Dieter Wellershoff Eine Begegnung der besonderen Art - Joke Frerichs - E-Book

Dieter Wellershoff Eine Begegnung der besonderen Art E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Auf der Grundlage von Briefen, Telefonaten und Besuchen haben wir unsere persönlichen Erinnerungen an den Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff (1925-2018) rekonstruiert. Auf diese Weise sollen sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Teil II enthält einen Vortrag und einen Essay über das literarische Werk des Autors.

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Teil I

Teil II

Eine subjektive Annäherung an sein literarisches Werk

Literatur als Verdichtung des großen Lebenstextes

Vorbemerkung:

Dieter Wellershoff (1925 – 2018) ist einer der bedeutenden deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst Romane; Novellen und Erzählungen; Essays; Hörspiele und Drehbücher sowie Autobiografische Schriften. Zuletzt veröffentlichte er noch ein ungewöhnliches Kunstbuch.

In Teil I stellen wir unsere persönlichen Erinnerungen an Dieter Wellershoff dar; auf der Grundlage von Briefen, Gesprächsprotokollen und Telefonmitschnitten.

Teil II (S. →ff.) enthält die Rekonstruktion eines Referats über das literarische Werk Wellershoffs, das wir im Rahmen einer literarischen Veranstaltungsreihe in der a Lasko-Bibliothek in Emden gehalten haben.

Zusätzlich haben wir einen Beitrag mit dem Titel Literatur als Verdichtung des großen Lebenstextes aufgenommen, den wir für den Blog der Republik geschrieben haben.

Teil I

1992 wurden wir das erste Mal mit dem Werk von Dieter Wellershoff konfrontiert. Unsere Mutter lag damals im Sterben, und wir suchten nach einer Möglichkeit, uns mit dem Thema Tod vertraut zu machen. Bruder Klaus wies uns auf den Roman Blick auf einen fernen Berg von Wellershoff hin, in dem er sich mit dem Sterbensprozess seines jüngeren Bruders auseinander setzt.

Danach dauert es lange – auch bedingt durch unsere Berufstätigkeit – bis wir wieder auf einen Text von Wellershoff stießen. Das war 2006. Wir waren inzwischen nicht mehr berufstätig und hatten endlich Zeit, uns der Literatur zu widmen. Zuvor war Der Liebeswunsch erschienen. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, Bücher, die uns ansprachen, zu rezensieren. Wir wollten unsere Eindrücke fixieren und vermeiden, dass das Gelesene einfach vorbeirauscht. Wiederum war es Bruder Klaus, der uns riet, die Rezension an Wellershoff zu schicken. Wir zögerten, auch weil gerade dieser Roman ein breites Publikum gefunden hatte und in den Feuilletons ausgiebig besprochen worden war. Schließlich entschlossen wir uns doch, ihm unsere Besprechung zukommen zu lassen. Was sollte schon passieren. Wir gingen ja keinerlei Risiko ein.

Zu unserer Überraschung erhielten wir nach einiger Zeit einen Brief von Wellershoff. Er schrieb:

Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief und die beigelegte Rezension meines Romans „Der Liebeswunsch“, die zugleich konzentriert und differenziert ist und in der gedrängten Beschreibung der Handlung und des Themas, auch seiner Tiefendimension, absolut kompetent ist. Ich bewundere die Energie, die Sie, ohne berufliche Verpflichtung und Honorierung, aufbringen, um Bücher, die Sie beeindruckt haben, den Menschen Ihres privaten Umkreises nahe zu bringen und zu erschließen. Es ist sicher auch ein großer Gewinn für Sie selbst. Ich kann das sagen, weil ich viel über andere Bücher geschrieben habe… Besonders sympathisch hat mich Ihr Motiv berührt, schlechten und unangemessenen Besprechungen meines Romans eine gerechtere Kritik gegenüberzustellen. Ich danke Ihnen für diesen Impuls. Vielleicht kann ich mich konkret bedanken, indem ich diesem Brief das Skript eines Vortrages über meine Auffassung von Literatur und meine Art des Schreibens beilege.

