Stelldichein mit Literaten - Joke Frerichs - E-Book

Stelldichein mit Literaten E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Dies ist ein Buch für Literatur-Enthusiasten. Die geschilderten Begegnungen mit den Literaten sind überwiegend fiktiver Art; aber sie hätten so oder so ähnlich stattfinden können. Mich interessierten in erster Linie Facetten ihrer literarischen Praxis, die für mein eigenes Schreiben bedeutsam geworden sind.

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Inhaltsverzeichnis

Peter Handke: Der Bildersucher

Thomas Bernhard: Der Übertreibungskünstler

Arno Schmidt: Kein Handlungsreisender

Dieter Wellershoff: Der Nachtwanderer

Erasmus Schöfer: Der blonde Grieche

Jürgen Becker: Dichter statt Landschaftsmaler

Virginia Woolf: Die Verzweifelnde

Kurt Drawert: Der Ortlose

Hermann Hesse: Der Eremit

Peter Kurzeck: Der hessische Proust

Wilhelm Genazino: Der Streuner

Robert Walser: Der Spaziergänger

Hans Henny Jahnn: Der Utopist

Fernando Pessoa: Der Ruhelose

Karl Mickel: Der subversive Freigeist

Hermann Broch: Der hellsichtige Mahner

Paul Nizon: Der Lebenshungrige

Heinz Langerhans: Der Unzeitgemäße

Wolfgang Schreyer: Der Vergessene

Hartmut Lange: Der Melancholiker

Rolf Dieter Brinkmann: Der Zornige

Angaben zum Autor

Dies ist ein Buch für Literatur-Enthusiasten.

Die geschilderten Begegnungen mit den Literaten sind überwiegend fiktiver Art; aber sie hätten so oder so ähnlich stattfinden können. Mich interessierten in erster Linie Facetten ihrer literarischen Praxis, die für mein eigenes Schreiben bedeutsam geworden sind.

Peter Handke: Der Bildersucher

Ich ging eine Weile kreuz und quer durch das Viertel, in dem er wohnte, um mich umzuschauen. Eine vom Verkehrslärm erfüllte Straße führte stadtauswärts in eine waldige Umgebung. Ich wunderte mich, dass er es in einer derart unwirtlichen Gegend aushielt. Als ich mich an einer Kreuzung umsah, erkannte ich das Café, das ich auf einem Foto gesehen hatte. Ich ging hinüber und das Unerwartete geschah.

Als ich das Café betrete, will er gerade gehen. Wir treffen in der Tür aufeinander. Ich muss ihn etwas verwundert angeschaut haben, denn er fragte mich: "Kennen wir uns?" Ich antworte: Ich kenne Sie; Sie mich wohl kaum. In meiner Verlegenheit frage ich ihn, ob er schon gehen will. "Ich habe zu tun; ich muss noch abwaschen. Außerdem kommt meine kleine Tochter gleich nach Hause. Da muss ich anwesend sein." Als ich ihm sage, dass ich ein guter Abtrockner sei, meint er: "Dann kommen Sie doch einfach mit!"

Das Haus liegt ganz in der Nähe. Auf dem Weg dorthin schweigen wir. Die Tür zum Garten ist abgeschlossen. "Normalerweise lasse ich Niemanden hier rein. Ich hasse es, von ungebetenen Besuchern überrascht zu werden. Aber wenn sich jemand zum Abtrocknen anbietet, mache ich natürlich eine Ausnahme."

Wir gehen durch den Garten ins Haus, in dem es auf den ersten Blick chaotisch aussieht. Überall liegen Bücher herum; ein alter Holztisch mit Papieren und Schreibutensilien; getrocknete Früchte; Pilze; Wanderstöcke; alte Möbel. Er führt mich in die Küche. Auf der Spüle und der Anrichte stapelt sich das Geschirr. Er lässt heißes Wasser ins Spülbecken und beginnt, abzuwaschen. Mit einem Kopfnicken deutet er an, wo die Küchenhandtücher hängen.

Beim Abwasch duzt er mich. Er will wissen, was mich in diese gottverlassene Gegend führt. Paris habe doch so viel Schöneres zu bieten.

