützt leider sehr wenig. Die Windmühlen und die Wirrnisse eines sinnlosen Fechtens, sind stärker.

Dennoch, es gewagt zu haben, nicht konform zu sein, das bleibt letztlich übrig.

Reicht es aber für das eigene Standbild aus? Was überlebt uns?

Herzlichen Gruß und gute Wünsche für ein Jahr, das mit Sicherheit einen Quijote und auch Hamlet besiegt zurücklassen wird.

*

Auch W. L. und V. B. äußern sich positiv zu dem Text. W. schreibt u.a.: Ich bin beeindruckt von Deiner Schaffenskraft. Ich brauchte allein zum Lesen der beiden Werke mehr Zeit, als Du offenbar mit einer profunden Besprechung. Sie hat mich so beeindruckt, dass ich den Entschluss gefasst habe, Hamlet und Don Quijote noch einmal zu lesen. Ich habe nicht im Ansatz geahnt, welcher Hintersinn sich in solchen Werken der Weltliteratur verbirgt.

*

Zum 31.12. hat unser Gemüsestand Kerschkamp aufgegeben. Über dreißig Jahre lang waren wir dort Kunden. Nahezu jeder Einkauf war mit Geplauder, Scherzen oder auch fachlichen Gesprächen verbunden. Hin und wieder holten wir aus der nahegelegenen Kneipe ein Kölsch und unterhielten uns weiter. Vor einigen Wochen schloss bereits der Fischstand, weil sich das Geschäft scheinbar nicht mehr lohnte; und jetzt auch noch der Gemüsestand. Damit geht ein Stück Alltagskultur verloren. Wir werden Ernst und seine Crew vermissen.

*

Stöbere in alten Bücherbeständen herum und stoße auf das von Franz Borkenau herausgegebene Marx-Buch. Es enthält Textausschnitte aus diversen Werken von Marx. Ich hatte mir das Buch 1967 gekauft, als ich noch am Hessen-Kolleg war. Zu dieser Zeit hatte ich noch keinen der blauen MEW-Bände. Die ersten drei kaufte ich mir 1968 in Prag in einem Kulturinstitut der DDR.

Ich schlage zufällig die Textstelle über die ursprüngliche Akkumulation aus dem 1. Band des Kapitals auf und staune über die literarische Qualität der Marxschen Ausführungen. Dort heißt es u.a.:

Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf den einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten… Sobald die Eigentumsfrage ins Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, den Standpunkt der Kinderfibel als den allen Altersklassen und Entwicklungsstufen allein gerechten festzuhalten. In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz: Gewalt, die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle, Recht und „Arbeit“ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel… In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.

*

Elias Weisgärber, mein Künstlerfreund aus Zimmerschied ruft an. Ich solle nicht vergessen, mir ein Bild von ihm auszusuchen. Anlass ist: ich hatte ihm kurz vor Heiligabend einen kleinen Geldbetrag zukommen lassen. Da es ihm schwerfällt, etwas ohne Gegenleistung anzunehmen, hatte ich eine schöne Geschichte dazu erfunden. Ich hätte unser gemeinsames Buch in einem Café in Köln ausgelegt und dies sei nun das Honorar für die verkauften Bücher. Er schaute mich ungläubig an (im wahrsten Sinne des Wortes ungläubig, denn er glaubte mir natürlich nicht) und meinte dann nur: Gut, gut, wenn es so etwas gibt. Aber du musst dir noch ein Bild von mir mitnehmen. Um ihn zu beruhigen, sagte ich zu, in den nächsten Tagen noch einmal vorbeizukommen.

