Streuwiesen. Ein Lesebuch - Joke Frerichs - E-Book

Streuwiesen. Ein Lesebuch E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Das Buch versammelt Texte, die in den letzten Jahren zumeist im Blog der Republik erschienen sind. Das thematische Spektrum umfasst Beiträge zur Literatur, Philosophie und Soziologie. Bei den literarischen Texten handelt es sich meist um Besprechungen wieder gelesener und oft schon vergessener Romane; mithin keineswegs um die vom Feuilleton bevorzugten aktuellen Bestseller. Während diese meist einer gewissen Marktlogik folgen, stellen die hier versammelten Texte eine höchst subjektive Auswahl dar, deren gemeinsames Merkmal die literarische Qualität darstellt. Die Anordnung der Beiträge erfolgt eher zufällig und stellt keineswegs ein Qualitätskriterium dar.

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Seitenzahl: 192

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Peter Handke: Der Bildverlust

Thomas Bernhard: Ein Kind

Kurt Drawert: Deutsche Zustände

Stefan Mau: Leben in Ostdeutschland – vor und nach der Wende

Ästhetik und Politik im Werk Georg Büchners

Die Versuchung der Einsamkeit

Götz Eisenberg: Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus

Hermann Hesse: Über Politik, Bäume und Alter

Robert Walser: Die Räuber

Joseph Conrad: Herz der Finsternis

Warum Literaturkritik wichtig ist

Sprache in Corona-Zeiten

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Anmerkungen zu Benjamins Baudelaire Studien

Notizen zu Faulkner

Ist Marx noch aktuell?

Friedrich Engels: Ein Vordenker der Arbeiterbewegung

Mackie Messer – Der Dreigroschenfilm

Über Jean Paul

Zwei Meister der Erzählkunst: Peter Kurzeck und Marcel Proust

Albert Camus: Die Pest

Normen und Werte

Angaben zum Autor

Streuwiesen sind vom Menschen gestaltete Kulturlandschaften

Vorbemerkung

Der folgende Text enthält Beiträge, die in den letzten Jahren zumeist im Blog der Republik erschienen sind. Da diese schwer zugänglich sind, sind sie hier noch einmal versammelt. Das thematische Spektrum umfasst Beiträge zur Literatur, Philosophie und Soziologie. Bei den literarischen Beiträgen handelt es sich meist um Besprechungen wieder gelesener und oft schon vergessener Romane; mithin keineswegs um die vom Feuilleton bevorzugten aktuellen Bestseller. Während diese oft einer gewissen Marktlogik folgen, stellen die hier versammelten Texte eine höchst subjektive Auswahl dar, deren gemeinsames Merkmal die literarische Qualität darstellt. Die Anordnung der Beiträge erfolgt eher zufällig und stellt keineswegs ein Qualitätskriterium dar.

Peter Handke: Der Bildverlust

Peter Handke hat den Literatur-Nobelpreis für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlicher Genialität die Peripherie und die Spezifizität der menschlichen Erfahrung untersucht, erhalten, wie es in der Begründung der Stockholmer Akademie heißt. Weiter heißt es: Die besondere Kunst von Peter Handke ist die außergewöhnliche Aufmerksamkeit zu Landschaften und der materiellen Präsenz der Welt.

Ein Beispiel für diese Art seines Schreibens ist der Roman Der Bildverlust. Während der Lektüre des Romans habe ich mich ständig gefragt, was der Autor mit dem Titel „Bildverlust“ ausdrücken will. Erst gegen Ende des Romans lüftet er das Geheimnis. In einem Gespräch des Autors mit der Hauptdarstellerin des Romans wird der komplexe Sachverhalt, der mit Bildverlust umschrieben wird, sukzessive entfaltet.

In einem Roman, der voller Bilder ist, mutet der Begriff zunächst seltsam deplatziert an. Ständig werden wir mit Bildern konfrontiert. Will Handke uns die Welt noch einmal vorführen – die Welt, in der es noch Bilder gab? Hat er sich deshalb auf die lange Reise mit seiner Protagonistin begeben, in eine noch weithin unerschlossene, fast vergessene Gegend in der Mitte Spaniens, einer Wüsten- und Gebirgsgegend, die noch fast unberührt von den Versuchungen der modernen Zivilisation ist?

