Besuch beim Philosophen - Joke Frerichs - E-Book

Besuch beim Philosophen E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Nach Jahrzehnten trifft ein Philosophieprofessor sich zu einem Gespräch mit einem früheren Studenten. Im Jahre 1968 sind sie sich zuerst begegnet. Damals hatte sie sich nichts zu sagen; die Verhältnisse ließen es nicht zu. Jetzt versuchen sie, das Versäumte nachzuholen. Kann das gelingen?

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In meiner Stammkneipe sitze ich gern am äußersten Rand der Theke. Von dort aus überschaue ich das Geschehen und kann meinen Gedanken nachhängen. Ich komme meist früh, wenn das Lokal noch fast leer ist. Heute arbeitet Sebastian, der Eleve. Er ist einer der jungen Leute, die hier aushelfen und sich etwas Geld hinzuverdienen. Ich unterhalte mich gern mit ihnen, und ich erfahre einiges aus ihrem Leben. Die meisten von ihnen studieren noch. Sebastian hat vor kurzem ein Stipendium von einer renommierten Stiftung erhalten und kann jetzt endlich seine Schauspieler-Ausbildung zu Ende bringen. Sein Lebenstraum scheint sich zu erfüllen.

Sebastian hat rumänische Wurzeln. Seine Eltern kamen mit ihm nach Deutschland. An Rumänien hat er keine Erinnerungen mehr. Sein Vater erzählt ihm hin und wieder einiges aus der Zeit dort. Und genau damit hat er ein Problem, denn die Berichte des Vaters sind widersprüchlich. Einmal hat er am Widerstand gegen das Regime teilgenommen; ein andermal ist er Mitglied der gefürchteten Geheimpolizei Securitate gewesen. Sebastian kann sich schwer einen Reim darauf machen. Er befürchtet, dass es seinem Vater vor allem darum geht, Spuren zu verwischen. Darüber will er später einmal ein Theaterstück schreiben.

Immer öfter kommt er auf das Thema zurück. So auch heute. Für ihn ist es offenbar eine Suche nach Identität. So ähnlich hatte er es bei einem unserer früheren Gespräche einmal selbst formuliert. Diesmal hält er ein Buch in der Hand und wedelt ganz aufgeregt damit herum, so dass ich den Titel nicht entziffern kann.

So etwas habe ich noch nie gelesen. Der Text ist voller philosophischer Anspielungen und amüsanter Anekdoten. Ich habe mich darin fest gelesen, obwohl ich nur Bruchstücke davon verstehe. Es geht um die Bedeutung von ‚Herkunft’ für das künftige Leben. Du weißt, wie sehr mich das interessiert.

Er hält mir das Cover hin, und ich traue meinen Augen nicht. Der Verfasser ist mein alter Philosophie-Professor, bei dem ich vor Jahrzehnten studiert habe. Als ich Sebastian davon erzähle, starrt er mich ungläubig an, so als wäre ich aus der Zeit gefallen.

*

Wieder allein, kommt mir eine Idee: Wie wäre es, wenn ich meinem Professor von dem Gespräch in der Kneipe berichte. Vielleicht würde er sich darüber freuen. Und ich könnte ihn bitten, ihn einmal besuchen zu dürfen. Ich hatte lange Zeit nichts mehr von ihm gehört. Nur gelesen, dass er gelegentlich noch auf philosophischen Veranstaltungen als Gastredner auftritt.

Nachdem ich eine Nacht über mein Ansinnen geschlafen hatte, schrieb ich ihm. Ich zweifelte, dass er meinen Brief überhaupt zur Kenntnis nehmen würde. Ich war einer der vielen namenlosen Studenten, die seine Vorlesungen besuchten. 1968 war das gewesen. Kurze Zeit später wurden die Vorlesungen eingestellt. Die Studenten befürchteten, durch sie indoktriniert zu werden.

Während er nach und nach ins konservative Lager abdriftete, bewegte ich mich im linken studentischen Milieu, trat aber keiner politischen Gruppierung bei. Ich wurde zu einer Art von teilnehmendem Beobachter und engagierte mich in der Hochschulpolitik. Ich wurde in eine studentische Fachschaft gewählt, und auf diese Weise begegneten wir uns in einigen Gremien wieder. Er verteidigte vehement die alte Ordinarien-Universität, wir forderten Veränderungen in Lehre und Forschung und die Partizipation der Studenten an universitären Entscheidungsprozessen. Die Positionen standen sich unversöhnlich gegenüber und verhärteten sich zunehmend.