Elias ist ein Phänomen.1 Er hat schwere Zeiten durchlebt (Krieg; Vertreibung); als Grafiker hat er wenig verdient und erhält jetzt eine entsprechend kleine Rente. Man kann sagen, er lebt in Armut; wäre da nicht sein kulturelles Kapital. Er hat früher u.a. Karikaturen für den Simplizissimus, den Spiegel und Konkret gezeichnet; nimmt bis heute an Kunstausstellungen teil und malt und zeichnet täglich zwei bis drei Stunden. In diesem Jahr wird er neunzig. Ist ungebrochen, wenn auch mitunter zornig und zunehmend sarkastisch. Die politischen Entwicklungen erzürnen ihn; das Vertrauen in die etablierten Parteien hat er restlos verloren. Zwar würde er niemals die AfD wählen – dann würde mir die Hand abfallen – aber er empört sich über Berichte, wonach Flüchtlinge sich mit mehreren Identitäten ausstatten und dann mehrfach abkassieren. Der Terrorist von Berlin habe Papiere mit zwölf verschiedenen Namen bei sich geführt. Er verstehe nicht, wie das möglich sein kann (ich übrigens auch nicht). Wie soll man sich verhalten? Noch vor einiger Zeit hätte ich von Einzelfällen gesprochen; nunmehr spüre ich – da ich ebenfalls fast täglich ähnliche Berichte lese – dass mir mehr und mehr die Argumente ausgehen. Vor allem aber verstehe ich, dass einer wie Elias, der sein Leben lang ums Überleben kämpfen musste, sich empört. Da bin ich ganz auf seiner Seite.

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Klaus hat in Oldenburg Andreas getroffen, der meinen Roman Das Haus des Dichters gelesen hat, begeistert davon ist und ihn gleich noch einmal lesen will.

Natürlich freut man sich über derartige Rückmeldungen, zumal sie äußerst spärlich sind. In diesem Fall freue ich mich ganz besonders, da A. einer der wenigen Literaturkenner ist, die einen Sinn für ästhetische Feinheiten haben. Das hat er im letzten Jahr auf der Garten-Lesung in Emden bewiesen, als er einen kleinen Text von Hesse vorlas. Das brachte mich überhaupt auf die Idee, ihm meinen Roman zu schicken. Und wie sich zeigt, habe ich mich nicht in ihm getäuscht.

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Arbeite am Manuskript des gemeinsamen Buches von Klaus und mir. Gruppiere noch einiges um. Alles garniert mit Fotos von uns in verschiedenen Entwicklungsphasen; teilweise mit unseren Frauen. Es ist ein seltsames Gefühl, die alten Fotos anzuschauen und sich an die Situationen zu erinnern, in denen sie entstanden. Zumindest vereinzelt gelingt das.

Die Zusammenarbeit läuft problemlos. Ole hat uns die Dropbox eingerichtet, so dass wir uns direkt die Texte zuschicken können. Nach meinem Gefühl ist das Buch weit gediehen.

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Petra hat ihre Rezension des von Felix Klopotek herausgegebenen Sammelbandes über Zonen der Selbstoptimierung fertig. Sie hat viel Arbeit darin investiert, so dass wir auf die Idee kommen, aus ihren Aufzeichnungen einen Essay zu machen. Aber später. Erst einmal muss die Rezension im Blog erscheinen.

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Das erste Buchmanuskript ist an BoD gegangen (14.1.): Mein Journal des Jahres 2016. Titel: Die Schatten werden länger. Das Buch enthält einige Schätze, die ich unbedingt für mich festhalten wollte. Die Versuche über Faulkner, Benn, Lange z.B. Auch die Passagen über meinen Roman; Petras Besprechung desselben; auch die von A. In der Buchform sind sie jetzt zugänglich und man muss sich nicht alles aus diversen Kontexten zusammensuchen.

