Kontraste Journal 2023 - Joke Frerichs - E-Book

Kontraste Journal 2023 E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

In meinem Journal halte ich fest, was mir im Jahr wichtig war: Leseeindrücke. Berichte von Ausstellungen und Konzerten. Begegnungen. Naturschilderungen. Reiseberichte. Reflexionen über Literatur, Philosophie, Kunst. Erlebnisse der besonderen Art. Es handelt sich um Schreibversuche, Fingerübungen, Arbeitsnotizen, Materialsammlungen, kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

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Verbringen ein Silvester nach unserem Gusto. Morgens schließe ich das Journal 2022 ab; mit einer kurzen Notiz über den Film Lucky. Dann setzen wir uns zusammen und reden viel über Vergangenes und Künftiges; vor allem über die ISO-Zeit. Ich bin dabei, mich mit dieser Zeit noch einmal intensiv zu beschäftigen, und es gelingt mir, sie allmählich positiv zu verarbeiten, nachdem ich sie lange Zeit verdrängt hatte. Das war falsch; dazu war die Zeit zu lang und zu ereignisreich. Man kann sie nicht einfach ignorieren, zumal es keinen Grund gibt, sie zu vernachlässigen.

Zwischendurch hören wir immer einmal bei 3sat rein; z.B. in ein Konzert von Peter Gabriel von 1987 und das von Bruce Springsteen in Barcelona. Eine Halbzeit schaue ich mir das Spiel Arsenal – Brighton an. Um Mitternacht findet ein großes Feuerwerk statt; die Leute scheinen einiges nachzuholen. Vom Fenster aus sieht es gut aus. Kurz zuvor rief Detlef aus Whv. an. Ist wohl sehr allein, der arme Kerl.

*

Petra und ich beginnen eine moderate Fastenzeit; d.h. vor allem, leichte Kost und kein Wein. Solche Auszeiten sind uns in den letzten Jahren gut bekommen. Dass wir uns soviel wie möglich an der frischen Luft bewegen, ist ohnehin tägliches Ritual, sobald die Bedingungen es zulassen.

*

Habe an Zezo geschrieben. Wir wollen uns demnächst treffen; es schien ihm in den letzten zwei Jahren nicht nur wegen Corona nicht so gut gegangen zu sein. Es wäre schade, wenn dieser Kontakt, der jetzt schon an die dreißig Jahre besteht, einschlafen würde.

*

Lese weiterhin die van Gogh-Briefe an seinen Bruder Theo. Erstaunlich, wie früh und kompetent sich van Gogh zu Kunstfragen äußert; auch. Auch das Zeichnen scheint ihm geradezu eine selbstverständliche Angewohnheit gewesen zu sein. Und mit welcher Empathie er sich den Belangen seines jüngeren Bruders widmet, das ist berührend. Was für ein Mensch!

Und dann fällt mir auf, wie präzise er wahrnimmt. Seine durchaus farbigen Schilderungen von Landschaften, Straßenzügen und Behausungen in den Armengegenden oder von Charakteren sind derart plastisch, als hätte er eine genaue Vorstellung davon, wie er sie malen würde. Sein Kunstverständnis bildet sich früh aus, was durch seine Tätigkeit im Kunsthandel sicherlich noch gefördert wird. Er fertigt viele Zeichnungen an, die er an Theo verschickt. So bahnt sich das Genie seinen Weg.

*

Telefonat mit Klaus. Seine Erkältung ist abgeklungen; er war zum ersten Mal wieder in der Mucki-Bude. Nele und Joke haben noch damit zu tun. Ich erzähle ihm von meiner van Gogh-Lektüre, was ihn scheinbar überrascht und freut. Immerhin hat er uns die Briefbände vor Jahren geschenkt. Er liest gerade eine Thomas-Mann-Biografie von 1.500 Seiten. Dabei habe er auf meine Notizen zu Nietzsche und Schopenhauer aus Fallobst zurück gegriffen, was mich wiederum freut.

Nebenbei erfahre ich, dass er einen Katalog zur Ausstellung plant. Da es viel Textmaterial zu seinen Bildern gibt, ist noch unklar, wie der Katalog gestaltet wird; ob mit Texten oder nur mit Bildern. Ole wird vor seiner Abreise nach Thailand noch einmal vorbei kommen und ihm helfen.