Dies war der Beginn unseres Briefkontakts mit Wellershoff1. Das Ganze lief meist nach folgendem Ritual ab: wir schickten ihm unsere Rezension zu einem seiner Texte, und er motivierte uns, noch diesen und jenen Text zu lesen. Auf diese Weise haben wir uns im Laufe der Jahre einen Großteil seines Werkes erschlossen; immer begleitet von aufmunternden Repliken Wellershoffs. Etwa derart: Ich danke Ihnen für die ganz persönliche Rezension zu meinem Roman „Der Himmel ist kein Ort“. Sie ist für mich in ihrer klaren Sprache und dem genauen, eindringlichen Verständnis des Textes ein ungewöhnliches Dokument einer engagierten und sensiblen Lektüre. Sie haben mir damit ein unerwartetes Geschenk gemacht.

Er wunderte sich, dass er oft Besprechungen von uns bekam, die wir gemeinsam verfasst hatten. Jeder von uns hatte eigene Relevanzpunkte, und nur selten gab es Überschneidungen. So passte es meist ganz gut, wenn wir unsere Sichtweisen zusammenführten. Wellershoff sah in dieser Art Parallelbesprechung eines seiner Werke ein seltenes Beispiel für differente Übereinstimmung. Uns verblüffte diese Formulierung. Was hatte er damit gemeint? Vielleicht genau das: Dass jeder von uns etwas Eigenes in seinen Werken erblickt, was sich dennoch problemlos zusammenfügt. Jahrelang ging das so weiter, und wir arbeiteten uns mehr und mehr in sein Werk ein, so dass wir mit der Zeit ein Gespür für den spezifischen Wellershoff-Sound bekamen.

*

Etwas Besonderes war die Entdeckung seines Gedichtbandes mit dem Titel Zwischenreich. Wir hatten bis dato gar nicht gewusst, dass Wellershoff Gedichte geschrieben hat. Die meisten der Gedichte waren in den 1970er Jahren entstanden; in einer Zeit persönlicher und gesellschaftlicher Konflikte. In Jokes ausführlicher Besprechung des Bandes heißt es:

Fast alle Gedichte bestechen durch einen reflexiven Grundton, der mal expressiv, mal als Subtext mitschwingt. Dadurch vermitteln sie eine Atmosphäre der Unruhe, des (Selbst-) Zweifels oder der Spannung – selbst da, wo Themen wie Stille oder Landschaftseindrücke geschildert werden. Es ist, als traue der Autor dem Frieden nicht; als sei er ständig auf der Suche nach einem Ort des Innehaltens; nach einem Haltepunkt, von dem aus er sich seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit vergewissern kann.

Wellershoff bedankte sich für die Rezension, die ich wegen der sensiblen Sachlichkeit und Einfühlsamkeit der Textbeschreibung als ein besonderes persönliches Geschenk empfunden habe. Gleich zu Anfang Ihres Briefes haben Sie von der Überraschung gesprochen, die die Entdeckung dieser Gedichte für Sie bedeutete. Das drückt sich Schritt für Schritt auch in Ihrem Umgang mit den Texten aus. Sie nehmen sie behutsam in die Hand, um sie zu betrachten und auf ihre Untertöne abzuhorchen. Das hat mich angeregt, Ihnen zu Ihren Fundstücken zu folgen und mir dabei selbst in meiner damaligen Aufgewühltheit wieder vor Augen zu kommen, vor allem in den Texten aus den 70er Jahren, die für mich eine Zeit der Umwälzungen und Infragestellungen war. Ich spürte wieder die Bodenlosigkeit der Texte und meine Gegenwehr, die darin lag, sie zu formulieren. Aber ich habe diese Gedichte wegen ihrer Brisanz und Intimität lange Zeit zurückgehalten und sie erst 2008 in dem schmalen Bändchen „Zwischenreich“ veröffentlicht. Dort sind sie gewissermaßen weiterhin in Quarantäne und werden gelegentlich von subtilen und neugierigen Lesern, wie Sie einer sind, aufgespürt. Das ist dann jedes Mal wie ein tiefer Atemzug.2

*

Nach jahrelangen Briefkontakten und Telefonanrufen luden uns die Wellershoffs eines Tages zu sich nach Hause ein. Dem voraus ging eine persönliche Begegnung am Rande einer Veranstaltung zum 80. Geburtstag des Kölner Dichters Erasmus Schöfer, die im Literaturhaus Köln stattfand und von Heinrich Pachl, dem leider viel zu früh verstorbenen Kölner Kabarettisten, moderiert wurde. Die Kennenlern-Prozedur entbehrte nicht der Komik. Petra hatte mit Maria Wellershoff vereinbart, dass wir uns bei ihnen melden würden. Sie schrieb einen Brief an Wellershoffs, in dem sie diesen eine falsche Telefon-Nr. mitteilte. Maria Wellershoff rief diese Nummer an und erreichte zu ihrem Erstaunen eine Frau, die wie sie aus Pommern stammte. Lange hätten sie miteinander gesprochen, und die Frau habe sich sofort ihr Buch über die Flucht aus Pommern beschaffen wollen.3 Danach hat sie dann unsere richtige Nummer im Telefonbuch gefunden und uns zum Tee eingeladen.

