Intervalle - Joke Frerichs - E-Book

Intervalle E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

In meinem Journal halte ich fest, was mir im Jahr wichtig war: Leseeindrücke. Berichte von Ausstellungen und Konzerten. Begegnungen. Naturschilderungen. Reflexionen. Erlebnisse der besonderen Art. Es handelt sich um Schreibversuche, Fingerübungen, Arbeitsnotizen, Materialsammlungen, kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

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Am Neujahrstag lesen wir unser Erinnerungsbuch an Dieter Wellershoff noch einmal Korrektur. Petra hat die PDF-Datei erstellt, und es wird bereits morgen in Druck gehen.

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Klaus schickt Bilder eines neuen Zyklus mit dem Titel Häuser. Besonders gefällt mir der Blick auf das Haus des Nachbarn 01, da es ein wenig surrealistisch anmutet.

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Petra und ich lesen unsere Journale 2018; jeder das des anderen. Interessant: die unterschiedlichen Sichtweisen und Darstellungsstile. Man erlebt die Geschehnisse noch einmal ganz neu und ist von dem Feuerwerk an Ereignissen ganz benommen.

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Günther, der Automechaniker, interessiert sich für die Geschichte des kölschen Köbes aus meinen Begegnungen. Ich bringe ihm das Buch bei nächster Gelegenheit mit.

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Jetzt liegt auch das Journal 2018 mit dem Titel Flugsand als PDF vor. Werden es in einigen Tagen an BoD schicken.

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Gestern las ich in der Zeitung, dass im letzten Jahr viele Amseln an einem Virus gestorben sind. Umso erfreuter bin ich, dass ich heute (5.1.) in der Frühe den ersten Amselgesang höre.

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Lese Die Ringe des Saturn von W.G. Sebald. Ein Buch, das Petra und Klaus mir schon vor Jahren empfohlen hatten. Eine Wallfahrt durch entlegene, ostenglische Gegenden. Es ist eine Wanderung in die Vergangenheit, die von der Zerstörung kultureller und natürlicher Errungenschaften zeugt. In einer Kritik zum Text heißt es zutreffend:

Die Wanderung des Autors bildet nur eine lose Klammer für eine Gedankenexkursion, ein Sammelsurium von assoziativ verknüpften Spuren des Verfalls und der Zerstörung. Es sind Zeugnisse unserer „beinahe nur aus Kalamitäten bestehende[n] Geschichte“.

W. G. Sebald richtet unser Augenmerk auf untergegangene Geschlechter; historische Figuren; verfallene Orte und verwüstete Landschaften. Es ist mehr als ein Reisebericht; all die Fundstücke und Geschichten, auf die er stößt, wecken seine Phantasie und das Interesse, tiefer zu bohren und den Dingen auf den Grund zu gehen. Auf diese Weise lehnt der Autor sich gegen das Vergessen auf; mit einem melancholischen, manchmal auch verzweifelten Erzählton. Untermalt werden seine Geschichten durch zahlreiche Fotos oder Drucke, die für zusätzliche Authentizität sorgen. Eine teilweise verstörende, dann aber auch wieder faszinierende Lektüre, die einen mit ambivalenten Gefühlen zurücklässt.

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Arbeite an einem Text über Marcel Proust und Peter Kurzeck, den man den hessischen Proust genannt hat. Ich vergleiche ihre jeweilige Erinnerungsprosa und ihr Verständnis von Zeit. Zu diesem Zweck lese ich den tausendseitigen Roman Vorabend von Kurzeck noch einmal. Ob ich ihn ganz zu Ende lese, weiß ich noch nicht. Bis jetzt gefällt er mir; man bekommt schnell einen Sinn für seinen Sound.

Hin und wieder lese ich auch in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit. Dazu den Essay von Wellershoff über Proust. Meinen nachfolgenden Text werde ich wohl an den Blog der Republik schicken:

Zwei Meister der Erzählkunst: Peter Kurzeck und Marcel Proust

Bei einer Podiumsdiskussion im Kölner Literaturhaus anlässlich einer Gedenkveranstaltung für den verstorbenen Dichter Peter Kurzeck wurde die Frage aufgeworfen, ob sich der Erzählstil Peter Kurzecks mit dem von Marcel Proust vergleichen lasse, wie dies in einigen Feuilleton-Beiträgen offenbar geschehen ist (Kurzeck wurde als hessischer Proust tituliert). Die Antworten der Diskutanten blieben mehr oder weniger im Ungefähren stecken. Dabei könnte es ganz interessant sein, der Frage einmal nachzugehen.

