Ortswechsel - Joke Frerichs - E-Book

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Joke Frerichs

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Beschreibung

Kann man seine Lebensgeschichte auch anhand der Orte und Wohnungen schildern, in denen man gelebt hat? Ein Versuch ist es allemal wert. Wir sind im Laufe unseres gemeinsamen Lebens ca. ein Dutzend Mal umgezogen. Und jedes Mal begann in gewisser Weise ein neuer Lebensabschnitt. Man lernte neue Leute und Umgebungen kennen, und oft hatten diese Ortswechsel ihren besonderen Reiz. Davon zeugen Briefe, Tagebuch-Eintragungen und Arbeitsnotizen, und man staunt, wie einen die Ereignisse der Vergangenheit wieder einholen, so dass nach und nach ein Ganzes entsteht, das man Leben nennt.

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Ich war stets ein Wanderer in einem Niemandsland, auf der Suche nach einem festen Platz, von dem aus es mir möglich sein würde, hinter den Horizont zu schauen. Auf diese Weise hoffte ich, den selbstgefälligen, zufriedenen Zeitgenossen zu entkommen.

Inhaltsverzeichnis

Wetzlar: Teutonenweg (1966-1968)

Gießen: Sandfeld (1968-1971)

Gießen: Kirchenplatz (1971-1974)

Bremen: Feldstraße (August 1974-Dezember 1974)

Bremen: Achimer Straße; Hohenpfad (1975-1977)

Bielefeld: Klosterplatz (1977-1979)

Köln: Wormser Straße (1979-1989)

Zimmerschied (1987-2020)

Köln: Bülowstraße 33, Obergeschoss (1989-2000)

Köln: Bülowstraße 33, große Wohnung (seit 2000)

Wilhelmshaven: Werftstraße (seit 2014)

Epilog

Angaben zum Autor

Kann man seine Lebensgeschichte auch als eine Abfolge von Wohnungswechseln erzählen? Und welche Einflüsse, Umstände, Ereignisse, die das eigene Leben bestimmen, lassen sich daran zeigen? Seit Jahren reizte es mich, diesem Hinweis eines erfahrenen Schriftstellers nachzugehen. Mit einem Wechsel der Wohnungen, zumal, wenn sie mit einem Umzug in eine andere Stadt verbunden sind, verändern sich die Lebensumstände. Manchmal kam es mir dabei vor, als würden die neuen Orte auch die Vorstellungen vom Leben verändern. Es entstehen neue Lebensräume, die es auszufüllen gilt. Im Gegensatz zum Kontinuum der Zeit ist der Raum weit, birgt etwas Unstetiges, Veränderliches, Unbekanntes; ermöglicht das Ausbrechen aus den bisherigen Alltagsgewohnheiten, um sich neu zu erfinden.

Meine erste Erfahrung dieser Art machte ich, als ich mich entschlossen hatte, meine Berufstätigkeit aufzugeben. Für mich begann eine Zeit des Aufbruchs. Meine Gemütszustände wechselten zwischen blinder, fiebriger Suche und banger Ungewissheit. In der Suche kam die Sehnsucht nach einem anderen, intensiveren Leben zum Ausdruck, dem noch die Konturen fehlten. In der wehmütigen Stille der Ungewissheit die Zweifel darüber, noch nicht so recht zu wissen, wohin der Weg führen würde, den ich eingeschlagen hatte. Obwohl sich die beiden Extreme meiner Gefühlswelt nicht im Gleichgewicht befanden, gab es da etwas, das ständig in Bewegung zu sein schien: man könnte von einer latenten Bereitschaft zum Überschwang sprechen.

Enthusiasmus wäre vielleicht der passende Begriff für meinen damaligen Gemütszustand. Die Bedeutung dieses Wortes ist sehr spezifisch: Ursprünglich bezeichnete es einen Zustand, in dem jemand eine schöpferische Inspiration erfährt. Aber im Enthusiasmus gibt es auch eine Unterströmung der Angst vor der Ernüchterung, vor dem Ende der traumwandlerischen Zuversicht. Das in etwa war die Stimmung, die mich seinerzeit erfasste. Bisher war mein Leben durch berufliche Anforderungen fremdbestimmt gewesen. Jetzt war ich auf mich allein gestellt. Sobald die Zweifel überhand zu nehmen drohten, sagte ich mir: Du hast eine Entscheidung getroffen, jetzt mache etwas daraus.

Wetzlar: Teutonenweg (1966 bis 1968)

Ich war zwanzig Jahre alt, als ich mich entschloss, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachzuholen. Der Entscheidung war ein langer, oft schmerzhafter Prozess des Nachdenkens vorausgegangen. Ich verließ mein Herkunftsmilieu und wusste, dass es kein Zurück geben würde. Viele Möglichkeiten gab es damals nicht. Ich hatte die Wahl zwischen Paderborn und Wetzlar. Ich entschied mich für das Hessen-Kolleg in Wetzlar. Dem Kolleg war kein Wohnheim angeschlossen, so dass ich mich privat einmieten musste. Ich fand ein möbliertes Zimmer bei einem älteren Ehepaar.