Ich habe einige Film-Dokumentationen über Sie gesehen. Auch das Café kannte ich von daher. Ich habe es wiedererkannt. Hin und wieder habe ich auch Zeitungsberichte darüber gelesen, wie Sie leben. Aber das alles war mir zu voyeuristisch, geradezu stilisiert, als wollten die Journalisten sich selbst ein Denkmal setzen. Da wollte ich mir selbst ein Bild machen. Mir war die eigene Anschauung wichtig, auch, weil ich viel von Ihnen gelesen habe und ich zu der Auffassung kam, man könne einiges von dem nur dann verstehen, wenn man den Ort, wo Sie leben, gesehen hat.

Während ich rede, merkt er hin und wieder auf. Vor allem, als ich erwähne, dass ich seine Bücher gelesen habe, denn er sagt: "Die Journalisten, die sich hier mitunter tummeln und mir auflauern, scheinen sich in der Tat nur für Äußerlichkeiten zu interessieren. Sie erwarten offenbar Sensationen, wenn sie mich hier heimsuchen. Aber Du siehst ja selbst: hier ist nichts los, worüber man berichten könnte. Umso mehr lassen einige von ihnen ihre Phantasie ins Kraut schießen. Nur selten hat mich einer nach meinen Büchern gefragt."

Mich hat auch die Gegend interessiert, die Sie hier umgibt. Einer der Filme zeigt Sie beim Pilze sammeln im Wald. Oder beim Umhergehen. Ich war immer wieder erstaunt, wie es Ihnen gelingt, aus eigentlich belanglosen Ereignissen Literatur zu machen. Im ‚Nachmittag eines Schriftstellers’ spürt man geradezu, wie ein Motiv in Ihnen heranreift, wenn ich das einmal so banausisch sagen darf.

"Es stimmt, was Du sagst. Obwohl die Erzählung damit beginnt, dass ich aus dem Haus gehe, um abzuschalten. Aber das ist das Eigentümliche an der Schriftstellerexistenz: wir sind immer Beobachter; nehmen wahr; sinnieren darüber und hängen irgendwelchen Formulierungen nach. Die Arbeit ist niemals abgeschlossen. In gewisser Weise macht das den Reiz des Schreibens aus; aber manchmal wäre es mir lieber, ich könnte für den Moment einmal alles vergessen. Das gelingt mir in Ansätzen nur dann, wenn ich Musik höre oder ins Kino gehe."

Mir ist aufgefallen, dass Sie recht eigentlich gar nicht so sehr über das äußerlich Wahrgenommene schreiben, sondern mehr über die Befindlichkeiten in Ihrem Inneren. Der äußere Reiz löst die Assoziationen und Reflexionen in Ihnen aus. Auf diese Weise ‚synthetisieren’ sich die Wahrnehmungen mit Ihren jeweiligen Befindlichkeiten.

"Das hast Du gut beobachtet. Allerdings gelingt mir dies nur, wenn ich gewissermaßen ‚an nichts denke’, was bekanntlich unmöglich ist. Ich will damit sagen, dass ich mich ganz ‚absichtslos’ in Situationen begebe und nicht krampfhaft nach Motiven suche. Ich stelle mir vor, ich wäre der Erste, der etwas über sie erzählt. Ich versuche, eine eigene Sprache für sie zu finden, die ihnen gerecht wird. Das ist die eigentliche Aufgabe für mich als Schriftsteller. Ich habe stets mein Notizbuch dabei, aber es liegt nicht offen da, wenn ich Metro fahre oder im Café sitze. Ich zücke es nur, sobald mir etwas auffällt. Anders würde es nicht funktionieren."

Erst nach dem Abwasch, als er mich zu einem Rotwein einlädt, fragt er, was ich von ihm gelesen habe. Seine direkte Frage bringt mich ein wenig in Verlegenheit, weil ich nicht weiß, womit ich beginnen soll. Um an das vorige Gespräch anzuknüpfen, antworte ich:

Wie gesagt: Erst vor kurzem habe ich den ‚Nachmittag eines Schriftstellers’ gelesen. Auch das ist ja eine Erzählung über das Umhergehen. Allerdings mit dem Unterschied, dass Sie bereits Ihre Arbeit getan haben, bevor Sie zu einem Rundgang durch die Stadt aufbrechen. Aber man spürt doch, dass es Ihnen nicht so recht gelingt, ‚abzuschalten’. In der Café-Szene beschreiben Sie Ihre Wahrnehmung der Anwesenden. Sie schildern sie als Wesen ohne Gesichter, die nur aus Rumpf und Gliedern bestehen. Und was mir noch auffiel: Sie scheinen sich vorzustellen, wie es in den Leuten aussieht, die sie beobachten und was diese über Sie denken mögen. Das alles zeigt, dass Sie schon wieder oder immer noch bei der Arbeit sind. Man wartet geradezu auf den Moment, wo Sie ihr Notizbuch zücken.

