Zeit der unverhofften Bilder - Joke Frerichs - E-Book

Zeit der unverhofften Bilder E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Der Roman handelt vom Werden einer Künstlerpersönlichkeit. Im Mittelpunkt steht die Freundschaft eines Schriftstellers und eines Malers, die sich über die Wesensmerkmale ihres jeweiligen Metiers austauschen und dadurch gegenseitig inspirieren. Sie diskutieren buchstäblich über Gott und die Welt; über die Schöpfung, die Zeitlichkeit allen Daseins, die Existenzbedingungen ihres Künstlertums und die Sinnhaftigkeit ihres künstlerischen Schaffens. Einig sind sie sich darin, dass Kreativität das entscheidende Merkmal eines sinnvollen Lebens ist. Ihr Credo könnte lauten: Literatur und Kunst sind der Beweis dafür, dass das Leben allein nicht genügt.

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Meinem Bruder, dem Maler Klaus Frerichs, gewidmet

Literatur und Kunst

sind der Beweis dafür,

dass das Leben allein nicht genügt

Er war von jeher ein Tagträumer gewesen. Man sagt, die Eigenschaften oder der Charakter eines Menschen würden im Wesentlichen in den ersten fünf Lebensjahren ausgebildet. Wie war das bei ihm? Er wuchs in beengten Verhältnissen auf, und so mochte es sein, dass diese seinen Hang zum Träumen begünstigt hatten. Mit Hilfe seiner Phantasie verschaffte er sich die Räume, die er zum Leben brauchte. Als Kind träumte er sich fort, wenn irgendein Ungemach sich ankündigte. Die Traumwelt umschloss ihn wie eine imaginäre Höhle, die nur er allein bewohnte und deren Wände er mit Bildern bemalte, die ungerufen zu ihm kamen. Die Tagträumerei wurde ihm zu einer Art Überlebensstrategie, die zudem den Vorteil besaß, aus missliebigen Situationen gewissermaßen unbehelligt hervorzugehen. Er übersetzte die äußeren Ereignisse, die ihn bedrängten, in einen inneren Text, mit dem er sich auseinander setzen konnte. Auf diese Weise verwandelte sich die Unübersichtlichkeit des Lebens in eine nachvollziehbare Form und es schien ihm, dass dieser Text deutlichere Konturen aufwies als das wirkliche Leben. So gelang es ihm, sich die Dinge zugänglich zu machen. Genau darin bestand die Fertigkeit, die er mit der Zeit entwickelte: er versah das Erlebte mit persönlichen Zutaten, die ihm vertraut waren und machte sie so zu etwas Eigenem. Der innere Text, der auf diese Weise entstand, war ihm näher als die alltäglichen Dinge, die ihm oft unverständlich blieben. Von Kindheit an spürte er, dass dieser Text eine geheime Botschaft enthielt, die nur er eines Tages würde entschlüsseln können. Er musste nur darauf achten, dass sich das Leben nicht allzu sehr von ihm trennte. Vielmehr galt es, mit der Welt da draußen eine Art phantastischen Kontakt zu halten.

Wenn er sich jetzt, nach Jahrzehnten, an diese Zustände erinnerte, sah er lauter Bilder in seinem Gedächtnis sich ablösen. Zuweilen verdichteten sie sich zu Landschaften; solche, die er nie gesehen hatte und auch wohl nie sehen würde. Genau genommen waren es Bildfolgen, die sich wie Filmsequenzen aneinander reihten. Solche Tage nannte er seine Bildertage. Daneben gab es Traumtage und Nachdenktage. Und dann gab es Leidenstage und Tage der Freude. Manchmal verwoben sich all diese Tage zu einem Ganzen.

Vor allem beschäftige ihn, woher diese Bilder kamen? Wer spielte sie ihm zu? Er vermochte es nicht zu sagen und fragte sich: Erinnert man sich über Bilder? Konnte man sich Dinge ins Gedächtnis rufen, die man gar nicht oder noch nicht erlebt hat? Erst viel später, als er zu meditieren begann, versuchte er, sein Gedächtnis von allen bildlichen Vorstellungen und Gedanken zu befreien, um einen Zustand der vollständigen Leere zu erreichen. Er glaubte, auf diese Weise eine nie erfahrene, vollkommene Leichtigkeit, wenn nicht gar Freiheit zu erlangen. Indes: es gelang ihm nicht. Immer wieder drängte sich ein letztes Bild auf. Es füllte eine Leere, die gewissermaßen widerhallt und widerhallt, während er in ihrer Mitte saß und lauter Spiegel ihn von allen Seiten reflektierten. Und jedes der Spiegelbilder zeigt ihm ein anderes Selbst. Auch versuchte er sich vorzustellen, welches Bild sich andere von ihm machten. Das lenkte ihn ab und gab ihn wieder frei für eigene Bilder.