Zum ersten Mal hatte ich ein Zimmer für mich allein. Die Einrichtung bestand aus einem Küchentisch mit zwei Stühlen, einer Vitrine, dem Bett und einem Waschbecken. Anfangs lag ich stundenlang auf dem Bett, genoss meine neu gewonnene Freiheit und döste vor mich hin. Vom Bett aus schaute ich auf die Vitrine, in der ich meine wenigen Bücher untergebracht hatte. Darunter: Karl Jaspers über Platon, Augustin und Kant;zwei Bände mit Werken von Heinrich Heine; Die Nachtwandler von Arthur Koestler; die Frühschriften von Karl Marx; eine Textsammlung von Friedrich Nietzsche; die Psychologie im Leben unserer Zeit von Charlotte Bühler und Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel von Theodor Geiger. Mein geistiges Eigentum, wenn man so will. Ich hatte sie als Mitglied einer wissenschaftlichen Buchgesellschaft erworben. Gelesen hatte ich noch keines der Bücher. Die wenigen Versuche hatte ich abgebrochen. Mir wurde klar, dass ich sie ohne Anleitung kaum verstehen würde. Jetzt war die Zeit gekommen, dies nachzuholen; ich hatte endlich einen eigenen Raum und die Gelegenheit dazu.

Zu den Gegenständen, die ich von Zuhause mitgebracht hatte, gehörte eine Reiseschreibmaschine, ein Radio und ein Tonbandgerät. Ich hatte sie mir während meiner Lehrzeit angeschafft. Vor allem das Tonbandgerät sollte sich später als überaus nützlich erweisen. Um mir die lateinischen und englischen Vokabeln einzubläuen, hatte ich sie mir aufs Band gesprochen. Jeden Morgen beim Frühstück hörte ich sie ab. Auf diese Weise lernte ich sie gewissermaßen ganz nebenbei. Und mein Tonbandgerät bot mir noch einen weiteren Luxus: ich hatte alle Beethoven-Sinfonien aufgenommen und konnte sie mir immer wieder vorspielen, so dass ich sie mit der Zeit in- und auswendig kannte.

*

Der Unterricht am Kolleg interessierte mich nur mäßig. Ich nutzte jede Gelegenheit, mir eine Auszeit zu nehmen. Ich blieb morgens im Bett liegen, täuschte eine Magenverstimmung vor, und meine Wirtin, eine Urbayerin, versorgte mich mit einem Teller Haferschleim, einem Kamillentee und ließ mich ansonsten in Ruhe.

Ich verbrachte die Zeit damit, zu lesen, was mich interessierte. Ich las alles andere als systematisch. Ich war ein langsamer Leser. Ich las nicht viel, aber intensiv. Eine Lektüre sprach mich umso mehr an, als ich mich mit dem Stoff oder den Figuren identifizieren konnte. Entweder, dass ich sie mit eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen konnte, oder dadurch, dass sie meine Phantasie weckten. Auf diese Weise wurde die Beschäftigung mit Literatur allmählich zu einer Art Lebenshilfe. Mehr und mehr empfand ich das Lesen als eine Form des Glücks.

Ich unterbrach das Lesen durch Phasen des Kurzschlafes. Anfangs hatte ich manchmal das Gefühl, ich hätte den Schlaf von Jahren nachzuholen. Ständig überkam mich eine geradezu schmerzende Müdigkeit, sobald ich einen längeren Text las oder mich anderweitig anstrengte. Ich entwickelte eine Technik des Lesens. Ich las etwa eine Stunde; dann schlief ich einige Minuten. Dieser Rhythmus ließ sich über längere Zeit durchhalten. Ich las nur, wenn ich völlig ausgeruht und konzentriert war, mit der Folge, dass sich mir das Gelesene tief einprägte. Bei einem Buch zu verharren, das war, als würde sich eine neue Welt für mich auftun, als würde ich eine mir unbekannte Landschaft erwandern.

Ich erinnere mich an die Lektüre der Theorie des Romans von Georg Lukács, dessen Anfang mir wie eine Offenbarung vorkam: Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus.

*

Wetzlar hatte eine Fülle an Reizen zu bieten, die mir wohl taten. An der Lahn gelegen, ist die Stadt von Mittelgebirgen umgeben. Die Altstadt besteht aus liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern, in deren Mitte sich der Dom befindet. Ich wohnte im oberen Teil der Stadt. Von meinem Zimmer aus schaute ich auf einen Spitzturm, der sich auf einer Anhöhe befand; im Volksmund Bleistift genannt. Ich bin oft zu ihm hochgestiegen, um die Aussicht auf die Stadt zu genießen. Man schaut von oben auf die Altstadt, die Lahn und die umliegende Gebirgslandschaft, und ich stellte mir vor, wie einst Goethe in seiner Wetzlarer Zeit diese Eindrücke erlebt haben mag. Diese fiktive Szene habe ich wie folgt beschrieben:

Goethe hatte als junger Mann einige Zeit in der Stadt verbracht. Hier hatte er seinen Werther geschrieben, über die Erfahrung einer unglücklichen Liebe. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es Goethe damals ergangen sein mochte. Über den Goethe dieser Zeit hatte ich in einer Abhandlung gelesen: ‚Er besitzt eine ganz außerordentlich lebhafte Einbildungskraft. Er ist in seinen Affekten heftig. Er hat eine edle Denkungsart. Er ist ein Mensch von Charakter. Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Äußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Er tut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhasst.’

