West-Nord-Passage - Joke Frerichs - E-Book

West-Nord-Passage E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

In meinem Journal halte ich fest, was mir im jeweils zurückliegenden Jahr wichtig war: Leseeindrücke; Berichte von Ausstellungen und Konzerten; Begegnungen; Naturschilderungen; Reflexionen; Erlebnisse der besonderen Art. Ein Schwerpunkt dieses Journals ist die weitere Einrichtung unseres zweiten Lebensschwerpunkts in Wilhelmshaven, unser sog. Aufbau Nord.

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Ruhiger Jahresauftakt mit einem Rundgang um Nippes bei 16°. Die Vögel sind überaus munter; insbesondere die allgegenwärtigen Rotkehlchen. Aber auch die Amseln singen unverdrossen; als gäbe es kein Morgen mehr.

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Mein Zwischenruf über Normen und Werte ist im Blog erschienen.

Petra hat mit der Korrektur meines Journals 2021 begonnen. Das ist für mich stets eine große Beruhigung, da sie sehr umsichtig arbeitet und auf das Inhaltliche und Formale achtet. Sie hat jetzt 100 Seiten gelesen und gibt mir positive Rückmeldungen, die mich bei meine jetzigen Arbeit zusätzlich motivieren.

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Schaue mir auf YouTube verschiedene Beiträge über den Kunstfälscher Wolfgang Petracchi an. Die Bezeichnung ‚Kunstfälscher’ ist eigentlich irreführend. Er hat in Wirklichkeit keine Werke anderer Künstler kopiert, sondern eigene Werke geschaffen – nach dem Vorbild anderer Künstler –, so wie es eigentlich jeder Künstler macht. Er ist ein akribischer Arbeiter; studiert das Werk und die Lebensumstände des Malers, mit dem er sich beschäftigt; vor allem aber legt er großen Wert auf seine eigene Handschrift. Deshalb wurde er auch nicht wegen seiner Nachbildungen, sondern wegen Urkundenfälschung verurteilt.

Er verrät viel über die Mechanismen des Kunstmarkts und ist der Meinung, dass dort überwiegend Leute unterwegs sind, die von Kunst nichts verstehen. Die Käufer suchen Geldanlagen; und auch den Verkäufern geht es primär ums Geld. Lange haben sie ihn hofiert und nur durch einen Zufall – er hatte ein falsches Weiß benutzt – flog er auf. Er steht mittlerweile wieder hoch im Kurs – mit seinen eigenen Werken, denn Malen kann der Mann ohne Zweifel.

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Schauen uns kaum noch Fernsehprogramme an, sondern lieber unsere DVDs. Zur Zeit Woody Allen und zwar seine Filme über Barcelona; Paris und Rom – mit herrlichen Stadtansichten und großartigen Schauspielern; z.B. Penelope Cruz, Javier Bardem oder Scarlett Johansson..

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Schreibe an einem Text, von dem ich selbst noch nicht so recht weiß, was daraus werden soll. Am ehesten handelt es sich um Fragmente. Das Themenspektrum ist breit gefächert: Reflexionen, Biographisches, Kunstbetrachtungen, Alltagsbeobachtungen.

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Lese in Pascals Logik des Herzens. Für ihn ist der Mensch ein Wesen der Mitte – zwischen Größe und Elend; Unendlichkeit und Nichts. Beides sind für ihn Grenzbegriffe. Das Spannungsverhältnis sieht er in der Größe des menschlichen Denkens und dem Elend seiner Lebensbedingungen. Der Mensch gleiche einem Schilfrohr, das denkt; er sei weder Engel noch Tier. Existentiale des menschlichen Elends sind für ihn: Selbstbezogenheit; Eitelkeit; Stolz; Launenhaftigkeit; Geltungsdrang; Langeweile.

Mir gefällt die Radikalität des Pascalschen Denkens; er fragt illusionslos nach dem Standort des Menschen in der Welt. In ihrer paradoxen Doppeldeutigkeit gleicht seine Charakterisierung der menschlichen Existenzbedingungen einer Bildbeschreibung; er schreibt überaus anschaulich, um sprachlich das zu bewältigen, was anders nicht gesagt werden kann. Man könnte auch sagen: bei ihm erweitert sich das Wortfeld zum Bildfeld.

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Rufe Wolfgang an, der noch keine klare Diagnose erhalten hat und folglich gibt es auch noch keine Therapie. Er muss weitere Untersuchungen abwarten. Der nächste Termin ist in einer Woche.

