Zimmerschied: Eine Oase im Grünen - Joke Frerichs - E-Book

Zimmerschied: Eine Oase im Grünen E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Zimmerschied war ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Nicht nur Zufluchtsstätte und Rückzugsort, um zu regenerieren, wenn berufliche Belastungen oder der Lärm und die Hektik Kölns wieder einmal überhandgenommen hatten. Es war auch der Ort, an dem wir völlig neue, in der Stadt nicht mögliche Naturerfahrungen machten. Hier erlebten wir bewusst den Wechsel der Jahreszeiten; das Leben der Tiere, und wir machten Wanderungen in die Umgebung, die unsere Wahrnehmung erweiterten.

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Seit langem trugen wir uns mit dem Gedanken, ein Domizil im Grünen zu erwerben. Zum Ausspannen, Natur erleben. Ruhe finden. All die Dinge, die in einer großen Stadt immer schwieriger zu realisieren sind. Wir beauftragten einen Makler, uns Angebote zu schicken. Eines Tages traf eine Sammlung schlechter Kopien bei uns ein. Die Häuser darauf waren kaum zu erkennen – meist sah man nur dunkle Flecken und konnte ein Gebäude samt Umgebung mehr erahnen als sehen. Gleichwohl: Wir verabredeten uns mit dem Makler, um ein Objekt in Augenschein zu nehmen: in Zimmerschied. Wir hatten nie von einem Ort dieses Namens gehört. Es war Ende Januar und hatte geschneit. Die Fahrt kam uns sehr lange vor. Am Schluss fuhren wir auf einer kleinen Stichstraße wie durch ein Märchenland. Ringsherum Wald und Schnee. Wie Schneewittchen hinter den sieben Bergen kam es uns vor. Wir wussten nicht so recht, was uns erwartet. Wir fuhren ein stückweit in den Ort hinein und dann rauf zum Friedhof. Das Tor zum Grundstück war verschlossen. Der Makler musste von den Besitzern Angelika und Wolfgang Gellner, die damals noch die Gaststätte führten, den Schlüssel holen, so dass wir Zeit hatten, uns umzusehen. Wir schauten auf das Grundstück mitsamt den schneebedeckten Tannen. Es war wirklich wie in einem Märchen. Ein kleines Haus, etwas außerhalb des Dorfes gelegen: winterfest und mit Strom und Wasser versorgt. Wir sagten dem Makler noch am selben Tag zu. Es war eine der glücklichsten Entscheidungen unseres Lebens.

In der Dorfchronik hieß es: Das Dorf ist das kleinste von allen umliegenden Orten, mit unter hundert Einwohnern. Die Dörfler haben es bis heute verstanden, sich dem hektischen Treiben der Zivilisationsgesellschaft weitestgehend zu entziehen. Man lebt hier nach wie vor gut und geruhsam.

Genau das, was wir uns vorgestellt hatten: Der Ort hat keine Durchgangsstraße. Kein Geschäft. Keine Schule. Nicht einmal eine Kirche. Anfangs gab es noch die Gaststätte, wo man gut essen konnte.

Einmal wöchentlich wurde das Dorf mit Lebensmitteln beliefert. Das heißt: nur noch zwei oder drei Kunden außer uns nahmen die Dienste dieses mobilen Lebensmittelladens in Anspruch. Aber man konnte in Welschneudorf, dem nächstgelegenen Ort, einkaufen: beim Best. Eine Art Tante-Emma-Laden, wo man so ziemlich alles bekam. Und dort gab es auch den besten Metzger, den man sich wünschen konnte: Lehmler.

*

Wie viel Zeit haben wir seither in unserem kleinen Domizil verbracht? Wie viele Stunden draußen gesessen? Die gute Luft genossen. An warmen Sommerabenden die Sternschnuppen gezählt. Das Leben der Tiere beobachtet. Vom Wintergarten aus das Schauspiel des Sonnenaufgangs gesehen; abends die untergehende Sonne. Manchmal verfärbte sich der ganze Horizont: rot, rosa, hellblau, violett; wir konnten uns nicht satt sehen daran.

Wie viele tausend Kilometer mögen wir in all den Jahren gewandert sein. Wenn es das Wetter zuließ, waren wir täglich unterwegs. Wenn nicht zu Fuß, dann mit dem Fahrrad. Und anfangs, als es noch richtige Winter gab, sogar mit den Langlauf-Skiern. All das war hier möglich. Für uns war es die ideale Ergänzung zum hektischen Leben in der Stadt.

*

Ich bin im Laufe der Jahre oft allein hier gewesen, weil ich hier in Ruhe arbeiten und schreiben konnte. Bis 2000 waren es Texte im Zusammenhang mit meiner wissenschaftlichen Tätigkeit; gleich 1987 schrieb ich mein erstes Buch über Arbeitszeitpolitik hier; hinzu kamen Forschungsberichte, Aufsätze, Vorträge und natürlich weitere Bücher. Im Institut wusste man, dass ich in Zimmerschied nicht gestört werden wollte; nur in dringenden Fällen. Meistens hielt man sich daran. Nach Beendigung meiner beruflichen Tätigkeit schrieb ich nur noch literarische Texte: fast alle habe ich in Zimmerschied geschrieben: Romane, Gedichte, Essays und Artikel für Blogs.