*

Das Aufwachen am Morgen zögerte er solange wie möglich hinaus. Diese Phase nannte er seine Versöhnung mit der Wirklichkeit. Er dämmerte vor sich hin. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf. Ungeordnete Gedanken. Bildreste verschwammen zu undeutlichen Konturen. Lösten sich in Traumfetzen auf. Seine Träume hatten nur für ihn selbst Bedeutung. Er hätte vergeblich versucht, sie in die übliche Alltagssprache zu übersetzen. Zu vielschichtig und subtil erschienen sie ihm. Er kommunizierte mit sich selbst. Staune, dass Du bist, dass es die Welt um Dich herum gibt und Du darin. Erlebe die Wunder der kleinen Dinge. Das Geheimnis eines Grashalms, der im Winde zittert. Und verlerne nie das Staunen, weil man Dir einredet, wie normal das alles ist. Vielleicht war es dieses fragende Staunen, das so etwas wie ein erstes philosophisches Licht in ihm entfachte. Dieses Verwundern darüber, dass da etwas ist und nicht nichts. Dieser stachelnde Antrieb verband sich mit seinen Tagträumen und wurde ihm zum Fundament, das seine Phantasie anregte und zuweilen auch zu einer Art Selbstberuhigungsprogramm.

Er liebte den Zustand zwischen Schlaf und Erwachen. Manchmal stieg irgendeine Erinnerung in ihm auf. Wie aus einer zeitlosen Ferne. Nebelhafte Gebilde. Menschen und Ereignisse. Worte oder Gesten. Von den Erinnerungen heißt es, sie hätten weniger mit der objektiven Realität zu tun, als vielmehr mit der eigenen Innenwelt, die sie stets umformt. Sie werden zu Spielzeugen, die wir uns selber bauen. Immer häufiger gelang es ihm, in seinen morgendlichen Halbträumen Motive zu erfinden, die er nach dem Erwachen fortspinnen konnte. Vielleicht würden diese schöpferischen Einfälle eines Tages zu einer Inspirationsquelle für Geschichten, die sich weitererzählen ließen.

In seiner Selbstversunkenheit schaffte er sich eine Parallelwelt. Nur: Wer sagte ihm denn, dass die Träume, die er sich wieder bewusst zu machen versuchte, nicht selbst ein Traum waren? Dann wäre womöglich das ganze Leben ein Traum. Wenn er aus diesem Zustand erwachte, war ihm eigenartig zumute, so, als hätte ihn ein poetischer Augenblick gestreift.

*

Seine Regungen waren nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Sie existierten als eine Art Lebensenergie in ihm. Es war der starke Wille, aus seinem Leben etwas Sinnvolles zu machen. Dieser unbedingte Wille war noch ungeformt, wenn man so will: bar jeder Vernunft. Vielleicht deshalb erfüllte ihn eine existentielle Angst.

Was war es, das ihn umtrieb? Eine bestimmte Herausforderung? Eine Berufung? Alles war unklar. Wie in Nebel gehüllt. Aber es gab da etwas, für das er sich aufheben musste, das spürte er. Er musste herausfinden, was dieses Etwas war. Vielleicht eine nicht zu stillende Sehnsucht nach Horizonterweiterung. In einem ganz unbestimmtem, schwer fassbarem Sinne.

Oft sehnte er danach, allein zu sein, sich von der Enge seines täglichen Daseins zu befreien. Er machte lange Spaziergänge. Führte Selbstgespräche. Legte sich eine Weile ins Gras und las in den Wolken. Genoss die milde Luft. Den Geruch des Grases. Er versuchte, an nichts zu denken. Während er so dalag, spürte er, wie er dieses Gefühl brauchte, weit auszuholen. Ihm war, als würde er sich aus einer fernen Zeit betrachten. Er wollte Abstand zu sich und den Ereignissen finden, die ihn bedrückten. Für die er keine Namen hatte, außer dass er sie als eine Art Dumpfheit empfand, gegen die er sich instinktiv wehrte. Oft war er nur noch müde. Die Müdigkeit überkam ihn oft mit einer solchen Intensität, dass er zuweilen das Gefühl hatte, nie mehr wach zu werden. War es eine Art Daseinsmüdigkeit, die ihn immer wieder einholen würde, auch in seinem künftigen Leben? Er konnte es nicht wissen. Aber eines wusste er: leben, nur um zu existieren, das reichte ihm nicht. Und zum Selbstmord fehlte ihm der Mut. Auch hatte er seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft.

Er war müde ohne schlafen zu können. Versuchte er zu lesen, entglitten ihm die Zeilen und er wusste danach nicht mehr, was er da gelesen hatte. Er legte das Buch aus der Hand und starrte an die Decke. Dachte an das, was kommen würde. Meistens aber an nichts Bestimmtes. Alles lief ab wie ein Film. Dann war ihm manchmal, als habe dies alles nichts mit ihm zu tun. Um ihn herum vollzogen alle ihre täglichen Rituale. Lebten in ihren gewohnten Bahnen. Schienen mit allem im Einklang zu sein. Ihn wunderte die Selbstverständlichkeit, mit der sie alles hinnahmen. Und er fragte sich, warum er sich von ihnen fernhielt? Nichts berechtigte ihn dazu, er wollte nur nicht Teil dieser Alltagswelt sein.