Er macht einen sehr gefassten Eindruck, ist eigentlich wie immer: aufgeschlossen und interessiert. Natürlich reden wir auch über die aktuelle Politik (Ukraine) und über Fußball. Auch er schaut regelmäßig die englische Ligaund ist ähnlich begeistert wie Klaus; vor allem vom Tempo und der Spannung.

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Lese nach einer längeren Pause den Herzog von Saul Bellow weiter. Ich gebe zu: ohne Enthusiasmus. Bellow schreibt hervorragend; allein die Geschichte dieses amerikanischen Intellektuellen mit all seinen Sorgen, Eheproblemen und Ansichten interessiert mich wenig. Typisch amerikanisch, könnte man sagen. Vielleicht besteht darin die große Kunst Bellows, diese Alltagsprobleme auf eine unvergleichliche Weise darzustellen. Es gibt immer wieder Highlights; so, wenn der Protagonist zu seinen philosophischen Höhenflügen ansetzt oder seine Unfähigkeit, den Alltag zu bewältigen, geschildert wird.

Parallel dazu lese ich Adornos Minima Moralia und aus aktuellem Anlass das Hemingway-Kapitel aus dem Gleichgültigen von Wellershoff. Der ‚aktuelle Anlass’ war der Paris-Film von Woody Allen, in dem Hemingway vorkommt und über sein Schreiben spricht. Nach Wellershoff sind die Figuren Hemingsways allesamt damit beschäftigt, ihre Zeit herumzubringen. Für sie ist Zeit pure Gegenwart, die zu nichts führt, ein endloses Auf-der-Stelle-Treten. Da keine Veränderung möglich ist, nicht einmal in der Vorstellung, geht es nur darum, weiterzumachen.

Wellershoff hat die spezifischen Stilmittel Hemingways hervorragend charakterisiert: Der vermeintlich primitive Konkretismus, das einfache Nacheinander der kurzen Sätze, der sachliche, Kommentar und Emotion unterdrückende Berichtston, ist eine hochstilisierte Sprache. Und dieser Stil ist der genaue Ausdruck einer bestimmten inneren Haltung. Hemingways Prosa ist die Sprache des gebannten Schreckens.

Es kommt einem vor, als habe Woody Allen die Ausführungen Wellershoffs gelesen und in seine Filmsprache übersetzt.

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Sehen uns auf ARTE noch einmal den Dreigroschenfilm von Joachim A. Lang an. Da wir den Film jetzt mehrfach gesehen haben, weil wir eine DVD davon haben, versteht man ihn immer besser. Aus dem umfangreichen Material der Dreigroschenoper, der Schrift über den Dreigroschenprozess, dem Dreigroschenroman und einem von Brecht verfassten Filmexposé, entwickelt Lang ein Filmszenario, indem er Fiktion und Realität miteinander verbindet. Er unternimmt den interessanten, aber auch riskanten Versuch, den Dreigroschenfilm so zu inszenieren, wie er Brecht vorgeschwebt haben mag. Das Ergebnis ist ein hochkomplexer, anspruchsvoller, künstlerisch gelungener Film, der erstaunlich frisch und aktuell daher kommt.

Nicht zuletzt dank hervorragender Schaupieer/-innen. U.a.: Lars Eidinger als Brecht; Tobias Moretti als Mackie Messer und Gangsterboss Macheath; Joachim Król als Peachum, dem Chef der Bettlermafia; Hannah Herzsprung als dessen Tochter Polly; Max Raabe als Moritatensänger.

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Noch einmal Pascal: Es ist notwenig, dass es Ungleichheit zwischen den Menschen gibt; aber sobald man das zugestanden hat, sind Tür und Tor offen. Man sollte die Grenzen kenntlich machen.

Das hätte der Kapitalismus-Kritiker Thomas Piketty nicht besser sagen können. Auch er befürwortet ein gewisses Maß an Ungleichheit, da die Menschen unterschiedliche Fähigkeiten besitzen; aber auch er tritt für eine Begrenzung der Ungleichheit ein, da diese zerstörerische Ausmaße angenommen hat.

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Werden wohl heute (8.1.) das Journal 2021 fertig stellen; Petra hat intensiv und motiviert daran gearbeitet und noch so manche wichtige Korrektur vorgenommen. Wir sind Beide der Ansicht, dass der Text ein beachtliches Spektrum unseres gemeinsamen Lebens abbildet.