Heute beginnt Petra mit der Gestaltung des neuen Buches Kontinuitäten und Brüche. Versuch einer Selbstbeschreibung; meiner Anti-Intellektuellen-Autobiographie. An der zu arbeiten war stets mit ambivalenten Gefühlen verbunden: einerseits staune ich selbst über die Kontinuitäten in meinem Werdegang: im Hinblick auf Personen, mit denen ich teilweise über Jahrzehnte Kontakt gehalten habe und meine Beschäftigung mit Themen der Arbeitswelt, die mich immer wieder umgetrieben haben. Andrerseits wird mir klar, wie viele Risiken ich eingegangen bin, als ich z.B. zweimal meine Berufstätigkeiten an den Nagel gehängt und mich auf unsicheres Terrain begeben habe. Nur die Zeit im ISO habe ich über alle Maßen gedehnt; vielleicht aus Bequemlichkeit; aber auch, weil mir die Forschungsarbeit im Feld Betrieb zeitweilig Spaß gemacht hat. Aber spätestens 1989 – nach der großen Krise im Institut – hätte ich mich gegen das ISO entscheiden sollen. Dann wäre noch genug Zeit zum (literarischen) Schreiben geblieben. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre damals schon auf Dieter Wellershoff getroffen.

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Lese den Sammelband Zonen der Selbstoptimierung. Es gibt darin einige sehr starke Beiträge: zum Leistungsbegriff; über marktkonforme Antikapitalisten; eine Kritik der kulinarischen Vernunft usw. Auch das Interview mit Klaus Theweleit, das Felix geführt hat, ist lesenswert. Dass es auch schwächere Beiträge gibt – es sind leider die der Frauen – tut dem Ganzen keinen Abbruch. Ein interessantes Buch zu einigen wichtigen Aspekten der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft.

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Im Kölner Stadtanzeiger findet sich am 16.1. folgende Schlagzeile: Acht Superreiche besitzen so viel wie 3,6 Milliarden Menschen. Weiter heißt es in der Meldung: Die soziale Ungleichheit ist noch krasser als angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt die Nichtregierungsorganisation Oxfam in ihrem neuen Bericht zur weltweiten Verteilung. Acht Männer vereinen laut der Studie so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.

Wenn dies das Resultat der uns als alternativlos dargestellten Globalisierung ist, dann ist Schlimmes für die Zukunft zu erwarten: noch mehr Flüchtlingsströme; eine noch größere Kluft zwischen Armen und Reichen und nicht zuletzt: ein weiteres Aufkommen populistischer Strömungen weltweit. Und es ist nicht zu sehen, dass dem wirksam entgegen gearbeitet wird. Bisher gibt es lediglich Appelle: von den G 20-Staaten, dem Papst und selbst vom Weltwirtschaftsforum in Davos. Aber gerade dort sitzen sie doch, die Reichen und Mächtigen dieser Welt. Glaubt wirklich jemand, dass von dort die Rettung naht?

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Telefoniere am 20.1. mit Frauke und gratuliere ihr zum Geburtstag. Ich rede nur kurz mit ihr, da sie Besuch hat. Klaus schreibt mir später, dass sie wieder stark abgenommen hat. Sie ist jetzt 74 Jahre alt; ein magisches Datum in unserer Familie. In diesem Alter starben die Großeltern und die Eltern.

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Donald Trump ist als Präsident der USA vereidigt worden und hält eine bizarre Inaugurationsrede. Darin beschimpft er die Reichen und die politische Elite, die teilweise anwesend ist. Vielleicht sollte er sich einmal sein eigenes Kabinett ansehen. Lauter Milliardäre und Generäle. Und die sollen sich jetzt um die Armen und Abgehängten im Lande kümmern? Er ist ein Lügner und Ignorant und strotzt nur so vor Inkompetenz. Er glaubt fest daran, durch Deals – wie im Geschäftsleben – regieren zu können. Hoffentlich endet das Ganze nicht in einem Alptraum.

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A. war zu Besuch bei uns. Wie immer gibt es interessante Diskussionen; z.B. über meinen Intellektuellenstatus. Sie vertritt eine nachdenkenswerte These: nicht so sehr meine Herkunft, sondern dass ich mir ein theoretisches Rüstzeug zum Verständnis der Gesellschaft verschafft habe, ist für sie ausschlaggebend für die Frage, ob ich ein Intellektueller bin oder nicht. Wer praktische Erfahrungen macht, geht auf ganz andere Weise an die Dinge heran, meint sie.