Und: was für eine Welt wird das sein, in der es keine Bilder mehr gibt? Oder präziser: In der es zwar weiterhin Bilder geben wird, die aber keine Aussagekraft mehr besitzen – keine Wirkung mehr haben.

Oder nein: sie könnten vielleicht weiterwirken. Aber ich bin nicht mehr fähig, sie aufzunehmen und einwirken zu lassen. – Was stattdessen auf mich einwirkt, das sind die gemachten und gelenkten, die von außen gelenkten und nach Belieben lenkbaren Bilder, und deren Wirkung ist eine konträre. – Diese Bilder haben jene Bilder, haben das Bild, haben die Quelle zerstört. Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde ein Raubbau an den Bildergründen und –schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen.

Dies ist eine der Schlüsselstellen des Romans. Ich interpretiere sie so, dass Handke den Verlust authentischer Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle beklagt. ‚Bilder‘ – wie er sie versteht, kommen von ‚innen‘. Sind Resultat der Verarbeitung von Erlebtem, Gesehenem. Genau dieser Prozess, der aus der naiven Anschauung eine bewusste Wahrnehmung, ja Erfahrung macht, geht in der Moderne mit ihrer extremen Reizüberflutung verloren. Dies meint er wohl, wenn er vom Bildverlust spricht: Einen dramatischen, unwiederbringlichen Verlust an authentischer Welterfahrung.

Naturerfahrungen müssen an erster Stelle genannt werden. Erfahrungen von unberührter Natur. Aber wo gibt es diese noch? Die schönen Flecken der Erde sind längst von Touristik-Unternehmen belegt, die uns mit ihren Versprechungen von heiler Natur in die fernsten, noch unberührten Gegenden dieser Welt locken. Und dann die Werbung: sie ersetzt mehr und mehr die Wirklichkeit. Wir leiden ja nicht an fehlenden Bildern, sondern an der Überflutung mit ihnen.

Warum stellt für Handke der Verlust von Bildern so etwas wie eine existentielle Bedrohung dar? Vielleicht deshalb, weil Bilder zu haben, Teilnahme am Leben bedeutet. Verbundenheit mit der Welt. Sie befördern die Einsicht, Teil eines größeren Ganzen zu sein.

Ja. Die Bilder, sowie sie sich einstellten, bedeuteten am-Leben-Sein (...) Jene Bilder schienen, in all der Vergänglichkeit (...) das Unverwesliche zu sein. Selbst wenn mir nur eines am Tag dazwischenkam, blitzkurz, sah ich es als Folge und Fortsetzung, und Teil eines Ganzen: die Bilder als die Weltbestandsschleppe, über die ganze Erde streifend und sie, die kleinsten Orte und Winkel, belebend.

Die Gewissheit der Bilder – ihre Wahrhaftigkeit, Authentizität – verheißen einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Etwas, dass sonst nur der Glauben vermittelt – freilich nur der von ökumenischem Geist beseelte. Oder auch die Liebe – eine allumfassende, die ganze Menschheit einbeziehende, wie sie etwa in Beethovens Neunter aufscheint.

Genau diese Überzeugung von Zusammengehörigkeit geht – allen Geschwätzes von Globalisierung zum Trotz – in einer Welt des Raubbaus an menschlichen und natürlichen Ressourcen verloren. Die Natur ist nur noch Mittel zum Zweck. Verfügungsmasse. Objekt der Ausbeutung und Nutzanwendung. Nicht mehr Gegenstand der Kontemplation, der Anschauung. Inspirationsquelle. Und insofern ist es nur konsequent, wenn Handke uns darauf hinweist, dass jeder Verlust an Naturerfahrung eben auch einen Bildverlust darstellt.

Was bleibt ist eine Welt der Künstlichkeit, der Schnell-Lebigkeit, der Oberflächlichkeit – alles Erscheinungen, die den Verlust an Bildern beschleunigt haben.

Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Größerem und Beständigem. Bilder stellten den Wert der Werte dar. Sie waren unser scheinbar sicherstes Kapital. Der letzte Schatz der Menschheit.

Durch Bilder ließen sich Außenwelt und Innenwelt verbinden und festhalten. In diesem Sinne bedeuteten sie Reichtum.

