Fallobst - Joke Frerichs - E-Book

Fallobst E-Book

Joke Frerichs

0,0

Beschreibung

Es gibt ihn nicht, den ein für allemal gültigen Text. Vielleicht sollte man sich das künftige Schreiben als ein lebenslanges Fortschreiben eines einzigen Textes vorstellen. Dabei heraus kommen dann weniger fertige, in sich geschlossene Texte, als vielmehr offene, scheinbar völlig zusammenhanglose Fragmente. Wir bestehen aus lauter Bruchstücken, und diese sind so uneinheitlich zusammengefügt, dass die einzelnen Bestandteile jederzeit in einem neuen Licht erscheinen können. Das könnte eine Hoffnung, aber ebenso ein Verhängnis sein. Was bleibt ist die Einsicht, dass das Leben ein Fragment ist, das weder im Diesseits noch im Jenseits vollendet wird. Es ist einfach irgendwann zu Ende.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 77

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fallobst sind Früchte,

die vom Baum gefallen sind.

Einige davon habe ich aufgesammelt.

Ich bin. Wir sind. Das ist schon fast alles.

Fangen wir noch einmal von vorne an:

Am Anfang war das Wort, in ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.

Oder:

Am Anfang war die Leere. Dann kam das Schauen. Dann ein langes Schweigen.

*

Es gibt ihn nicht, den ein für allemal gültigen Text. Vielleicht sollte man sich das künftige Schreiben als ein lebenslanges Fortschreiben eines einzigen Textes vorstellen. Dabei heraus kommen dann weniger fertige, in sich geschlossene Texte, als vielmehr offene, scheinbar völlig zusammenhanglose Fragmente.

*

Vielleicht ist Schreiben der Versuch, das eigene Leben zu verlängern. Solange einem noch etwas einfällt, lebt man. Auf gewisse Weise hält man das Vergehen der Zeit auf. Sobald es weniger zu notieren gibt, hat es den Anschein, als würde die Zeit einem entgleiten. Die Zeiterfahrung wird diffus. Also schreibt man dagegen an.

*

Wer auf die Geschichten verzichtet, die er von sich erzählen kann, verzichtet auf sich selber. Wer wir sind, offenbart sich in den Erzählungen über uns. Wir sind das, was wir von uns erzählen können. Das zeigt sich schon alltagssprachlich, wenn wir von Jemandem erzählen. Wir erzählen, wer er war und was er gemacht hat. Der Name allein sagt nichts. Somit kann man auch sagen: was von uns bleibt, ist das, was wir über uns erzählen können bzw. das, was über uns erzählt werden kann. Nicht mehr und nicht weniger.

*

Unsere Ich-Identität besteht aus Erlebnissen, die wir im Gedächtnis gespeichert haben. Sobald wir sie uns wieder vor Augen führen, schaffen wir uns ein Gegenüber, mit dem wir gelegentlich ins Gespräch kommen. Derartige Selbstgespräche können dazu beitragen, das Ich zu stabilisieren. Man vergegenwärtigt sich ein vergangenes Erlebnis und konfrontiert es mit dem gegenwärtigen Wissen. Indem man ein Ereignis aus dem Erlebensstrom her-auslöst, gewinnt dieses besondere Bedeutung. Aufgrund der Distanz ist es möglich, Umdeutungen vorzunehmen, damit etwaige Fehler oder Schwächen mit unserem gegenwärtigen Selbstverständnis in Einklang gebracht werden. Damit wird deutlich, dass die Herausbildung einer Identität nichts ein für allemal Feststehendes ist, sondern ein Entwicklungsprozess, an dem wir ständig arbeiten.

*

Solange ich zurückdenken kann, hörte ich gerne ‚Geschichten’. ‚Wahre’ oder ‚erfundene’. Dank einer bereits früh entwickelten ‚phantasiebegabten Sensibilität’ versuchte ich, sie mir weiter auszuschmücken. Ich hätte sie gerne aufgeschrieben, aber zum Aufschreiben fehlte es an Gelegenheiten. Es gab keine Umgebung, die mir den Zugang zum Schreiben ermöglichte. Auch war mein Verhältnis zur Welt ‚porös’. Ich brauchte stets zu lange, um mir über die Dinge klar zu werden, die mich umtrieben. Es gab zu Vieles, was sich nicht zusammenfügte.