"Ja, das ist das ‚Ausbeuterische’ an meiner Arbeit. Ich benutze die Anderen zur ‚Bekräftigung meiner Selbst’. Normalerweise bin ich jemand, der in Ruhe gelassen werden möchte. Die wenigen Bekannten oder Freunde, die ich habe, halte ich auf Distanz, so als ginge es darum, meine ‚Unschuld’ zu bewahren. Erst wenn ich es in meiner Höhle nicht mehr aushalte und mir, wie man so treffend sagt, ‚die Decke auf den Kopf fällt’, suche ich die Gesellschaft Anderer. Aber nicht in dem Sinne, dass ich mich mit ihnen ‚verbrüdere’. Auch da halte ich mich gern zurück, ziehe es vor, eher am Rande zu bleiben und zu beobachten. Auf Gespräche lasse ich mich nur dann ein, wenn sie ernsthafter Natur sind, eine gewisse Intensität haben. Normalerweise geht das nur in einem kleineren, überschaubaren Kreis; ansonsten zerfasern sie."

Nachdem wir einen Moment geschwiegen haben, schlägt er vor, in den Garten zu gehen. Überall liegen Gegenstände herum. Auf den ersten Blick wirkt der Garten verwahrlost. Bei genauem Hinsehen entdeckt man hier und da Stellen, die einst ein Beet gewesen sein mögen. Dort behaupteten sich noch einige Pflanzen und Blumen, die der Verwilderung zu trotzen scheinen. Unter den Obstbäumen liegt verfaultes Obst, das einen fruchtig-fauligen Geruch verströmt. Auch sie sind Teil dieses sich selbst überlassenen Biotops, dessen Geheimnisse und Vorzüge sich dem Betrachter wohl erst nach und nach erschließen.

Wir setzen uns an einen alten Holztisch, und ich erzähle ihm, dass ich seine ‚Drei Versuche’ unterwegs stets dabei hatte; im Zug, im Flugzeug oder im Café sitzend. Es waren ständige Begleiter, auch weil sie handlich waren und man sie leicht mit sich führen konnte.

Er hörte sich alles an, sagt aber nichts. Gleichwohl merke ich, dass er interessiert zuhört. Als er noch einmal ins Haus zurück geht, um eine neue Flasche Wein zu holen, überlege ich mir, wie ich ihn darauf ansprechen könnte, was es mit dem ‚Bildverlust’ auf sich hat, über den er in seinen gleichnamigen Roman geschrieben hat. Ich vergegenwärtige mir den Sachverhalt noch einmal: In dem Roman, der voller Bilder ist, kam mir der Begriff zunächst seltsam deplatziert vor. Ständig werden wir mit Bildern konfrontiert. Wollte er uns die untergegangene Welt noch einmal vorführen – die Welt, in der es noch Bilder gab? Hatte er sich deshalb auf die lange Reise mit seiner Protagonistin begeben, in eine noch weithin unerschlossene, fast vergessene Gegend in der Mitte Spaniens, einer Wüsten- und Gebirgsgegend, die noch fast unberührt von den Versuchungen der modernen Zivilisation ist?

Als er zurück ist, scheint er meine Verlegenheit zu bemerken, sagt aber nichts. Schließlich frage ich ihn ganz unvermittelt, was er mit dem Begriff ‚Bildverlust’ gemeint hat. Um mich verständlich zu machen, schlage ich vor, ihm eine Passage aus dem Roman vorzulesen, die ich für eine der ‚Schlüsselstellen’ halte. Darin geht es darum, welcher Art die Bilder sind, die wir wahrnehmen, ob sie uns überhaupt noch erreichen, ob sie noch Reaktionen in uns auslösen. Da heißt es:

"Sie könnten vielleicht weiterwirken. Aber ich bin nicht mehr fähig, sie aufzunehmen und einwirken zu lassen. – Was stattdessen auf mich einwirkt, das sind die gemachten und gelenkten, die von außen gelenkten und nach Belieben lenkbaren Bilder, und deren Wirkung ist eine konträre. – Diese Bilder haben jene Bilder, haben das Bild, haben die Quelle zerstört. Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde ein Raubbau an den Bildergründen und - schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen."

