Das Haus des Dichters - Joke Frerichs - E-Book

Das Haus des Dichters E-Book

Joke Frerichs

4,8

Beschreibung

Dies ist ein Roman über das Schreiben. Ein Namenloser zieht sich in die Einsamkeit eines kleinen Dorfes zurück und widmet sich ganz seiner Leidenschaft: der Literatur. Monatlich sucht er ein Antiquariat auf. Er führt gelehrte Gespräche mit dem Antiquar. Ansonsten unterhält er Briefkontakte zu interessanten Zeitgenossen, aber auch zu längst Verstorbenen. Der Antiquar rät ihm, Kontakte zu Schriftstellern aufzunehmen. Auf diese Weise macht er die Bekanntschaft eines Schriftstellers, der ihn zum Schreiben ermuntert.

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Ich pflegte einen vertraulichen Umgang mit allem, was kein Mensch merkt. Daran, an was zu denken kein Mensch sich Mühe gibt, dachte ich tagelang. Mitunter sprang es wie ein unsichtbarer übermütiger Tänzer zu mir in die abgelegene Stube hinein. Ich tat niemand weh, und auch mir tat niemand weh. Ich war so schön beiseit. (Robert Walser: Der Dichter)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Epilog

Prolog:

Vor langer Zeit hatte ich einen Traum.

Ich stehe im dichten Wald und blicke hinüber zu einem alten Haus mit eisenfarbenen Wänden. Es ist tiefe Nacht, und die Sonne scheint. Vor kurzem bin ich gestorben. Vielleicht ist deshalb alles so still.

Wie viele Sommer steht es schon da, das geheimnisvolle Haus. Wie viel Freude und Trauer hat es gesehen. Immer wenn jemand starb, wurde es neu gestrichen. So auch jetzt, wo ich gestorben bin. Ich wünsche mir die Farbe Rot. Rot für Feuer und Liebe.

Das offene Gelände ist seit langem verwaist. Früher soll es hier einen Garten gegeben haben. Vor meiner Zeit. Jetzt ist es der Herrschaftsbereich des Unkrauts. Über dem verwilderten Garten fliegen große schwarze Vögel hin und her; wie Schatten, die sich vergrößern und wieder zusammenziehen. Sie grüßen von einem, der vor meiner Zeit hier gewohnt hat.

Jetzt kommt das Haus mir vor, als habe ein Kind es gemalt. Die Wände schräg und die Tür geöffnet, als würde jemand bitten: Tritt ein, hier ist noch ein Platz für dich frei. Über dem Dach kommt Unruhe auf; doch die Wände des Hauses stehen ganz friedlich da. Man hat sie mit bunten Bildern geschmückt, deren vergoldete Rahmen die Motive zu bändigen scheinen. Aber das scheint nur so. Als ich genauer hinschaue, bemerke ich, dass die Bilder aus den Rahmen treten. Sie wollen in die Welt hinaus.

Ich schaue in den weiten Horizont einer Sommernacht. Aus dem Wald ertönt der Ruf eines Käuzchens. Lockruf und Sehnsucht in einem. Es ist an der Zeit. Meine Ahnung wird zur Gewissheit: noch bevor die Nacht vorüber ist, muss ich mich entschieden haben. Wofür, das weiß ich nicht.

I.

Wäre es in meinem Leben nicht durch äußere Umstände zu einer gravierenden Veränderung gekommen, es wäre wohl noch jahrzehntelang so weiter gegangen mit mir. Aber dann verlor ich von heute auf morgen meine Arbeit. Nicht, dass mir sofort bewusst geworden wäre, was das für mich bedeutete: Zunächst hoffte ich, wieder Fuß fassen zu können, und einige Male gelang es mir auch, eine neue Tätigkeit zu finden. Aber immer nur für kurze Zeit. In den Beruf zurück fand ich nicht. Wenn ich von Beruf rede, so ist das in gewisser Weise ein Euphemismus. Ich arbeitete in einem Büro und schrieb Rechnungen und Geschäftsbriefe. Was ich da schrieb, interessierte mich nicht. Lediglich zum Schreibakt selbst hatte ich eine gewisse Affinität. Schon in der Schule war das so. Ich schrieb gerne, und sogar das Abschreiben machte mir mehr Spaß als alles andere. Zum Zeitvertreib jonglierte ich mit einzelnen Buchstaben. Ich wunderte mich darüber, wie viele Formen sich aus einem Buchstaben gewinnen ließen. Ich sprach die Silben der Worte vor mich hin. Von ihrem Klang ging eine seltsame Faszination aus.

Auch übte ich mich darin, diverse Schreibstile auszuprobieren. Während mir das Schriftbild anfangs von rechts nach links kippte, entwickelte ich mit der Zeit eine Schriftform, deren Buchstaben durch üppige Rundungen und geschwungene Enden meinem Bedürfnis nach Harmonie entsprachen. Hingegen waren Zahlen mir stets ein Gräuel. Sie standen für eine mir unverständliche Welt voller Merkwürdigkeiten.

Was ich zu schreiben hatte, wurde mir diktiert oder vorgegeben. Keinen einzigen Satz hatte ich je aus eigenem Antrieb oder nach meinen Vorstellungen formuliert. Es war eine geistlose Tätigkeit, die ich da ausübte und die genauso gut, wenn nicht besser, von Automaten hätte ausgeführt werden können. Was ja dann auch geschah. Der Beruf des Schreibers starb aus. Ich wurde entlassen.

*

Aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt. Meine Eltern starben früh. Ich wuchs bei nahen Verwandten auf, die sich leidlich um mich bemühten. Um sie zu entlasten, habe ich die Schule abgebrochen und die nächstbeste Stelle als Bürogehilfe angenommen. Das fiel mir nicht weiter schwer, da ich mich zu nichts berufen fühlte.