Vieles habe ich auch in Form von Tagebuch-Notizen festgehalten. Ein Beispiel:

Ich sitze auf der Bank unter der Linde und sehe auf den Ort. Die Häuser lehnen aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Heiß und still liegt die Dorfstraße da. Sie kann nicht weglaufen, weil die Häuser sie bei Tag und Nacht bewachen. Von der Dorfstraße führt eine kleine Nebenstraße in den unteren Teil des Dorfes. Und so eng die Gasse auch sein mag, so wird doch jedes Haus an diesem Sommertag von ein wenig Sonne beschienen. Selbst die Steine scheinen zu lächeln. Windstill ist es, als ob man den Atem angehalten hätte. Keine Wolke am Himmel. Es gibt solche Tage, so hell, so weit, so still. Es geht auf Mittag zu. Die Häuser stehen noch immer wie eingeschlafene Posten da. Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein.

*

Das Dorf ist von Wäldern umgeben. Mischwald. Wenn ich anfangs allein unterwegs war, vernahm ich nur ein diffuses Rauschen im Wald. Im Laufe der Zeit lernte ich genauer hinzuhören. Zum ersten Mal erlebte ich bewusst den Wechsel der Jahreszeiten. Eine jede mit ihren eigenen Reizen. Schon im März ertönt der Gesang der Vögel. Jedoch: der Frühling ist erst vollends angekommen, sobald die Rufe des Kuckucks zu hören sind; seit Jahren nahezu auf den Tag genau in der dritten Aprilwoche.

An milden Sommerabenden sitzen wir auf unserer Bank und erwarten das allabendliche Schauspiel: Am Horizont geht die Sonne unter. Der Himmel verfärbt sich. Die Vögel verstummen allmählich. Bald tauchen die ersten Fledermäuse auf. Wie trunken fliegen sie kreuz und quer. Dann schwärmen die Siebenschläfer aus. Ihre Signale sind weithin zu hören. In den Büschen ein erstes Aufleuchten der Glühwürmchen. Es sind die Weibchen, die nicht fliegen können. Sie erwarten ihre in der Sommerluft tänzelnden Bewerber. Am Himmel die ersten Sterne. Mit dem aufziehenden Mond verfärbt sich die Landschaft noch einmal und wird von einem silbrigen Grauton überzogen. Ein geheimnisvolles Schweigen liegt über dem Land, als würde die Welt den Atem anhalten. Wir sitzen und schauen und vergessen die Zeit.

Ich bevorzuge den Spätsommer, wenn die Natur zur Ruhe kommt und allmählich in einen sanften Schlummer übergeht. An den letzten milden Oktobertagen, wenn die tief stehende Sonne den Herbstwald in warme Farben eintaucht, wirkt das gedämpfte Licht wie ein Zauber. Zuweilen beobachte ich ein nieder schaukelndes Herbstblatt, als wollte es sich zieren, seine Lebensbahn hier und jetzt zu beenden. Es ist ein ganzes Jahr, das da herabsinkt. Die letzten Kraniche ziehen vorüber; wir schauen ihnen wehmütig nach und wünschen ihnen eine gute Heimkehr. Dann weiß ich: Jetzt beginnen sie, die Tage, die überfließen vor Zeit. Die Tage der Besinnung und des Lesens.

*

Auf meinen Wanderungen durch die Wälder der Umgebung kenne ich nahezu jeden Weg und die schönsten Plätze. Ich nenne sie meine poetischen Orte. Ich setze mich auf einen Baumstumpf und überlasse mich ganz der Situation. Es ist ein Sichverlieren. Ich schnappe förmlich nach Wörtern für meine Eindrücke, Gefühle, Gedanken. Mir ist, als würde ich mir aus ihnen ein flüchtiges Zuhause zimmern, in dem ich mich eine zeitlang niederlasse. Ich schaue mir die Umgebung an und horche auf die Geräusche. Anfangs vernahm ich lediglich eine diffuse Klangfülle: mittlerweile unterscheide ich das Rauschen der Bäume; das Glucksen des mäandernden Baches; den Gesang der Vögel; das Summen der Bienen; das eintönige Gebrumm des fernen Verkehrs und der sich kreuzenden Fluglinien.

Meine poetischen Orte sind Stätten, an denen ich zu mir selbst finde. Es sind Orte des Nachdenkens und der Stille. Alles beginnt mit einem Staunen. Ich habe mir angewöhnt, auf die Pflanzen zu achten, die den Wegrand säumen. Völlig unscheinbare und häufig übersehene sind darunter. Immer wieder schaue ich sie mir an. Wahre Wunderwerke: so bunt, so zart, so vielfältig. Im Laufe der Zeit entwickelte sich so etwas wie ein Aufmerksamkeitssinn für die kleinen und kleinsten Dinge. Je länger ich sie anschaue, desto sicherer bin ich mir, dass sie mich ebenfalls anschauen und mir etwas sagen möchten.

Ich liebe es, im Freien zu sitzen und zu lesen. Dann geschieht es, dass ein winziges Käferchen sich auf eine Buchseite setzt. Es läuft kreuz und quer, ohne Anstalten zu machen, wieder davonzufliegen. Ich nutze die Gelegenheit, es mir genauer zu betrachten: wie es gezeichnet ist und die Farbe verändert, sobald es sich zum Licht dreht; ich sehe die kleinen Fühler, die sich ständig neu ausrichten. Manchmal hält es kurz inne: als wollte es mitlesen. Dann glaube ich ein Gesicht zu entdecken. Kaum sichtbar die Augen. Je länger ich das kleine Wesen betrachte, desto mehr Demut empfinde ich vor diesen Wunderwerken der Schöpfung.