Auch Goethe war in seiner Wetzlarer Zeit noch kein fertiger Mensch gewesen; auch er war auf der Suche nach lebensleitenden Prinzipien. Er hatte es sich selbst und anderen nicht leicht gemacht; konnte ausgelassen lustig und im nächsten Moment melancholisch sein. Goethe war mir in diesen Momenten ganz nah. Ich las den Werther und fühlte mich als Teil eines übergreifenden Kontinuums.

*

Meine Büchersammlung wuchs rasch. Mein Studien-Kollege Peter Stockbauer versorgte mich mit Büchern, und in einem Antiquariat in der Altstadt beschaffte ich mir weitere, die mich interessierten. Nahezu jede Lektüre regte eine neue an. Gerne las ich die Bände aus der rororo-Enzyklopädie; z.B. über Camus, Benn, Brecht, Büchner u.a. Ich versuchte, Bezüge zwischen den Texten herzustellen. Auf diese Weise kamen Lernprozesse zustande, die denen eines Dilettanten gleichkamen. Diese widmen sich bekanntlich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einer Sache, ohne Rücksicht auf externe Zwecke. Ich genoss den Zustand des zweckfreien Lesens, lag dabei am liebsten auf meinem Bett und verfiel immer wieder in einen tiefen Schlummer, sobald eine Lektüre mich erschöpft hatte.

Ebenso erging es mir, wenn ich Musik hörte. Ich sog sie tief in mich ein. Mein Bestand an Tonbandaufnahmen war beträchtlich gewachsen, und mittlerweile konnte ich mir die Musik aussuchen, die zu meiner jeweiligen Stimmung passte.

Ich genoss meine neuen Lebensumstände in vollen Zügen und verließ mein Zimmer kaum. Nach dem Unterricht am Kolleg zog ich mich in meine Höhle zurück und vertiefte mich in meine Bücher und Musik.

*

Erst Monate später begann ich, die nähere Umgebung zu erkunden. Innenwelt und Außenwelt gingen auf diese Weise eine Verbindung ein. Das Haus, in dem ich wohnte, lag in der Nähe eines großen Waldgebietes. Ich durchwanderte es kreuz und quer, genoss die gute Luft und erfreute mich an den Aussichten auf die nahegelegenen Mittelgebirge Taunus und Westerwald. Damals habe ich einen Sinn für Landschaften entwickelt. In eine Landschaft einzutauchen, ihren spezifischen Reiz zu entdecken, das war eine neue Erfahrung für mich. Alle Sinne wurden angesprochen und belebt. Man war plötzlich ein Anderer. Auch die Stille tat mir gut. Ich begann, Pflanzen und Tiere wahrzunehmen und sinnierte über all die Dinge, die mich im Alltag beschäftigten.

Die Wetzlarer Altstadt mit ihren engen Gassen und liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern hat ihren besonderen Reiz. Auf meinem Weg zum Antiquariat passierte ich die Pariser Gasse, die Goethestraße, bog ab zur Lottestraße und kam auf die Pfaffengasse, von wo aus ich noch gern einen Abstecher zur Lahn hinunter machen konnte, um dem Rauschen des kleinen Wasserfalls an der Lahnbrücke zuzuhören.

Am Eisenmarkt befand sich das Café zur Alten Münz, ein beliebter Treffpunkt der Kollegiaten; ebenso wie der Rote Salon, eine Mischung aus Café und Bar. Dort diskutierten wir damals bis in die Nacht über die Aufstände in Paris, Berlin und anderen Großstädten der Welt. Stella, die Chefin und die Barmädchen Sascha und Irma gestatteten uns, mit einer Flasche Cola die Zeit zu verbringen; hin und wieder veredelt als Cuba Libre.

Die politischen Ereignisse überschlugen sich. 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen das Schah-Regime erschossen. 1968 erfolgte das Attentat auf Rudi Dutschke. Die Hetze der Springer-Presse tat ihre Wirkung. Die Medien und Politiker taten alles, um den wahren Hergang der Ereignisse zu verschleiern. Das sorgte auf Seiten der Studenten für Empörung und gab der Studentenrevolte erheblichen Auftrieb.

*

Es waren nicht nur die politischen Großereignisse, die uns in den Bann schlugen. Auch für mich persönlich war es eine Zeit ständiger Herausforderungen; eine permanente Gratwanderung zwischen Absturz und Gelingen. Ich musste mit dem wenigen Wissen auskommen, über das ich verfügte, d.h.: ich musste es so geschickt wie möglich kombinieren, um über die Runden zu kommen. Ein Beispiel:

Wir mussten eine Klausur über die Entstehung der griechischen Demokratie schreiben, die große Zeit des Perikles. Ich kannte nicht viel mehr von ihm als seine Lebensdaten. Mangels präzisen historischen Wissens schrieb ich relativ allgemein über die Bedeutung demokratischer Prozesse für die Stabilisierung des attischen Gemeinwesens; über die Einführung eines verbindlichen Rechtssystems und einige kulturelle Errungenschaften dieser Zeit. Ich nutzte meine formalen Kenntnisse der Staats- und Rechtskunde, die ich während meiner Lehrzeit erworben hatte, um sie jetzt dem Wirken des Perikles zuzuschreiben. Meine aus der Not geborene Metabetrachtung verfing; der betreffende Lehrer ließ sich von meiner Darstellung blenden, und ich kam damit durch.