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Haben uns auf ‚One’ den Film Smoke noch einmal angeschaut; einer unserer Lieblingsfilme. Aus der Perspektive von fünf Protagonisten werden deren Schicksale aufgeblättert, die doch auf eigentümliche und scheinbar zufällige Weise miteinander verknüpft sind. Ein ruhiger Film, ganz unamerikanisch. Das Drehbuch schrieb Paul Auster; in der Hauptrolle Harvey Keitel, dessen Tabakladen das Scharnier der Handlung darstellt. Faszinierend die Stelle, an der Keitel dem Schriftsteller von seinem Projekt erzählt: Er hat jahrelang zur gleichen Zeit am frühen Morgen die Kreuzung vor seinem Tabakladen fotografiert; bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Lauter Schwarz-Weiß-Fotos, die scheinbar das Immergleiche zeigen und doch so verschieden sind. Der Schriftsteller erkennt auf einem der Fotos seine Frau, die zufällig während eines Banküberfalls von einer Kugel getroffen und tödlich verletzt wurde. Dadurch begreift er den Sinn dieses Fotoprojekts: es hält die Zeit fest bzw. bringt sie wieder in Erinnerung.

Insgesamt ein Film voller Poesie und Solidarität; man könnte auch sagen: voller Menschlichkeit inmitten des Horrors eines amerikanischen Alltags.

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Das Journal 2021 geht am 9.1. an Bod. Der Titel Weitermachen deckt ein weites Spektrum an Lebenslagen ab. So lese ich über den Dichter Robert Frost, von dem ich bisher noch nichts gelesen habe, wie dieser nach vielen Todesfällen in seinem näheren Umkreis schreibt: Was ich über das Leben gelernt habe, kann ich in drei Wörter fassen: Es geht weiter.

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Petra ruft Christa in Wilhelmshaven an. Horst geht es so weit gut. Er sei nur ein wenig ungeduldig. Das werten wir eher positiv. Sie wollen irgendwann ein großes Abschiedsfest für ihre Stammgäste veranstalten und hoffen auf unsere Teilnahme.

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Sehen die letzte Folge von Polizeiruf 110, in der Charly Hübner mitgewirkt hat. Er hört auf. Er, der das Gesicht dieser Serie war: ein Charakter, wie er selten geworden ist. Ihm nahm man seine Rolle ab: ungeschliffen, liek ut, authentisch. Wie überhaupt das ganze Format sich wohltuend von den meisten Tatort-Krimis unterscheidet, weil immer soziale Konflikte und persönliche Problematiken dargestellt wurden. Unvergessen die erste Folge über eine Werftschließung in Rostock. Sie zeigt die ganze Brutalität, mit der die Treuhand die industriellen Kerne der ehemaligen DDR platt gemacht hat. Das war kein Beitrag zur Wiedervereinigung, sondern eine Landnahme.

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Schauen uns auf DVD den Film Das Ende ist mein Anfang an. Das ist ursprünglich der Titel für ein Interview in Buchform von Folco Terzani mit seinem Vater Tiziano. Darauf basiert der gleichnamige Film, der die letzten Tage im Leben des italienischen Journalisten und Schriftstellers Tiziano Terzani (1938– 2004) zeigt; im Film gespielt von Bruno Ganz).

Der Vater möchte seinem Sohn all die Einsichten und Lebenserfahrungen mit auf den Weg geben, die er im Laufe eines intensiven Lebens gemacht hat. Er war Korrespondent in China und Vietnam (während der Vietnamkrieges); hat viel von den asiatischen Lebensweisheiten übernommen und sich nach seiner Rückkehr von dort immer stärker vom gesellschaftlichen Leben zurück gezogen. Er ist gewissermaßen mit sich im Reinen und bereit zu sterben. Sterben heißt für ihn: in einen anderen Zustand zu wechseln, um auf diese Weise weiter zu leben.

In teils rührenden, aber vor allem auch heiteren Szenen, gibt der Alte seine Weisheiten an den Sohn weiter. Bruno Ganz spielt die Rolle in unnachahmlicher Weise. Kein bisschen larmoyant, sondern überwiegend hellwach, scharfsinnig und aufmunternd. Ein Film über das Sterben, der Kraft zum Leben gibt. Seine Botschaft an den Sohn könnte lauten: Das Einzige, was wirklich zählt, ist das Jetzt. Um etwas zu verändern, musst du deinen eigenen Weg gehen.. Sei Du selbst; nimm keine Rücksichten auf die Meinung der Anderen; lebe Dein Leben.