Dies ist für mich eine der Schlüsselstellen des Romans. Ich interpretiere sie so, dass Sie den Verlust authentischer Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle beklagen. ‚Bilder‘ – wie Sie sie verstehen, kommen von ‚innen‘. Sind Resultat der Verarbeitung von Erlebtem, Gesehenem. Genau dieser Prozess, der aus der naiven Anschauung eine bewusste Wahrnehmung, ja Erfahrung macht, geht ja in der Moderne mit ihrer extremen Reizüberflutung verloren. Dies meinen Sie doch wohl, wenn Sie vom ‚Bildverlust‘ sprechen: Einen dramatischen, unwiederbringlichen Verlust an authentischer Welterfahrung.

Er schaut mich nachdenklich an; auch ein wenig überrascht. Ich merke, dass es ihm unangenehm ist, über seinen eigenen Text zu reden. Schließlich meint er:

"Du hast recht. Naturerfahrungen müssen an erster Stelle genannt werden. Erfahrungen von unberührter Natur. Aber wo gibt es diese noch? Die künstlichen Bilder der Medien mit ihren Versprechungen von heiler Natur ersetzen mehr und mehr die Wirklichkeit. Wir leiden ja nicht an fehlenden Bildern, sondern an der Überflutung mit diesen Kunstprodukten."

Jetzt verstehe ich besser, warum für Sie der Verlust von Bildern so etwas wie eine existentielle Bedrohung darstellt. Sehe ich es recht, dass für Sie die Tatsache, Bilder zu haben, ‚Teilnahme am Leben’ bedeutet; Verbundenheit mit der Welt, Teil eines größeren Ganzen zu sein?

"Ja. Die Bilder, so wie sie sich einstellten, bedeuteten für mich ‚am-Leben-Sein’. Die Bilder, die mir beim Schreiben vorschwebten, schienen, in all der Vergänglichkeit das Unverwesliche zu sein. Selbst wenn mir nur eines am Tag dazwischenkam, blitzkurz, sah ich es als Folge und Fortsetzung, und Teil eines Ganzen: die Bilder als die Weltbestands-schleppe, über die ganze Erde streifend und sie, die kleinsten Orte und Winkel, belebend."

Eine Weile hält er inne, dann fährt er fort:

"Die Gewissheit der Bilder – ihre Wahrhaftigkeit, Authentizität – verhießen einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Etwas, dass sonst nur der Glauben vermittelt – freilich nur der von ökumenischem Geist beseelte. Oder auch die Liebe – eine allumfassende, die ganze Menschheit einbeziehende, wie sie etwa in Beethovens Neunter aufscheint.

Genau diese Überzeugung von Zusammengehörigkeit geht – allen Geschwätzes von Globalisierung zum Trotz – in einer Welt des Raubbaus an menschlichen und natürlichen Ressourcen verloren. Die Natur ist nur noch Mittel zum Zweck. Verfügungsmasse. Objekt der Ausbeutung und Nutzanwendung. Nicht mehr Gegenstand der Kontemplation, der Anschauung, Inspirationsquelle. Und insofern ist es mein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass jeder Verlust an Naturerfahrung eben auch einen ‚Bildverlust’ darstellt.

Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Größerem und Beständigem. Bilder stellten den Wert der Werte dar. Sie waren unser scheinbar sicherstes Kapital. Der letzte Schatz der Menschheit.

Durch Bilder ließen sich Außenwelt und Innenwelt verbinden und festhalten. In diesem Sinne bedeuteten sie Reichtum. Im Bild wurde ich täglich erlöst und geöffnet. Im täglichen Bild wurde ich ein anderer. In den Bildern erschien, was schön und recht war, eben, indem es schlicht erschien. Und sie waren auch etwas anderes als die Erinnerungen.