Bisher hast du alles ausgehalten, sagte er sich: die Schule, die Eltern, die Armut, das Schweigen, den Überdruss. Aber irgendwann wirst du dich von allem losreißen. Gleichzeitig war er voller Zweifel. Wer weggehen will, muss das Weggehen auch beherrschen, sonst setzt er sich dem Gespött aus. Es war die Zeit, als er zu lesen begann und versuchte, sich das Gelesene festzuhalten. Er las und schrieb und schrieb und las. Seltsamerweise empfand er jetzt keinerlei Müdigkeit mehr. Ach, las er eines Tages, könnte ich doch nur meinen Geist in die Wonnen der reinen Phantasie tauchen und so diese entsetzliche Welt des wirklichen Lebens in den Griff bekommen. Das genau war das Gefühl, das ihn beherrschte. In die Wonnen der reinen Phantasie tauchen – was für Worte. Ihm war, als wären sie für ihn geschrieben worden.

*

Die Stadt, in der er lebte, hasste und liebte er gleichermaßen. Wie sie dalag in ihrem roten Backsteinkleid, das sich deutlich abhob vom tiefen Blau des Himmels und dem silbrig schimmernden Grün der Wiesen. Die weißen Wolkengebilde, die sich zu Schaumgebirgen auftürmten, verformten sich zu immer neuen Figurationen, bevor sie sich auflösten. Er konnte den Wolken lange zusehen. Sich ihrer geheimnisvollen Geographie überlassen. Der Weite. Nirgendwo war der Himmel so groß. Er sah die Stadt vor sich, wie hingestreckt im trüben Gespinst einer Nebelwand. Wehmut erfasste ihn, obwohl er sein eigenes Ausharren in der Stadt nicht mehr aushielt. Du musst den Schlingerkurs deiner bisherigen Existenz überwinden, sagte er sich. Sonst werden deine nichtswürdigen Probleme eine nichts-würdige Person aus dir machen. Du wirst immer weiter in einen wehleidigen Singsang abrutschen und dich am Ende der Bösartigkeit des normalen Lebens ergeben. Dann wird der Druck des Alltags dir deine Sensibilität für die Zärtlichkeit des Lebens nehmen.

Er hatte das Gefühl, dass die Wirklichkeit sich zu stark an ihm verausgabte. Oder war es umgekehrt? In der Stadt hatte er die Enge als bedrückend empfunden. So als gäbe es kein Entrinnen aus ihr. Stets musste man auf der Hut sein. Jeder kannte Jeden. Man wurde angesprochen, ob es einem recht war oder nicht. Er hasste die Oberflächlichkeit der meisten Begegnungen. Die Selbstgenügsamkeit der Leute. Auch war ihm die Stadt zu laut und hektisch. Das ganze Treiben verwirrte ihn. Er fand keinen Haltepunkt darin. Alles zerfloss ihm. Er hatte versucht, sich zurechtzufinden. Inmitten der Normalität so etwas wie einen privaten Sinn zu finden. Etwas, das nur ihm zugänglich war. Auf diese Weise wollte er sich über die Banalität des Alltäglichen hinwegsetzen, aber das gelang ihm immer nur für kurze Zeit. Zum Beispiel, wenn er sich ans Wasser zurückgezogen hatte. Eine bestimmte Stelle am Wasser liebte er besonders. Es war seine Stelle. Hierhin zog es ihn, sobald er das Gefühl hatte, allein sein zu müssen. Er brauchte dieses Gefühl, weit weg zu sein von allem. Es war, als spiegele das Wasser ihm seine eigenen Stimmungen wider. Manchmal aber war es einfach nur still. Dann ruhte das Wasser träge. Wie hingestreckt. Überzogen von flaschengrünen Streifen. Oder von glitzernden Sonnenstrahlen. Je nachdem, wie das Wasser stand, roch es ein wenig faulig. Vor sich hatte er den offenen Horizont. Dort schien das Ende der Welt zu sein. Er fühlte sich frei. Wurde vom Wind eingelullt. Vom Gemurmel der an- und abschwellenden Wellen. Hier konnte er seinen Träumen nachhängen. Dann war ihm, als würde irgendein Instinkt ihn wappnen gegen die Frostigkeit des Daseins. Er kam erst wieder zu sich, wenn die Sonne sich verzogen hatte und der Wind allmählich auffrischte. Der Anblick des Meeres hatte die Relation zwischen den Dingen wieder hergestellt. Alles Trennende schien überwunden. Nun fühlte er sich mit allem verbunden. Das Wasser hatte ihm zugehört. Es war sein Vertrauter. Es war geduldig und verschwiegen. Er nahm plötzlich wahr, dass er existierte. Und alles um ihn herum ebenfalls. Alles hatte seine Bedeutung: der Flug des Vogels, die Wolken am Himmel, das Licht des Tages, das Warten und das Hoffen. Jetzt wollte er nichts anderes mehr, als auf die Vögel, die Wolken und den Wind hören. Nie mehr würde er diese Dinge als etwas Selbstverständliches ansehen. Dies war der Zeitpunkt, da er beschloss, nie erwachsen zu werden. Er würde sich für immer seine kindliche Neugier bewahren.