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Schicken unseren Beitrag über Dieter Wellers-hoff und die Nachkriegsliteratur an Werner Jung,der einen Zeitschriften-Sonderband über Wellershoff herausgeben will. D.h.: Petra versucht es, aber wegen technischer Probleme gelingt es nicht. Also schickt sie ihn an Irene Wellershoff, die uns die Telefonnummer von Jung mitteilt. Nach einem Anruf bei Jung, der sehr offen und nett ist, klappt es dann; der Beitrag ist in der Welt. Wir mussten noch einige Textquellen ergänzen, was einige Mühe machte. Aber letztlich haben wir sie gefunden.

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Schaue mir auf YouTube eine Dokumentation zum 85. Geburtstag von Odo Marquard an. Es ist erstaunlich: immer wieder kreuzen sich unsere Wege, dabei habe ich während meiner Studienzeit keines seiner Seminare besucht; sie waren stets überfüllt. Stattdessen habe ich mir seine Vorlesungen angehört. Es war ein ästhetisches Vergnügen, ihm zuzuhören. Er las ausformulierte Texte vor; entsprechend anspruchsvoll waren sie. Ich verstand damals recht wenig davon.

Seit ich in letzter Zeit einige Texte von ihm gelesen habe, merke ich, dass mir die skeptische Grundhaltung seiner Philosophie näher ist, als ich lange Zeit gedacht habe. Auch seine Ablehnung jeglicher Ideologie macht mir ihn sympathisch. Diese Haltung teilt er mit vielen seiner Generation, die den Faschismus erlebt haben, z.B. mit Wellershoff.

Auch seine Ablehnung eines philosophischen Systems ist plausibel; er glaubt nicht an den großen Wurf, an die Lösung aller Weltprobleme in einem Werk. Daher gibt es auch kein Hauptwerk von ihm. Er bevorzugt die kleine Form, die Aphorismen, die Annäherung an Probleme, die Betrachtung aus mehreren Perspektiven, wenn man so will; das Spielerische im Umgang mit ihnen. Darin ist er meisterhaft; gewitzt und einfallsreich. Und noch eine Eigenschaft macht ihn sympathisch: er ist bodenständig und völlig uneitel. Er sagt von sich: meine besten Einfälle habe ich in der Badewanne oder auf langen Spaziergängen durch den Wald, oder auch im Kaufhaus, wo es von Menschen nur so wimmelt.

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Der Gedichtband Promises to keep von Robert Frost ist eingetroffen. Ich war kürzlich auf ihn gestoßen, da er viele Naturgedichte geschrieben hat; das hat mich interessiert. Leider sind nur wenige Gedichte von ihm auf Deutsch erschienen. Der Band enthält einige seitenlange Poeme in Englisch und Deutsch. Und wieder zeigt sich, dass die Übersetzungen sehr ‚ungenau’ sind; entweder zu wörtlich oder zu frei. Und vor allem: zu wenig lyrisch. Werde mir sie noch genauer anschauen daraufhin.

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Sehen uns immer öfter Filme auf DVD an, da wir der ständigen Krimi-Serien im Fernsehen bis auf wenige Ausnahmen ziemlich überdrüssig sind. Gestern haben wir nach langer Zeit ‚Alles über meine Mutter’ von Pedro Almodóvar angesehen. Ein bewegender Film, vor sozialer Dramatik. Er spielt teilweise in der Drogen- und Prostituierten-Szene und im Theatermilieu. Trotz aller Drastik ist er voller Menschlichkeit und Solidarität – das ist eben große Kunst, wie sie u.a. Ken Loach beherrscht.

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Fahren an den Fühlinger See, auch weil das Auto nach Wochen des Stillstands bewegt werden muss. Der See bietet einen beruhigenden Anblick; viele Schwäne und Gänse aller Art. Ein Naturparadies. Jetzt hat es sich die Stadt Köln einfallen lassen, das Baden im See zu verbieten. Irgendein Mitarbeiter hat eine 30 Jahre alte Verordnung gefunden, die dies fordert. Dagegen formiert sich eine Bürgerbewegung, die eine Unterschriften-Aktion gestartet hat, an der wir uns beteiligt haben. Auch Wolfgang ist selbstverständlich dabei; der See war sein Refugium, wo er im Sommer täglich schwamm und wir uns einige Male trafen.

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Das allgemeine Putin-Bashing geht weiter. Die SZ fragt heuchlerisch, wodurch sich Russland denn eigentlich bedroht sieht und die FAZ glaubt zu wissen, dass Putin sich ganz Europa einverleiben will. Es wird verbal weiter aufgerüstet und man sollte sich nicht wundern, wenn es nicht dabei bleibt. Konkrete Schritte zur Entspannung sind jedenfalls nicht in Sicht. Das alles erinnert sehr an den Vorabend des Ersten Weltkrieges, als Frankreich zu unserem Erzfeind ausgerufen wurde.