Peter Kurzeck ist dafür bekannt, dass er Vergangenes minutiös und detailgenau aus dem Gedächtnis rekonstruiert. In immer neuen Schleifen lässt er eine untergegangene Kindheitswelt wieder auferstehen. Das hat vordergründig etwas Nostalgisches, ja Rückwärtsgewandtes, weil die Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad geradezu verklärt wird; sie erscheint als heile Welt gegenüber einer ins Unübersichtliche, Entfremdete abgleitende Gegenwart, deren Zukunft man sich gar nicht ausmalen mag.

Peter Kurzeck ist ein Gedächtniskünstler; was er an Einzelheiten aus seinem Erlebten hervorzaubert, ist schier unfassbar. Die Art, wie er es darstellt, erscheint oft unstrukturiert und wenig verdichtet; es kann so oder auch ganz anders erzählt werden, je nachdem, welche Schleife er gerade dreht. Auch ein gewisser Hang zum Redundanten findet sich bei ihm. Einiges wird immer wieder in der gleichen Weise nacherzählt, wobei lediglich die Kontexte sich verändern; das geschilderte Detail bleibt unverändert. Und noch ein Charakteristikum seines Erzählstils: Kurzeck ruft sich die Vergangenheit immer wieder bewusst ins Gedächtnis zurück, um sich darüber klar zu werden, was da verloren gegangen ist; und er weiß, dass es so, wie es früher war, nie mehr werden wird. Gerade deshalb will er es benennen und auf diese Weise vor dem Vergessen bewahren. Kurzecks nahezu fotographisches Gedächtnis setzt ihn instand, das Milieu eines Cafés aus den späten 50er Jahren so plastisch zu schildern, dass man es sich so genau vorstellen kann, als wäre man dabei gewesen:

„Weil ich in dieser Konditorei jedes Mal eine Weile sitzen muß und sehen, welche Gedanken mir dort kommen und welche schon auf mich gewartet haben. Eine Konditorei wie im Jahr 1958. Plüschmöbel und Wandlämpchen und auf den Tischen Spitzendeckchen unter Glas und auch die Trockenblumengestecke von damals. Genau solche Blumenvasen und Spitzendecken hat damals jedes Kind seiner lieben Mutter jedes Jahr wieder zum Muttertag geschenkt. Und jetzt sind die Kinder groß und längst aus dem Haus. Und die Mütter meistenteils Witwen. Eine gute Rente. Und jeden Tag Obst-, Creme- und Sahnetorten zum Trost. Kaffee Hag, heiße Schokolade mit Sahne oder ein Glas Tee oder Pfefferminztee und ab und zu einen Scharlachberg, ein Likörchen. Wie kleine Silberglöckchen klingeln die Teelöffel und Tortengabeln auf dem Porzellan. Manchmal muß ich auch allein hin, damit ich mir beim Denken besser zuhören kann, damit ich mir alles noch besser merke.“

Marcel Proust erinnert sich auf ganz andere Weise; man hat seine Art der Erinnerung eine unwillkürliche Erinnerung genannt. Wenn er sich z.B. angesichts des Geschmacks eines Kekses beim Teetrinken an ein Ereignis erinnert, so hat er diese Erinnerung nicht bewusst herbeigeführt. Im Gegenteil; diese löst ganz ungewollt eine Kette von Assoziationen aus, durch die er sich z.T. sehr komplexe soziale Beziehungen, Gefühlslagen usw. wieder in Erinnerung ruft. Damit kommt ein Prozess von Erinnerungsarbeit in Gang, der sich immer weiter fortspinnt und eine vergangene Situation, ja eine ganze Lebenswelt erschließt. Proust sucht nach geheimen Bedeutungen und Sinnzusammenhängen; daher ja auch der Titel seines vielbändigen Romans: er ist buchstäblich auf der Suche nach der verlorenen Zeit; d.h.: er kann die Ereignisse nicht einfach aus dem Gedächtnis abrufen. Seine Suche hat etwas Mysteriöses, Unheimliches, Angestrengtes, da er nicht weiß, was sie zutage fördert. Es kann Schmerzliches, Leidvolles, Unangenehmes sein; aber eben auch Erfreuliches; der Ausgang seines Suchprozesses ist offen. Ein Beispiel:

„Wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl, das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt hatte und an denen ich hätte sein können – gleichsam von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können; in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen … Wenn ich jedenfalls in dieser Weise erwachte und mein Geist geschäftig und erfolglos zu ermitteln versuchte, wo ich war, kreiste in der Finsternis alles um mich her, die Dinge, die Länder, die Jahre …“

Nur mühsam gelingt es Proust, sich zu erinnern, wo er sich befindet; erst allmählich gelingt es ihm, sich seine Lage bewusst zu machen. „Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Seiten, seiner Knie und Schultern bot ihm nacheinander eine Reihe von Zimmern, in denen er schon geschlafen hatte, an, während rings um ihn die unsichtbaren Wände im Dunkel kreisten … Und bevor mein Denken, das an der Schwelle der Zeiten und Formen zögerte, die Wohnung durch ein Vergleichen der Umstände eindeutig festgestellt hatte, erinnerte er – mein Körper – sich von einem jeden an die Art des Bettes, die Lage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhandenseins eines Flurs, gleichzeitig mit dem Gedanken, den ich beim Einschlummern gehabt hatte und beim Erwachen wiederfand.“

Wenn Beckett davon spricht, Proust habe ein schlechtes Gedächtnis gehabt, zielt er auf die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung. Das Gedächtnis ruft Details ab, die sich unmittelbar reproduzieren lassen; dazu bedarf es keiner besonderen Anstrengung. Man kann sie geradezu wortgleich immer wieder schildern; das Ganze hat etwas Routiniertes, beliebig Wiederholbares. Ich weiß es noch wie gestern, sagen dann die Leute.

Erinnerungen dagegen stellen sich immer dann ein, wenn ein Sachverhalt etwas Unabgeschlossenes, noch nicht bewusst Verarbeitetes enthält, das erst noch bewältigt werden muss. „Diese verworren durcheinanderwirbelnden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; oft gelang es mir in meiner kurzen Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, so wenig, die verschiedenen Momente des Ablaufs, aus denen sie bestanden, voneinander zu unterscheiden wie die sich ablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes, die das Kinetoskop uns zeigt.“ Der hier geschilderte Erinnerungsvorgang ist das Gegenteil des nahezu automatischen Abrufens von Ereignissen, die sich dem Gedächtnis unmittelbar erschließen. Bei Proust spürt man die Mühe, die es ihn kostet, sich zu orientieren. „Aber wenn ich jetzt auch noch so gut wusste, dass ich mich nicht in den Behausungen befand, von denen mir die Unwissenheit des Erwachens einen Augenblick lang wenn auch nicht ein deutliches Bild vor Augen gestellt, so doch glaubhaft gemacht hatte, dass sie vielleicht um mich gegenwärtig wären, so hatte doch meine Erinnerung einen Anstoß erhalten …“ Erst allmählich gelingt es ihm, die disparaten Erinnerungsfetzen in eine verständige Ordnung zu bringen; und dieser Prozess ist es, der dann jene schier unendliche Assoziationskette in Gang setzt, die für Prousts Suche nach der verlorenen Zeit so typisch ist.

Von Prousts Art und Weise, sich zu erinnern, unterscheidet sich Kurzecks Gedächtnisprosa sehr deutlich. Er scheint sich der Ereignisse aus seiner Vergangenheit nahezu in jeder Situation präzise erinnern zu können. Das gilt insbesondere auch für die Art, in der Kurzeck Eindrücke aus seiner Kindheit schildert: virtuos und detailgenau:

„Als Kind in Staufenberg mit sieben-acht-neun mir immer alle Flüchtlingskalender in der Flüchtlingsnachbarschaft ausgeliehen. Keine Wandkalender, sondern Jahrbücher mit Bildern, Geschichten, Brauchtum, Erinnerungen, und man merkt sich als Kind jedes Wort … Das Buch vor mir auf dem Tisch. Schon anfangen mich auf das Buch zu freuen.