Anders als die immer schon interpretierte Welterfahrung – etwa durch die Wissenschaft oder Religion – stellen Bilder das Unmittelbare schlechthin dar. Das allerdings setzt einen Zugang zur Welt voraus, der noch weithin unentfremdet ist. Weder durch Ideologien verzerrt, noch von äußerem Schein verdeckt. Nach dieser Art unverstellter Naturerfahrung sehne ich mich zurück, obwohl ich weiß, dass ich mich vergeblich danach sehne. Als passionierter Wanderer, der immerzu den Kontakt mit seiner natürlichen Umwelt sucht, weiß ich, wovon ich rede. Ja. Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste. – Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation."

Nach seinen Ausführungen schwiegen wir lange. Er schien ganz in seine ‚Romanwelt’ versunken zu sein. Nach einer Weile versuchte ich, das Gespräch wieder aufzunehmen.

Für mich hatte es etwas Tröstliches, dass Sie den Versuch machen, das ‚unglückliche Bewusstsein’ über den Weltverlust zu bewahren. ‚Trost’ ist vielleicht zuviel gesagt, aber Sie geben einer möglichen Quelle des Widerstands und der Empörung Raum. Solange noch der Schmerz über diesen Verlust bewusst wird, ist das verdinglichte Bewusstsein nicht total.

Daraufhin meinte er:

"Wie es mich an mir selber empört, dass die Bilder, die mir einmal alles waren, so zunichte geworden sind. Die Bewegung eines Baumblatts genügte, und ich spielte mit in der weitesten Welt. Ein Stück blauen Morgenhimmels im blauen Nachthimmel. Ein beleuchteter Zug im Dunkeln. Die Augen der Leute in der Menge, vor allem die Augen! Die Bartstoppeln des zum Tode Verurteilten. Der Schuhberg der Vergasten. Die Distelräder im Wind durch die Savanne rollend. Im Bild habe ich die Welt umarmt, dich, uns. Bilder waren Unterstände, dunkle Schutznischen. Nichts ging mir über das Bild. Und jetzt?

Jetzt scheint der Zugang zur Welt versperrt. Die Wahrnehmungen gleiten ab. Die von außen kommenden Bilder – fremdbestimmt und künstlich – bleiben ohne Bedeutung. Man kann sie nicht einfach abrufen. Sie werden uns angetragen, aber haben nichts mehr mit unserer Erfahrungs- und Gefühlswelt gemein. Sie überfluten uns, ohne den Weg in unser Inneres zu schaffen. Sie prallen an uns ab."

Aber mit Ihrem Roman haben Sie dazu beigetragen, dass wir uns des Verlustes bewusst werden. Noch können wir uns der Zeiten erinnern, als sich die Welt über Bilder erschloss. So bleibt am Ende doch noch etwas Hoffnung. Und bestünde diese auch nur darin, die Geschichte vom ‚Bildverlust’ weiter zu erzählen. Das könnte eine Botschaft sein – vorausgesetzt, Sie wollten uns tatsächlich eine solche vermitteln. Da ich weiß, dass Ihnen dies fern liegt, nehme ich mir die Freiheit, so zu tun, als wollten Sie sie mir mit auf den Weg geben.

Wir waren beide erschöpft; saßen noch eine Weile schweigend da, schauten auf den Garten, bis er schließlich meinte: "Gleich kommt meine kleine Tochter nach Hause. Sicher bringt sie eine ihrer Freundinnen mit. Ich muss mich beeilen und noch das Essen vorbereiten. Es hat mich gefreut, Dich kennen zu lernen. Vielleicht bleiben wir in Briefkontakt."

Thomas Bernhard: Der Übertreibungskünstler

Es war an der Zeit, in den Bräunerhof zu gehen. Der Kellner hatte mir am Tag zuvor gesagt, er würde meist erst am Spätnachmittag kommen. Sein Platz sei stets reserviert; dort neben der Zeitungsablage. Ich sah mich um. Das Lokal war gut gefüllt. Er war noch nicht da. Ich setzte mich so, dass ich seinen Platz im Blick hatte. Ich nahm mir den Standard, legte ihn neben mich, ohne darin zu lesen.

Während ich so dasaß, überlegte ich, wie ich ihn ansprechen könnte. Der Kellner hatte mir bereits gesagt, er ließe sich nur ungern stören; suche hier seine Ruhe. Schon gar nicht würde er über Literatur reden wollen; vor allem nicht über seine eigene. Ich hatte dem Kellner ein üppiges Trinkgeld gegeben, auf das er sich an mich erinnern möge. Er grüßte und ich glaubte, ein gewisses Einverständnis zwischen uns zu spüren.