Da ist was dran. Ich wende ein, dass ich in meinem Buch versucht habe, darzustellen, dass meine Herkunft aus dem Arbeitermilieu und meine wissenschaftliche Praxis miteinander in Einklang standen und mich davor bewahrt haben, einen Intellektuellen-Habitus zu entwickeln. Aber ob diese Selbstbeschreibung, die ja stark subjektiv gefärbt ist, plausibel ist, muss dahingestellt bleiben.

A. weist uns auf die Autobiographie von Oskar Negt hin. Ich lese eine Rezension, auf die sie uns ebenfalls aufmerksam macht und bestelle das Buch. Mittlerweile habe ich etwa 100 Seiten gelesen und finde viele Anregungen darin. Vor allem gefällt mir, dass er Begrifflichkeiten klärt; auch solche, über die man ansonsten hinweg lesen würde. Z.B.: Was heißt es, seinen Weg zu finden? Dazu gibt es interessante philosophische Erklärungen, z.B. von Heidegger und Kant. Letzterer ist wohl Negts Favorit; vor allem dessen Aufklärungsschrift. Auch beschäftigt ihn das Problem, dass die Rekonstruktion des eigenen Lebensweges Kontinuitäten herstellt, die es so gar nicht gab, weil der Weg oft von Brüchen gekennzeichnet war. Genau das ist ja auch das Thema meines Buches.

Wie erleben wir A.? Sie ist ernster geworden und hat viel mitgemacht im letzten Jahr. Erst die Krebsdiagnose; dann aber auch die Belastungen mit der Hausrenovierung; die ständigen Auseinandersetzungen mit der Schwester usw. M. ist ihr eine Stütze, aber alle Entscheidungen muss sie allein treffen. Trotz allem ist bewundernswert, wie sie mit ihrer Situation umgeht. Als nächstes will sie nach Südfrankreich fahren; auf den Spuren von Exilanten des spanischen Bürgerkriegs und damit wieder an ihr Exil-Projekt anknüpfen.

Schreibe noch einen kleinen Text für das Buch von Klaus und mir: über Fußball. Mir fiel die Einseitigkeit bei der Schilderung meines Werdegangs auf; zu sehr auf Literatur, Philosophie und das Ziel Schreiben ausgerichtet. Was völlig fehlte, war die andere Seite meiner Entwicklung: meine Leidenschaft für den Fußball und die Tatsache, dass ich darüber Anerkennungserfahrungen gemacht habe, die ich nur erlangt habe, weil ich einen ungeheuren Willen und viel Disziplin aufgebracht habe. Ich kann wohl sagen, dass ein Großteil meiner Identitätsfindung – zumindest bis zum zwanzigsten Lebensjahr – durch meine Erfolge im Fußball liefen.

Und darin besteht auch der Zusammenhang mit dem anderen Strang meiner Entwicklung: den Willen, den Ehrgeiz und die Disziplin, die ich brauchte, um den Zweiten Bildungsweg zu absolvieren, habe ich im Sport ausgebildet. Hinzu kam die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Hätte ich meine Erfahrungen im Sport weggelassen, wäre ein ganz falsches Bild von mir entstanden.

*

Habe das Negt-Buch zu Ende gelesen. Sehr eindrucksvoll die Schilderung der Flucht über die Ostsee und die zweieinhalb jährige Internierung in einem dänischen Flüchtlingslager, gemeinsam mit seinen beiden älteren Schwestern; von den Eltern getrennt, die in der Nähe von Berlin untergekommen waren.

Was mir besonders gefällt ist, dass er nicht nur die Ereignisse schildert, sondern sie auch durch philosophische oder psychologische Reflexionen einzuordnen versucht. Ganz stark dann die Schlusskapitel, wo er über das Asyl, den Flüchtlingsstatus, das Gastrecht eines jeden Menschen u.a. reflektiert. Mit Hilfe von Kants Schriften über Weltbürgertum, den Ewigen Frieden und immer erneut die Aufklärungsschriften. Großartig macht er das.