Auf das Buch und den Heimweg. Und dass es noch nicht so spät ist. Noch Nachmittag. Den Heimweg einstweilen schon vor mir herdenken. Das Buch mit. Über die Brücke. Der Fluß rauscht. Und dann ist man auf dem Inselchen. Die Lollarer Mühleninsel. Niedrige alte Häuser auf beiden Seiten. Eingesunken und schief. Jedes anders schief. Kleine Fenster. Und nach hundert Schritten kommt einem schon das zweite Brückchen entgegen. Dann die Kirche. Grau und alt und verwittert. Ein Schieferdach. Das Türmchen so klein wie ein Taubenschlag. Direkt in der Kurve die Kirche. Als ob sie hier steht und sich nicht über die Straße traut. Genau wie die alten Frauen, die in der Kirchstraße wohnen. Ein halbes Menschenalter schon Witwen. Hat da noch das Kirchenglöckchen gebimmelt? Die Straße wird eng und macht einen Bogen. Direkt an der Hauptstraße die schmalen Häuser und so dicht beieinander, dass kaum noch Platz für den Himmel bleibt.“

Kurzeck fächert seine Erinnerungen gewissermaßen auf und erzählt sie, als würde man sich auf einem Spaziergang durch die Straßen seiner Kindheit befinden. Dabei entsteht ein ganz bestimmter Rhythmus, den man besonders dann wahrnimmt, wenn man Kurzeck einmal erzählen hat hören. Wie er in einem ruhigen, gleichförmigen Erzählton die Abfolge der Wahrnehmungen gleichsam mitschwingen lässt; das ist höchst eindrucksvoll; insbesondere, wenn man sich klar macht, dass Kurzeck seine Texte oft nicht abliest, sondern frei erzählt. Damit hat er nicht nur ein neues literarisches Genre geschaffen; diese Art des rhythmischen Erzählens überträgt sich auch aufs Lesen seiner Texte. Auf diese Weise entsteht große Erzählkunst.

Gleichwohl gibt es eine Differenz zwischen den Stilformen Prousts und Kurzecks: Prousts Texte sind reflexiver, man könnte auch sagen: konstruierter, und weisen einen hohen Verdichtungsgrad auf. Virginia Woolf schreibt über ihn: „Die gewöhnlichsten Handlungen wie, in einem Aufzug hinaufzufahren oder Kuchen zu essen, schürfen, statt automatisch ausgeführt zu werden, in ihrem Verlauf eine ganze Reihe von Gedanken, Empfindungen, Ideen, Erinnerungen hervor, welche offenbar an den Wänden des Geistes geschlafen hatten.“ Das ist es, was sie die beständige Indirektheit des Erzählstils Prousts nennt. Immer wieder werden bei ihm Geschehnisse durch Reflexionen unterbrochen oder außer Kraft gesetzt.

Dagegen wirken die Texte Kurzecks auf den ersten Blick schlichter; sie kommen meist in der Alltagssprache daher – halt so, wie man erzählt, wenn man wie er erzählen kann. Aber dieser Eindruck täuscht. Auch bei ihm wird der Erzählstrom durch reflexive Elemente angereichert – etwa dem Nachdenken über das Vergehen der Zeit. „Kein Nachsommer. Schon vier Wochen kaum je ein Augenblick Sonne. Früh der Herbst, sagt man sich. Als ob das gleich für das ganze Leben gilt. Und muß sich durch die Jahre jedes Jahr einzeln merken. Wird Zeit.“

Zeit wozu?, möchte man fragen. Um alles aufzuschreiben, könnte die Antwort lauten. Beide – Proust und Kurzeck – sehen in der Literatur eine Gegenmacht gegen die „Furie des Verschwindens: die Zeit“ (Wellershoff). So heißt es bei Kurzeck einmal: „Eng die Wohnung. Immer enger um uns her. Aber auf einmal dann wird sie nach allen Seiten hin weit wie der Abendhimmel. Schreiben, Musik und so oft es geht den Wolken nach mit dem Blick. Und beim Schreiben manchmal die Zeit anhalten.“ Und an anderer Stelle: „Wenn ich schreibe, ist immer jetzt!“

Unterscheiden tun sich beide hinsichtlich der Erinnerungsmodi: bei Proust handelt es sich um eine Form der Erinnerungsarbeit. Durch sie werden Ereignisse wieder zum Leben erweckt; sie werden gewissermaßen an ihn herangetragen, so als würden sie sich ihm auch gegen seinen Willen aufdrängen.