Für das, was in mir wühlte und hinausdrängte, hatte ich keine Worte. So blieb ich stumm. Aber woher rührte dieser Antrieb, der mehr war als eine flüchtige Anwandlung? Ich denke, es war der Wunsch nach Befreiung. Ich wollte der Enge meiner Herkunft entkommen. Den Wunsch, zu schreiben, um etwas ganz allein für mich zu haben, habe ich tief in mir vergraben. Er wich der Sehnsucht nach einem anderen Ort. Ich träumte davon, mir andere Wirklichkeiten zu erfinden. Ich suchte Räume, die mir Verstecke boten. Gleichzeitig überkam mich die Angst, mich allzu weit von der gewohnten Umgebung zu entfernen. Was blieb, war eine schwindelerregende Begierde zu beginnen.

*

Schon als Kind begann ich zu ahnen, dass das Leben zwei Seiten hat. Die eine, das war der Alltag, der mich aufsog und die Luft zum Atmen nahm. Ich begann erst zu leben, wenn ich mich dem entzog. Ich entsinne mich des Glücksgefühls, sobald ich der häuslichen Enge entkam und frei umherschweifen konnte. Plötzlich weitete sich der Horizont. Ich beobachtete das Spiel der Wolken, und mir war, als würden sich die Geheimnisse des Lebens offenbaren. Zeit und Raum lösten sich auf. Dann wieder schien alles stillzustehen. Die Welt hielt für einen Moment den Atem an. In diesen Augenblicken überkamen mich gleichsam metaphysische Gefühle, die später nur noch als schattenhafte Erinnerungen wieder auftauchten. So wie Träume, an die man sich beim Erwachen nur noch vage erinnert. Und doch schienen sie einen Raum zu eröffnen, in den die Phantasie eintauchen konnte. Dachte ich später über all das nach, so fragte ich mich immer öfter, ob diese Poesie des Augenblicks, die ich erlebt hatte, nur in meiner Vorstellung existierte. War es nur eine Feier der Einbildung, die auf diese Weise ihren unerschöpflichen Reichtum entfaltet hatte?

*

Kann man die Urmelodie der Welt erlauschen? Oder ist sie Antwortlosigkeit und Schweigen? Der Versuch, auf dem Boden des Unheimlichen heimisch zu werden, ist ein unhintergehbares Anliegen der Kunst und Literatur. Es ist der Versuch, die Zerrissenheit der Welt, ihre unerkennbaren Zusammenhänge sichtbar zu machen, auch wenn dies nur die Suche nach Auswegen ist. Es ist eine zutiefst absurde Situation zwischen Immanenz und Transzendenz. Selbst wenn da ein Licht wäre – vielleicht sehen wir das Licht des Anfangs nicht mehr und das Licht des Endes noch nicht. Was bleibt, ist das Streben nach Licht.

*

Ich tröste mich mit der Gewissheit, dass besondere Dinge sich im Schweigen vorbereiten. Vor dem Schreiben eines Gedichts steht ein tiefes Schweigen, und meist geht etwas von diesem Schweigen in das Gedicht ein. Das Schweigen scheint die Ganzheit der Welt tiefer zu erfassen, als je ein Gedicht es vermocht hätte.

Auch spürte ich instinktiv, dass mein damaliges Stummsein auch eine Form des Selbstschutzes war. Bloß nichts preisgeben von sich, bloß die Spannung nicht lösen, bloß das Rauschhafte dieses Zustands nicht zu früh beenden. Alles in der Schwebe lassen. Vielleicht fürchtete ich, dass sich die Zeilen des Gedichts zu sehr mit der Welt, die ich zu meiden suchte, vermischen könnten. Diese diffuse Gefühlslage beherrschte mich lange Zeit. Auf die Frage, ob ich mich schreibend vom Leben entfernte oder durch das Schreiben ins Leben finden würde, wusste ich keine Antwort.

*

Wir sind mehr Produkt von Zufällen als persönlicher Wahlen oder Entscheidungen. Welcher Herkunft wir sind; wann wir zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Land geboren wurden, entzieht sich vollständig unserem Einfluss. Daher ist die Aussage der Existentialisten, der Mensch sei das Produkt seiner Wahl und dessen, was er aus sich macht, zu relativieren. Selbst wenn wir trotz oder wegen unserer Herkunft etwas aus uns gemacht haben, sind oft Zufälle im Spiel: zum Beispiel, zu einer bestimmten Zeit die richtigen Leute getroffen zu haben. Oft fehlen auch Alternativen. und man macht das, was naheliegt oder von einem erwartet wird.