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Meine beiden Bücher sind erschienen. Es ist jedes Mal ein erhabenes Gefühl, ein eigenes Buch in der Hand zu haben. So hat man all die Texte, die einem etwas bedeuten, verfügbar. Im Journal habe ich viel über mein Schreiben reflektiert und eigene Texte über andere Autoren geschrieben. In Kontinuitäten und Brüche habe ich versucht, meinen intellektuellen Entwicklungsprozess zu rekonstruieren. Mich wundert es nachträglich, wie viel man auf diese Weise zutage fördert, das ansonsten irgendwo schlummern würde. Manchmal ist es eben doch gut, sich zu erinnern.

*

Gehe seit einiger Zeit ziemlich regelmäßig ins Basil`s. Hier trifft man immer auf Leute, mit denen man sich unterhalten kann. Es ist erstaunlich, wie die beiden Wirte Björn und Jan es geschafft haben, sich ein Publikum heranzuziehen, das gut zusammenpasst. Ein Teil stammt noch aus der Zeit der früheren Wirtin G.; aber viele Jüngere sind dazugekommen, so dass die Kneipe mittlerweile Kultstatus hat.

Die beiden neuen Wirte geben sich selbst lässig und zuvorkommend, gepaart mit distanzierter Freundlichkeit. Sie beweisen eine gute Übersicht und logistisches Vermögen. Sie haben sich ein Team zusammengestellt, das harmoniert und gute Kontakte zum Publikum pflegt. Man kann gut mit den Leuten reden und alle haben Interessantes beizutragen. (Darüber später mehr).

Zu den Stammgästen gehört u.a. Peter, der Fordarbeiter. Von ihm erfahre ich das Neueste vom FC, aber auch das ein oder andere aus der Produktion bei Ford. Vor allem seine Erfahrungen mit den türkischen Kollegen sind interessant. Er ist ein guter Erzähler und es macht Spaß, ihm zuzuhören.

Ähnlich ist es mit Hartmut. Wenn er gut drauf ist, erzählt er von seiner Herkunft aus Beckum. Z.B. haben wir uns lange von unseren Opas erzählt, woraufhin ich ihm mein Opa-Buch mitgebracht habe.

*

Haben uns eine Neuübersetzung des Romans Schall und Wahn von William Faulkner gekauft. Ich lese zunächst das Nachwort des Übersetzers Frank Heibert. Darin beschreibt er, wie schwierig Faulkner zu übersetzen ist; vor allem, weil er die Alltagssprache der Schwarzen benutzt, die teilweise eigene Dialekte haben. H. schreibt:

Zu Faulkners beherzten literarischen Wagnissen gehört auch seine Art, mündliche Sprache zu verschriften. Wann immer schwarze Figuren zu Wort kommen, notiert er, sozusagen in ausgeschriebener Mimikry, ihre Aussprache, fast eine Transkription: ein auffälliges Mittel, um die Eigenständigkeit der Sprecher und ihren Abstand zu den weißen Herren zu markieren, und eine weitere ästhetische Qualität dieses an literarischen Höhepunkten reichen Romans.

Etwas später heißt es: Dass William Faulkner das Black American English der schwarzen Underdogs zur Literatursprache erhebt, ist politisch wie sprachlich ein starker Effekt. Für die Übersetzung ist es die größte Herausforderung, die dieser Roman stellt. Es handelt sich um eine regional wie sozial geprägte Variante des Englischen, also Dialekt und Soziolekt zugleich. Das übersetzerische Dilemma ist offensichtlich: Wie lässt sich Dialektales übersetzen? Dialekte sind an Regionen geknüpft.

Faulkner will die schwarzen Figuren durchaus von den Weißen abheben, allerdings nicht im Sinne einer Abwertung, sondern im Gegenteil: wie sie sprechen, ist Teil und Ausdruck ihrer Verwurzelung, ihrer Identität, ihrer ‚Gesundheit’ im Gegensatz zu den dekadenten weißen Herren, es steht für Heimat und Wärme.

Man kann nur staunen, mit welcher Akribie Heibert an seine Übersetzung herangeht. Er hat eigens eine Recherchereise in die Südstaaten unternommen, um herauszufinden, wie die heutigen farbigen Leser die Sprache F.s erfahren. Abgesehen davon, dass F. nur noch wenig gelesen wird (he is an old white man), empfinden sie seine Sprache als defizitär, klischeehaft und karikierend. Das hat damit zu tun, dass es viele Rassenklischees und stereotype Darstellungen in der amerikanischen Literatur gibt. Der schwarze Schriftsteller Ralph Ellison schrieb dazu: Der stereotype ‚Neger’ steht für die desorganisierten, irrationalen und damit anheimelnden Kräfte im amerikanischen Leben. Heibert skizziert seine Übersetzungsstrategie wie folgt: Ich habe mich für ein fein dosiertes Einträufeln einzelner sprachlicher Markierungen entschieden…, um nicht in eine nervtötende oder unfreiwillige alberne Karikatur abzurutschen.

Mir wird klar, wie wichtig gute Übersetzer sind, um die Originalität eines Romans zum Ausdruck zu bringen. Diesen Aspekt habe ich bisher beim Lesen von Literatur sträflich ignoriert, obwohl immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen wird (z.B. von Arno Schmidt in seiner Kritik an Joyce-Übersetzungen). Und man versteht besser, dass einer der bekanntesten Joyce-Übersetzer, Hans Wollschläger, sechs Jahre für die Übersetzung des Ulysses gebraucht hat.

*

Klaus äußert sich ausführlich zum Journal 2016; er schreibt u.a.:

Meine erste Lektüre des gesamten Tagebuches von 2016 habe ich jetzt beendet. Der freudige und motivierende Eindruck des Anfangs hat sich weiterhin bestätigt. Ich finde es überaus lesbar. Die „Spannung“ hat eigentlich nie nachgelassen, weil die verschiedenen Erzählebenen geschickt kombiniert sind. Interessant auch folgendes: Stand für „Inside out“ ein ganzes Jahrzehnt als Material zu Verfügung, so verdichtet sich durch die Konzentration auf ein Jahr der Einblick in Dein/Euer Leben – und das ist Dir prima gelungen.

Zwei Anmerkungen: Die Bedenken, die A. auf den Seiten 140f äußert, kann ich so nicht teilen. Ein Tagebuch lebt vom Konkreten, und dazu gehören auch die Personen, sonst kann man es eigentlich auch lassen. Stell Dir einen Text vor, der nur elaborierte Gedanken präsentiert. Mich würde das wenig fesseln. An zwei Stellen habe ich allerdings gezögert. Sie betreffen beide W. Auf S. → heißt es, dass es „streng nach Urin“ riecht – dann folgt aber ein geradezu liebevoller Bericht über diesen Besuch, der Inhalte und Gesprächssituation sehr lebendig wiedergibt. Würde hier ein Hinweis auf einen „sehr unangenehmen Geruch“ genügen? - Bedenklicher fand ich die Wiedergabe von Teilen des dramatischen Gespräches (S. →), wo er von „einigen Nebenbeziehungen“ spricht. Ich habe mich gefragt, warum mich das störte. Es liegt wohl vor allem daran, dass es sich bei W. um eine öffentliche Person handelt, über den hier Intimes (wenn auch im kleinen Kreis) verbreitet wird. Würde hier ein Verweis auf „Eheprobleme“ oder „schwierige Phasen der langen Beziehung“ genügen? Es wird immer eine Gratwanderung bleiben, ich merkte aber, dass mir vor allem die zweite Äußerung zu weit ging. Bis auf die beiden genannten Beispiele fand ich es eigentlich immer gut, dass die Namen genannt werden. Eine schwierige Situation für den Autor, kann ich mir vorstellen. Vielleicht ist für Dich diese Mitteilung meines Empfindens als Leser ein wenig hilfreich.