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In einer Vielzahl meiner Träume befinde ich mich in Konkurrenzsituationen oder muss mich verteidigen oder Widerstand leisten. Denke ich zurück, so habe ich mich tatsächlich oft in derartigen Situationen befunden: im Sport, in der Schule und später im Beruf. Es hat mich offenbar geprägt, dieses ständige kämpfen müssen. Wie viel lieber hätte ich von schönen Landschaften geträumt, von umgänglichen Menschen und von lieben Tieren. Dem war leider nicht so und seine Träume kann man sich nun einmal nicht aussuchen. Sie kommen wie sie wollen; oft von weither. Sie zeigen uns, dass es im tiefsten Innern noch immer rumort.

Etwas später lese ich bei Finn Skärderud, dass es die Erfahrung des Widerstands ist, die uns überhaupt erst das Gefühl gibt, zu leben.

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Petra hat einen Beitrag für den BdR über die Kindheitsmuster von Christa Wolf geschrieben. Darin zitiert sie Hans Mayer, der sich beim Erscheinen des Romans in einer Rezension für den Spiegel kritisch dazu geäußert hatte. Ganz anders übrigens, als in seiner Deutschen Literaturgeschichte. Eine seltsame Wendung, die wohl damit zu tun hat, dass er seine eigene Geschichte mit der DDR hatte. Mal war er Dissident, dann wieder Sozialist, was gerade opportun war. Nachzulesen in den Tagebüchern von F.J. Raddatz, der bei ihm habilitierte und ihn gut kannte.

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Rufe Wolfgang an, der zwei weitere Arzttermine hatte. Die Nachrichten klingen beruhigend. Bei einem weiteren Termin soll eine Behandlungsstrategie festgelegt werden. Eine möglichst schonende. Er ist sehr zuversichtlich, gleichzeitig aber auch realistisch. Eigentlich ist er wie immer.

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Klaus schreibt:

Meine erste Tagebuch-Eintragung im Januar lautete: „Wie begegne ich diesem Jahr, wie begegnet es mir? Habe ich große Erwartungen, Wünsche, Illusionen? - Es ist eine seltsame Zeit. Morgens erwache ich oft aufgeschreckt. Ich spüre eine Bedrückung auf vielen Ebenen, begebe mich nach der Dusche, dem ersten kleinen Schritt in den Tag, hinunter in unsere kleine heile Welt. Nach dem Frühstücksritual mit der Morgenzeitung geht es an die Staffelei, die mir Sicherheit und Halt gibt (so wie ich es im zweiten MT-Bild dargestellt habe). Im Laufe des Tages stellt sich dann mehr und mehr ein Fatalismus ein. Zu viele Beunruhigungen führen dazu, dass die Ängste und Bedrohungen diffus werden.“

So in etwa würde ich die Unterströmung dieser Tage beschreiben, wobei die Anzahl und die Qualität der Beunruhigungen wechseln.

Momentan beschäftigt mich noch die große Rhön-Landschaft (siehe Anhang). Ich bin seit dem Wochenende aber entschlossen, dem Zyklus ein achtes Bild hinzuzufügen. Im Hinterkopf arbeitet es, vor allem aber habe ich einen geeigneten „Kick-offpoint" gefunden. Einen Versuch ist es wert.

Etwas später teilt er mit, dass das Journal 2021 mit dem Titel Weitermachen soeben angekommen ist. Das passt zu seinem Text. Ich schreibe ihm daraufhin:

Genau das habe ich auch gedacht; deshalb habe ich nicht sofort auf Deine Mail geantwortet. Die 'Unterströmung', die Du schilderst, kenne ich nur zu genau. Es ist dieses nicht klar benennbare Gefühl der Bedrohung, der Unsicherheit, des Undurchdringlichen. Das vermitteln im Übrigen auch die beiden Bilder von Dir. Sie haben etwas Bedrohliches, Chaotisches und gleichzeitig fordern sie uns Demut und Respekt ab vor der Gewalt und Massigkeit der Naturerscheinungen. Es ist ein sehr komplexer Eindruck, der sich da einstellt.

Die Zeiten sind wahrlich zum Fürchten; gerade deshalb müssen wir 'weitermachen'.

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Habe in letzter Zeit wieder vermehrt Arno Schmidt gelesen, u.a. Brands-Haide. Ein Nachkriegs- und Antikriegsroman durch und durch. Er schildert die Nachkriegsnöte, benennt unerbittlich die Schuldigen und ist doch von tiefer Menschlichkeit. Ein großartiges Werk; für mich eines seiner besten.