Im Bild wurde ich täglich erlöst und geöffnet. Im täglichen Bild wurde ich ein anderer. In den Bildern erschien, was schön und recht war eben, indem es schlicht erschien. Und sie waren auch etwas anderes als die Erinnerungen.

Anders als die immer schon interpretierte Welterfahrung – etwa durch die Wissenschaft oder Religion – stellen Bilder das Unmittelbare schlechthin dar. Das allerdings setzt einen Zugang zur Welt voraus, der noch weithin unentfremdet ist. Weder durch Ideologien verzerrt, noch von äußerem Schein verdeckt. Nach dieser Art unverstellter Naturerfahrung scheint Handke sich zurück zu sehnen. Und er weiß, wovon er spricht, der passionierte Wanderer, der immerzu den Kontakt mit seiner natürlichen Umwelt sucht.

Mit seiner Charakterisierung der Welt als Bildverlust möchte er zumindest an die Utopie einer Welt erinnern, die sich dem Menschen noch als Geheimnis und zu Entdeckendes offenbart. Es ist eine Welt, die noch nicht von Seinsvergessenheit und Entfremdung geprägt ist. Aber gibt es diesen Weg zurück? Wohl eher nicht. Sonst hätte er wohl auch diesen Roman nicht geschrieben. Aber die Erkenntnis des Bildverlustes kann vielleicht dazu führen, dass ein Bewusstsein dieses Verlustes uns möglicherweise sensibler macht für das, was wir verloren haben. Man könnte auch sagen: Wenigstens das unglückliche Bewusstsein (Marcuse) dieses Verlustes sollte auf diese Weise erhalten bleiben – damit nicht alles dem Vergessen anheimfällt. Denn: Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste. – Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation.

Indem Handke das ‚unglückliche Bewusstsein‘ über den ‚Weltverlust‘ bewahrt, gibt er einer möglichen Quelle des Widerstands und der Empörung Raum. Solange noch der Schmerz über diesen Verlust bewusst wird, ist das verdinglichte Bewusstsein nicht total.

Wie es mich an mir selber empört, dass die Bilder, die mir einmal alles waren, so zunichte geworden sind. Die Bewegung eines Baumblatts genügte, und ich spielte mit in der weitesten Welt. Ein Stück blauen Morgenhimmels im blauen Nachthimmel. Ein beleuchteter Zug im Dunkeln. Die Augen der Leute in der Menge, vor allem die Augen! Die Bartstoppeln des zum Tode Verurteilten. Der Schuhberg der Vergasten. Die Distelräder im Wind durch die Savanne rollend. Im Bild habe ich die Welt umarmt, dich, uns. Bilder, Unterstände, dunkle Schutznischen. Nichts ging mir über das Bild. Und jetzt?

Ja, und jetzt? Jetzt scheint der Zugang zur Welt versperrt. Die Wahrnehmungen gleiten ab. Die von außen kommenden Bilder – fremdbestimmt und künstlich – bleiben ohne Bedeutung. Man kann sie nicht einfach abrufen. Sie werden uns angetragen, aber haben nichts mehr mit unserer Erfahrungsund Gefühlswelt gemein. Sie überfluten uns, ohne den Weg in unser Inneres zu schaffen. Sie prallen an uns ab.

Aber noch können wir uns des Verlustes bewusst werden. Noch können wir uns der Zeiten erinnern, als sich die Welt über Bilder erschloss. So bleibt am Ende doch noch etwas Hoffnung. Und bestünde diese auch nur darin, die Geschichte vom Bildverlust weiter zu erzählen. Das könnte die Botschaft Handkes sein – vorausgesetzt, er wollte uns tatsächlich eine solche mit auf den Weg geben.

Thomas Bernhard: Ein Kind

Die Autobiographischen Schriften von Thomas Bernhard umfassen fünf Bände. Im Band mit dem Titel Ein Kind beschreibt er in permanenten Zeitsprüngen seine unglückliche Kindheit. Aufgehellt wird diese allein durch seine Beziehung zum Großvater, den er abgöttisch liebt, der ihn erzieht, bei dem er Trost findet, der an ihn glaubt. Die Beiden sind unzertrennlich. Wir erfanden uns eine Welt, die mit der Welt, die uns umgab, nichts zu tun hatte. Vor allem schützte der Großvater ihn vor den destruktiven Einflüssen der Schule. Während der Schulstoff ihn unendlich langweilt, meint sein Großvater, es komme nur darauf an, durchzukommen, wie, das sei vollkommen gleichgültig, er halte nichts von Noten. Ich sei überdurchschnittlich intelligent, die Lehrer kapierten das nicht, sie seien die Stumpfsinnigen, nicht ich, ich sei der Aufgeweckte, sie seien die Banausen.