Mit der Zeit entwickelte er so etwas wie einen philosophischen Sinn. Das heißt: er suchte nach einem tieferen Sinn seines Daseins. Für ihn bedeutete Philosophie so etwas wie: eine Haltung entwickeln. Man könnte auch sagen, es ging ihm darum, eine Einstellung zum Leben zu finden. Es musste doch irgendetwas geben, für das es sich zu leben lohnte. In dem kleinen Buch, das er jetzt stets bei sich trug, las er: Von dem, was du erkennen und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens für eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.

Er sah in diesen Zeilen eine Botschaft, die für ihn bestimmt war. Wie eine Stimme von jenseits der Welt oder auch wie ein Ruf des Lebens. Kurz danach verließ er die Stadt. Als er zum letzten Mal den schwarzen Schotterweg begeht, vorbei an den rußgeschwärzten Häusern, zwischen denen er aufgewachsen war, glaubt er zu spüren, dass die Stadt noch einmal nach ihm zu greifen versucht.

*

Sein Aufbruch hatte etwas Ungestümes, so wie es seinem Charakter entsprach. In der Folgezeit erlebte er Phasen der Melancholie, die ihn herabzuziehen drohten, die sich mit solchen des Überschwangs ablösten. Nahezu übergangslos. Zuweilen rannte er wie besessen gegen einen aufkommenden Sturm an, bis er völlig außer Atem war. Eine Art primäre Verrücktheit erfasste ihn. Weg, weg, weg aus dieser Welt des Eingeschlossenseins, der Regeln und Verbote. Nur nicht zurückschauen. Einfach immer weiter. Weg von allem.

In einem kleinen Büchlein mit philosophischen Texten stieß er auf einige Zeilen, die er wie selbstverständlich auf sich bezog. Dort hieß es: Not lehrt denken, indem sie besorgt macht. Die große Loslösung kommt für einen wie dich plötzlich, wie ein Erdstoß: die junge Seele wird mit einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen – sie selbst versteht nicht, was mit ihr geschieht. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehen, irgendwohin, um jeden Preis, eine heftige, gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen Sinnen. Dieser erste Ausbruch von Willen zur Selbstbestimmung, Selbstwertsetzung drückt sich in diesem Versuch aus, mit dem der Losgelöste sich seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht.

Diese Zeilen musste er erst einmal wirken lassen. Er begann, nach einer Begründung für sein überstürztes Handeln zu suchen. Er versuchte zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Es war die ganze Atmosphäre, die ihn niedergedrückt hatte, diese Mixtur aus Gleichgültigkeit und Langeweile. Das Bedrohliche daran bestand für ihn in dem Umstand, dass er Angst hatte, darin unterzugehen. Dagegen wehrte er sich. Er musste achtsam sein, denn immerhin gehörte er dieser Welt noch an, auch wenn sie ihn mehr und mehr abstieß. Es war ein zutiefst antibürgerlicher Impuls, der ihn antrieb. Schließlich waren es bürgerliche Tugenden, die ihm anerzogen worden waren: Fleiß. Disziplin. Ordnung. Enthaltsamkeit. Dann pflanzte man ihm das schlechte Gewissen ein und dieses schlechte Gewissen wurde fortlaufend gepflegt. Und die damit einhergehenden Qualen wurden solange erduldet, bis man sie schließlich für Tugenden hielt.

Das, was er das bürgerliche Leben nannte, hatte ihn zunächst eingeschüchtert, weil er die Spielregeln nicht beherrschte. Dann hatte er sie irgendwann durchschaut. Und schließlich hatte er sie verachtet, weil er begriff, dass sie nur eine Fassade darstellten. Es war dies die Zeit, als er so etwas wie Eigensinn entwickelte. Er war ja gewissermaßen immer noch ein Nichts. Aber als er dann davon las, dass jemand seine eigene Bestimmung finden muss, da war er sich sicher, dass Eigensinn eine ihm gemäße Lebensweise sein könnte.

Er begriff: Was dem Menschen von früh auf anerzogen wurde, das war Gehorsam. Gehorsam gegenüber Anforderungen und Gesetzen, die andere aufgestellt hatten. Eigensinn war das genaue Gegenteil. Der Eigensinnige gehorcht nur seiner eigenen inneren Stimme oder Bestimmung,, so wie jedes Ding auf der Welt seinem eigenen Gesetz folgt: jeder Stein, jeder Grashalm, jede Blume, jedes Tier. Dass die Welt reich und schön sein kann, liegt genau daran, dass jedes noch so kleine Ding seinen Sinn in sich trägt und unbeirrbar diesem folgt; so zu wachsen und zu leben, wie es ihm gemäß ist. Das für sich herauszufinden, stand ihm noch bevor.