*

Klaus schreibt:

Die ersten achtzig Seiten des Journals, die ich bisher gelesen habe, verdeutlichen sehr anschaulich den Prozesscharakter der Entstehung von Kunstwerken. Wie anders und erstaunlich unsere Texte sich jetzt wieder in diesem Zusammenhang lesen, auch wieder ganz anders als im Roman. Das ermutigt zu weiterem Tun. Die Texte werden sicherlich als Begleitmaterial für die große Ausstellung im kommenden Jahr eine wichtige Rolle spielen.

*

Petra zum Rhön-Bild:

Erfreulich sind die Entwicklungen an der Staffelei, diesmal in Gestalt des fertigen Rhön-Bildes im Großformat, in das Du sehr gelungen das kleinformatige hineinmontiert hast. Beim Betrachten überkommt mich diesmal eine Stimmung des Morbiden; ich sehe (auch geprägt durch den Zimmerschieder Wald und das trübe Wetter) die Bäume mit ihren glatten Stämmen und in ihrer Formation als „Stelzen“ und ihre sichtbaren Wurzelgebilde als breite „Füße“, mit denen sie ihre hohe Gestalt ausbalancieren und sich festhalten. Die glatten, kahlen Stämme können (etwa als Buchen) zu ihrer Art gehören, aber auch als Opfer von Borkenkäfern und ihrer Gefräßigkeit dastehen bzw. gesehen werden. Hat man einmal diese Brille auf, so sieht man dann alles unter Gesichtspunkten des Sterbens oder Abgestorben-Seins; Steine/Versteinerung, Trümmer und Reste des Abholzens zu Füßen der Bäume. Die s/w- bzw. Grautöne passen perfekt zu dieser Sicht auf das Bild, dem ich diesmal anders begegne als neulich (wo ich vom surrealen Eindruck sprach, der mich erheiterte). Bestimmt muss man beide Sichtweisen oder Ansichten kombinieren, um Deinen Bild-Intentionen auf die Spur zu kommen.

Darauf Klaus:

Zum Rhön-Bild: Da die Abbildungen auf dem Bildschirm immer eigene Probleme aufwerfen, hätte ich, den Unterströmungen zum Trotz, erklären müssen:

Das erste übermittelte Foto zeigt sowohl das noch nicht fertige große Bild und zum Vergleich das fertige kleine, das ich ganz ordentlich links unten in die Ecke gestellt habe. Es sind zwei verschiedene Arbeiten. Das zweite Foto zeigt den Zwischenstand eines schon recht weit entwickelten Landschaftsbildes. Es ist mittlerweile schon weitergewachsen. Wir hatten gestern die Idee, den unteren, vom kleinen Bild verdeckten Teil, so zu lassen, als wenn da eine leichte Schneeschicht liegt. Das finden wir vom Kontrast her reizvoll, es gibt aber auch der Stimmung eine Temperatur. Viel Arbeit macht momentan die Gestaltung der Baumstämme, die in einer Art Feinabstufung zwar den geglätteten, abstrahierten Charakter behalten sollen, aber dennoch plastischer und in den Helligkeitswerten unterschiedlich gestaltet werden müssen. Ganz wichtig wird noch der Hintergrund, der ganz wie bei dem einen s/w-Landschaftsbild in Nebel gehüllt sein soll.

Die beabsichtigte Stimmung, die mir vorschwebt, beschreibt Petra sehr anschaulich. Besonders gefreut hat mich die Beobachtung: „ich sehe … die Bäume mit ihren glatten Stämmen und in ihrer Formation als „Stelzen“ und ihre sichtbaren Wurzelgebilde als breite „Füße“, mit denen sie ihre hohe Gestalt ausbalancieren und sich festhalten. Die glatten, kahlen Stämme können (etwa als Buchen) zu ihrer Art gehören, aber auch als Opfer von Borkenkäfern und ihrer Gefräßigkeit dastehen bzw. gesehen werden.“

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Der 93jährige Noam Chomsky plädiert in einem Interview für einen Pessimismus des Verstandes und einen Optimismus des Willens:

Wir müssen die Augen offen halten und das Hässliche in der Welt sehen, die Gefahren erkennen, sie verstehen und darauf vorbereitet sein, ihnen zu begegnen. Das ist der Pessimismus des Verstandes. Optimismus des Willens bedeutet: Wir kämpfen weiter, weil wir wissen, dass es möglich ist, zu gewinnen, aber es wird nicht leicht sein. Man darf nicht aufgeben, trotz aller Hindernisse, die sich einem in den Weg stellen. Das ist die wichtigste Lektion der modernen Geschichte. In vielerlei Hinsicht sogar der gesamten Geschichte.