Später schrieb ich eine Semesterarbeit über die Charaktereigenschaften Don Quichotes und Hamlets. Mein Deutschlehrer Manfred Peter, ein Kenner der europäischen und insbesondere der spanischen Kultur, hatte mich zu der Arbeit angeregt. Ich vertiefte mich so sehr in die Texte, dass ich den Zeitpunkt der Abgabe versäumte. Mein Lehrer gewährte mir eine Nachfrist. Wie im Rausch schrieb ich damals meinen Text, und im Laufe der Jahre habe ich ihn immer wieder einmal gelesen. Dort heißt es u.a.:

Die Beschäftigung mit zwei so überaus konträren Charakteren der Weltliteratur führt zu der Frage, was deren Bedeutung für die heutige Zeit ausmacht. Sie repräsentieren verschiedene Seiten des erwachenden Subjekts der Moderne und dessen Auseinandersetzung mit Problemen der neuen Zeit. Es ist die Zeit – wie Georg Lukács in seiner ‚Theorie des Romans’ schreibt – in der der Gott des Christentums die Welt zu verlassen beginnt und das Individuum sich der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit’ ausgesetzt sieht und eine neue Heimstatt für seine heimatlos gewordene Seele sucht.

Cervantes gelingt es, die Eigenschaften einer ganzen Nation in der Figur des Don Quijote zu vereinigen. Er ist der ewige Typus des heroischen Individuums, das auf schmerzliche Weise erfahren muss, dass die Realität ihrem innersten Wesen nach immer enttäuscht, weil sie eigentlich das Unwirkliche ist. Daher versucht Don Quichote, die krude Realität zu ignorieren, sie einfach nicht anzuerkennen. So werden wir Zeugen eines verzweifelten, weil aussichtslosen Kampfes: Don Quijote wird der erste große Roman der Weltliteratur.

Auch Shakespeare erlebt eine Epoche, in der England an der Schwelle zur Neuzeit steht. Den wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen entspricht im geistigen und moralischen Bereich eine Krise ohnegleichen. Der Mensch der sogenannten englischen Renaissance, ist eine Kreuzung aus einem zähen und umsichtigen Sachlichkeitsmenschen und einem wilden und tollkühnen Abenteurer. Er steht an der Wiege des englischen Kapitalismus. Unter der Oberfläche dieser Umwälzungen spielt sich das Drama der Nation ab, aus dem Shakespeare die wesentlichen Motive seines Werkes schöpft: der klaffende Widerspruch zwischen den bis dahin gültigen religiösen Normen und der neuen, von bloßer Machtgier geleiteten irdischen Ordnung.

Was bleibt uns von diesen beiden großen Werken der Weltliteratur? Trotz aller Zeitbedingtheit ihres Entstehens zeigen sie uns, dass der Mensch in existentiellen Konflikt- und Entscheidungssituationen auf sich selbst zurückgeworfen ist. An den Figuren des Don Quijote und Hamlet lassen sich zwei unterschiedliche Handlungstypen festmachen: Während Don Quijote, von seinem Ideal beseelt, keinen Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns aufkommen lässt, verkörpert Hamlet ein Maß an Reflexivität und Zweifel, dass es ihm unmöglich erscheinen lässt, am Erfolg oder Sinn seiner Handlungen zu glauben. Man möchte unserer Epoche etwas mehr von der Nachdenklichkeit Hamlets, aber auch vom Optimismus Don Quijotes wünschen.

*

Meine Arbeit erregte am Kolleg eine gewisse Aufmerksamkeit. Ebenso wie ein Artikel in der Wetzlarer Zeitung über die Motive der Studenten und ein Aufsatz zur Russischen Revolution, der unter den Kollegiaten verteilt wurde. Meine Kenntnisse bezog ich vor allem aus der Lektüre des Buches Von Marx zur Sowjetideologie von Iring Fetscher. Durch die Lektüre erwachte mein Interesse am Marxismus, und mit Begeisterung las ich zunächst die Frühschriften von Marx, die mich vor allem wegen ihrer blumigen Formulierungen ansprachen. Es war der Beginn meiner Marx-Studien, die ich seither kontinuierlich weiterführte.

Für meine mündliche Abitursprüfung hatte ich das Thema Probleme des Marxismus, heute gewählt. Ich referierte das gleichnamige Buch von Henri Lefèbvre, eine Wahl, die ich mit einem Zitat Lefèbvres begründete:

Es handelt sich nicht um eine Schulphilosophie, sondern um eine wirksame Theorie von Weltdeutung. Sie dringt in die Ereignisse, in die Gegenwart, ins Leben ein. Ihre gegenwärtigen Probleme haben Aspekte, die jedermann zugänglich sind.