Auch der Hassliebe der Mutter und ihren ständigen Vorwürfen, er sei nur Ballast für sie, zu nichts zu gebrauchen und werde es auch zu nichts bringen, kann er kaum entkommen. Er flüchtet in problematische Ausweichmanöver, schwänzt sie Schule, läuft von zu Hause fort und handelt sich auf diese Weise allerlei Misshelligkeiten ein. Gezeigt wird aber auch, wie sich allmählich die Widerständigkeit im Knaben entwickelt und er verzweifelt versucht, nicht gänzlich unterzugehen oder sich gar umzubringen.

Schlüsselstellen des Romans sind eine gescheiterte Fahrradtour des Achtjährigen nach Salzburg – eine Art Fluchtversuch von zu Hause weg. Der Versuch scheitert zwar, macht ihn aber dennoch stolz auf sich, weil er ihn gewagt hat und ziemlich weit gekommen ist. Dann die Verschickung in ein sog. Kindererholungsheim ins ferne Saalfeld in Thüringen. Ihm wurde seitens der Mutter vorgegaukelt, es diene seiner Erholung; in Wirklichkeit entpuppt sich das Heim als Anstalt für schwer erziehbare Kinder; mit allen Attributen einer autoritären, nazistisch geprägten Erziehung. Und schließlich sind da die Qualen des Schulbesuchs; eine einzige Tortur für den unehelichen Sohn einer armen Familie, für den die Schule ein Ort der permanenten Demütigung ist.

Ich war dem Spott meiner Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Die Bürgersöhne in ihren teuren Kleidern straften mich, ohne dass ich wusste, wofür, mit Verachtung. Die Lehrer halfen mir nicht, im Gegenteil, sie nahmen mich gleich zum Anlaß für ihre Wutausbrüche. Ich war so hilflos, wie ich niemals vorher gewesen war. Zitternd ging ich in die Schule hinein, weinend trat ich wieder hinaus. Ich ging, wenn ich in die Schule ging, zum Schafott, und meine endgültige Enthauptung wurde nur immer hinausgezogen, was ein qualvoller Zustand war.

Seine Erziehung erhält er von seinem Großvater, der ihn auf seinen Spaziergängen mitnimmt, ihm die Natur erklärt und das Leben überhaupt. Vom Großvater sagt der Autor:

Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen … Er war von Halbgebildeten umgeben. Es ekelte ihn wenn sie ihre Stimme erhoben. Bis an ihr Lebensende haßte er ihren Artikulierungsdilettantismus. Wenn ein einfacher Mensch spricht, ist das eine Wohltat. Er redet, er schwätzt nicht. Je gebildeter die Leute werden, desto unerträglicher wird ihr Geschwätz.

Der Großvater ist Schriftsteller, wenn auch kein sehr erfolgreicher. Er lenkte seine Energie nicht in die Politik, sondern in die Literatur. Und er ist Anarchist. Anarchisten sind das Salz der Erde, sagte er immer wieder. Er hasst alle Autoritäten, die staatlichen ebenso wie die kirchlichen. Insbesondere die Katholische Kirche zog seinen Hass auf sich:

Die katholische Kirche war ihm eine ganz gemeine Massenbewegung, nicht mehr als ein völkerverdummender und völkerausnützender Verein zur unaufhörlichen Eintreibung des größten aller denkbaren Vermögen..und beutet weltweit selbst die Ärmsten der Armen millionenfach aus nur zu dem Zwecke der unaufhörlichen Vergrößerung ihres Besitzes..Die Kardinäle und Erzbischöfe sind nichts anderes als skrupellose Geldeintreiber für nichts.