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Lese von Handke ‚Das Gewicht der Welt’; eine Art Tagebuch. Der etwas zu ‚gewichtige’ Titel verbirgt, dass es um Alltägliches, oft Banales geht; um alle möglichen Befindlichkeiten, gesundheitliche Probleme, Versagensängste, Schreibblockaden sowie kleinste Begebenheiten mit seiner kleinen Tochter, mit der er zusammenlebt. Es handelt sich um Versuche, den Alltagssorgen zu trotzen. Es sind sehr private Dinge, die dort ausgebreitet werden und man fühlt sich ein wenig als Voyeur, wenn man auf diese Weise in die Privatsphäre eines Schriftstellers hineingezogen wird.

*

Petra und ich sind dabei, weiter auf- bzw. umzuräumen. Diesmal geht es an die Kleidung. Alles, was über Jahre nicht getragen wurde, wird entsorgt oder nach Wilhelmshaven umgeschichtet. Das Ganze hat etwas Befreiendes. Dann kommen wir auf die Idee, die Anzughosen enger machen zu lassen, da die Jacketts noch in gutem Zustand sind. Ich habe die Anzüge kaum getragen, finde sie aber immer noch ansehnlich. Man sollte sie veralltäglichen.

Schauen uns weiterhin DVDs an; gestern Der diskrete Charme der Bourgeoisie von Bunuel. Eine bitterböse Satire auf das Bürgertum und die doppelbödige Moral der herrschenden Klasse; voller Ironie und Sarkasmus. Ein ästhetischer und intellektueller Genuss.

Am Abend darauf schauen wir Volver von Pedro Almodóvar an; mit der unvergleichlichen Penelope Cruz. Volver heisst in etwa; Wiederkehr. Im Film geht es um böse Erinnerungen und Träume, die immer wiederkehren; die alten Frauen glauben an die Geister der Verstorbenen, die ihnen erscheinen. Und dann kehrt tatsächlich die Mutter der beiden Schwestern zurück, die eines Tages plötzlich verschwunden war. Mit ihrer Rückkehr klären sich viele Dinge auf, die bis dahin im Verborgenen schlummerten und über die nicht gesprochen wurde. Es ist die Konfrontation von Wirklichkeit und Übersinnlichem, die Almodóvar auf die ihm eigene, unverkennbare Art darstellt. Subtil und meisterhaft.

Finde in ‚Gestern unterwegs’ von Peter Handke folgenden Eintrag: Gestern in Calais wieder die Helligkeit der Meeresbahnhöfe, oder der Bahnsteige dort (Erinnerung an Wilhelmshaven am Jadebusen) – Helligkeit auch die Schienen, die Weite, die Baumlosigkeit, heller da selbst der Asphalt (279). Auch auf den Seiten 83/4 findet sich ein Hinweis auf Wilhelmshaven. Da heißt es u.a.:

Der gesündeste Appetit, den ich kenne, ist der nach Orten, allein schon beim Lesen von Namen auf der Landkarte." Handke ist in den drei Jahren seiner Journal-Aufzeichnungen ohne festen Wohnsitz ständig unterwegs. Im November 1987 macht er sich von Kärnten aus auf den Weg, reist nach Slowenien, weiter über Zadar nach Dubrovnik, dann nach Athen, wo er den Jahreswechsel verbringt. Es folgen Aufenthalte in Ägypten, Paris, Bremen, Oldenburg, Wilhelmshaven, München.

*

Petras Text über das Kindheitsmuster von Christa Wolf ist im Blog erschienen. Dazu schreibt Klaus:

Ach, liebe Petra, wie gut das tut, eine solch gekonnt geschriebene Auseinandersetzung (Besprechung ist viel zu wenig) mit dem „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf zu lesen. Ergänzend zu der Bewunderung über die Querverbindungen, die Du herstellst, und zu den ausgewählten längeren Zitaten, über die ich mich immer wieder freue, kam dieses Mal noch der Aspekt der Literaturkritik hinzu, der mich (auch im Hinblick auf unsere nächste, zumindest geplante Veranstaltung) aufhorchen ließ. Was der einst so geschätzte Hans Mayer da hinlegt, finde ich höchst bedenklich, weil seine erste negative Äußerung sich auf das gerade erschienene Werk bezieht: „Mut zur Unaufrichtigkeit“ im SPIEGEL (!). Wie sehr schadete er dieser Autorin, wie muss sie das selber empfunden haben? Seinen späteren Quasi-Widerruf empfinde ich eher als verstörend als versöhnlich. Die Bemerkung von F.J.R. erklärt aus seiner Sicht so einiges, für die Gefühlslage der Autorin ist das ein schwacher Trost. Da hat ihr jemand übel mitgespielt.