Ich galt seither als Marx-Experte. Am Kolleg gründete sich eine Marx-Arbeitsgruppe, an der interessierte Kollegiaten und Lehrer teilnahmen; selbst der Direktor, ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD. Ich leitete die AG noch eine zeitlang; auch als ich bereits in Gießen studierte.

*

Mein Klassenlehrer Manfred Peter war mir während der gesamten Kollegzeit ein lebendes Vorbild; an ihm orientierte ich mich. Er stammte ebenfalls aus dem Arbeitermilieu, hatte in Frankfurt bei Adorno und Carlo Schmidt studiert und verkörperte eine Mischung aus Tatkraft und Intellektualität, die mir imponierte. Bei aller Nachdenklichkeit versprühte er gleichzeitig Zuversicht. Vielleicht war es das, was mich anzog. Wir teilten die Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen. Aber nichts desto trotz nahmen wir Partei für die Anliegen der Studenten, denen es ernst war mit dem Versuch, die restaurativen Verhältnisse zu verändern. Das brachten wir auch in unseren Abitursreden zum Ausdruck; er sprach für die Lehrer, ich für die Kollegiaten. Wir kritisierten die bestehenden Verhältnisse auf das Schärfste, was für einen mittleren Skandal sorgte. Mein Lehrer ging anschließend nach Kolumbien.

Als er mir die Mitteilung machte, schrieb ich ihm zum Abschied einen sehr emotionalen Brief. Ja, Sie müssen gehen. Die Zeit drängt. Wir haben uns noch so viel zu sagen. Gott sei dank! Das Schreiben genügt nicht, aber es hilft. Das Gefühl des Schmerzes will nicht weichen. Also muss die Kunst her. Der Brief ist voller Zitate von Dichtern und Künstlern, über die wir uns so oft unterhalten hatten.

Ich dachte daran, wie oft mich sein Lachen ermuntert hatte und zitierte eine Stelle von Albert Camus, die dieser kurz vor seinem tödlichen Unfall geschrieben hatte: Weint nicht, nein, ihr sollt nicht weinen! Erinnert euch an sein Lachen. Zuweilen lachte er ohne Grund. Jetzt lacht er gewiss. Bestimmt lacht er, das Gesicht an die Erde geschmiegt.

Und ich zitierte Federico Garcia Lorca, einen seiner Lieblingsdichter, den ich durch ihn kennengelernt hatte: Ich bin nicht verträumt. Ich habe oft und kühl durchdacht, was ich sage. Ich weiß, dass der recht hat, der ‚morgen, morgen, morgen’ sagt und das neue Leben kommen fühlt, das über der Welt schwebt.

Ich nahm noch einmal Bezug auf unsere zahlreichen Gespräche über Miguel Cervantes und seinen Don Quichote und verabschiedete mich von ihm: Worte bleiben, Worte, die von den Blättern steigend und menschlich werden, die sprechen, schreien, weinen und verzweifeln und deshalb leben werden. Wir werden lernen, uns an sie zu halten, so wie Sie es uns gelehrt haben. Aber ohne Sie wird es schwerer und dunkler sein, aber jetzt müssen wir uns zusammennehmen: Der, der uns das ‚Aufrechtgehen’ gelehrt hat, sucht selbst seinen Weg!

Wir hielten Briefkontakt zueinande, und uns verband eine jahrzehntelange Freundschaft. Sobald er wieder im Lande war, besuchten wir uns einige Male. Einmal fragte ich ihn, warum es in Südamerika angesichts der sozialen Verhältnisse zu keiner Revolution kommt. Er antwortete lapidar: Lesen Sie die ‚Hundert Jahre Einsamkeit’ von Gabriel Maria Márquez.

In seinen letzten Briefen sprach er des Öfteren vom Tod. Er hatte eine schwere Operation an der Wirbelsäule überstanden, und auf meine Sorge um seine Gesundheit schrieb er: Was soll uns passieren. Wir bleiben immer verbunden. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, ob er in Spanien oder Kolumbien ist und ob er überhaupt noch lebt.

*

Von lebensgeschichtlich entscheidender Bedeutung für mich war, dass ich in dieser Zeit meine große Liebe fand; eine Liebe, die mich regelrecht beseelte. ‚Beseelt’ ist das richtige Wort: sie erfasste mich ganz und gar, und alles, was bis dahin Leere, Langeweile oder ein Gefühl der Verlorenheit oder des Unverstandenen war, verkehrte sich ins Gegenteil. Mich überkam ein nie gekannter Lebensantrieb. Plötzlich schien alles, was vorher belanglos oder nichtig war, von Bedeutung.

In einem frühen Brief zitiere ich Thomas Mann, der mein neues Lebensgefühl nahezu perfekt zum Ausdruck bringt. Dort heißt es: ‚Er verließ die Vertrauten seiner Jugend, das Meer, seine Heimatstadt und fand keinen Schmerz dabei. Denn er hatte begriffen, was für eine Bewandtnis es mit ihm hatte, und war voller Spott für das plumpe, niedrige Dasein, das ihn so lange in seiner Mitte gehalten hatte.