An meine Eltern habe ich kaum eine Erinnerung. Zuweilen ist mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter. Aber das ist sicher eine der Selbsttäuschungen, denen ich gelegentlich unterliege. Von Zeit zu Zeit überkommt mich eine unbestimmte Sehnsucht, wie Kinder sie haben, die zu viel allein mit sich sind. Ich weiß gar nicht so recht, wonach ich mich dann sehne. Geborgenheit? Wärme? Womöglich.

Die Schule durchlief ich ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Das heißt: Ich fiel nicht weiter auf, es sei denn, dass man mir meine Langsamkeit vorwarf. Sie hängt wohl mit meinem melancholischen Charakter zusammen, der mir angeboren scheint. Schon früh galt ich als Außenseiter. Von einigen kindlichen Anwandlungen zur Selbstüberschätzung abgesehen, gewöhnte ich mich an diese Rolle. Sie gefiel mir, weil sie weniger anstrengend war, als ständig im Mittelpunkt zu stehen.

Von den Kindern meines Alters hatte ich mich stets ferngehalten. Sie schienen mir einfältig und unernst. Gingen sie nach einem Ereignis, zum Beispiel dem Anblick eines toten Tieres, längst zum nächsten über, war ich noch stundenlang damit beschäftigt, mir klarzumachen, was es mit dem Tod dieses Tieres auf sich haben könnte. Ich kam nicht davon los. In meiner Phantasie versuchte ich, die Zeit zurückzudrehen; das Tier wieder zum Leben zu erwecken. Ich sonderte mich von den anderen ab und überließ mich meiner Tagträumerei. So machte ich es auch, wenn der Druck der Verhältnisse, den ich schon früh empfunden hatte, allzu sehr auf mir lastete. Ich hatte keinen Namen dafür. Aber ich spürte oft eine gewisse Dumpfheit, die sich wie ein Schleier auf alles legte. Dann hatte ich nur noch das Bedürfnis, mit mir allein sein.

Ich lief stundenlang in der Gegend herum. Sobald ich ermüdete, ließ ich mich am Rande einer Wiese nieder. Im Gras liegend vertiefte ich mich in die geheimnisvolle Geographie der Wolken. Alles atmete die weitläufige Landschaft des Himmels über mir. Die samtenen Härchen kleinster Pflanzen erzitterten von einem zarten Lufthauch. Dieser scheue Anflug schien das Land mit allen Fasern der Atmosphäre zu verschwägern. Ein leichter Schauer von Luftwellen erfasste meine ziellosen Grübeleien. Einschmeichelnde Traumbilder verscheuchten mir die letzten schweren Gedanken und ließen die Ereignisse, die mich umgetrieben hatten, allmählich verblassen. Ich spürte neue Kräfte in mir aufsteigen; eine Art Lebensenergie: den starken Willen, zu leben und eine Auflehnung gegen alles, was mich niederdrückte.

Später, während meiner Berufstätigkeit, gehörte ich zu denen, die man einfach übersah. Das hatte etwas Entlastendes, war aber auf Dauer nicht eben förderlich. Solange ich in die alltäglichen Abläufe eingebunden war, machte ich mir über all das keine Gedanken. Die Routinen bestimmten den Rhythmus meines Lebens; alles war vorgegeben, und ich fügte mich den Anforderungen des Tages. Man funktionierte wie man atmet. Es ging mir wie anderen auch. Gelegentlich spürte ich einen gewissen Überdruss. Hin und wieder auch Langeweile. Aber die allgemeine Betriebsamkeit schützte mich davor, diesen Stimmungen allzu sehr nachzugeben. Sie gingen vorüber, so als hätte man schlecht geträumt. Dann begann alles wieder von vorn.

*

Als ich meine Arbeit verlor, war von einem Tag auf den anderen alles anders. Ich hatte plötzlich Zeit und musste mir meinen Tag selbst gestalten. Das sagt sich so leicht. Ich hatte nie darüber nachgedacht, was man gemeinhin den Sinn des Lebens nennt. Bisher war ich ganz einfach in der Welt unterwegs gewesen und machte mir keine Gedanken, wie es anders hätte sein können. Ich war mit allen möglichen Dingen beschäftigt. Zum Nachdenken blieb nicht viel Zeit. Jetzt hatte ich Zeit im Überfluss. Aber sie war ganz leer. Wie sollte ich sie ausfüllen? Je mehr ich nachdachte, desto stärker spürte ich, da war nichts. All die angepriesenen Sinnbeschaffungsprogramme – zum Beispiel die vielen Reise- und Freizeitangebote – ich hatte dafür keine Mittel, sie kamen für mich nicht infrage. Also beschäftigte ich mich nicht näher mit ihnen. Es war nicht das, was ich suchte.

Meine Hauptbeschäftigung bestand zu dieser Zeit darin, ziellos umherzulaufen. Irgendwo hatte ich gelesen, das Gehen sei ein Ins-Leben-Kommen; aber mir wollte sich das sogenannte Leben nicht zeigen. Worauf hoffte ich? Immer wieder hielt ich inne; setzte mich auf eine Bank. Sah den Kindern beim Spielen zu und sinnierte vor mich hin. Ich fand keinen Ansatzpunkt, um etwas Sinnvolles zu beginnen. Allmählich breitete sich eine namenlose Angst in mir aus, diese Königin aller Stimmungen. Lange Zeit gelang es mir nicht, ihrer Herr zu werden. Es war nicht die Furcht vor etwas Bestimmtem. Es war eine Art Grundbefindlichkeit, eine Angst vor der Unheimlichkeit des Daseins. Sie offenbarte sich mir in ihrer ganzen Doppelgesichtigkeit: als Weltangst und als Angst vor der Freiheit, Dinge zu tun, die ich noch nie vorher getan hatte. Ich war kurz davor zu resignieren. Andrerseits begriff ich, dass ich mich dagegen stemmen musste, wollte ich nicht sang- und klanglos untergehen.