*

Der van Gogh-Brief vom Juli 1880 ist wohl einer der Schlüsseltexte seines Lebens bzw. seiner Entwicklung zum Künstler. Er verwahrt sich dagegen, ein Versager oder Nichtstuer zu sein. In diesem Brief bricht er mit allen Konventionen: der Familie, der Religion und dem, was man das bürgerliche Leben nennt. Er weiß: Es ist etwas in mir, was ist es nur!

Ab diesem Zeitpunkt spricht er viel von der Notwendigkeit des Kopierens, um die großen Meister gründlich zu studieren; von seinen Studien der Anatomie und Perspektive; von seiner Art zu sehen; von seiner Willenskraft, trotz allen Elends voran zu kommen; ja dass die elenden Lebensumstände ihm dabei helfen, die Dinge schärfer zu sehen: Was ist wirklicher als die Wirklichkeit! Und schließlich stellt er fest: Ich bin Künstler, denn es versteht sich von selbst, dass dies Wort bedeutet: stets suchen, ohne je ganz zu finden.

*

Petra bringt meinen Wilhelmshavener Laptop zu Steinberg, damit dieser ihn sich einmal ansieht. Er stellt fest, dass er stottert; d.h. immer wieder einmal stehen bleibt. Das hatte mich sehr beim Schreiben gestört. Es liegt daran, dass die Updates von 2 Jahren nicht gemacht wurden. Das lag wohl auch daran, dass er lange Zeiten während unserer Abwesenheit unbenutzt blieb.

*

Hören uns abends eine CD mit Beethovens 5. Konzert für Klavier und Orchester an. Was für ein Meisterwerk. Solist ist kein Geringerer als Glenn Gould. Wollen solche Abende unbedingt wiederholen, zumal das tägliche TV-Programm zunehmend ungenießbar ist. Dafür entdecken wir durch einen Zufall einen Sender, der Klassik-Musik bietet: stingray classica.

*

17.1.: Rufe Zezo an. Ab dem 27.1. wollen wir ein Treffen vereinbaren. Nächste Woche ist er auf einer Premiere beschäftigt. Er machte einen aufgeräumten Eindruck auf mich und schien sich sehr zu freuen, dass ich anrufe.

*

23.1.: Bringe unseren KUGA um 7.00 Uhr zur Inspektion in die Ford-Werkstatt. Schon am späten Vormittag kann ich den Wagen wieder abholen; alles ist in Ordnung. Ein gutes Gefühl.

*

Lese immer noch in den van-Gogh-Briefen. Mittlerweile findet eine intensive Kunstdebatte zwischen den Brüdern statt. Ich staune, wie aufmerksam Vincent die Kunstszene seiner Zeit wahrnimmt und wie selbstbewusst er den eigenen Weg verfolgt; durchaus auch selbstkritisch. Und ich staune, wie belesen er ist und wie er immer wieder versucht, literarische Motive auf seine künstlerische Arbeit zu beziehen.

Wenn man bedenkt, dass er nur ca. zehn Jahre intensiv gemalt hat, dann muss man wohl von einem Schaffensrausch sprechen, in dem er sich in dieser Zeit permanent befunden hat; stets am Rande des Zusammenbruchs. Und wie oft spricht er von heiterer Gelassenheit, die ihn beim Malen überkommt.

*

Reger Mail-Austausch mit Otto, wegen seines Essays über Einsamkeit. Er hat den Beitrag für die Junge Welt geschrieben; vielleicht wäre das auch etwas für den BdR. Otto wirbt für die Junge Welt, und wir werden uns sicherlich demnächst einmal einen Eindruck machen.

*

Wie einen die Vergangenheit manchmal wieder einholt: zunächst finden wir in der Bücherkiste das Buch einer gewissen Cora Stephan. Sie war Mitte der siebziger Jahre Gutachterin des Suhrkamp-Verlages und hat damals das Buch von Kraiker und mir zur Marxschen Staattheorie begutachtet. Später war sie Fernsehredakteurin und schrieb unter einem Pseudonym Kriminalromane.

Nachmittags ruft mich ein Hans-Dieter Engelberg an. Dabei stellt sich heraus: wir haben Anfang der sechziger Jahre gemeinsam in der Jugend von BW Borssum gespielt. Zusammen erinnern wir uns an die Zeit. Einige der damaligen Mitspieler sind bereits tot. Er hat bei VW gearbeitet, kannte Gerhard und wohl auch Hans, da er in der Logistik war.