Er ergab sich ganz der Macht, die ihm als die erhabenste auf Erden schien, zu deren Dienst er sich berufen fühlte – der Macht der Liebe, die lächelnd über dem unbewussten und stummen Leben thronte.

Mit seiner jungen Leidenschaft ergab er sich ihr, und sie lohnte ihm mit allem, was sie zu schenken hatte. Sie schärfte seinen Blick und ließ ihn die großen Worte durchschauen, die der Menschen Brust blähen, sie erschloss ihm der Menschen Seelen und seine eigene, machte ihn hellsehend und zeigte ihm das Innere der Welt und alles Letzte, was hinter den Worten und Taten ist’.

Gerade in unserer Anfangszeit schrieben wir uns viele Briefe, in denen der Enthusiasmus und das Pathos unserer jungen Liebe zum Ausdruck kommen. Sie vermitteln eine Art Unterströmung der Ernsthaftigkeit, denn bei allem emotionalen Überschwang wussten wir, dass wir uns auf eine lange Reise begeben hatten. Dass wir viel Zeit füreinander brauchen würden, um die von uns erträumte Synthese aus Liebe, Kunst und Leben zu verwirklichen.

Petra und ich besuchten beide das Kolleg; wir nahmen einander wahr, hatten aber nie miteinander gesprochen. Das änderte sich, als ich im Stone Age, einem Kellerlokal, in dem Schüler und Studenten verkehrten, ein Referat über die chinesisch-russischen Beziehungen hielt. Das Thema war damals aktuell und mein Lateinlehrer am Kolleg, der zugleich Vorsitzender der Jusos war, hatte mich zu dem Referat überredet. Ich war informierter Zeitungsleser; mehr aber auch nicht. In aller Eile las ich das umfangreiche Buch Moskau und Peking von Klaus Mehnert und bastelte mir einige Thesen zusammen. Meine Hauptthese war, dass China aufgrund seiner kulturellen Prägungen einen eigenständigen Weg zum Kommunismus einschlagen und alles daran setzen würde, von Moskau unabhängig zu sein. Der Sachverhalt wurde ausgiebig und kontrovers diskutiert, und ich kam einigermaßen gut über die Runden.

Das Lokal war überfüllt, und auch Petra war gekommen. Ab diesem Zeitpunkt unterhielten wir uns des Öfteren. Wir hatten den gemeinsamen Schulweg, und eines Tages lud ich sie zu einem Konzert ein: Beethovens 5. Sinfonie. Anschließend gingen wir zum Äppelwoi-Becker, einem Wetzlarer Traditionslokal, wo wir reichlich vom herben hessischen Apfelwein genossen. Seit diesem Zeitpunkt waren wir unzertrennlich. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, und vielleicht liegt darin das Geheimnis unserer Beziehung bis heute: Wir hatten die gleichen Interessen, und das gab uns die Möglichkeit, uns gemeinsam zu entwickeln.

Gießen: Sandfeld (1968 bis 1971)

Nach dem Abitur zog ich nach Gießen, wo ich mein Studium der Soziologie, Philosophie und Germanistik begann. Möglich war mir dies, weil ich ein sog. Hochbegabten-Stipendium der gewerkschaftlichen Stiftung Mitbestimmung erhielt.

Ich bezog ein geräumiges Zimmer in einem Haus am Rande der Stadt, in dem überwiegend Studenten wohnten. Die Ausstattung meines Zimmers bestand aus einem alten Schreibtisch, Liege, einem Bücherregal und einem kleinen, runden Tisch. Toilette und Dusche befanden sich auf dem Flur. Mein Zimmer lag im Obergeschoß, von wo aus ich das angrenzende Wohngebiet überblicken konnte.

Einiges hatte ich von zu Hause mitgebracht. An Petra schrieb ich: Mutti hat eine ganze Fülle brauchbarer Dinge für uns: ein kleines Bücherregal; ein Bügeleisen; eine Lampe; ein Teeservice und einen Silberlöffel (für Dich); eine weiße Tischdecke; ein elektrisches Kochgerät; eine Pfanne; einen Aschenbecher aus Kupfer und noch anderes, aber ich darf noch nicht alles verraten. Du hättest ihren Eifer sehen sollen, mit dem sie bei der Sache war, vor allem, wenn es um Dich ging. Du gehörst nun untrennbar zu uns, und Mutti hat mich beschworen, Dich glücklich zu machen.

Meine Liebste besuchte mich am Wochenende, und ich fühlte mich auf eine neue Weise herausgefordert: Mein Budget ließ es nicht zu, sie zum Essen einzuladen. Stattdessen musste ich mir nun selbst etwas einfallen lassen: Ich lernte zu kochen. Auf meinem Elektrokocher mit den zwei Kochplatten versuchte ich mich an ersten Phantasiegerichten und gestaltete das dazu gehörige Ambiente. Den kleinen Rundtisch versah ich mit einer weißen Tischdecke, die meine Mutter bestickt hatte. Ich deckte den Tisch, und hin und wieder gehörte auch ein Blumenstrauß dazu. Zur Begrüßung gab es Erdbeersekt und später den unverzichtbaren Lambrusco aus der 2 Liter-Flasche. Meine Kochversuche fanden Anklang und motivierten mich. Seither habe ich Spaß am Kochen, und bis heute bekochen wir uns mit gleichbleibendem Engagement gegenseitig. Man könnte auch sagen: wir beschenken uns damit.