*

Sei es aus Scham, sei es, weil ich nach dem Verlust meiner Arbeit gezwungen war, ein anderes Leben zu beginnen, zog ich aus der Kleinstadt fort. Nach mehreren Stationen landete ich in einem kleinen Dorf. Ich hatte von einem leerstehenden alten Haus gehört, das außerhalb des Ortes am Waldrand liegt. Die Gemeinde bot es mir an; wohl auch in der Hoffnung, es nicht dem gänzlichen Verfall preiszugeben. Seither lebe ich hier allein. Im Dorf nimmt kaum einer Notiz von mir. Die Leute fahren morgens zur Arbeit und kehren erst abends heim. Zurück bleiben die Alten, die Tiere und ich.

Um die Geschichte des Waldrandhauses ranken sich viele Anekdoten. Es soll früher einem niederrheinischen Unternehmer als Jagdhütte gedient haben. Er scheint ein geselliger Mann gewesen zu sein. Oft hatte er Gäste, die er zur Jagd eingeladen hatte. Anschließend wurde gefeiert; oft bis zum frühen Morgen. Sehr zum Leidwesen der Dorfbewohner, die sich gestört fühlten. Als er mit seiner Firma pleiteging, und zusehends verarmte, verbrachte er seine letzten Jahre hier; argwöhnisch beäugt von den Dörflern. Er erweiterte die Jagdhütte um kleine Anbauten. Vor dem Hauseingang befindet sich eine kleine, überdachte Terrasse. Dort steht eine selbstgezimmerte Bank, deren Sitzfläche sich aufklappen lässt, um einiges darin zu verstauen. Eine an der Seitenwand befestigte Holzplatte dient als Tischfläche. Eine halbhohe Glasscheibe als Windschutz. Bei starkem Wind hört man ihr ständiges Klappern. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. Die Terrasse ist mein sommerlicher Aufenthaltsort. Es ist der Platz, an dem man den Sonnenaufgang erlebt oder Schatten sucht an heißen Sommertagen. Und es ist der Platz, an dem sich vortrefflich sinnieren lässt.

Im Eingangsbereich des Hauses befindet sich eine Art Wintergarten; auch er wurde der Hütte angegliedert. Von dort aus gelangt man über einen kleinen Treppenabsatz in einen größeren Raum, die ursprüngliche Jagdhütte. Dort steht noch immer ein alter Kachelofen, der ausschließlich mit Holz beheizt wird. Das Holz liefert mir ein Kleinbauer aus dem Dorf. Er bringt es ofenfertig zu mir herauf. Sogenanntes Dörrholz. Es besteht aus dünnen Stämmen, die sich nicht entwickelt haben und denen die Rinde fehlt, weil sie allmählich ausgetrocknet sind. Das Dörrholz ist wesentlich billiger als Eichenoder Buchenholz und lässt sich leichter zuschneiden. Und es besitzt den Vorteil, dass man es nicht lange lagern muss, sondern gleich damit heizen kann. Ich liebe es, wenn das Holz im Ofen knistert und die Wärme sich in den Räumen ausbreitet. Auf dem Ofen steht ein großer Essenstopf. Ich koche meist für mehrere Tage; das ist nicht nur praktisch, sondern ich liebe Eintöpfe, die erst am zweiten oder dritten Tag so richtig schmecken.

Die Tür zum Nebenraum, in dem ich mir ein kleines Arbeitszimmer eingerichtet habe, bleibt in der kälteren Jahreszeit stets geöffnet. Meinen Schreibtisch habe ich quer vor das Fenster gestellt, um genügend Licht zu haben und auf eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern schauen zu können, die das Haus von der Außenwelt abschirmen. Der Blick nach draußen beruhigt mich, und ich nehme meine Umgebung viel aufmerksamer wahr als früher in der Stadt.

Mein Schreibtisch verfügt über zahlreiche Fächer, in denen ich meine Schreibutensilien, Papiere und Briefe aufbewahren kann. Ich habe mich zu einem leidenschaftlichen Briefeschreiber entwickelt, auch wenn ich viele davon gar nicht abschicke. Sie ersetzen mir die fehlenden Gesprächsmöglichkeiten. Ein Schreibtischsessel mit stabilen Armlehnen und einer Nackenstütze ermöglicht es mir, dass ich mich bequem zurücklehnen und dabei entspannen kann. Eine Schlafcouch und ein kleines Bücherregal komplettieren das Arbeitszimmer. All meine Möbel habe ich bei einem Trödler in der Gegend gekauft, der sie mir auch herbeigeschafft hat.

Meine Bücher sind mir im Laufe der Jahre zu verlässlichen Gefährten geworden. Die meisten habe ich antiquarisch erworben. Es sind keine wertvollen Bücher darunter. Ich bin kein Sammler, lese aber gern. Die Bücher verteilen sich über alle Räume; für sie habe ich mir kleine Regale aus Holzbrettern und Ziegelsteinen gebaut, so dass ich auch die verwinkelten Ecken des Hauses nutzen kann.

Besonders wichtig sind mir meine Nachschlagewerke, z.B. Brehms Tierleben. Seit ich hier lebe, benutze ich es häufig. Hätte ich sonst gewusst, dass Siebenschläfer, die meine Hausgäste sind, im Sommer ein lustiges und sorgenfreies Leben führen und erst im Herbst damit beginnen, Nahrungsvorräte zu sammeln? Oder dass sie den langen Winter dadurch überstehen, weil ihre Körpertemperatur in dieser Zeit auf 10 bis 15 Grad herabsinkt und die Atemzüge sich auf 2 bis 3 pro Minute verringern? Ich besitze eine Ausgabe von 1954. Immer wenn es darum geht, Eigenschaften von Tieren zu erkunden, greife ich auf den Brehms zurück.

Auch eine Kräuterfibel von Konrad Kölbl gehört zu meinen unverzichtbaren Schätzen; eine Fundgrube alter und moderner Heilkräuter- und Hausmittel-Rezepte. Wann immer mich etwas zwickt oder peinigt, schaue ich nach, welches Kraut dagegen gewachsen ist, wie es so trefflich heißt. Das Buch enthält die Naturweisheiten ganzer Generationen und hat mir schon oft wertvolle Dienste erwiesen.