Ich hätte mich schon damals gern einmal mit ihm unterhalten, aber in dem damaligen Klima, das immer feindseliger wurde, war das schlicht unmöglich. Was sollte ihn also reizen, sich jetzt – nach so langer Zeit - mit mir zu treffen? Trotz meiner Zweifel schickte ich den Brief los. Er würde ihn ignorieren und ich nie wieder von der Angelegenheit hören.

*

Es vergingen mehrere Wochen, und ich hatte die ganze Angelegenheit schon fast vergessen. Umso größer war meine Verwunderung, als ich eines Tages eine Postkarte von ihm erhielt. In kaum lesbarer Handschrift enthielt sie folgende Nachricht: Erwarte Sie nächsten Mittwoch um 16 Uhr zum Tee bei mir zu Hause. Sie können leider nicht lange bleiben. Ich bin gesundheitlich sehr angeschlagen.

Ich war perplex; damit hatte ich nicht gerechnet. Was sollte ich tun? Meine Zweifel waren nicht geringer geworden, im Gegenteil. Sollte ich den Termin einfach absagen und das Ganze für ein Missverständnis erklären? Darüber dachte ich ernsthaft nach, aber es hätte mir wohl später leid getan, eine solche Gelegenheit verstreichen zu lassen. Also bestätigte ich das Treffen und überlegte, wie ich mich am besten darauf vorbereiten könnte. Mich ergriff ein tiefes Unbehagen. Wie vor einer Prüfung. Worüber sollte ich mit ihm reden?

In meinem Bücherregal fand ich noch zwei seiner Bücher. Ich kramte die mittlerweile vergilbten Exemplare hervor und blätterte darin herum. Hin und wieder hatte ich eine Stelle angestrichen. Ich musste sie also damals gelesen haben. Aber ich hatte keinerlei Erinnerung mehr daran. Dann kam ich auf die Idee, mir das Buch zu besorgen, das Sebastian mir in der Kneipe gezeigt hatte. Es war erst vor kurzem erschienen und wohl sein letztes. Das Thema Herkunft interessiere mich seit längerem. Vielleicht könnte es ein Anknüpfungspunkt für unser Gespräch sein.

*

Am Tag des Besuches kam ich schon früh in der Stadt an. Der Bahnhof aus der Gründerzeit war nahezu unverändert. Nur dort, wo sich früher der Wartesaal befand, gab es jetzt eine Boutique. Der Wartesaal hatte mir früher einige Male als Zufluchtsort gedient, wenn die Lokale in der Stadt bereits geschlossen hatten. Hier konnte man noch ein letztes Bier oder den ersten Kaffee des Tages trinken. Etliche Gestrandete verbrachten dort die Nacht. Interessante Typen waren darunter. Ich unterhielt mich gern mit ihnen.

Der Bahnhofsvorplatz hatte sich stark verändert. Damals war es ein schmuckloser Platz gewesen, ohne Struktur. Jetzt war er von Geschäften umringt, und dazwischen standen ordentlich aufgereiht die Busse der verschiedenen Linien. Ich fuhr mit einem der Busse in die Innenstadt. Es ging durch die Bahnhofsstraße, die ich kaum wiedererkannte. Früher gab es hier Bar an Bar und Kneipe an Kneipe. In einer von ihnen hatte ich gelegentlich als Student gearbeitet. Sie wurde von einer bunten Klientel frequentiert: Studenten; Zuhälter; Laufpublikum, und nach Mitternacht kam oft noch das Personal aus den umliegenden Bars auf einen Absacker vorbei. Dann wurde es spät. Diese Leute waren meist sehr freigiebig. Von ihren Trinkgeldern konnte ich einige Male die Monatsmiete für meine Studentenbude bezahlen.

Ich ging damals gern in diese Gegend. Hier spielte sich am Abend das Leben ab. Ganz im Gegensatz zu der trostlosen Einkaufsmeile, die sich ganz in der Nähe befand und die nach Geschäftsschluss wie ausgestorben wirkte. Nach einigen Stationen verließ ich den Bus und versuchte mich zu orientieren. Nach und nach erkannte ich einiges wieder. In der Fußgängerzone gab es noch immer Buchhandlungen und Cafés. Hier traf man früher Leute, mit denen man diskutieren konnte. Über die neuesten ‚Raubdrucke’ oder anstehende politische Aktionen. Nahezu täglich gab es Vollversammlungen, Teach-ins oder Veranstaltungen der verschiedenen studentischen Gruppen. Für jemanden wie mich, der aus der Provinz kam, war das alles neu und aufregend.