Entgegen der Mutter, die zeitlebens vergebens versucht, in der bürgerlichen Normalität Fuß zu fassen, war der Großvater dieser Normalität von frühester Jugend an entflohen, für die er nichts als Spott und Hohn und die tiefste Verachtung übrig hatte … Wir waren auf dem Seil gefangen, vollführten unsere Überlebenskunst, die sogenannte Normalität lag unter uns, wir trauten uns nicht, in die Normalität hineinzustürzen, weil wir wussten, dass dieser Kopfsprung unseren sicheren Tod bedeutet hätte.

Hans Hartung schreibt über das Buch: Dieses letzte und zugleich erste Buch seiner Autobiographie kann auf jede Erklärung verzichten: Ganz einfach, menschlich; es ist vielleicht das schönste, das Bernhard geschrieben hat. Dem kann man sich nur anschließen. Ich habe die Lektüre – auch wegen gelegentlicher Übereinstimmungen mit eigenen Kindheitserfahrungen – mit größtem Interesse gelesen, mitgelitten und sie teilweise auch genossen.

Als Motto für sein Buch wählte Thomas Bernhard einen Spruch von Voltaire: Niemand hat gefunden oder wird je finden.

Kurt Drawert: Deutsche Zustände

Wer die gegenwärtigen Befindlichkeiten in unserer Gesellschaft verstehen will, sollte nicht nur auf die politischen Großereignisse schauen, die im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Ebenso wichtig ist es, sich die subjektive Seite der Veränderungen klarzumachen, die sich in den letzten Jahren in beiden Teilen Deutschlands vollzogen haben.

Der Schriftsteller Kurt Drawert kennt beide Seiten; er hat sie intensiv erlebt und beeindruckende Texte darüber geschrieben. In seiner Lyrik und Prosa finden sich zahlreiche Zeugnisse eines verzweifelten Kampfes um persönliche und politische Orientierung in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit (Habermas).

In seiner Gedichtsammlung Frühjahrskollektion (2002) sucht Drawert ein Ventil für die Demütigungen und Zurichtungen, denen er in seiner bisherigen Lebensgeschichte offenbar hilflos ausgeliefert war. Man spürt fast in jeder Zeile das Ringen des Schriftstellers um eine adäquate Sprache für sein Streben nach Selbstvergewisserung. Er ist ein Suchender, der zu wissen scheint, dass er nicht findet, wonach er sucht.

Sein Erfahrungsraum war lange Zeit der Osten Deutschlands. Hier hat er eine unglückliche Kindheit erlebt; unter der geistigen Enge gelitten und versucht, den Zumutungen von Elternhaus, Schule und Behörden zu widerstehen. Voller Verbitterung berichtet er von diesen Erfahrungen; ihm geht es darum, sie endlich abzustreifen; vergessen zu machen. In seinem Prosatext Spiegelland (1992) hat Drawert die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend in der DDR reflektiert und eindringlich geschildert. Es sind Zeugnisse des (Selbst)Hasses und eine einzige Anklage – insbesondere adressiert an den regimetreuen Vater, der seinem Sohn ohne jedes Verständnis begegnet und an eine soziale Umgebung, die in einer Mixtur aus Anpassung und Gleichgültigkeit die Existenz des Heranwachsenden bedroht.

Drawert konfrontiert schon früh die DDR-Wirklichkeit mit der Nazi-Vergangenheit, die sich hinter der sozialistischen Welt nur zu kaschieren versucht. Der behauptete Antifaschismus könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es versäumt hatte, sich ernsthaft mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Damit knüpft Drawert an Brecht an, der nach dem 17. Juni 1953 bemerkt hatte: Es ist einer der Hauptfehler der SED und der Regierung, dass sie diese Nazielemente in den Menschen und in den Gehirnen nicht wirklich beseitigt hat. Brecht beschwerte sich darüber, dass es ein Tabu war, von der Nazizeit zu sprechen und dass Bücher am Erscheinen gehindert wurden, wenn diese davon handelten.

Drawert konstatiert bereits Anfang der 90er Jahre, dass die deutsche Wiedervereinigung das Gebiet der ehemaligen DDR zu einer Laborschale zur Herstellung rechtsradikaler Bewusstenseinszustände gemacht hat.