Und dann sind da die Bücher, die mich schon lange begleiten und die mir in verschiedenen Lebenssituationen wichtig waren: die Bibel gehört dazu und der Robinson Crusoe von Daniel Defoe.

Seit ich Zeit im Überfluss habe, lese ich viel und mache mir hin und wieder Notizen über das Gelesene. Anfangs kam es mir wie ein Notbehelf vor, in einem Raum zu schlafen, zu lesen und zu schreiben. Mittlerweile kann ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Schlafen, lesen und schreiben, das gehört für mich zusammen. Eins geht ins andere über. Oft unterbreche ich mein Lesen oder Schreiben, um mich hinzulegen und auszuruhen. Auch erlebe ich, dass ich im Halbschlaf oder beim Dösen einen Einfall habe, den ich sofort notieren möchte. Dann ist es mehr als praktisch, dass sich alle Vorgänge im gleichen Raum abspielen.

Als Kind hatte ich mir vergeblich ein eigenes Zimmer gewünscht. Stattdessen träumte ich von einer Höhle, einer Erdhöhle. Sie war mit Tierfellen ausgelegt und es gab eine Feuerstelle darin. Es war der tiefsitzende Wunsch nach einem Schutzraum vor der Welt und ihren Ansprüchen an mich. Ein Ort, wohin ich mich aus der häuslichen Enge zurückziehen und von allen abschirmen konnte. Jetzt endlich hast du deine Höhle, denke ich oft, wenn ich mein Arbeitszimmer betrete und mich an meinen Schreibtisch setze. Ich schaue hinaus auf die Bäume und empfinde ein tiefes Wohlbehagen, sobald ich ein Buch aufschlage oder einen Brief schreibe.

Bilder besitze ich nicht. An meinen Wänden hängen Fotografien, die schon etwas vergilbt sind. Alle ein wenig schief, weil sich der Boden des Hauses langsam nach einer Seite hin absenkt. Eine Wäschetruhe, ein alter Kühlschrank, ein Kochherd und eine Spüle gehören ebenfalls zur Wohnungseinrichtung. Toilette und Waschbecken befinden sich in einem Vorraum, der leider nicht beheizbar ist.

Im Winter fällt es mir schwer, die Räume warm zu halten. Die Wände sind schlecht isoliert, und der alte Kachelofen bringt nicht mehr die volle Leistung. Ich sitze dann vor dem Ofen, schaue in die Glut, die gelegentlich etwas aufglimmt und denke daran, wie der Mensch vor Urzeiten das Feuer für sich entdeckte, und welcher Quantensprung dies für die Entwicklung der Menschheit war. Während ich im Winter Mühe habe, das Haus zu beheizen, ist es im Sommer angenehm kühl, da die umstehenden Bäume reichlich Schatten spenden.

Zum Inventar gehören noch ein alter Wasserkessel, der seinen festen Platz auf dem Ofen hat, so dass ich mir jederzeit einen Tee aufgießen kann, und die bauchige, blumenverzierte Teekanne samt dazu gehöriger Tasse – wohl die Reste eines ehemaligen Tee-Services. Sie stehen in ständiger Bereitschaft, wenn ich so sagen darf. Ich hänge sehr an diesen Dingen.

Das gilt insbesondere für meine Philetta de Luxe, das alte Transistor-Radio. Es ist mit mir in die Jahre gekommen. Ich habe es von meiner Tante, die in einem Philipswerk arbeitete, zur Konfirmation bekommen. Mein Radio hat die Form eines angeschobenen Komißbrotes, weshalb es auch Komißbrotradio genannt wird. Seine Cremefarbe hat sich mittlerweile zu einem hellen Braunton verdunkelt. Die Drehknöpfe des Sendersuchers und Lautsprechers sind in Goldfarben gehalten. Das Leuchten des magischen Auges der Abstimmungshilfe, der Skalen und des transparenten, wuchtigen Gitterwerkes der Lautsprecherverkleidung verleihen meinem Radio in der Dunkelheit etwas Sakrales. Da ich überwiegend nachts Radio höre, kommt dies, vor allem wenn ich klassische Musik höre, einer Andacht gleich. Zwar lassen sich nicht alle Sender in der gleichen Schärfe einstellen; aber für meine Zwecke reicht es. Meine Kultursender kenne ich; es sind stets die gleichen. Wenn ich das Gerät einschalte und den vertrauten Brummton der Anwärmphase höre, begebe ich mich auf eine Reise in meine ganz eigene Welt. Dann denke ich bei mir: Wie viele schöne Dinge es im Leben doch gibt.

*

Das Haus liegt abseits vom Dorf auf einer kleinen Anhöhe. Links vom Haus stehen zwei auffallend hohe Lärchen, die das Haus noch kleiner erscheinen lassen, als es ohnehin schon ist. Davor und rechts daneben einige Fichten. Auf einer kleinen Freifläche steht eine grobe Holzbank, die man offensichtlich aus einem Baumstamm herausgesägt hat; davor ein stabiler Tisch. Seitlich ein winziges Blumenbeet, das von Natursteinen umgeben ist. Von der Holzbank aus schaue ich auf eine Wiese, auf der einige alte Obstbäume stehen, die kaum noch tragen.

Von meiner Bank aus kann ich durch eine doppelte Fichtenreihe hindurch auf den winzigen Friedhof des Dorfes schauen. Meist sind es Frauen, die zum Friedhof hinaufkommen, um die Blumen zu gießen oder neue anzupflanzen. Sie sind vollauf mit ihrem Tun beschäftigt, ohne auch nur einmal innezuhalten und ihrer Toten zu gedenken. So scheint es mir jedenfalls von meinem Beobachtungsposten aus.

Ganz anders ein alter Mann. Nahezu täglich schleppt er sich zum Friedhof hinauf, begibt sich zum Grab seiner Frau und betet einige Minuten lang. Danach verharrt er noch einige Zeit, und es kommt vor, dass er noch weitere Gräber aufsucht. Ich vermute, er hält stumme Zwiesprache mit früheren Nachbarn oder Bekannten. Der Alte – ich nenne ihn den betenden Alten – braucht täglich länger, um den beschwerlichen Weg hinauf zu kommen. In jüngster Zeit stützt er sich auf einen Stock und muss unterwegs kürzere Pausen einlegen. Hin und wieder führt ihn auch die Tochter, die sich mit ihm betend ans Grab der Mutter stellt. Ich hoffe, dass die beiden mich auf meiner Bank nicht bemerken; es wäre mir peinlich, wenn sie sich beobachtet fühlten.

*

Ich erinnere mich noch an die ersten Eindrücke, als ich im Dorf ankam: Ich setzte mich auf die Bank unter der Linde und sah auf den Ort. Die Häuser lehnten aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Heiß und still lag die Dorfstraße da. Sie kann nicht weglaufen, weil die Häuser sie bei Tag und Nacht bewachen, dachte ich bei mir. Von der Dorfstraße führt eine kleine Nebenstraße in den unteren Teil des Dorfes. Und so eng die Gasse auch sein mochte, so wurde doch jedes Haus an diesem Sommertag von ein wenig Sonne beschienen. Selbst die Steine schienen zu lächeln. Windstill war es, als ob man den Atem angehalten hätte. Keine Wolke am Himmel. Es gibt solche Tage, so hell, so weit, so still. Es ging auf Mittag zu. Die Häuser standen wie eingeschlafene Posten da. Ich saß noch lange und hatte das Gefühl angekommen zu sein.

Auch an den ersten Schnee erinnere ich mich. Es hatte die ganze Nacht über geschneit. Die Schneemassen drückten schwer auf die Zweige der Fichten. Wie entkräftet hingen sie herab, als würden sie unter ihrer Last ächzen. Dagegen wirkten die vielgestaltigen, bizarren Astgebilde der Lärchen, als wären sie von einem Zuckerguss überzogen. Die Büsche schwankten leicht im Wind. Wie tanzende Eisbären. Ich blickte auf eine Märchenlandschaft, und eine mir bis dahin unbekannte Stille breitete sich aus. Ich begriff augenblicklich: auch die Stille braucht ihren Raum.

Das Dorf hat nur wenige Bewohner. Daran hat sich im Laufe der Jahre kaum etwas geändert. In der Dorfchronik heißt es:

Das Dorf ist das kleinste von allen umliegenden Orten, mit unter hundert Einwohnern. Die Dörfler haben es bis heute verstanden, sich dem hektischen Treiben der Zivilisationsgesellschaft weitestgehend zu entziehen. Man lebt hier nach wie vor gut und geruhsam.

Der Ort hat keine Durchgangsstraße. Kein Geschäft. Keine Kneipe. Keine Schule. Nicht einmal eine Kirche. Einmal wöchentlich wird das Dorf mit Lebensmitteln beliefert. Das heißt: nur noch zwei oder drei Kunden außer mir nehmen die Dienste dieses mobilen Lebensmittelladens in Anspruch. Die übrigen Dörfler kaufen in den Supermärkten der Stadt ein.

Das Dorf ist von Wäldern umgeben. Mischwald. Wenn ich anfangs in den Wald horchte, vernahm ich nur ein diffuses Rauschen. Im Laufe der Zeit lernte ich genauer hinzuhören. Zum ersten Mal erlebte ich bewusst den Wechsel der Jahreszeiten. Eine jede mit ihren eigenen Reizen. Schon im März ertönt der Gesang der Vögel. Jedoch: der Frühling ist erst vollends angekommen, sobald die Rufe des Kuckucks zu hören sind; seit Jahren nahezu auf den Tag genau in der dritten Aprilwoche.

An milden Sommerabenden sitze ich auf meiner Bank und erwarte das allabendliche Schauspiel: Am Horizont geht die Sonne unter. Der Himmel verfärbt sich. Die Vögel verstummen allmählich. Bald tauchen die ersten Fledermäuse auf. Wie trunken fliegen sie kreuz und quer. Dann schwärmen die Siebenschläfer aus. Ihre Signale sind weithin zu hören. In den Büschen ein erstes Aufleuchten der Glühwürmchen. Es sind die Weibchen, die nicht fliegen können. Sie erwarten ihre in der Sommerluft tänzelnden Bewerber. Am Himmel die ersten Sterne. Mit dem aufziehenden Mond verfärbt sich die Landschaft noch einmal und wird von einem silbrigen Grauton überzogen. Ein geheimnisvolles Schweigen liegt über dem Land, als würde die Welt den Atem anhalten. Ich sitze und schaue und vergesse die Zeit.

Ich bevorzuge den Spätsommer, wenn die Natur zur Ruhe kommt und allmählich in einen sanften Schlummer übergeht. An den letzten milden Oktobertagen, wenn die tief stehende Sonne den Herbstwald in warme Farben eintaucht, wirkt das gedämpfte Licht wie ein Zauber auf mich. Zuweilen beobachte ich ein niederschaukelndes Herbstblatt, als wollte es sich zieren, seine Lebensbahn hier und jetzt zu beenden. Es ist ein ganzes Jahr, das da herabsinkt. Die letzten Kraniche ziehen vorüber; ich schaue ihnen wehmütig nach und wünsche ihnen eine gute Heimkehr. Dann weiß ich: Jetzt beginnen sie, die Tage, die überfließen vor Zeit. Die Tage der Besinnung und des Lesens.

*

Vom Haus aus führt ein Weg direkt in den Wald. Wann immer es möglich ist, erspare ich mir, durch den Ort zu gehen. Selbst zur Bushaltestelle, die etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes liegt, benutze ich einen Weg am Waldrand entlang: den sogenannten Promilleweg. Die Dörfler nutzen ihn als Schleichweg, wenn sie nach einer Zechtour mit ihren Autos aus den Orten der Umgebung zurückkehren und die Straße meiden wollen.

Müsste ich den Ort passieren, käme ich kaum umhin, mit einigen Leuten zu plaudern. Doch ich scheue vor den damit verbundenen Ritualen zurück. Man könnte sich über meine Stimme wundern oder sich nach meinem Befinden erkundigen. Womöglich müsste ich über meine Situation Auskunft geben und den Eindruck erwecken, Aufmerksamkeit oder gar Mitleid erheischen zu wollen. Ich empfinde angesichts der vielen Niederlagen in meinem Leben eine gewisse Scham, mich zu erklären; es ist das Resultat einer in die Länge gezogenen Schmach. Dieses ständige Niederlagengefühl hat mich wehrlos gemacht. Daher gehe ich lieber meiner Wege und meide die Leute.

Auf meinen Wanderungen durch die Wälder der Umgebung kenne ich nahezu jeden Weg und die schönsten Plätze. Ich nenne sie meine poetischen Orte. Ich setze mich auf einen Baumstumpf und überlasse mich ganz der Situation. Es ist ein Sichverlieren. Ich schnappe förmlich nach Wörtern für meine Eindrücke, Gefühle, Gedanken. Mir ist, als würde ich mir aus ihnen ein flüchtiges Zuhause zimmern, in dem ich mich eine zeitlang niederlasse. Ich schaue mir die Umgebung an und horche auf die Geräusche. Anfangs vernahm ich lediglich eine diffuse Klangfülle: mittlerweile unterscheide ich das Rauschen der Bäume; das Glucksen des mäandernden Baches; den Gesang der Vögel; das Summen der Bienen; das eintönige Gebrumm des fernen Verkehrs und der sich kreuzenden Fluglinien.

Meine poetischen Orte sind Stätten, an denen ich zu mir selbst finde. Es sind Orte des Nachdenkens und der Stille. Alles beginnt mit einem Staunen. Ich habe mir angewöhnt, auf die Pflanzen zu achten, die den Wegrand säumen. Völlig unscheinbare und häufig übersehene sind darunter. Immer wieder schaue ich sie mir an. Wahre Wunderwerke: so bunt, so zart, so vielfältig. Im Laufe der Zeit entwickelte sich so etwas wie ein Aufmerksamkeitssinn für die kleinen und kleinsten Dinge. Je länger ich sie anschaue, desto sicherer bin ich mir, dass sie mich ebenfalls anschauen und mir etwas sagen möchten.

Ich liebe es, im Freien zu sitzen und zu lesen. Dann geschieht es, dass ein winziges Käferchen sich auf eine Buchseite setzt. Es läuft kreuz und quer, ohne Anstalten zu machen, wieder davonzufliegen. Ich nutze die Gelegenheit, es mir genauer zu betrachten: wie es gezeichnet ist und die Farbe verändert, sobald es sich zum Licht dreht; ich sehe die kleinen Fühler, die sich ständig neu ausrichten. Manchmal hält es kurz inne: als wollte es mitlesen. Dann glaube ich ein Gesicht zu entdecken. Kaum sichtbar die Augen. Je länger ich das kleine Wesen betrachte, desto mehr Demut empfinde ich vor diesen Wunderwerken der Schöpfung.

Mir wird die Einmaligkeit der Dinge bewusst. Es offenbaren sich neue Tiefenschichten des Realen. Sie erinnern daran, dass alles in der Welt ein eigenes Zentrum darstellt, das sich mit den Sphären der Phantasie und der Träume berührt. An meinen poetischen Orten spüre ich die Kraft des Konkreten, Sichtbaren, Fühlbaren. Alles, was ich sehe, mache ich mir zu eigen: den Wald und das Feld, die Bäume und die Wege und alles, was sich darin bewegt und aufhält.

Eines Tages kam mir im Wald ein Buch abhanden. Ich hatte wieder einmal auf einem Baumstumpf gesessen und gelesen, in einem Bändchen mit den Kleinen Dichtungen von Robert Walser. Auch er ein passionierter Wanderer und Naturliebhaber. Es war ein heißer Sommertag. Ich mag es, wenn das Sonnenlicht durch das dichte Blätterdach fällt und die aufgeschlagene Seite des Buches beleuchtet. Um mich zu erfrischen, ging ich zum nahegelegenen Bach hinüber. Irgendetwas muss mich abgelenkt haben, sodass ich das Buch vergaß. Ich erinnerte mich erst nach Tagen wieder daran. Sofort machte ich mich auf den Weg. Das Buch lag noch da, wo ich es abgelegt hatte, auf einem Fleckchen Moos. Leider hatte es in der Zwischenzeit während eines Gewitters stark geregnet. Das Buch war ganz aufgeweicht. Die Schrift verwaschen. Man konnte nicht mehr darin lesen. Ich nahm das Buch mit nach Hause und vergrub es im Garten. Auf diese Weise blieb es in meiner Nähe. Natürlich besorgte ich mir später ein anderes Exemplar und las die Geschichten zu Ende.

Ich habe mich in die geheimnisvolle Welt des Waldes eingelebt. Als Kind machte der Wald mir Angst. Er schien mir dunkel, undurchdringlich, geheimnisvoll, ja abgründig. Prägungen, die vielleicht von den Kindermärchen herrühren; vielleicht aber auch aus Urzeiten in uns nachwirken. Mittlerweile ist mir der Wald zu einem Schutzraum geworden, und ich beginne, seine Signale, die er mir unaufhörlich sendet, zu verstehen.

*

In die nah gelegene Stadt fahre ich einmal monatlich, um einige Besorgungen zu machen und mich in einem Antiquariat nach Büchern umzusehen. Ich fahre mit dem Bus, da ich kein eigenes Fahrzeug besitze. Einige Dörfler boten mir an, mich in die Stadt mitzunehmen. Aber das lehnte ich höflich ab. Ich fahre gerne mit dem Bus. Die Busfahrt erinnert mich an die Schulausflüge meiner Kindheit. Alles riecht nach Abenteuer, und auch heute noch mag ich diese Mischung aus miefiger, abgestandener Luft und dem Zustrom an Frischluft, den die zusteigenden Fahrgäste mit hineinbringen. Ich erschnüffle die Duftspuren, die sie hinterlassen und versuche, mich auf diese Weise mit ihnen bekannt zu machen. Ich versinke in die ausgebeulten Sitze und schwebe mit dem fahrenden Bus dahin. Durch das tuckernde Fahrgeräusch hindurch teilt sich mir die Straße mit, und ich warte auf das erneute Zischen der sich öffnenden und schließenden Türen.