Die meisten Menschen um ihn herum nahmen die Dinge wie sie sind; spürten keinen Drang, ihr Leben zu ändern oder sich gegen die Verhältnisse aufzulehnen. Sie passten sich mehr oder weniger an. Er wollte nicht sein wie sie. Sein Unterscheidungsbedürfnis wurde zum Futter für seine eigene Identitätsbildung, für seine Sehnsucht, auszubrechen.

Gleichwohl: Nicht die kleinen Leute waren es, die er gering schätzte. Sie bildeten mehr oder weniger eine amorphe Masse ohne Einfluss auf das Geschehen. Ihnen fehlten die Mittel; die geistigen und die materiellen. Sie waren weitgehend orientierungslos und ließen sich treiben. Was ihn abstieß, das waren die satten, selbstgenügsamen Bürger, die es aus irgendwelchen Gründen zu Wohlstand gebracht hatten und deren Interesse vor allem der Wahrung ihrer Besitzstände galt. Darin erschöpfte sich ihr soziales Gewissen. Es war der geistige Horizont des Spießers, der sich und seine Normen für die Welt hält. Man sagt, der Spießer verschenkt sich nicht. Er ist mit sich zufrieden; alles andere ist ihm gleichgültig.

Das wurde ihm erst so recht klar, als er just zu dieser Zeit einen Text las, der ihn in seiner Haltung bestärkte. Darin gab es eine Stelle, die er sich notierte, weil sie präzise seine Lebenssituation schilderte:

Er durchlebte Tage der inneren Leere und Verzweiflung, an denen uns die Menschenwelt und sogenannte Kultur auf Schritt und Tritt wie ein Brechmittel entgegengrinst. Wer mit solchen normalen Tagen gleich dem heutigen sehr zufrieden ist, lebt in der laudicken Luft einer selbstzufriedenen Langeweile; schmerzlos und gleichgültig gegenüber allem, was ihn umgibt.

Es ist eine schöne Sache um die Zufriedenheit, um die Schmerzlosigkeit, um diese erträglichen geduckten Tage, wo weder Schmerz noch Lust zu schreien wagt, wo alles nur flüstert und auf Zehen schleicht. Nur steht es mit mir leider so, dass ich gerade diese Zufriedenheit gar nicht gut vertrage, dass sie mir nach kurzer Dauer unausstehlich verhasst und ekelhaft wird und ich mich verzweiflungsvoll in andere Temperaturen flüchten muss. Es brennt alsdann in mir eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben. Denn dies hasste, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.

*

Er war zu dieser Zeit kein Handelnder; eher ein Getriebener. Vielleicht ist das, was man Handeln nennt, ohnehin nur einer von diesen hochtrabenden, idealistischen Begriffen. Ganz einfach: weil er eine Autonomie und Souveränität des Subjekts unterstellt, die nirgendwo mehr anzutreffen ist. Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben. Ihm wurde klar: der Mensch lebt, aber er verfügt nicht über sein Leben. Er denkt, aber er weiß so gut wie nichts. Er lebt mit anderen, aber doch für sich allein. Jedoch: Allein kann er auch nicht leben.

Er glaubte zu verstehen. Die Geschichte, aber auch die Entwicklung des Individuums, verläuft weitgehend naturwüchsig. Es ist eine Zufälligkeit von Ereignisketten am Werk, die der Einzelne kaum zu überschauen, geschweige denn zu beeinflussen vermag. Oder anders gesagt: was immer sich jemand vornimmt; es bedarf schon einer Vielzahl günstiger Umstände, Einflüsse und sogar Zufälle, damit er sein Ziel erreicht.

Angesichts des sich verstärkenden Gefühls, in einem zusammenhang- und sinnlosen Leben zu stecken, überkamen ihn immer öfter Zustände der Melancholie und Resignation. Es versuchte, sich mit der Vernunftwidrigkeit des Lebens abzufinden und die Verzweiflung über das Schweigen der Welt mit Würde zu ertragen. Seine zeitweise fanatische Wahrheitssuche gab er auf. Die Welt hielt keine Antworten für ihn bereit, so schien es ihm. Wenn er schon keine Möglichkeit sah, auf den Lauf der Dinge Einfluss zu nehmen, wollte er wenigstens mit sich selbst ins Reine kommen. Für diese Einsicht brauchte er lange. Sie schmerzte ihn, befreite ihn in gewisser Weise aber auch von einer Last. Er beschloss, sich aus dem, was man das normale Leben nannte, zurückzuziehen.

Die Konsequenzen seines Handelns begriff er erst nach und nach. Er spürte, es würde ein Kampf gegen einen unsichtbaren Feind werden. Er dachte jetzt des Öfteren an sein früheres Leben, und es kam ihm vor, als sei er einer unbenennbaren Gefahr entgangen. War es möglich, dass man sich vor seiner eigenen Vergangenheit fürchten konnte?