Dagegen ruft sich Kurzeck die Eindrücke aus seiner Kindheit scheinbar mühelos ins Gedächtnis zurück, und da er sich an nahezu alle Einzelheiten erinnert, kann er sie auch in ganz unterschiedlichen Kontexten jederzeit rekonstruieren.

Resümierend lässt sich feststellen: Proust ist der Suchende auf den Spuren einer Vergangenheit, die er sich erinnernd vergegenwärtigen muss, wodurch er sich in überaus komplexe Assoziationsketten verstrickt, die immer neue Facetten in ihm auslösen. Bei Kurzeck gewinnt man den Eindruck, dass er sich die Welt seiner Kindheit ganz mühelos zurückholt; sie scheint ihm ständig präsent zu sein; sie ist ihm so nah, als lebte er noch in ihr und würde sich wünschen, sie wäre nie vergangen.

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Gehe ins Basil’s. Bringe für Jürgen, den Automechaniker, mein Buch Begegnungen mit, auf das er mich vor kurzem angesprochen hat. Ich denke, ich bringe es ihm mit, der als Arbeiter wohl nicht so fit ist, sich ein Buch im Internet zu bestellen oder keine Zeit hat, tagsüber eine Buchhandlung aufzusuchen. Als ich ihm das Buch übergebe, ist er überrascht; kann gar nichts sagen.

Im Innenraum sitzt V., der Filmbildner (die genaue Berufsbezeichnung kenne ich nicht) an der langen Theke. Wir begrüßen uns zum Neuen Jahr, und ich setze mich in die Ecke, von wo aus ich den ganzen Laden überblicken kann. Meine Lieblingsposition.

Nach ein paar Minuten kommt V. herüber. Fragt, was ich so mache. Ich erzähle von unseren jüngsten Projekten: Wellershoff 3. Und das Journal 2018. Und was es damit auf sich hat. Ich erzähle einiges über die Beweggründe, die mich zum Journalschreiben veranlasst haben. Auch das Vorhaben über Wellershoff scheint ihn zu interessieren. Aber je mehr ich erzähle, desto mehr habe ich den Eindruck, dass er gar nicht wahrnimmt, was ich erzähle. Er blickt mich an, und in seinen Augen ist eine gewisse Müdigkeit, vielleicht auch Traurigkeit.

Dann erzählt er, dass er in Portbou (Spanien) war, dem Ort, an dem sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Faschisten umgebracht hat. Es scheint ihm sehr nahezugehen, diese Erfahrung. Immer noch bin ich überzeugt, dass all das die Traurigkeit in seinen Augen nicht erklärt.

Mittlerweile hat er zum zweiten- oder dritten Mal Wein nachbestellt. Und erzählt, dass er eine Lungenentzündung hatte und noch immer nicht ganz davon geheilt ist. Und heute sei der erste anstrengende Arbeitstag gewesen; gleich mit zwei intensiven Sitzungen. Vielleicht hat er starke Medikamente nehmen müssen. Das würde seinen Zustand erklären. Im Stillen aber denke ich, dass auch das die Traurigkeit in seinen Augen nicht erklärt. Aber natürlich stelle ich keine diesbezüglichen Fragen.

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Heute war Osmani-Tag. Da wir keine Lust haben, drei Stunden im Veedel rumzulaufen, schlage ich Petra vor, dass ich alleine gehe und einige Besorgungen mache. Ich bewege das Auto, da es heute Nacht gefroren hat; fahre tanken und hole uns im Weindepot unseren Weinvorrat. Für Zimmerschied gleich mit. Danach gehe ich zur Bank und bestelle das Buch von Insa Wilke über Roger Willemsens Musikbesprechungen. Anschließend setze ich mich ins italienische Café am Wilhelmsplatz und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Hier ist immer etwas los; Klein-Italien. Die meist älteren Gäste kennen sich untereinander, und entsprechend lebendig geht es zu. Ich genieße es sehr. Glück habe ich, dass ich beim Frisör sofort dran komme. Kurzhaarschnitt, 6 mm, für 10 €. Hatte mir schon vorab überlegt, dass ich Petra heute mit einem Menü überrasche. Gehe zum Italiener auf der Neusser Straße und hole uns Parmaschinken, Bruschetta, selbstgemachte Gnocchi und Tortellini. Dazu einen Rotwein aus der Toscana. Da es noch früh ist, probiere ich den Cappuccino. Alles zum Besten.