Er habe in alten Zeitungen geblättert und sei dabei auf den Artikel über mein Opa-Buch gestoßen. Dann hat er weiter recherchiert und kam auf meine Homepage usw. Während unseres langen Telefonats merke ich, dass es ihm vor allem darum geht, von sich zu erzählen. Vielleicht Ausdruck seiner Lebenssituation. Er war in der SPD aktiv; Mitglied des Stadtrates; wohnte am Heideweg in Borssum in direkter Nachbarschaft von Joke Bruns, den ich 1997 dort besucht habe und wohnt jetzt in Papenburg, relativ abgeschnitten von alten Bekannten aus Borssum. Er trauert den alten Zeiten nach.

*

Schicken mein Buch Streuwiesen nach Emden. Petra arbeitet an ihrem Buch Text und Kontext. In den beiden Büchern haben wir unsere literarischen Essays versammelt, die überwiegend im Blog erschienen sind.

Danach überarbeite ich mein Journal 2022, das gestern an BoD ging. So haben wir in kurzer Zeit drei relativ umfangreiche Bücher auf den Weg gebracht. Mit meinem biographischen Text Lebens(t)räume werde ich mir Zeit lassen; muss noch gründlich durchgearbeitet werden.

*

Schreibe einen Kommentar zu einem Leserbrief, in welchem der Beitrag von Christoph Habermann (ein alter Bekannter von Wolfgang) den Ex-General Kujat zitiert, der vor einer weiteren Eskalation warnt. Daraufhin wird er in dem besagten Brief als 5. Kolonne Russlands beschimpft. Ich schreibe:

Als 5. Kolonne Russlands bezeichnete Heiner Geißler einst die Entspannungspolitik Brandts und der SPD. Das ist die Sprache des Kalten Krieges. Man muss Christoph Habermann dankbar sein, dass er uns mit den Argumenten Kujats bekannt macht. In den hiesigen Medien erfährt man davon nichts. Hier werden Leute, die eine andere Meinung vertreten als der Mainstream, vom ehemaligen ukrainischen Botschafter Melnyk und selbsternannten Experten wie Hofreiter, Fücks u.a. als „erbärmliche Loser“, „Unterwerfungspazifisten“, „Lumpenpazifisten“ oder „Superpazifisten“ beschimpft. Der Herr Melnyk hat ja im Übrigen bereits seine nächste Wunschliste (oder sollte man besser sagen: seinen Forderungskatalog) bzgl. neuer Waffensysteme unterbreitet, und ich befürchte, dass damit die Eskalationsspirale weiter angekurbelt wird. Potential besteht auf beiden Seiten noch jede Menge, und ein Ende ist nicht absehbar.

Daraufhin schreibt Wolfgang: Danke, dass Du diesen „Hetzer“ (so nannte Brandt Geißler) gekontert hast. Ich hatte den Kommentar nicht gesehen. Es ist schlimm, wie andere Meinungen in diesem Krieg heruntergemacht werden, man wundert sich, dass dennoch so viele in der Bevölkerung bei Waffenlieferungen zurückhaltend sind.

Auch Klaus und Gabi äußern sich positiv.Wolfgang schickt mir etwas später einen Brief von Mützenich an die SPD-Bundestagsfraktion. Ich antworte ihm:

Der Brief von Mützenich an die Fraktion zielt wohl in erster Linie darauf, die Bataillone zusammen zu halten. Insofern ist er intern von einiger Bedeutung. Ansonsten ist er - ebenso wie die programmatischen Vorstellungen zur Sicherheits- u. Außenpolitik der SPD, die Klingbeil vorgestellt hat (s. Blog) - aus meiner Sicht wenig aussagekräftig und strategisch defizitär.