Als er begann, über all das nachzudenken, überkam ihn so etwas wie Demut. Es ist wohl die sanfteste Art, mit seiner Not umzugehen. Man nimmt sich plötzlich nicht mehr so wichtig, behält sich aber vor, sich zu wehren. Es ist ein Versuch, seine Würde zu bewahren. Demut, sagte er sich, ist keine Willfährigkeit oder gar Unterwerfung, sondern ein Selbstgefühl, das auf Einsicht und Hingabe beruht. Ihm kam der Gedanke, es müsste für alles eine tiefere Begründung geben. Dem wollte er nachgehen. Mit dem Wegträumen war es nicht mehr getan. Es half nicht mehr.

So wuchs in ihm eine bestimmte Einstellung oder Stimmung, sich auf philosophische Fragen einzulassen. Es war eine Art illusionsloser Sinnsuche. Philosophieren heißt am Ende nichts anderes als Anfänger sein, las er irgendwo. Was war mit diesem Lob des Anfangens gemeint? Doch wohl dies: Mitten aus dem Leben heraus gilt es den Punkt zu entdecken, womit alles Philosophieren beginnt. Eine bestimmte, existentielle Grundsituation, die nach einer Erklärung verlangt. Er brauchte sich also in kein philosophisches System einarbeiten, kein großartiges Gedankengebäude errichten. Betrachte die jeweiligen Philosophien nicht als die ‚Wahrheit‘, sondern wie ein besonderes Land, in dem sich umhergehen lässt, als Land mit einem je eigenen, besonderen Licht. Er musste sich nur einer bestimmten Stimmung überlassen, einer Mixtur aus Angst, Sorge, Staunen und Neugier. Es waren dies Grundstimmungen, die er nur zu gut aus eigenem Erleben kannte.

Natürlich trieb ihn vor allem die Sorge um seine Zukunft um. Damit war mehr gemeint als die tägliche Sorge um dies oder jenes Anliegen. Sorge, las er, ist ein Grundmerkmal des menschlichen Daseins; im Sinne von Besorgen, Planen, Bekümmern, Berechnen, Voraussehen. Dabei ist immer auch ein Zeitbezug im Spiel. Es geht um Künftiges, noch Unbestimmtes, das es auszufüllen gilt. In einem der philosophischen Texte hieß es: Sorgend kann nur ein Wesen sein, das einen offenen und unverfügbaren Zeithorizont vor sich sieht, in den es hinein leben muss. Wir sind sorgende und besorgende Wesen, weil wir den nach vorne offenen Zeithorizont ausdrücklich erfahren. Sorge ist nichts anderes als gelebte Zeitlichkeit.

Diese Ausführungen beherrschten fortan sein Denken und führten zu einer Reflexion über das Phänomen Zeit, die angeblich vergeht. Aber ist es nicht die sogenannte ‚Gegenwart’, die immerzu in die Zukunft abrollt und hinter sich mehr und mehr Vergangenheit erzeugt? Denn, wenn die Zeit wirklich vergeht, wer kann sagen, wie schnell sie vergeht? Auch wenn man sagt, die Zeit verfliegt, bekommt man es sofort mit einem Paradoxon zu tun. Was ist, wenn es in Wirklichkeit gar keine Bewegung gibt?

So war es ihm oft vorgekommen. Nichts bewegte sich. Alles schien stillzustehen. Das war ja das Grundgefühl, das er lange gehabt hatte und das ihn so sehr beunruhigt hatte. Was ist, fragte er sich, wenn sich alles nur in der Gegenwart abspielt oder das, was wir Gegenwart nennen, in Wahrheit unendlich ausgedehnt ist und nie in dem Sinne vergeht, wie unser Verstand das Verb vergehen bisher verstanden hat, so dass nicht nur das ganze Leben, sondern jede einzelne Sekunde dem menschlichen Verstand unvorstellbar bleibt und wir es weder zu schildern, noch zu rechtfertigen in der Lage sind, weil, sobald wir es versuchen, die Zeit schon wieder vergangen ist? Sind es nicht lauter Augenblicke, die sich da aneinanderreihen und wir nur aus Gewohnheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft reden?

Es waren lauter Fragen, die er nicht zu beantworten vermochte. Aber mit dem Fragen, heißt es, fängt alles Philosophieren an, und er spürte, dass er sich auf einem Weg befand, den er weiter gehen musste. Und zu seiner eigenen Überraschung spürte er keinerlei Anstrengung, solange er sich mit diesen Dingen befasste. Im Gegenteil. Es erregte ihn, sich mit derartigen Gedanken zu beschäftigen. Mit dem fundamentalen Hinweis darauf, dass die menschliche Existenz zeitlich ist, dass wir nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung haben, wurde etwas ausgesprochen, über das er selbst schon einige Male nachgedacht hatte. Ja all das, was ihn jetzt derart intensiv erregte, hatte mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun. Er hatte sie nur nicht so zu formulieren vermocht. Jetzt, wo er sich mit diesen Fragen auf eine neue Weise beschäftigte, erkannte er, dass es galt, eine unhintergehbare Daseinsbedingung zu begreifen: die der Zeitlichkeit allen Lebens. Diese Einsicht weckte seine ganze Lebensenergie erneut und machte ihn immun gegen die fahle Ungestimmtheit aus Überdruss und Langeweile, die ihn früher so oft überkam und vor der er in seine Tagträumerei geflüchtet war.