Die zweite Anmerkung betrifft den Titel des Buches. Ein länger werdender Schatten setzt ja voraus, dass die Sonne sinkt. So mag das Grundempfinden des Autors wohl sein. Das ganze Buch ist aber ein Beweis, dass die Sonne noch ganz schön hoch steht. Es zeugt von viel Leben - vielen Interessen, Gesprächen, Lektüren, Begegnungen, Beobachtungen, sportlichen Aktivitäten, Planungen, Projekten (neuer Roman!), unser Buch und vor allem von einer nicht endenden Liebe zu Petra. Für mich spielt das alles eher im Spätsommer (siehe Betrachtung darüber auf S. →), noch nicht einmal im Herbst – aber auch dieser Eindruck ist natürlich unvermeidlich subjektiv.

Soweit Klaus. Zum Titel des Buches ist zu sagen, dass die Formulierung Die Schatten werden länger sich auf den Zeitraum des Erinnerns beziehen, im Sinne von: Die Vergangenheit legt sich wie ein Schatten auf die Erinnerung. So ähnlich hatte ich es in meinem Text über das Erinnern formuliert.

Die Bedenken zu den Ausführungen über W. verstehe ich. Aber die Tatsache, dass W. Nebenbeziehungen hatte, ist allgemein bekannt – vor allem in Köln. Er hat seine diesbezüglichen Erfahrungen natürlich auch literarisch verarbeitet.

*

Lese von Wilhelm Genazino: Idyllen in der Halbnatur. Das Buch hatte ich kurz nach dem Erscheinen 2011 schon einmal gelesen. G. schildert, was ihn zum Schreiben antreibt; wie er zu seinen Motiven gelangt; welche Hintergrundüberzeugungen ihn bewegen; welche Anregungen aus der Literatur er aufnimmt; welche Krisen er durchlebt und wie er sein Schreiben einordnet und reflektiert. Alles sehr offen und unprätentiös. Da heißt es z.B.:

Auffällig ist in allen Texteilen die Vorherrschaft des Wahrnehmens, Beobachtens, Reflektierens, Spazierengehens. Diese Dominanz ist ein Reflex auf die Grundbefindlichkeit, trotz der versuchten Auflösung des Subjekts nach wie vor ein Subjekt zu bleiben. Eingelöst wird dieser Anspruch durch eine Selbsteinordnung in eine Dreierkonstellation aus Gesellschaft, Individualisierung und Ästhetik. Wobei das Individuum der Gesellschaft dadurch entkommt, indem es sich mit von ihm selbst erfundenen ästhetischen Prozessen eine Distanz von der Gesellschaft erarbeitet. (49)

*

K.G.Z. schickt mir eine Rückmeldung zu Kontinuitäten und Brüche. Er schreibt:

Haben Sie schönsten Dank für Ihr neues Buch, das mit der heutigen Post gekommen ist. Obgleich ich gar keine besondere Neigung für Biografien bzw. Autobiografien hege, habe ich mich in Ihren Text schon ein wenig eingelesen. Sehr anschaulich, interessant auch wegen einer (von Ihnen wahrscheinlich gar nicht intendierten) Verallgemeinerungsfähigkeit, flüssige Formulierung und nette kleine Überraschungen. Von Marquard habe ich (alle?) bei Reclam erschienenen Publikationen. Seit langem stand für mich fest, dass er der Kabarettist unter den Philosophen ist. Ich lese ihn ab und zu immer wieder sowohl wegen der Formulierungskunst als auch den frappierenden Aussagen.

Tags darauf schreibt er:

Ihre Bildungsautobiografie habe ich GANZ durchgelesen, was Sie erkennen lassen kann, wie interessant der Text ist. Nach meinem Eindruck zeigt diese Art des Schreibens Ihr ganz besonderes Talent. Sie schrieben in einer Ihrer Mails, dass Eribon und Bourdieu Sie angeregt haben, sich schriftlich über Ihren Werdegang Rechenschaft abzulegen. Deshalb fand ich die Fußnote 24 (S. →