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Wir haben es uns seit einigen Monaten zur Gewohnheit gemacht, nur noch Bücher aus unseren eigenen Beständen zu lesen, statt ständig neue dazu zu kaufen; schon gar nicht die sog. Bestseller, die uns früher nur allzu oft enttäuscht haben. Ich lese noch einmal den Vorabend von Peter Kurzeck; allerdings nur die ersten 100 Seiten des über 1.000 Seiten langen Romans. Gerade die Anfangskapitel begeistern mich, aber dann wird er mir zu redundant; man könnte auch sagen: ich erinnere mich an zu viele Passagen des Romans, den ich auszugsweise schon einige Male gelesen habe.

Ich suche nach einer Anschlusslektüre und stoße auf einen Band mit Erzählungen von Hermann Melville, dem Verfasser des Moby Dick. In dem Band findet sich die Erzählung Bartleby. Die Lektüre fasziniert mich total, wahrscheinlich auch, weil man sie so ohne weiteres nicht deuten kann. Am ehesten ist es wohl eine Kritik an der entfremdeten, inhaltslosen und entleerten Form der Arbeit. Nicht umsonst verlegt Melville das Geschehen in die Wall-Street, dem Zentrum des Finanzkapitals. Es ist auch die Geschichte eines der Gesellschaft abhanden gekommenen Einsamen, der resigniert hat und sich allen Anforderungen gegenüber verweigert. Sein ständiges: I would prefer not to –übersetzt etwa mit: es ist mir eigentlich nicht genehm – ist die Formel, in der der Protagonist seine Verweigerungshaltung artikuliert. Ich denke, dass Melville verschiedene Motive in seine Hauptfigur Bartleby integriert; auch die eigene Enttäuschung und Verzweiflung angesichts seiner Erfolglosigkeit als Schriftsteller, der von der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit nicht verstanden wird; er ist ihr zu weit voraus mit seiner Kritik der seelenlosen kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Petra erinnert sich, dass wir uns vor Jahren eine illustrierte Ausgabe des Bartleby beschafft haben, die im Merlin-Verlag erschienen ist. Die Übersetzung stammt von keinen Geringeren als John und Peter von Düffel; die Illustrationen von Peter Paone. Die besagte, immer wiederholte Aussage Bartlebys heißt in dieser Übersetzung: Ich möchte bevorzugtermaßen nicht.

Auf der Suche nach weiterem Lesestoff lande ich wieder einmal bei Flaubert. Ich erinnere mich an den Romanessay von Wellershoff über ihn. Darin schildert er, wie Flaubert zu seinem Roman Madame Bovary gekommen ist. Auf den Rat seiner Freunde hin, die nach einer radikalen Kritik am bisherigen ausschweifenden Schreibstil Flauberts diesem raten, einen handfesten, konkreten Erzählstoff zu wählen. Vor allem interessiert mich auch, dass Flaubert gesagt haben soll, in der Figur der Madame Bovary habe er viele Eigenschaften seiner eigenen Persönlichkeit dargestellt. Beim Lesen stelle ich fest, dass ich den Roman vor kurzem gelesen habe: 2017 in Wilhelmshaven, wie meine Recherchen ergeben. Da ich aber seinerzeit nicht darüber geschrieben habe, ist mir die ganze Lektüre aus dem Blick geraten, obwohl sie mir jetzt wieder ganz präsent ist. So funktioniert offenbar Erinnerung.

Petra liest mit wachsender Begeisterung Die Buddenbrooks von Thomas Mann. Abends schauen wir uns die ausgezeichnete DVD der Mann-Trilogie von Heinrich Breloer an; eine Symbiose aus Dokumentation und Film. Den Thomas Mann spielt Armin Müller-Stahl. Auch ansonsten ist die Besetzung erstklassig.