Sich den Erwartungen entgegen zu stemmen, verlangt außerordentliche Willensanstrengungen. Und dann zeigt sich auch erst im Nachhinein, ob wir mit unseren Entscheidungen richtig gelegen haben. Zum zuvor Gesagten schaue man sich nur den eigenen Lebenslauf an. Oft wissen wir erst nach Jahrzehnten, an welcher Wegkreuzung wir möglicherweise anders hätten abbiegen sollen. Aber dann ist es zu spät, und man neigt dazu, die einst getroffenen Entscheidungen nachträglich zu legitimieren. Alles andere bereitet nur Schmerzen.

*

Leben und Schreiben – in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Auf welche Weise können Schreiben und Leben eins werden? Ich sah manche Dinge deutlicher, wenn ich über sie schrieb. Ich schaffe mir beim Schreiben ein Gegenüber, das ich anschauen und über das ich nachdenken kann. Die Konturen treten schärfer hervor, während viele Sinneseindrücke diffus bleiben und sich wieder verflüchtigen. Man könnte von objektiven Träumen sprechen, da das, was ich schildere, auch für Andere zugänglich ist. Ohne diese mitlaufende Aufmerksamkeit für die Dinge wäre Schreiben einzig für mich von Bedeutung. So aber wird es zu einem intersubjektiven Ereignis. Ich gebe der Welt auf diese Weise etwas zurück, das ansonsten unbehaust und zerfasert bliebe.

*

Wir müssen unsere Biographien selber schreiben, weil die Übergänge von einer Identitätsstufe zur nächsten schwer nachvollziehbar sind. In traditionalen Gesellschaften waren sie durch Übergangsrituale gekennzeichnet; heute sind die Verbindungen zwischen persönlichen und sozialen Veränderungen flüchtiger, so dass eine stabile Identität schwerer auszumachen ist. Vielleicht kann man sagen: Identität basiert auf der Fähigkeit, sich selbst von anderen zu unterscheiden. Das bedeutet aber auch, sich selbst zum Objekt zu machen.

*

Die Wirklichkeit, wie wir sie sinnlich wahrnehmen, ist nicht die wahre Wirklichkeit; die wahre Wirklichkeit ist gewissermaßen übersinnlich. Das, was uns mehr oder weniger zufälligerweise zuerst ins Bewusstsein tritt, ist nur das Sinnbild einer momentanen Wahrnehmung. Man muss diese Wahrnehmung ihrer zufälligen Aufmachung entkleiden und sie auf Grundstrukturen zurückführen, die allererst aufgebaut werden müssen; d.h.: ihr Sinn muss durch eine zeitlose Realität bereichert und erweitert werden. Das ist das Werk des Künstlers. Nur auf diese Weise entsteht überhaupt Kunst, wird der künstlerische Prozess überhaupt verstehbar.

*

Die wichtigste Eigenschaft des Künstlers ist das Sehen und Beobachten. Damit stellt er sich den Dingen. Von diesem Ausgangspunkt aus kann er anfangen, sich der Dinge zu vergewissern, sie sich zu vergegenwärtigen, sich in sie zu versenken. In diesem Aneignungsprozess entstehen dann auch Träume und Visionen, die erst ihre zwingende visuelle Überzeugungskraft gewinnen, wenn der Künstler versteht, Wirklichkeit nicht nur zu imitieren, sondern zu erfinden. Erkennbar muss die Handschrift des Schöpfers sein; er muss gewissermaßen seine eigene Persönlichkeit und Sichtweise in das Werk einbringen. Das erst macht das geschaffene Werk unverwechselbar.

*

Interessant am künstlerischen Prozess ist, wie die Dinge aus ihrem alltäglichen Kontext herausgelöst werden und neue Bezüge entstehen. Die expressionistische Fähigkeit, die Umwelt mit dem Gefühl vollkommener Entfremdung zu betrachten und darzustellen, ist eine solche Bereicherung der Realität. Dazu gehört unbedingt auch, wie der Betrachter das Ganze wahrnimmt – als Teilnehmer am künstlerischen Prozess.

*

Sprache ist der Zugang des Menschen zur Welt.