Und es wundert auch nicht, dass gerade der Osten kriminelle Energien freisetzt, empfänglich ist für Fremdenhaß, Neonazismus und alle Arten von Gewalt, die die herrschende Realität immer schon begleitet hat und sich nur ihre geeigneten Ausdrucksformen sucht. Die Bewegungen der radikalen Szene sind keine verspäteten Abwehrreflexe auf den SED-Staat und seine administrativen Strukturen, vielmehr stehen sie in einer Kontinuität dazu und machen im Nachhinein den militanten Charakter der Macht sichtbar. Er legt damit gewissermaßen den nationalsozialistischen Untergrund der DDR bloß, der Vielen erst nach den Untaten der NSU bewusst zu werden begann.

Drawerts primäres Anliegen als Schriftsteller ist es, aufzuzeigen, wie insbesondere die Sprache als Unterdrückungs- und Herrschaftsinstrument instrumentalisiert wurde, indem man Jugendlichen einen bestimmten Sprachkanon eintrichterte. Zeitweilig reagiert er darauf mit Sprachverweigerung als einer hilflosen Form des Widerstands. Er versucht zu überleben, indem er sich möglichst selbst verleugnet und unsichtbar macht. Alles abbrechen, ein Anderer werden – das ist leicht gesagt, zumal, wenn einem auch die Sprache allmählich abhanden gekommen ist. Wenn die Sprache ihre Eindeutigkeit eingebüßt hat und die Begriffe das nicht hergeben, was sie verheißen, dann werden sie zur nackten Hülse; wieder und wieder gebraucht, wiederholt, gedankenlos dahergesagt, ohne dass auch nur nach ihrem Sinn gefragt würde. Für einen Heranwachsenden, der hinreichend sensibel ist, gibt es keinen Ausweg, keine Alternative. Alles ist verbaut. Hat er die Wirklichkeit so weit durchschaut, dass ihm alles nur noch als Lug und Trug erscheint, bleibt nur eine Art innerer Emigration, Verbitterung, Verzweiflung.

Ich muß der allereinsamste Mensch gewesen sein, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte, daß das Gegenteil von Nichtstun und Verkommen eben diese unerträgliche, geisttötende und sterbenslangweilige Ausbildung war mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der totbeleuchteten Aufschrift ‚Der Sozialismus siegt‘ vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief. Diese Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens gewesen, die aber auch jeden Ansatz von Individualität, wo immer sie möglich war, zerstörte, und zu denken ist etwas Feindliches und Absonderliches und ganz und gar Schädliches gewesen, das auf verbotene Lektüre schließen ließ und bekämpft werden musste, mit allen Mitteln der proletarischen Diktatur.

Lange, zähe Jahre gehen dahin. Enttäuschung folgt auf Enttäuschung; Desillusionierung auf Desillusionierung, bis nichts mehr bleibt als die bloße Verneinung all dessen, was einem aufgetragen wird und einen umgibt. Und dann – 1989 – gibt es doch für eine kurze Zeit die Hoffnung auf Besserung. Nur für kurze, sehr kurze Zeit scheint sie auf: die Hoffnung, dass dieses abgestandene und heruntergekommene, kleine deutsche Land im Osten würde etwas hervorbringen können, was allein unserer Idee entsprungen war. Es ist die Hoffnung darauf, dass die Menschen einen Sinn in sich haben, deren Text sie nur noch nicht kennen und deren Sprache sie nur noch nicht zu sprechen gelernt haben. Gleichwohl sind sie auf die Straße gegangen, zu Hunderttausenden, selbst auf die Gefahr hin, zu sterben. Sie sind auf die Straße gegangen, weil sie den Sinn in sich wahrgenommen haben und auf der Suche nach einer Sprache für diesen. Auf der Suche nach einem Diskurs, der die bekannten Diskurse verläßt, die Diskurse der Unterwerfung waren. Ein jeder Mensch hat in sich das Gesetz eines Sinns, dachte ich, der durch die Umstände unterdrückt worden ist oder schlimmstenfalls auch zerstört. Es ist die Anwesenheit einer Würde, die noch nicht Sprache und noch nicht Text geworden ist, aber bereits ahnbar als Sinn einander verbindet.