Als er eintraf, half er ihm aus dem Mantel und wechselte einige Worte mit ihm. Beide schauten zu mir herüber, und der Kellner nickte unmerklich. Ich wartete noch etwas und ging dann an seinen Tisch. Er bat mich höflich platzzunehmen.

"Sehen Sie, ich bin gar nicht so unnahbar, wie die Leute meinen. Meistens bin ich es, der mit offenen Armen auf sie zugeht. Aber die Meisten schauen weg oder wechseln die Straßenseite, wenn sie mich erkennen. Sie glauben wohl, dass ich meinen Hass auf Österreich auf sie übertrage. Aber dem ist nicht so. Ich hasse ja nicht sie persönlich. Es ist dieses Land mit seiner verlogenen Moral, die sich hinter ihrem Spießertum versteckt, das ich zutiefst verachte. Diese Opfermentalität; diese Ignoranz; diese Gleichgültigkeit, der man überall begegnet. Das macht mich jeden Tag aufs Neue wütend. Sie sind bösartig, unwichtig und meistens dumm."

Er bestellte uns zwei Kleine Schwarzer. Ich war froh darüber, denn eine Kaffeekarte in Wien hat es in sich. Ich wusste nicht, was sich hinter Bezeichnungen wie Fiaker, Wiener Melange oder Großer Brauner verbarg. Dann fragte er mich nach meinem Anliegen, und noch bevor ich etwas sagen konnte, meinte er:

"Sie wollen doch hoffentlich nicht über meine Bücher reden. Das lehne ich grundsätzlich ab. Man kann sie ja lesen. In ihnen steckt nichts Geheimnisvolles, das ich erklären müsste. Ich mag das Bedeutungsschwere nicht. Was ich schreibe, ist erlebt oder besser gesagt: erlitten. Daran ist nichts ungewöhnlich. Jeder kann es ohne weiteres nachvollziehen."

Ich möchte nicht über Ihre Bücher reden, auch weil ich weiß, dass Sie dies ohnehin ablehnen würden. Worüber ich gerne mit Ihnen reden würde ist: wir haben einige Gemeinsamkeiten. Wir sind beides ‚Großvater- und Verschickungskinder’.

Er schaute mich überrascht und auch ein wenig misstrauisch an. Er sagte zunächst nichts und schien nachzudenken. Schließlich meinte er:

"Ohne meinen Großvater säße ich nicht hier. Er hat mich gerettet; mir das Leben ein zweites Mal geschenkt. Mit meiner Mutter verband mich eine Art ‚Hassliebe’, wobei der Hass deutlich dominierte. Ihren ständigen Vorwürfen, ich sei nur Ballast für sie, zu nichts zu gebrauchen und werde es auch zu nichts bringen, war kaum zu entkommen. Ich flüchtete in problematische Ausweichmanöver, schwänzte die Schule, lief von zu Hause fort und handelte mir auf diese Weise allerlei Misshelligkeiten ein. Bei meinem Großvater fand ich Trost. Wenn ich wieder einmal völlig verzweifelt und kurz davor war, unterzugehen oder mich umzubringen, bot er mir Schutz und bewahrte mich davor. Mit der Zeit entwickelte ich eine gewisse ‚Widerständigkeit’, hervorgerufen durch den permanenten ‚Überlebenskampf’, den ich seit dem Knabenalter führe."

Ich merkte ihm an, wie sehr ihm seine Erinnerungen immer noch nachhingen. Seine zuvor relativ entspannten Gesichtszüge strafften sich; er wurde nachdenklich, und wie versonnen schaute er durch mich hindurch. Nach einiger Zeit fuhr er fort:

"Ich war acht Jahre alt, als ich einen ‚Fluchtversuch’ wagte. Ich wollte von zu Hause weg und unternahm eine Fahrradtour nach Salzburg. Der Versuch scheitert zwar, machte mich aber dennoch stolz auf mich, weil ich ihn gewagt hatte und ziemlich weit gekommen war. Mein Großvater verteidigte mein Vorgehen gegenüber meiner Mutter, die außer sich vor Wut und Empörung war.