An einem heißen Sommertag machten wir uns auf den Weg in die Mainzer Straße 45. Wir waren beide ziemlich angespannt, so als stünde uns eine Examensprüfung bevor. Wir stiegen in den Fahrstuhl, und oben erwartete uns Dieter Wellershoff. Zu unserer Überraschung führte er uns zunächst durch die ganze Wohnung und zeigte uns dabei sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen die Korrekturfahnen der letzten drei Bände seiner Werkausgabe. An den Wänden des Flurs hingen große bunte Bilder. Die habe ich für meine Kinder gemalt.

Er erklärte uns, dass die Familie jahrelang unter bedrückenden Wohnverhältnissen gelebt hatte. Als sich die Gelegenheit bot, die Wohnung in der Mainzer Straße zu kaufen, war dies wie ein Befreiungsschlag. Er hatte zuvor in Cafés, im Büro oder bei Freunden schreiben müssen. Es war für mich eine Glückserfahrung, ein eigenes Arbeitszimmer zu haben. Noch heute, wenn ich die Tür hinter mir schließe, überkommt mich dieses Gefühl. Ich bin dann ganz bei mir.

Unser erstes Aufeinandertreffen verlief völlig entspannt. Selten sind wir einem Menschen begegnet, der so unkompliziert, interessiert und aufmerksam war wie Dieter Wellershoff. Man kann wohl sagen: wir hatten sofort einen persönlichen Draht zueinander. Wir konnten über alles reden: natürlich über Literatur, Kunst und Musik; aber auch über alle möglichen Alltagsdinge, z.B. über Fußball. Vor allem wollte er wissen, woran man arbeitet. Er erkundigte sich stets danach. Nie äußerte er sich abgehoben oder floskelhaft; alles, was er sagte, war durchdacht und erfahrungsgesättigt. Er war einer, der wusste, worüber er sprach. Man merkte ihm an, dass er immer versuchte, den entscheidenden Punkt zu treffen. Er formulierte behutsam und originell, so dass man oft erst später verstand, was er gemeint hatte. Man musste darüber nachdenken, was er gesagt hatte. Das machte den Reiz der Kommunikation mit ihm aus.

*

Gleiches galt auch für seine schriftlichen Einlassungen. Joke hatte ihm eines Tages seinen Kurzroman Die Mission zukommen lassen. Gespannt wartete er auf eine Reaktion von ihm. Es war sein erster längerer Prosatext, den er stilistisch an den Fall von Albert Camus angelehnt hatte. Dann erfolgte Wellershoffs Antwort: Da die Korrekturen der drei letzten Bände meiner Werkausgabe abgeschlossen sind, bin ich inzwischen dazu gekommen, Ihr Buch „Die Mission“ zu lesen. Es ist die Fiktion einer langen monologischen Reflexion persönlicher Lebensprobleme und Sinnfragen in der globalen Lebenswelt. Der um Orientierung und Selbstdarstellung bemühte Sprecher teilt sich in mehreren Schüben einem stummen Zuhörer mit, dessen Zustimmung er gewinnen möchte, offenbar um auf diese Weise eigene Ansichten zu überprüfen und zu festigen. Die Rede, teils behutsam und tastend, mit Floskeln von Zweifeln und Unsicherheit durchsetzt, ist insgesamt ein Überredungsversuch, der dem Zuhörer immer wieder nahe legt, den Empfindungen und Zeitdiagnosen des monologischen Sprechers zuzustimmen, mit dem gespenstischen Effekt, dass der Zuhörer sich nicht regt und stumm bleibt und so den dringend um Bestätigung bemühten Sprecher nötigt, die erhoffte Übereinstimmung zu fingieren. Was für eine seltsame Szene: ein Missionar, der ins Leere redet. Auf diese Weise entsteht eine Spannung durch Umkehrschluss.