Die Zeit der Illusion währt nur kurz. Es gelingt nicht, eine neue Sprache zu kreieren, die Begriffe zu klären, ihnen neue Bedeutungen zu geben. Die Sprache bleibt dem System der Unterwerfung zu sehr verhaftet. So ist diese Revolution eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern ein lediglich umgekehrtes System geworden ist.

Das Beeindruckende an Drawerts Texten ist, dass sie keine abstrakten Erörterungen bleiben. Vielmehr versuchen sie, die individuellen Voraussetzungen der historischen Umwälzung in den Blick zu nehmen. Wenn man so will: den subjektiven Faktor. Dabei wird klar, dass ein Sozialisationsprozess, der auf Anpassung und Unterwerfung beruhte, nicht einfach abgestreift werden kann – auch nicht in Phasen revolutionärer Veränderung. Immer wieder versucht der Autor, durch lebensgeschichtliche Rückblenden den Grad individueller Entfremdung aufzuzeigen. Deutlich wird, dass das aus der Notwehr geborene, aus Verweigerung und Abkehr bestehende Verhalten des Protagonisten bei weitem nicht ausreicht, um sich selbst – geschweige denn die gesellschaftlichen Umstände zu verändern. Zu tief haben sich die Spuren der Erziehung im alten System eingegraben. Es spricht für Drawerts Aufrichtigkeit, dass er den Verästelungen dieser persönlichen Prägungen schonungslos nachspürt – ohne den Versuch zu machen, sich in irgendeiner Weise herauszureden oder zu legitimieren. Der ganze Text zeugt vom Ringen, Klarheit für sich selbst zu schaffen.

Dieses Vorhaben gestaltet sich für den Autor umso schwieriger, als auch die neue Zeit wenig an Perspektiven bietet. Die Übersiedelung in den Westen bringt neue Probleme mit sich. An die Stelle des Mangels und der Enge tritt nunmehr die Überflutung mit Reizen der Konsumwelt.

Jetzt siehst du, gestand ich mir ein, die banalsten Filme, die es überhaupt gibt, fingerst in den allerdümmsten Zeitschriften herum, verbringst die Tage in finsterster Geistlosigkeit und Leere und gibst nur die letzten Ersparnisse aus, die du dir mit Gedankenarbeit mühsam beschafft hast ... Anfänglich war ich wenigstens noch dagegen, ich ließ mich fallen und verführen und litt, gefallen und verführt zu sein, aber dann, es war ein Morgen wie alle anderen, ich erwachte zu früh vom Geschrei glücklicher Vögel, stand von meinem Nachtlager auf und schaltete, gesunken und entleert, wie ich geworden war, sofort mit dem Erwachen den Fernseher an und döste bis zum Frühstück in die jeweilige vollkommen geistlose Sendung hinein, und dieses Hineindösen nannte ich motivierendes Wachwerden, ganz im Ernst, ich wollte motiviert und produktiv, informiert und umsichtig in den Tag kommen, sagte ich, eine Werbesendung lief, schön, all diese Neuheiten und Perfektionen, die die Neuheiten und Perfektionen von gestern um ein Detail übertrafen, man kann ja immer am Laufen und Bestellen und Anziehen und Wegwerfen sein, in Gedanken ging ich meinen letzten Kontoauszug durch, es war ein Morgen wie alle anderen, aber dann merkte ich es nicht mehr.

Die historische Wende hat das Bedürfnis nach einem sinnvollen Leben in Würde nicht befriedigt. Was sie gebracht hat, ist ein Mehr an Konsummöglichkeiten. Aber der kurzzeitige Konsumrausch mündet schnell wieder ein in die Leere eines Daseins, das aus lauter sich selbst reproduzierenden Ansprüchen besteht, so dass diese letztlich erneut zum Gefängnis werden und die versprochene Freiheit ersetzen. Drawert reflektiert die neugewonnene Freiheit in ihrer ganzen Ambivalenz:

Ich dachte darüber nach, für was sich das Aufstehen lohnen würde. Sobald ich nachzudenken begann, war ich sehr um Objektivität bemüht, mit der ich die Vor- und Nachteile des Aufstehens zu erwägen versuchte. Aber was ich herausfand, waren immer nur jede Menge Nachteile. All das hindert ihn, das hervorzubringen, was er sich als Tagespensum vorgenommen hat: Die Würde des gültigen, brauchbaren Satzes.