Täglich telefonierten wir. Das war damals gar nicht so einfach. Ich musste etwa zwanzig Minuten zu Fuß zur nächstgelegenen Telefonzelle laufen, die ab 19 Uhr wegen der günstigeren Tarife meist besetzt war. Unsere Gespräche waren wegen der Gebühren meist sehr kurz, aber uns waren sie wichtig. Und ich begann, Gedichte zu schreiben, um die Zeiten der Trennung zu überbrücken. Davon zeugen auch die vielen Briefe dieser Zeit, die unsere Stimmungslage dokumentieren. Darin heißt es einmal: Ich will Dir nicht vom Schmerz schreiben, den ich jedes Mal aufs Neue empfinde, wenn ich Dich gehen lassen muss. Dir wird es ebenso gehen. Es ist mir ein Bedürfnis, Dir zu schreiben, um etwas von der Freude und der Wärme in Deinen Alltag zu bringen.

Und noch ein Briefdokument zeugt davon, wie schwer uns das zeitweilige Getrenntsein fiel. Ich war zu einem kurzen Aufenthalt nach Hause gefahren, während Petra an ihrer Semesterarbeit am Kolleg arbeitete. Um die Wartezeit zu überbrücken, fuhr sie nach Gießen, um in meinem Studentenzimmer zu verweilen. Von diesem Besuch schrieb sie mir: Allein hier ist der Ort, wo Du, mein Alles, mir so unendlich nahe bist. Ich spüreDich in jedem Winkel dieses, unseres Reiches. Ach, das ganze – sonst so trostlos erscheinende – Viertel ist von Deiner Gegenwart infiziert. Als ich die Straßen entlang ging, konnte ich nicht glauben, dass ich Dich hier nicht antreffen werde. Ich rief immer wieder Deinen Namen, und ich kann es nicht verleugnen: Du bist hier! Ich spüre es ganz deutlich. Diesen Ort möchte ich nie wieder verlassen, weil ich nur noch für Dich da sein will.

Welcher Art waren meine Tränen angesichts Deines Briefes, Deiner liebevollen Nachricht, die hier auf mich wartete? Tränen, die zu fließen ich nicht aufhalten konnte? Allein dieses Schreiben versetzt mich in einen wundersamen Zustand und gibt mir eine unbeschreibliche Kraft, die sich über so weite Entfernungen hinwegsetzt.

Glaub mir, mit welcher Freude ich hier ‚nach dem Rechten gesehen’ habe. Meine Bewegungen waren plötzlich so leicht, so schwerelos. Du darfst nicht enttäuscht sein, dass ich mit meiner Semesterarbeit noch nicht begonnen habe. Meine Gedanken waren zu sehr bei Dir, als dass ich mich hätte konzentrieren können. Wenn Du erst wieder hier bist, werde ich loslegen.

Schreib mir, wann ich Dich am Bahnhof abholen kann!

*

Zeugnisse dieser Art gab es noch viele. Die ständigen Trennungen fielen uns zunehmend schwer, und wir sehnten uns danach, endlich zusammen zu sein. Wir entschlossen uns, damit Ernst zu machen und zu heiraten, sobald Petra ihr Abitur absolviert hatte. Zu dieser Zeit ein ungewöhnlicher Schritt, von dem wir uns mehr Unabhängigkeit und Freiheit erhofften.

Wir wohnten zunächst in einer kleinen Wohnung im selben Haus. Ganze 27 qm standen uns zur Verfügung: zwei kleine Zimmer, eine Dusche und ein winziger Flur, in den gerade einmal ein Kühlschrank passte, auf dem die Kochplatte stand. Jeder von uns richtete sich sein Zimmer nach seinem Gusto ein. In meinem Zimmer befand sich ein Esstisch, den ich als Schreibtisch nutzte, eine Liege, ein kleiner Couchtisch, der Kleiderschrank und ein selbst gefertigtes Bücherregal, das mein Klassenlehrer uns geschenkt und eigenhändig aufgebaut hatte. Wir lebten auf engstem Raum, waren aber froh, endlich zusammen zu sein.

Auch finanziell war es eng. Mit 500 DM mussten wir einen Monat lang auskommen; davon gingen allein 220 DM für die Miete ab. Um unsere finanzielle Lage zu verbessern, kellnerten wir abwechselnd in einer Kneipe. Das brachte erfreuliche Zusatzeinkünfte; die Kneipe lag im Bahnhofsviertel; spätabends kamen die Leute aus den umliegenden Bars noch zu einem Absacker vorbei. Dann wurde es spät. Aber diese Klientel war nicht knauserig. Wir bekamen reichlich Trinkgeld, und zumindest unsere monatliche Miete verdienten wir uns auf diese Weise dazu.