Die vielbeschworene "Geschlossenheit" mit den USA bedeutet doch vor allem, dass man sich den geo-strategischen Interessen der USA unterordnet und auf die Formulierung eigener Interessen verzichtet. Das wäre aber unbedingt vonnöten, da die Interessen durchaus nicht kongruent sind. Die Amerikaner wollen Russland bestmöglichst schwächen und die Beziehungen zur EU zerstören. Das haben maßgebliche Politiker öffentlich erklärt und bisher prächtig hinbekommen. Sie führen ihren Stellvertreterkrieg gegen Russland im europäischen Einflussbereich. Selbst strategische Atomschläge Russlands würden sie nicht dazu bringen, eine atomare Auseinandersetzung mit Russland zu führen. Das ist Konsens in der amerikanischen Politik; parteiübergreifend. In diesem Fall würde eine kriegerische Auseinandersetzung mit Russland, an der die NATO beteiligt wäre, in Europa stattfinden, was als eine der nächsten Entwicklungen durchaus nicht mehr unvorstellbar ist, weil Länder wie Polen, die baltischen Anrainer und vor allem die Ukraine selbst dies gar nicht ungern sähen. Dagegen haben die USA längst den nächsten Großkonflikt mit China im Auge; sie würden weiter Waffen und logistische Unterstützung liefern, aber nicht selber mit von der Partie sein. Insofern geht die Rechnung der Amerikaner voll auf, während die Europäer, auf sich gestellt, kaum in der Lage sein werden, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, zumal sie sich über die eigenen Interessen noch nicht einmal einig sind. Natürlich wird die Forderung nach weiteren Waffensystemen kommen bzw. sie liegen ja bereits auf dem Tisch. Will Scholz, will die SPD - natürlich wiederum nach reiflicher Überlegung und Abstimmung mit den Verbündeten - der Lieferung von Tornados, Kriegsschiffen, Raketen und weiteren Waffen immer weiter zustimmen? So sieht es doch aus, und so wird es doch wohl auch kommen oder? Wenn Scholz jetzt sagt: keine Bodentruppen, dann spricht ja wohl nichts gegen den Einsatz von Flugzeugen oder Kriegsschiffen - s. Jugoslawien-Krieg. Ich vertraue ihm nicht, weil er einige Male zu oft umgefallen ist. Ihm fehlt schlichtweg das Format, um in dieser existentiell entscheidenden Situation Haltung zu zeigen. Es ist geradezu tragisch, dass wir gerade jetzt von Leuten regiert werden, die außen- und sicherheitspolitisch unbedarfte, moralisierende Laien sind; ohne Kompass und ohne Geschichtsbewusstsein. Ich sehe nicht, wer diese Entwicklung stoppen könnte; Scholz und die SPD sicherlich nicht, und sie scheinen noch nicht einmal zu merken, dass sie damit keinen Blumentopf gewinnen werden. Im Gegenteil. Statt sich zum Fürsprecher eines erheblichen Teils der Bevölkerung zu machen, die weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen (nach einer ARD-Umfrage vom 5.1.23 immerhin 60 % trotz der medialen Dauerberieselung), erwecken Scholz und Genossen den Eindruck, den Entwicklungen hinterher zu laufen. Insofern bietet auch der Brief von Mützenich keine Perspektive und Orientierung. Wahrscheinlich verstehe ich von den Interna des politischen Geschäfts zu wenig, und ich gebe zu, dass ich dabei bin, zu resignieren, bevor das Ganze mich derart runterzieht, dass man darüber krank wird und die Lust am Leben verliert.

Ergänzend müsste man noch hinzufügen, dass es ein großer strategischer Fehler ist, den Grünen so viel Raum in der Außenpolitik zu gewähren. Das haben Brandt, Kohl und Merkel cleverer gemacht. Unter ihnen wurden die entscheidenden Dinge im Kanzleramt entschieden.

Durch die Deutungshoheit der Grünen wurde, im Einklang mit den einseitig informierenden Medien, die Entspannungspolitik desavouiert und schlecht geredet. Dabei war es die einzige Phase der Nachkriegsgeschichte, in der Frieden in Europa Realität war; ansonsten wäre es wohl kaum zur Wiedervereinigung Deutschlands gekommen. Sich derart die Butter vom Brot nehmen zu lassen und sich an dieser Erzählung noch zu beteiligen, wie dies teilweise Klingbeil und Steinmeier getan haben, zeigt, wie sehr sich die Koordinaten des politischen Systems verschoben haben. Merkel denkt gar nicht daran, sich diesen Schuh anzuziehen, sondern verteidigt ihre Ukraine-Politik vehement und zwar zu Recht. Was soll an dem Versuch, die Dinge einvernehmlich und diplomatisch zu regeln, falsch gewesen sein? Dass sich weder Russland noch die Ukraine ans Minsker-Abkommen gehalten haben, ist nicht Schuld deutscher Politik.

Mützenich versucht in der jetzigen Situation, dagegen zu halten; das ehrt ihn, aber medial dringt das zu selten durch, was man ihm nicht vorwerfen kann. Also insgesamt ist die Situation völlig verfahren und Deutschland bereits so sehr in den Krieg verstrickt, dass eine Umkehr kaum noch vorstellbar ist. Die Logik des Krieges nimmt ihren Lauf.

Ich denke, Biden hat Selensky bei ihrem Treffen vor einiger Zeit längst Zusagen für die Lieferung weiterer Waffensysteme gemacht. Da können die sog. Bündnispartner nur noch zuschauen oder nachziehen. Dass mittlerweile Baerbock davon spricht, dass wir uns im Krieg mit Russland befinden, war ja wohl auch kein Versehen; bestenfalls ein Freudscher Versprecher. Sie hat ausgesprochen, was sie denkt und dreht weiter an der Eskalationsschraube. Was anderes hat sie nie gemacht, von Anbeginn an.

So könnte man noch endlos weiter fabulieren; die Dinge nehmen ihren Lauf, und ich fürchte, das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht.

*

Wolfgang antwortet ausführlich und stimmt den meisten Punkten zu. Er vermisst vor allem, dass nicht klar ist, worin eigentlich die Ziele der Ukraine-Politik bestehen: will man die vollständige Niederlage Russlands; die größtmögliche Schwächung; den Abzug aus den besetzten Gebieten; den status quo einfrieren oder was? Wir werden sicherlich demnächst darüber weiter sprechen.

Klaus fragt nach, ob er meine Stellungnahme an Erwin Wenzel und Andreas Wojak schicken kann. Kann er.

*

Habe den Briefwechsel zwischen Vincent und Theo van Gogh zu Ende gelesen. Bis zum Schluss, dem Selbstmord Vincents. Der verzweifelte Versuch, ein Dasein in Würde zu führen, als anerkannter Künstler, misslingt, aber ihre Würde haben beide bewahrt. Theo stirbt acht Wochen nach Vincent, nachdem er noch versucht hatte, eine Ausstellung und ein Buchprojekt zu realisieren.

Obwohl es van Gogh nie gelang, im Leben Fuß zu fassen oder als Künstler Erfolg zu haben, glaubte er trotz aller Selbstzweifel und Rückschläge unbeirrbar an seine Kunst. Dazu einige Zitate von ihm:

Meine Stimmung wechselt natürlich, doch bin ich im großen ganzen von einer gewissen heiteren Gelassenheit. Ich habe einen festen ‚Glauben’ an die Kunst, ein festes ‚Vertrauen’, dass sie eine mächtige Strömung ist, die den Menschen in einen Hafen treibt - freilich muss er das Seinige dazu tun, jedenfalls halte ich es für ein so großes Glück, wenn ein Mensch seine Arbeit gefunden hat, dass ich mich nicht zu den Unglücklichen zähle.

Es ist tröstlich, das moderne Leben als etwas Heiteres zu sehen, trotz seiner unvermeidlichen Traurigkeiten.

Ich wollte darauf kommen, dass mir beim Zurückdenken an die frühere Malergeneration ein Ausspruch von Dir einfällt:

‚Sie waren erstaunlich heiter.’ Nun wollte ich sagen, wenn Du Maler wirst, so musst Du etwas von derselben erstaunlichen Heiterkeit dazu mitbringen. Die hast Du nötig als Gegengewicht gegen die trübseligen Aussichten, welche die Lage bietet. Damit vermagst Du mehr als mit irgend etwas anderem. Du musst ein gewisses Genie haben, ich weiß kein anderer Wort für das genaue Gegenteil von dem, was man ‚schwerfällig’ nennt. Komme mir nun nur ja nicht damit, dass weder ich noch Du das je würden haben können.

Weiterarbeiten, darauf kommt es an.

Glücklicherweise liegt mir nichts mehr am Ruhm, und im Malen suche ich weiter nichts als ein Mittel, mit dem Leben fertig zu werden.

Kein Ergebnis meiner Arbeit könnte mir lieber sein, als dass gewöhnliche Arbeiter solche Blätter in ihre Stube oder Arbeitsstätte hängten.