Er besaß seit kurzem ein Bändchen mit philosophischen Texten, in dem er jetzt immer öfter las. Dort hieß es: Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bisschen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich grade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann.

Und über die Langeweile hieß es: Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, als ohne Leidenschaften, ohne Aufgabe zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung.

Dieser Verzweiflung wollte er sich nicht überlassen. Er kämpfte dagegen an und suchte einen Ausweg. Und dann las er: Was uns frei macht, sind die Dinge, von denen wir erzählen können. Ja, das konnte es sein; dass musste es sein, was er suchte: sich alles aufschreiben, was ihn neuerdings bewegte und sich schreibend von allem frei machen, um ins Leben zu finden. In ein anderes Leben, als er es bisher geführt hatte. Wenn ich schreibe, ist mir, als würde ich mich von einer langen Krankheit erholen. Jedenfalls solange ich schreibe, notierte er.

*

Jetzt sah er plötzlich alles deutlich vor sich: Die alltägliche Betriebsamkeit, die die Menschen so sehr gefangen nimmt, stellt in Wirklichkeit eine Flucht dar. Sie fürchten sich davor, sich einzugestehen, wie es um sie steht; sie vermeiden es, zur Besinnung zu kommen, zum Nachdenken über sich und ihr Leben. Er las viel in diesen Tagen, ziellos oder doch nicht? War es Zufall, dass er just eine Stelle in einem Tagebuch-Roman fand, die seine gegenwärtige Befindlichkeit ziemlich genau zum Ausdruck brachte? Es handelte sich um eine Sammlung von Beobachtungen, Aphorismen und philosophischen Reflexionen. Es war ein pessimistisches Buch über den Sinn des Lebens, dessen Absurditäten und Vergeblichkeiten. Dort hieß es: Was ist es, das das Leben paradox erscheinen lässt? Da ist das leichtfertige Hinwerfen des Lebens einerseits – die Angst um das Dasein andererseits, was einander doch ausschließen müsste. Trotz dieser Einsicht nehmen die Menschen ihr Leben nicht im Geringsten ernst. Das Leben ist paradox. Mindestens zwei Widersprüche auf einmal. Die logische Konstruktion kommt dem Leben, dem, was wir als Wirklichkeit erfahren, nicht einmal nahe. In dieser ‚leben’ wir nicht, wir ‚funktionieren’, nach vorgegebenen gesellschaftlichen Konventionen.

Und er fährt fort: Das realitätslose, funktionale Leben eignet sich nicht als künstlerischer Stoff. Der Autor, ein unbestechlicher Beobachter der zeitgenössischen Lebensweise, kritisiert, dass wir den größten Teil unseres Lebens mit überflüssigen Dingen verbringen; ihm graut vor der sinnlosen Zeitverschwendung. Das morgendliche Aufstehen, meist eine nicht zur Existenz gehörende, unwesentliche Tätigkeit oder Zerstreuung und schließlich wieder der Schlaf oder die nächtliche Schlaflosigkeit. Das Leben verleben, ohne dass man wirklich teilnimmt am Leben, das war es, was tagtäglich den meisten geschieht, die es aber dennoch als ihr Leben betrachten.

Diesem unpersönlichen Schicksal, ein entfremdetes, weil fremdbestimmtes Leben zu führen, versuchte er zu entkommen, wohl wissend, dass auch er ständig in der Gefahr war, dass ihm sein Leben immer noch entgleiten könnte. Er empfand eine gewisse Verzweiflung darüber, dass er spürte, dass es damit, dass er um diese Dinge wusste, nicht getan war. Aber wie hatte einer der großen Philosophen geschrieben? Wirklich verzweifelt sind die, die nicht einmal wissen, dass sie Verzweifelte sind. Eine Aussage, über die er lange nachdenken musste, bis er glaubte, sie verstanden zu haben.

Er versuchte, dem Abgleiten ins Unwesentliche etwas entgegen zu setzen. Dieses Etwas musste etwas Kreatives sein, etwas, das nur für ihn von Bedeutung ist. In seinem Fall konnte es nur das Schreiben sein, um bei sich selbst anzukommen. Auch wenn es hieß, dass realitätslose Leben eignet sich nicht als künstlerischer Stoff; dann musste er sich seinen Stoff eben selbst suchen. Vielleicht müsste er einfach anfangen, von sich zu erzählen, sich alles von der Seele schreiben, was ihn bisher gehindert und belastet hatte. Denn im besagten Text hieß es weiter: Das Leben, jedes Leben ist ohne Zweifel ein Erzählen. Und dieses Erzählen hat ohne Zweifel stets ein und denselben Gegenstand: das Leben. Die Künstler verdichten diese Erzählung dann für den, an den sie sich richtet und der sie ohne Zweifel hören will. So ist jedes Leben ein Beispiel, und jedes Leben muss als Beispiel gelebt werden. Jedes Leben richtet sich an jemanden, und insofern – und nur insofern – ist es ein sinnvolles Leben, wenn auch den Sinn des Lebens selbst völlige Finsternis umgibt. An anderer Stelle fährt er fort: Es kommt nicht darauf an, das Leben zu verstehen; wir müssen es leben.