Während der Busfahrt kann ich mich auf meinen Aufenthalt in der Stadt konzentrieren und mir überlegen, wie ich meine Angelegenheiten organisiere. Ich schaue in die Gesichter der übrigen Fahrgäste und versuche, mich in sie hineinzuversetzen. Sie wirken erschöpft. Ich kann ihnen ihre Erschöpfung nachempfinden. Jahrelang, als ich noch meiner Arbeit nachging, war auch ich oft in diesem Zustand.

Vor kurzem las ich, dass jemand die Idee hatte, ein Handbuch für Erschöpfte herauszugeben. Mit Hinweisen auf Ruheorte, wo die Menschen sich von ihrer Erschöpfung erholen können. Eine gute Idee, die leider nicht realisiert wurde. Derjenige war wohl selbst zu erschöpft, um sich dieser verdienstvollen Aufgabe zu widmen.

In dem Antiquariat, das ich regelmäßig besuche, lernte ich den Antiquar Rufus Lieberknecht kennen. Ich erinnere mich noch genau, als ich das Antiquariat zum ersten Mal betrat: Eine Art Schauer erfasste mich angesichts der hohen Bücherwände. Ich verspürte eine unwiderstehliche Lust, all diese in den Regalen thronenden Werke zu streicheln, sie in die Hand zu nehmen, darin zu blättern, sie vom Staub zu befreien und den etwas morbiden Geruch einzuatmen, den sie ausströmten. Etwas Geheimnisvolles ging von ihnen aus; eine Art Glücksversprechen, wie man es empfinden mag, sobald man eine fremde Kirche betritt.

Ich mag eine Weile, ganz von meinen Eindrücken hingerissen, so dagestanden haben, als Lieberknecht mich fragte, ob er mir behilflich sein könne. Er hatte an einem kleinen Tisch gesessen und in einem Katalog geblättert. Da ich kein besonderes Anliegen hatte, sondern mich lediglich umsehen wollte, gab er mir einige Hinweise. Er hatte eine angenehm ruhige Stimme, die sofort Vertrauen einflößte. Lieberknecht hat das Aussehen eines mittelalterlichen Mönches: eine kleine, etwas rundliche Gestalt; ein ausgefranster Haarkranz, der eine wie poliert wirkende Glatze umhüllt. Kleine, blitzintelligente Augen stechen aus einem leicht geröteten Gesicht hervor. Er trägt stets einen leicht staubigen und verschlissenen grauen Kittel, aus dem der ungebügelte Hemdkragen und ein auffällig bunter Schlips wie Fremdkörper hervorragen. Man kann nicht unbedingt sagen, dass sein Äußeres ungepflegt wäre; eher wirkt es etwas vernachlässigt, was vielleicht daher rührt, dass er allein lebt.

Lieberknecht erwies sich bei meinen weiteren Besuchen als ein überaus gebildeter Mann. Er hat Philosophie und Alte Sprachen studiert, sein Studium jedoch abgebrochen und eine Lehre im Buchhandel begonnen. Später hat er einen kleinen Verlag gegründet, der jedoch bald pleiteging. Danach hat er eine literarische Zeitschrift herausgegeben. Er ist – was wunder – sehr belesen und kennt sich in vielen Fachgebieten aus. Sein stets freundlicher, wohlwollender Blick scheint einen zu ermuntern, ihn um eine Auskunft zu bitten oder ein Gespräch mit ihm zu beginnen. So erging es auch mir. Ich fasste eines Tages den Mut, eine Frage an ihn zu richten. Sein Gesichtsausdruck hellte sich auf, und er bat mich in einen etwas abgeschiedenen Winkel seines Antiquariats, der von Bücherwänden umsäumt ist. Dort befindet sich ein kleiner, runder Tisch mit Leselampe und zwei alten Ohrensesseln, die zum Verweilen einladen. Und was soll ich sagen: ich erhielt nicht nur eine Antwort auf meine Frage, sondern gleich ein ganzes Referat. Seither habe ich viele Male von seinem profunden Wissen profitiert und es mir zur Gewohnheit gemacht, meine Leseecke aufzusuchen und in Büchern zu stöbern.

Im Laufe der Jahre haben wir uns angefreundet. Fast alle meine Bücher habe ich in seinem Antiquariat erworben. Neuausgaben kann ich mir nicht leisten. So bin ich zwar nie auf dem neuesten Stand der Dinge, aber das ist nicht weiter dramatisch, da ich ohnehin das Unzeitgemäße in der Literatur bevorzuge. Lieberknecht kennt inzwischen meine Vorlieben und gibt mir Lesehinweise, und stets freue ich mich auf die Gespräche mit ihm. Mir scheint, auch er ist erfreut darüber, in mir einen wissbegierigen Zuhörer gefunden zu haben.

*

Die Eindrücke, die ich während meines Stadtaufenthaltes mache, sind ambivalent. Wahrscheinlich nehme ich das Stadtleben verzerrt wahr. Da ich aus meiner Abgeschiedenheit komme, macht mir der Lärm sehr zu schaffen. Es dauert einige Zeit, bis ich mich darauf einstelle. Auch muss ich mich daran gewöhnen, dass ich mich nicht frei bewegen kann, sondern Rücksicht nehmen muss, um nicht mit anderen Passanten zusammenzustoßen. Ich bin es nicht gewohnt, dieses ständige Ausweichen. Wie in einem Irrgarten komme ich mir manchmal vor. Die Hektik, der Verkehr, der Lärm – all das setzt mir zu. Ich weiß nicht, ob mein Eindruck stimmt: es kommt mir vor, als würde die Zahl der Gestrandeten von Mal zu Mal zunehmen. Ich sehe Leute, die Selbstgespräche führen; einige scheinen in ihrer eigenen Welt zu leben: sie fluchen vor sich hin, klagen an und bewegen sich wie Fremdkörper im Strom der Passanten. Vielleicht fällt nur mir dies auf. Jedenfalls muss ich mich nach einiger Zeit in ein Café setzen, um mich von meinen Eindrücken zu erholen und zu mir zu kommen.