Höchst bedenklich ist, dass Christ Wolf in Zeiten des kalten Krieges als kritische, aber nicht „rübergemachte“ Autorin gerade von diesem Kritiker mit seiner Vorgeschichte eine solche Breitseite bekommen hat.

Dir ist auf jeden Fall wieder einmal ein Paradestück der Auseinandersetzung mit Literatur geglückt. So kann sich der Leser das nur wünschen. Die Lektüre war ein Vergnügen.

Morgen möchte ich die Arbeit am großen Rhön-Bild beenden. Wahrscheinlich muss ich ergänzend zur Totalen auch die eine oder andere Detailaufnahme anfertigen, denn der Bildschirm ist eben doch nur ein Ersatz für das Original.

Im „Weitermachen“-Tagebuch bin ich bis zur Seite 132 gekommen. Es folgen jetzt die Ausführungen zum fünften Bild, die ich in Ruhe studieren muss - auch im Hinblick auf die Planung der nächsten MT-Arbeit.

*

Petra noch einmal zum Rhön-Bild:

Dein Rhön-Gemälde gibt (mir) Rätsel auf. Ist es denn möglich, dass ich es jedes Mal anders sehe? Das spricht für die Kraft der Aussage insgesamt. Fangen wir einmal von vorne an: Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Waldmotivs – mit etlichen Bäumen vom Vorder- bis zum Hintergrund – es hat „Tiefe“, die im Dunst oder Nebel schwindet. Verwirrend viele Elemente sind auf dem Waldboden zu sehen – heute sehe ich (auch dank der Vergrößerung) nicht nur „Trümmer“, sondern Tierköpfe, Fische, die im Sterben ihre Mäuler leicht geöffnet haben, im Tod zur Ruhe gekommen, friedlich. Oder sind es doch „nur“ Gesteinsformationen, die mich zu solchen Assoziationen verleiten? Meine Phantasie will sogar mittig einen menschlichen Kopf ausmachen, aufliegend, wie schlafend oder tot. Ich wechsele von der Vergrößerung zur Totale des Bildes (und immer wieder zurück) und sehe mit den aufgehäuften Gebilden rechts einen in weiß gehaltenen „reißenden Bach“ – und sofort kommen die Bilder der Flutkatastrophe im Ahrtal und im Erftkreis vom letzten Sommer hoch. Sind hier Spuren einer Naturkatastrophe zu sehen, einer Überschwemmung bis in den Wald hinein, die ihre Verwüstungen hinterlassen hat? Das Bild könnte bei dieser Deutung „Nach der Flut“ heißen. - Genug der Spekulationen. Sicherer bin ich mir mit dem Deutungsversuch, dass der Maler sich mit der reinen Idylle nicht zufriedengeben wollte, sondern diese zu brechen, ist sein Ansinnen: „Geborstene Idylle“? Chaos und Ordnung der Natur, von Bäumen (zusammen)gehalten? Du siehst, was Du da „angerichtet“ hast, wozu ich Dir aus tiefer Überzeugung gratuliere!

Was Ihr über meinen Christa Wolf-Text sagt, hellt meine Stimmung gegen das bleierne Grau des Wetters merklich auf.

*

Darauf Klaus:

Großartig! Indem Du die Eindrücke beschreibst, die das Bild bei Dir hinterlassen, beschreibst Du gleichzeitig den Reiz, der mich veranlasst hat, noch einmal das große Format zu wählen. Solche Entscheidungen fallen ja eher aus Neugierde, weil ich wissen will, ob ich dem Gegenstand oder dem Thema noch weitere Seiten abgewinnen kann.

Deine Auseinandersetzung mit dem Bild ist genauso, wie ich mir das wünsche. Es ist Deine Sicht, Deine Fähigkeit, Dich auf das Gesehene einzulassen, Deine Fähigkeit, das in Worte zu fassen. Joke und ich hatten schon einmal angesprochen, dass wir ein ganz unterschiedliches Verhältnis zum Wald haben. Das wirkt sich auf die Sichtweisen aus und wird dadurch interessant. Du gibst die Richtung vor!