Über sein eigenes Schreiben sagt er: Vor allem das Schreiben als reine Privatangelegenheit begreifen, mich nicht nur von der Hoffnung, sondern sogar von der Hoffnungslosigkeit völlig frei machen. Das könnte es sein. Sich von keinem äußeren Einfluss beeindrucken lassen, sondern einfach beginnen. Denn wer schreibt, ist nie mehr allein.

*

Er begriff jetzt deutlicher, dass seine Distanz zur Alltagswelt die Voraussetzung dafür war, dass sich überhaupt so etwas wie eine eigene Individualität bei ihm ausbilden konnte. Als würde durch das Eintauchen in das, was er seine innere Welt nannte, erst die Möglichkeit entstehen, seine Gefühle, Sehnsüchte, Erinnerungen oder Träume zu reflektieren oder ganz einfach: zu befragen. Es kam ihm vor, als würde er sein Inneres dadurch bereichern. Er war sich klar darüber, dass die Einsichten, zu denen er mehr und mehr gelangte, durchaus zwiespältig auf ihn wirkten: sie lösten Angst aus, die Angst vor einem Kontingenzschock, weil plötzlich alles offen und unbestimmt erschien. Und es konnten sich Abgründe auftun, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte. War das nicht genau die Zustandsbeschreibung für die Situation, in der er sich befand? Er spürte die existentielle Dimension, die das alles für ihn hatte. Es könnte sich erweisen, dass hinter dem, was er suchte, das Nichts lauert; die große, gähnende Leere. Die Angst davor hatte ihn immer schon umgetrieben, aber er hatte nie so recht gewusst, woher sie rührte. Jetzt wurde ihm klar: es war die Angst vor einem anderen Leben, als er es bisher geführt hatte, das ihm plötzlich in seiner ganzen Kontingenz gegenwärtig wurde; d.h.: es bestand die Möglichkeit, dass die Dinge ganz anders beschaffen waren, als er sie wahrnahm, ja, dass er einer großen Selbsttäuschung erlag.

Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm: er musste dieses Risiko eingehen; einen anderen Ausweg gab es nicht. Er konnte nicht mehr zurück; es war unvorstellbar für ihn, sich in sein früheres Leben wieder einzuleben. Damit war es endgültig vorbei. Er musste aufs Ganze gehen. Es musste ihm gelingen, seine Angst zu überwinden, indem er sich intensiv mit ihr beschäftigte. Die Analyse der Angst könnte so gewissermaßen eine Erkenntnis fördernde Funktion haben. Aber nur dann, wenn er sich radikal der Angst auslieferte, sich sozusagen selbst einen Schrecken einjagte, sich in einen Zustand der Unbehaustheit zurück versetzte, um von diesem Ausgangspunkt den Blick frei zu bekommen für das Bewusstsein seiner endlichen Existenz.

Nur unter dieser Voraussetzung wird es mir möglich sein, die Intensität des Daseins zu steigern, sagte er sich. Und darum musste es schließlich gehen: um Intensitätssteigerung. Sein neues Credo musste lauten: Tu, was du willst, aber entscheide dich selbst und lass dir von niemandem die Entscheidung und damit auch die Verantwortung abnehmen.

Er befand sich auf dem Weg, sich eine völlig neue Sicht auf die Dinge zu verschaffen. Früher, wenn er über sein Leben nachdachte, hatte er alles auf ein in der Ferne liegendes Ziel gerichtet, wenn man überhaupt von einem Ziel sprechen konnte. Meist waren es fromme Wünsche oder diffuse Sehnsüchte, die ihn umtrieben. Er schob alles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn man so will. Jetzt sagte er sich: Vertage nichts mehr; lebe für den Augenblick. So etwas wie Zukunft gibt es gar nicht; es gibt nur Gegenwart. Alles, was dich umgibt und auf dich einwirkt, ist einfach da. Nimm es so, wie es sich dir darbietet und mache das Beste daraus. Das machte den Reiz dieser neuen Erkenntnisse aus: sie entsprangen dem Leben. Du bist nichts anderes als dein Leben, sagte er sich. Du bist, was du aus dir machst. Ja – du bist, was du willst. Jetzt blieb ihm nur noch, den Weg konsequent weiterzugehen.

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Das Grundgefühl, nur zeitlich begrenzt in der Welt zu sein und sich darin zurechtfinden zu müssen, hatte etwas Aufrüttelndes, ja Befreiendes. In einem Text, der bereits vor Jahrhunderten geschrieben worden war, fand er eine Stelle, die ihn in ihrer Aktualität geradezu verblüffte. Offenbar waren es Menschheitsprobleme, mit denen er sich beschäftigte. Das bestätigte ihn nur in seiner Auffassung, den Dingen auf den Grund zu gehen. In dem besagten Text hieß es: