Hieronymus im Gehäuse - Joke Frerichs - E-Book

Hieronymus im Gehäuse E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Das Haus und der Dichter sind in die Jahre gekommen. Der Putz zieht Risse, und er hats in den Beinen. Vielleicht werden beide überhaupt nur durch Verse aufrecht gehalten. Denn die Stuben, in die der Dichter nur noch über die Gartentüre gelangt, hat er mit seinen Gedichten beklebt. An den Wänden hängen Plastiktüten, prall gefüllt mit Gedichtpostkarten; Texte, Briefe, Manuskripte aus vier Jahrzehnten. Als "Hieronymus im Gehäuse" hat er sich in seinen Gedichten beschrieben: "Hier, umgeben von den mir voraus gestorbenen Dingen meiner einstigen Lebenswelt, halte ich am Althergebrachten fest".

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Nun ja, Sie haben mir geschrieben. Sie sind also der Doktor Soundso.

Sie würden sich gerne einmal mit mir unterhalten.

Über Dichtung und solche Sachen.

Sie wissen, dass ich Gedichte schreibe.

Und wollen wissen, wie ich dazu gekommen bin.

Wie denken Sie sich das?

Ich habe für solche Sperenzchen keine Zeit.

Keine Zeit und keine Lust.

Mit zunehmendem Alter spüre ich, dass die Zeit knapp wird.

Also – zu einem Treffen wird es nicht kommen.

Was ich Ihnen anbieten kann: ich erzähle Ihnen etwas aus meinem Leben.

Ich besitze ein altes Tonbandgerät. Ich schicke Ihnen die Tonbänder und Sie können es sich dann anhören.

Mehr ist nicht drin.

Es ist ja nett, dass Sie sich für mich interessieren.

Aber ich muss Sie vorwarnen.

Ich habe kein sogenanntes normale Leben geführt.

Die Dinge haben sich anders entwickelt; auch als ich es mir vorgestellt habe bzw.

als es von mir erwartet wurde.

Ob das von Interesse für Sie ist – da habe ich meine Zweifel.

Aber bitte sehr!

Über das eigene Leben spricht sich nicht so leicht.

Ich sollte mal für irgendeinen Anlass einen LEBENSLAUF schreiben.

Da habe ich denen folgende Vorbemerkung hingeschrieben:

In meinem Leben geschieht eine solche verwirrende Fülle der vielfältigsten Dinge, dass ich gar nicht weiß, wie ich da einen Lebenslauf schreiben soll. Eigentlich können ihn nur Leute verstehen, die zumindest einen guten Einblick in mein Leben haben.

Ich kann Ihnen hier ein paar zaundürre Daten von meinem Lebensweg dahinklappern, wenn Sie meinen, das wäre wichtig, obwohl es total unwichtig und gewiss in keiner Weise „aussagefähig“ ist. Aber wenn Sie unbedingt meinen, Sie müssten einen solchen Blödsinn wie einen sogenannten Lebenslauf haben, dann bitte.

*

Ich bin seit ewigen Zeiten arbeitslos. Ein sogenannter Langzeitarbeitsloser.

Als ich meine Arbeit verlor, war von einem Tag auf den anderen alles anders.

Bisher hatte die Arbeit meinen Tagesablauf bestimmt.

Jetzt musste ich mir meinen Tag plötzlich selbst gestalten.

Aber das sagt sich so leicht.

Ich hatte nie über mich nachgedacht.

Oder über das, was man gemeinhin den Sinn des Lebens nennt.

Bisher war ich ganz einfach in der Welt unterwegs gewesen. Machte mir keine Gedanken darüber, wie es anders hätte sein können.

Ich war mit allen möglichen Alltagsdingen beschäftigt.

Zum Nachdenken blieb da nicht viel Zeit.

Jetzt hatte ich auf einmal Zeit im Überfluss.

Aber sie war ganz leer.

Wie sollte ich sie ausfüllen?

Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker spürte ich:

Da war nichts.

All die angepriesenen Sinnbeschaffungsprogramme, die vielen Reise- und Freizeitangebote – ich hatte dafür keine Mittel, sie kamen für mich nicht infrage.

Also beschäftigte ich mich nicht weiter mit ihnen.

Meine Hauptbeschäftigung bestand zu dieser Zeit darin, ziellos in der Gegend umherzulaufen.

Irgendwo hatte ich gelesen, das Gehen sei ein Ins-Leben-Kommen; aber mir wollte sich das sogenannte Leben nicht zeigen.

Worauf hoffte ich?

Immer wieder hielt ich inne; setzte mich auf eine Bank.