Parallel dazu liest sie die Frankfurter Poetik-Vorlesung von Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Ich las sie vor einiger Zeit ebenfalls auf Anraten von Klaus.

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Spielen seit Jahren einmal wieder einen gepflegten Skat. Treffen uns an einem Sonntagnachmittag mit Michael im Basil’s und spielen etwa drei Stunden in angenehmer Atmosphäre. Werden wir wohl jetzt öfter machen.

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Im KStA ist zu lesen, dass die Stadtverwaltung die Räumung mehrere Studenten-Appartements wegen fehlender Besonnung angeordnet hat. Ein Mitarbeiter hatte eine ältere Vorschrift gefunden, und die Räumung veranlasst. Jahrzehntelang waren die Räume vermietet worden. Nach empörten Leserbriefen – es fehlt in Köln an allen Ecken an bezahlbarem Wohnraum – argumentiert die Verwaltung jetzt mit fehlendem Brandschutz. Was die Besonnung mit dem Brandschutz zu tun hat, konnte der Dienststellenleiter auf Nachfrage nicht sagen.

Fast täglich gibt es Meldungen in Köln über verlängerte Bautermine und Kostensteigerungen. Diesmal geht es um das Schulzentrum Nord. Die Fertigstellung der Schule verzögert sich um zwei Jahre, und die Kosten steigen um voraussichtlich 70 %. Na ja – gemessen an den Verzögerungen und Kostensteigerungen beim U-Bahn- und Opernbau sind das Peanuts.

Und noch eine Meldung aus dem Absurditätenkabinett: In Österreich sind vier Männer von einer Schneelawine erfasst und getötet worden. Sie waren auf einer gesperrten Piste unterwegs; ausgestattet mit einem Lawinen-Airbag.

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Habe mich seit längerem einmal wieder mit Zezo in seinem Atelier getroffen. Sprechen wie immer über alles Mögliche. Richtig Fahrt nimmt das Gespräch immer dann auf, wenn wir über Kunst oder Literatur reden. Ich hatte ihm unser drittes Wellershoff-Buch mitgebracht und sage ihm, dass auch er darin vorkomme. Wir hätten Wellershoff seinerzeit berichtet, dass er – Zezo – sich sehr über Wellershoffs Urteil über Ilja Repin als größtem russischem Porträtmaler gefreut habe. Auch über das Lob von Klaus sei er erfreut gewesen. Daraufhin kommt Zezo noch einmal auf die schwarz-weißen Landschaftsbilder von Klaus zu sprechen. Er bewundere dessen Mut, in Grautönen zu malen. Die habe er stets gemieden; wie Landschaftsbilder überhaupt. Aber vor kurzem habe er dann doch eines gemalt. Auf seinem Smartphone zeigt er mir das Bild: es zeigt kahle Bäume am Wegesrand; aber die Bäume hat er in starken rötlichen Farben gemalt, so als würden sie von der Sonne angestrahlt. Das hinterlässt einen eigentümlichen Eindruck, der sich sofort einprägt. So haben die Bilder von Klaus ihn wohl doch angeregt.

Dann berichten wir uns von den Lektüren, die wir gerade lesen. Zezo beklagt das literarische Niveau der meisten Neuerscheinungen. Sprachlich seien sie oft auf einem Level, als habe ein Zwölfjähriger sie geschrieben. Daraufhin erzähle ich ihm, dass wir beschlossen hätten, uns kaum noch neue Bücher zu kaufen. Wir würden auf unsere Bestände zurückgreifen. So lese Petra im Moment die Buddenbrooks und ich den Felix Krull. Das gefällt ihm.

Auch habe er – ein passionierter Kinogeher – Schwierigkeiten mit den neuen Filmen. Er habe sich vor kurzem den Film Fack ju Göhte angesehen. Dieser so sehr angepriesene und mehrfach ausgezeichnete Film sei für ihn eine intellektuelle Zumutung gewesen.

Dann erzählt er von seinen letzten Ausstellungen. Dabei habe er interessante soziale Erfahrungen gemacht, auch wenn sie kommerziell nicht sehr erfolgreich waren. Zurzeit habe er eher zu viele Aufträge angenommen; er müsse halt auch Geld verdienen.

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