Für mich war es ein Akt des Widerstands und der Auflehnung, der zu einem Schlüsselerlebnis in meinem Leben wurde. Von dem Zeitpunkt an wusste ich, dass ich mich wehren musste und dass ich selbst es war, der die Dinge ändern konnte."

Als eine Pause eintrat, überlegte ich kurz, ob ich ihm von meinen Erlebnissen mit meinem Großvater erzählen sollte. Dass auch er mich geprägt hat; dass er ein großer Erzähler war, dessen Geschichten ich aufsog. Der mich durch seine Kriegserlebnisse in der Schlacht um Verdun ein für allemal gegen alles Militärische immun machte; der mich lehrte, mich vor keinem lebenden Menschen zu bücken.

Ich unterließ es, von mir zu erzählen und fragte ihn, auch aus einer gewissen Verlegenheit heraus, wie er seine Schulzeit überstanden hatte.

"Meine Schulzeit war eine einzige Tortur. Ich war der uneheliche Sohn einer armen Familie, und so war die Schule ein Ort permanenter Demütigung.

Ich war dem Spott meiner Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Die Bürgersöhne in ihren teuren Kleidern straften mich, ohne dass ich wusste wofür, mit Verachtung. Die Lehrer halfen mir nicht, im Gegenteil, sie nahmen mich gleich ebenfalls zum Anlass für ihre Wutausbrüche. Ich war so hilflos, wie ich niemals vorher gewesen war. Zitternd ging ich in die Schule hinein, weinend trat ich wieder hinaus. Ich ging, wenn ich in die Schule ging, zum Schafott, und meine endgültige Enthauptung wurde nur immer wieder hinausgezögert, was ein qualvoller Zustand war."

Er erzählt, dass es wieder der Großvater war, der ihn vor den destruktiven Einflüssen der Schule schützte. Während der Knabe den Übergriffen der Lehrer und Mitschüler wehrlos ausgeliefert war, stärkte dieser seine Abneigung gegen die ihm feindlich gesonnene Welt. Wenn der Schulstoff ihn wieder einmal unendlich langweilte, meinte sein Großvater lapidar, es komme nur darauf an, durchzukommen, wie, das sei vollkommen gleichgültig; er halte nichts von Noten. Er bestärkte den Jungen wo er nur konnte; er sagte ihm, er sei überdurchschnittlich intelligent, nur die Lehrer kapierten das nicht, sie seien die Stumpfsinnigen, nicht er. Er sei der Aufgeweckte, sie selbst seien die Banausen. Seine Erziehung erhielt er von seinem Großvater, der ihn auf seinen Spaziergängen mitnahm, ihm die Natur erklärte und das Leben überhaupt.

Die Mutter versuchte zeitlebens vergebens, in der bürgerlichen Normalität Fuß zu fassen. Eines Tages gaukelte sie ihm vor, eine Verschickung in ein sogenanntes Kindererholungsheim würde seiner Gesundheit förderlich sein. Sie schob ihn regelrecht ins ferne Saalfeld in Thüringen ab. Es sei nur für einige Wochen, dann würde er erholt zurück kommen. In Wirklichkeit entpuppte sich das Heim als 'Anstalt für schwer erziehbare Kinder'; mit allen Attributen einer autoritären, nazistisch geprägten Erziehung. Die Mutter hatte versucht, ihn auf diese Weise loszuwerden. Der Großvater holte ihn schließlich zurück; der Junge war traumatisiert und brauchte lange, um wieder Fuß zu fassen. Über sie beide sagt er:

"Wir waren auf dem Seil gefangen, vollführten unsere Überlebenskunst, die sogenannte Normalität lag unter uns, wir trauten uns nicht, in die Normalität hineinzustürzen, weil wir wussten, dass dieser Kopfsprung unseren sicheren Tod bedeutet hätte.

Seit dieser Zeit muss sich in mir die ganze Wut auf die Welt und ihre Einrichtungen aufgestaut haben. Nur durch mein Schreiben ist es mir möglich gewesen, einiges davon zu kompensieren. Man kann auch sagen: nur dadurch, dass ich alles maßlos übertrieben habe, durch diesen ‚Übertreibungsfanatismus’, aus dem ich eine ‚Übertreibungs-Kunst' gemacht habe, war es mir möglich, aus der Armseligkeit meiner Existenz auszubrechen. Zumindest zeitweise. Wenn mich die Leute fragen, woher rührt dieser Zorn auf all das, kann ich oft nur sagen: er ist tief in mir angesiedelt. Das Übel liegt in mir selbst. Wie sollte ich ihnen dies sonst erklären?