Nach einigem Suchen habe ich in einer ruhigen Seitenstraße ein kleines italienisches Café entdeckt. Mittlerweile kennen mich die Leute hier. Gino, der Chef, begrüßt mich neuerdings wie einen guten Bekannten. Mit einem Schwall an Willkommenswünschen, die ich nur zum Teil verstehe, die sich aber gut anhören. Ich mag die Atmosphäre des Cafés. Am Tresen sitzen meist einige ältere Italiener, die ständig palavern; lautstark und gestenreich, so dass man denkt, sie streiten untereinander. Aber dem ist nicht so. Immer wieder unterbrechen sie ihre Dispute mit einem befreienden Lachen, um dann von vorn zu beginnen. Eine zeitlang zu schweigen ist ihnen offenbar nicht möglich. Italiener müssen ständig reden, sagte mir Gino eines Tages. Die Kommunikation ist ihnen so wichtig wie die Luft zum Atmen.

Wenn wenig Betrieb herrscht, setzt sich Gino zu mir an den Tisch. Nicht ohne mir einen Cappuccino zu spendieren. Mittlerweile kennen wir uns ein wenig besser. Er ist vor über vierzig Jahren aus Kalabrien nach Deutschland gekommen. Zusammen mit seinem Bruder. Mit nichts als einem Pappkarton. Zum ersten Mal habe er Schnee gesehen. In seiner Sommerkleidung habe er fürchterlich gefroren. Bei einem Bekannten seien sie untergekommen. Einige Jahre haben er und sein Bruder in der Pizzeria des Bekannten gearbeitet, bevor sie sich den Traum eines eigenen Cafés erfüllen konnten. Leider sei sein Bruder vor ein paar Jahren gestorben. Seither führt er das Café allein.

Auch ich habe ihm von mir erzählt, und er scheint sich für mich zu interessieren. Er hat natürlich bemerkt, dass ich einer der wenigen Gäste bin, die Zeitung lesen. Neben einer italienischen Sportzeitung liegt stets eine deutsche Wochenzeitung aus, in die ich regelmäßig hineinschaue. Eines Tages fragte mich Gino, ob er sie für mich aufbewahren soll. Ich könne sie mir mit nach Hause nehmen. Im Gegenzug bringe ich ihm seither Maronen oder Äpfel mit, die ich auf den Obstwiesen des Dorfes auflese. Die Maronen, die ich im Herbst auch für mich sammle, sind nach Meinung von Gino ganz besonders gesund. Ich weiß nicht, wofür er sie verwendet; aber er ist ganz versessen darauf.

Wenn ich von meinem Randplatz im Café die Leute beobachte, die sich mehr oder weniger zufällig hier einfinden, komme ich mir ganz fremd vor: die jungen Leute starren ständig auf kleine elektronische Geräte, deren Namen ich nicht kenne. Wie Trophäen halten sie sie in den Händen; es scheinen recht ungeduldige Diktatoren zu sein, die ständige Aufmerksamkeit erfordern. Die Leute verhalten sich wie Marionetten, die auf irgendwelche Signale reagieren, die ihnen von irgendwo gesendet werden. Die Paare im Café reden kaum miteinander. Hin und wieder höre ich einzelne Worte, aber die hören sich an, als würden Codes ausgetauscht. Das ganze Geschehen scheint nach einer mir unverständlichen Dramaturgie abzulaufen.

Von meinem Platz aus sehe ich, dass ununterbrochen Bilder oder kurze Meldungen über die kleinen Bildschirme flimmern. Offenbar lechzen die Leute nach einem ständigen Zustrom an Mitteilungen oder Bildern; nur dann scheinen sie das Gefühl zu haben, am Geschehen teilzunehmen. Man sieht es an den Gesichtern: für Momente hellen sie sich auf oder verraten eine gespannte Aufmerksamkeit. Als würde ihnen das Leben von außen eingehaucht, durch anonyme Reizauslöser. Es findet eine Art optischer und akustischer Dauerversorgung statt, die allgegenwärtig zu sein scheint.

Ich frage mich, wer den Leuten die Signale sendet. Und ich frage mich auch, wie sich die Wahrnehmung dieser meist jungen Menschen verändern wird. Diese Frage beschäftigte mich stark, so dass ich bei einem meiner Besuche meinen Antiquar fragte, wie er über diese Dinge denkt. Er antwortete:

Ich bin schon seit längerem der Meinung, dass die Umgangssprache fast völlig substanzlos geworden ist; dass sie Gefahr läuft, von jeder Sinnhaftigkeit entleert und ihres dialogischen Charakters beraubt zu werden. Das ständige Gaffen auf ihre Apparate ersetzt für viele das gemeinsame Gespräch; es ist zu einer Art Pausenvermeidungsstrategie geworden. Das ist für mich ein deutliches Anzeichen dafür, dass das Vorstellungsvermögen dieser Leute und ihre Fähigkeit, eigene Bilder hervorzubringen, erheblich beeinträchtigt wird. Ihre innere Öde verlangt unersättlich nach immer stärkeren Anreizen von außen. Daraus erklärt sich ihre sprichwörtliche Hetze nach dem nächsten sensationellen Bild. Aber diese Sensationssucht ist nichts anderes als grell geschminkte Langeweile, die auf diese Weise nur übertüncht wird. Irgendwann werden sie nur noch in ihrer künstlichen, virtuellen Welt leben, die ihnen von irgendwoher zugespielt wird. Ich fürchte, ihnen wird jeder Sinn für die Poesie des Lebens abhandenkommen, und ein Mensch, der das Bedürfnis nach Poesie verloren hat, wird vielleicht nicht einmal bemerken, dass sie verschwunden ist.