Sah den Kindern beim Spielen zu und sinnierte vor mich hin.

Ich fand keinen Ansatzpunkt, um etwas Sinnvolles zu beginnen.

Allmählich breitete sich eine namenlose Angst in mir aus, diese Königin aller Stimmungen.

Lange Zeit gelang es mir nicht, ihrer Herr zu werden.

Es war nicht die Furcht vor etwas Bestimmtem.

Es war eine Art Grundbefindlichkeit.

Heute würde ich sagen:

Die Angst vor der Unheimlichkeit des Daseins.

Sie offenbarte sich mir in ihrer ganzen Doppelgesichtigkeit: als Weltangst und als Angst vor der Freiheit, Dinge zu tun, die ich noch nie vorher getan hatte.

Ich war kurz davor zu resignieren.

Aber irgendwas sträubte sich in mir.

Ich begriff, dass ich mich dagegen stemmen musste, wollte ich nicht sang- und klanglos untergehen.

*

Zum ersten Mal wurde mir so richtig bewusst, dass ich eigentlich über einen ungeheuren Reichtum verfüge:

Ich hatte Zeit.

Ich begann zu lesen.

Die Bücher besorgte ich mir in einem Antiquariat.

So kam es, dass ich mich mit dem Antiquar anfreundete.

Ein gebildeter Mann, der sich in Vielem auskannte.

Er hatte studiert, aber eines Tages alles hingeschmissen.

Warum?

Darüber sprach er nie.

Da ich völlig unbedarft war, gab er mir Hinweise.

Er empfahl mir Bücher, und so kam ich zur Literatur.

Vor allem für Gedichte begann ich mich zu interessieren.

Einige sprachen mich direkt an.

Immer öfter las ich sie mir laut vor, um ihren Klang und ihre Atmosphäre zu spüren.

Mit der Zeit gelang es mir, in tiefere Schichten vorzudringen.

Verstand ich etwas nicht, fragte ich meinen Antiquar.

Da ich es nicht gewohnt war, mich intensiv auf einen Text einzulassen, brauchte ich lange, um das erforderliche Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu entwickeln.

Ich entdeckte, dass ein Gedicht sich dem schnellen Verstehen verweigert; dass es je nach Stimmung viele Lesarten ermöglicht und vom Leser die Fähigkeit verlangt, seine Empfindungen und Wahrnehmungen in einem neuen Licht zu sehen.

Gleichzeitig regte es meine Phantasietätigkeit an und bewirkte eine Art Herzenswandlung.

Seither liebe ich es, immer neue Entdeckungen zu machen. Es ist eine neue Art zu sehen und zu empfinden.

Beim Hinausgehen am Morgen, beim Tagbegrüßen, komme ich mir oft vor wie ein Kind, das voller Wundererwartung ist.

Ich versuche, meine Sinne von der Routine des Bescheidwissens zu befreien.

Auf diese Weise baue ich mir Widerstandsnester gegen meine bisherige Wahrnehmung der Dinge und finde zahlreiche Anlässe zum Innehalten und Nachdenken.

Ja – und irgendwann hat es mich gereizt, selber etwas zu schreiben.

Nur für mich.

Zunächst schrieb ich alles auf, was mich umtrieb.

Mit der Zeit merkte ich, dass da etwas in mir war, das herausdrängte.

Der Gedanke ans Schreiben wurde zu einer Art ideellem Hinterhalt.

Wenn es mir schlecht ging oder es zu einsam um mich wurde, tröstete ich mich mit diesem Gedanken.

Ich sagte mir: Du hast eine Gabe mitbekommen, die Du nur aus Dir herauslassen musst.

So in etwa.

*

Jetzt wissen Sie einiges über mich. Was ich Ihnen hier im Zeitraffer geschildert habe, wurde mir erst so nach und nach klar.

Ich habe nie über diese Dinge gesprochen.

Aber meinem Tonbandgerät vertraue ich sie an.

Also – was soll ich Ihnen noch erzählen?

Ich will Ihnen gleich vorweg sagen:

Eigentlich sage ich zu niemandem Doktor.

Allenfalls zu meiner Ärztin.

Und überhaupt: diese Doktoren und Professoren und wie sie sich alle so nennen.

Ich habe im Laufe der Jahre erfahren, dass das so großartige Leute gar nicht sind.

Ich hab da so meine Erlebnisse.

Da gab es mal so einen Gymnasialprofessor oder so ähnlich.

Der theoretische Bücher über Dichtung geschrieben hat.

Und der hat doch glatt gemeint, in seinem Buch wären alle Formen der Dichtung enthalten.