Seither sind es diese inneren Vorgänge, die mich am Schreiben interessieren. All das Äußere, die menschlichen Handlungen, die Umgebungen und Landschaften, interessieren mich nicht. Jeder erlebt sie ja täglich, warum sollte ich sie ihnen noch eigens beschreiben? Das ist doch langweilig.

Jetzt sind wir doch bei meinem Schreiben angelangt, was ich eigentlich gern vermeide. Sie sehen ja: Ich habe nichts mitzuteilen, was das angeht."

Um eine gewisse Verlegenheit zu überbrücken, erzähle ich ihm, dass auch ich sechs Wochen in einem solchen Kindererholungsheim zugebracht habe:

Das Waldhaus lag abgelegen vom Ort. Wir durften das Heimgelände ohne Begleitung Erwachsener nicht verlassen. Wir hatten kaum einen Bewegungsspielraum. Ich erinnere mich an zahlreiche Disziplinierungsmaßnahmen; z.B. daran, dass es auch bei geringfügigen Anlässen eine Ohrfeige gab oder man zu Küchendiensten oder Strafarbeiten verdonnert wurde. Wir schliefen mit 25 Jungen in einem Schlafraum. Obwohl wir Sommerferien hatten, mussten wir um 19 Uhr ins Bett. Schlafen konnte um diese Zeit keines der Kinder. Austreten war nicht erlaubt. Vor dem Schlafsaal saß eine der Schwestern und bewachte uns. Kinder, die in ihrer Not ins Bett machten, wurden aufs Übelste gemaßregelt; Bettnässer vor versammelter Mannschaft bloßgestellt und ihr Betttuch mit den Urinflecken zur Abschreckung für alle sichtbar im öffentlichen Aufenthaltsraum aufgespannt.

Täglich gab es einen zweistündigen Mittagsschlaf. In dem Schlafraum war es in der Hochsommerzeit unerträglich schwül. Es war eine Qual, still im Bett liegen zu müssen. Wir wollten raus an die frische Luft, ins Schwimmbad oder Fußball spielen. All das war nicht erlaubt. Schon nach kurzer Zeit überkam mich starkes Heimweh. Ich fühlte mich sozial entwurzelt. Mir sind zwar die schlimmsten Repressalien erspart geblieben, aber was diese vom Faschismus geprägten Aufseher mit uns anstellten, habe ich seinerzeit noch gar nicht erfasst. Erst später wurde in der Öffentlichkeit von den Übergriffen und Misshandlungen dieser Leute berichtet.

Ich weiß nicht, ob er mir zugehört hatte, aber wir stimmten darin überein, dass die eigentlichen Katastrophen sich im Verborgenen oder gar im Kleinen abspielen; in dem, was gemeinhin als Normalität gilt. Schließlich meinte er:

"Mein Großvater war dieser Normalität von frühester Jugend an entflohen. Er hatte für sie nichts als Spott und Hohn und die tiefste Verachtung übrig. Er war Schriftsteller, wenn auch kein sehr erfolgreicher. Er lenkte seine Energie nicht in die Politik, sondern in die Literatur. Aber er war von Halbgebildeten umgeben. Es ekelte ihn wenn sie ihre Stimme erhoben. Bis an sein Lebensende hasste er ihren ‚Artikulierungsdilettantismus’.

Und er war Anarchist. ‚Anarchisten sind das Salz der Erde’, sagte er immer wieder. Er hasste Autoritäten, die staatlichen ebenso wie die kirchlichen. Insbesondere die Katholische Kirche zog seinen Hass auf sich. Die katholische Kirche war ihm eine ganz gemeine Massenbewegung, nicht mehr als ein ‚völkerverdummender und völkerausnützender Verein zur unaufhörlichen Eintreibung des größten aller denkbaren Vermögen’. Sie beute weltweit selbst die Ärmsten der Armen millionenfach aus, nur zu dem Zwecke der unaufhörlichen Vergrößerung ihres Besitzes. Die Kardinäle und Erzbischöfe seien nichts anderes als skrupellose Geldeintreiber, meinte er."