Wellershoff hat die Intention des Textes genau wiedergegeben. Der Protagonist spricht lauter Selbstverständlichkeiten aus – nur dass diese in dieser Welt nicht selbstverständlich sind. Oder mit Worten Wellershoffs: Der Missionar redet ins Leere. Das Schicksal aller Aufklärer.

*

In der Zeit, als wir an längeren Texten über das Werk von Dieter Wellershoff arbeiteten, intensivierte sich unser Kontakt. Wir schickten ihm unsere Texte zu, und er rief meist unmittelbar darauf an. So z.B., als wir mehrere Besprechungen seiner Werke unter dem Titel Literatur als Verdichtung des großen Lebenstextes zusammenfassten, die wir dann in unserem Buch Lesespuren veröffentlichten.4 Wir schickten ihm das Buch zu, und er meldete sich sofort:

Zunächst wollte er wieder wissen, ob wir den Text gemeinsam geschrieben hätten. Das beeindruckte ihn offenbar. Dann sagte er: Ich habe noch nie eine so gute Werkschau von mir gelesen. Ich habe schon Kontakt mit meinem Lektor aufgenommen, ob man nicht anlässlich des Erscheinens der letzten drei Bände meiner Werkausgabe einen Sonderdruck anfertigen sollte, weil der Text ein ganzes Spektrum meiner Arbeiten repräsentiert und dem interessierten Leser einen Einblick in mein Werk verschafft.

Er bat uns, das Buch mit einer Empfehlung von ihm an seinen Verlag zu schicken; von dem erhielten wir jedoch nicht einmal eine Empfangsbestätigung. Wellershoff erklärte uns den Sachverhalt wie folgt: der Verlag wolle vermeiden, dass für einen seiner Autoren besondere Werbung gemacht werde. Bei einem späteren Besuch meinte er: Wissen Sie: Sie brauchen keinen Lektor. Ihre Texte sind klar und treffsicher formuliert. Analytisch und gut lesbar.

Wir haben uns oft gefragt, was Wellershoff an unseren Besprechungen besonders schätzte. Es war wohl dies: Wir nehmen uns die Freiheit, unsere individuellen Leseeindrücke möglichst unverstellt zum Ausdruck zu bringen – ohne Rücksichtnahme auf formale Standards oder mediale Prioritätensetzungen. So hatten wir es im Vorwort zu unseren Lesespuren formuliert. Vielleicht war es das, was Wellershoff an unseren Besprechungen gefiel.

Eine weitere Erklärung gab unser Buchhändler Klaus Bittner. Er wies uns darauf hin, dass Wellershoff ein Schriftsteller ist, der sich stets außerhalb des sog. Literaturbetriebs bewegt hat und der von daher über keine eng geknüpften Netzwerke verfügte, wie die meisten seiner Kollegen. Und dann kommen zwei Literaturliebhaber daher, die sich – ohne anderweitige Interessen zu verfolgen – intensiv mit seinem Werk befassen und auch noch was von der Sache verstehen. Für diese Deutung spricht einiges; jedenfalls motivierten uns die positiven Reaktionen Wellershoffs immer aufs Neue.

*

Wellershoff interessierte sich stets dafür, woran man selbst arbeitete. Danach zu fragen war für ihn keine Pflichtübung; im Gegenteil: er nahm regen Anteil daran und sparte nicht mit Anregungen für die weitere Arbeit. Wir hatten ihm erzählt, dass wir uns jahrelang vor der Lektüre des Romans Die Wellen gedrückt und mehrere vergebliche Anläufe genommen hatten. Erst sein Beitrag über Virginia Woolf in dem großen Essaywerk Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt hätte uns den Zugang zu dem Roman eröffnet. Auf eine Besprechung des Romans reagierte er wie folgt: Ich wollte mich für den Aufsatz über Virginia Woolf bedanken, der mich sehr gefesselt hat, auch durch die Kombination von Hegel, Genazino und meinen eigenen Texten und Ihrem souveränen eigenen Text. Der war schön zu lesen. Das Thema der Seinshaftigkeit der Wahrnehmung und der Erfahrung, das ist ja von Virginia Woolf wohl am tiefsten verarbeitet worden und daran ist sie selbst aber auch gescheitert.

*

Während unserer Besuche bei Wellershoffs gab es immer reichlich Gesprächsstoff. Z.B. wollte er wissen, wie wir die Veranstaltung zu seinem Roman Der Himmel ist kein Ort