In den Semesterferien arbeitete ich in einer Fabrik; in Schichtarbeit. Obwohl ich nur einige Wochen dort gearbeitet habe, waren es doch prägende Eindrücke, die ich mir festgehalten habe:

Ich hatte den Entschluss gefasst, für einige Zeit in einer Fabrik zu arbeiten, um Geld für eine Urlaubsreise zu verdienen. Die Frühschicht begann um 6.00 Uhr; die Tagesschicht um 14.00 Uhr und die Nachtschicht um 22.00 Uhr. Für die Nachtschicht gab es einen Zuschlag. Ich zog die Nachtschicht auch aus einem anderen Grund vor: es war Sommer, und ich liebte es, den ganzen Tag noch vor mir zu haben. Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Fahrrad an einem kleinen Bach entlang; sog die frische Morgenluft begierig auf; lauschte auf den Gesang der Vögel. Die Stadt, die sich vor mir auftat, lag noch friedlich da.

Die Müdigkeit und Erschöpfung, die ich während der letzten Stunden der Nachtschicht empfunden hatte, wich der Freude über den bevorstehenden Tag. Ich würde nach dem Frühstück etwas schlafen und danach mit einem Buch an den See fahren, an dem zur Mittagszeit noch wenig Betrieb war.

Die Szenen der Nacht gingen mir durch den Sinn. Das gleichförmige Stampfen der Maschinen. Der Lärm, nur unterbrochen von den gelegentlichen Kommandos der Vorarbeiter und Meister. Ich sah die Gesichter der Arbeiter vor mir: angespannt, erstarrt und auf seltsame Weise leer. Sie wachten über die Maschinen und hatten dafür zu sorgen, dass ständig Material zur Verarbeitung nachgefüllt wurde. Diese Leute verrichteten jahrelang die gleiche Arbeit und würden noch viele Jahre dasselbe tun. Wie hielt man das aus? Waren es Helden oder Sklaven, fragte ich mich. Ich hätte gern mit einigen geredet. Aber während der Arbeit war dies wegen des Lärms nicht möglich. Außerdem saß ein jeder vor seiner Maschine und achtete darauf, dass es keine Störungen gab. Einige der erfahrenen Arbeiter hatten mehrere Maschinen zu bedienen. Sie liefen von einer Maschine zur anderen, um nachzusehen, ob alles lief. Kam es zu einer Störung, entstand Hektik. Schnellstens musste die Störung behoben werden, da sonst der Akkord verfehlt wurde. Der Meister notierte den Vorfall, und der Betrieb ging weiter. Die Pausen waren kurz. Sie reichten kaum, um etwas zu essen. Die Arbeiter hatten ihre festen Plätze. Es wurde kaum geredet. Jeder blickte vor sich hin oder las die Zeitung. Einige nickten mir zu; ihr Blick schien zu sagen: Sei du froh, dass deine Zeit hier bald um ist.

Ich blieb einige Wochen. Durchlief die Schichten. Schon nach kurzer Zeit merkte ich, wie schwer es mir fiel, sich den ständig wechselnden Schichtrhythmen anzupassen. Ich brauchte mindestens drei Tage, um mich an den neuen Zyklus zu gewöhnen. Ich konnte entweder nicht einschlafen oder wachte zu früh auf. Ich fragte einige Arbeiter, die schon lange dabei waren, wie es ihnen erging. Auch sie hatten Probleme; halfen sich mit Tabletten oder Alkohol. Es fiel mir auf, dass es kaum Ältere unter den Arbeitern gab. Die meisten mochten zwischen dreißig und vierzig sein. Ich erfuhr, dass viele nicht länger als zehn Jahre blieben.

Ich war froh, als meine Zeit in der Fabrik zu Ende ging. Diese Welt hatte nichts Heroisches. Nur wer sie nicht kannte, mochte glauben, man könne von außen auf die Arbeiter einwirken; ihnen Klassenbewusstsein beibringen; ihnen gewissermaßen ihre eigene Melodie vorspielen. Ein schöner Traum; vielleicht aber war es ja wichtig, dass einige ihn weiterträumten, auf dass er nicht in Vergessenheit geriet.

Gießen: Kirchenplatz (1971 – 1974)

Nach drei Semestern erhielt ich eine Stelle als studentischer Tutor und unsere finanzielle Situation entspannte sich erheblich, so dass wir uns sogar einen älteren R 4 leisteten. Und wir fanden eine Wohnung am Kirchenplatz, gegenüber dem Gießener Wochenmarkt, mitten in der Stadt gelegen. Die Wohnung war mehr als doppelt so groß wie die bisherige. Jeder von uns besaß nun ein geräumiges Zimmer.

Wohnungen sind der Mittelpunkt des gemeinsamen Lebens. Ihre Einrichtung verrät viel über ihre Bewohner. Wir haben unsere Wohnungen von Anfang an so eingerichtet, dass wir uns einen möglichst großen, individuellen Freiraum verschafften. Wir haben unsere jeweiligen Zimmer als kombinierte Arbeits- und Schlafräume gestaltet (ohne ein separates Schlafzimmer). Dieses Prinzip haben wir bis heute beibehalten. Wohl wissend, dass das Zusammenleben zweier Persönlichkeiten immer auch die Möglichkeit implizieren muss, dass subjektive Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Vorlieben sowohl ausgelebt als auch angeglichen werden müssen. Das Ganze ist stets ein Prozess, der immer erneut Raum und Zeit braucht.