Ich wollte, man würde einsehen, dass die Grenzen des Mitleids nicht dort liegen, wo die Welt sie zieht.

Der ‚Schnitter’ ist fertig - es ist ein Abbild des Todes, so wie das große Buch der Natur uns von ihm spricht - aber was ich darin anstrebe, ist das ‚beinah lächelnd’.

Es wird Dir vielleicht zumute sein, als ob die Sonne schöner scheine, als ob alle Dinge einen neuen Reiz bekommen hätten. Ich wenigstens glaube, eine ernste Liebe bringt das immer mit sich, und das ist etwas Herrliches. Und wer da glaubt, man könne dann nicht klar denken, der ist meiner Ansicht nach im Irrtum, denn gerade dann denkt man sehr klar, und man ist tätiger als sonst. Liebe ist etwas Ewiges, sie ändert wohl ihre Erscheinungsform, doch nicht ihr eigentliches Wesen.

Schicke die Zitate an Petra, Gabi und Klaus, weil sie etwas Tröstliches haben. Das obige Zitat über Mitleid ist das Lieblingszitat von Klaus.

*

Klaus schreibt: Auf Deinen Antwortbrief an Wolfgang Lieb sind bislang drei Reaktionen eingegangen:

Zunächst rief Hans-Albin Jacob an, Neles ehemaliger Deutsch-Lehrer und SPD-Mitglied. Er findet Deinen Brief „großartig. Endlich bringt mal einer die Sache auf den Punkt!“

Dann schrieb Erwin: "Lieber Klaus, danke für die interessanten Informationen, vor allem der Brief deines Bruders Joke spricht mir aus der Seele. Allerdings ‚krank werden’ ist natürlich keine gute Antwort. Ich hoffe, dass Joke den Kopf nicht hängen lässt.

Soeben trifft die Mail des wissenschaftlichen Mitarbeiters der JaLB ein: "Lieber Klaus, gestern hatte ich mir Internetabstinenz verordnet, deshalb kommt mein Echo erst jetzt. Es hat mich sehr gefreut, den Brief Deines Bruders zu lesen; er ist ein Zeichen, dass es noch Vernunft gibt und deren Licht noch nicht ganz ausgelöscht ist. Vielen Dank für die Weiterleitung. Im übrigen gebe ich zu, dass mich das, was gerade geschieht, buchstäblich krank macht. Es ist nicht so sehr die Furcht vor dem, was die faktische Kriegserklärung - eine solche ist m.W. die Lieferung schwerer Waffen - an Folgen haben wird, vielmehr das Entsetzen, was mehrheitlich aus "uns" im "freien demokratischen Westen" geworden ist: ein Haufen zähnefletschender kriegsbegeisterter, um nicht das Klemperer-Wort 'fanatischer' zu verwenden, Politiker, Medienleute, Intellektueller, die angeblich christliche, liberale, sozialdemokratische/sozialistische und ökologische Wurzeln haben, von denen gar nichts mehr zu bemerken ist. Nur noch eine zynische Machtpolitik, der, wie der EU-Außenbeauftragte unlängst meinte, die Fehler Napoléons und Hitlers im Umgang mit Russland nicht unterlaufen würden.

Vom Kranksein hält mich zum Glück noch der ablenkende Oldenburg-Vortrag über Peter Hacks ab.

*

Zu meinem Geburtstag schreibt Petra mir einen wunderbaren Brief, der das Wesentliche unserer langen Beziehung enthält:

Mein Geliebter! Zum 54. Mal begehen, ja feiern wir (auf Deine/unsere Art) Deinen Geburtstag, es ist der 78! Eine so lange Zeit des Zusammenseins konnten wir uns anfangs kaum vorstellen; es ist auch kein Verdienst, so wie das Alter und Älterwerden keines ist. Aber es ist ein Geschenk, das wir demütig und dankbar annehmen, voller Freude darüber, dass uns dies vergönnt ist. Weder haben uns Krisen und Unstimmigkeiten entzweit noch Krankheiten oder Schlimmeres; und auch kein Krieg hat uns auseinandergerissen - angesichts der Zerstörungen in der Ukraine (und dem Leid, das unsere Eltern durch den Krieg erfahren haben) müssen wir uns auch dessen bewusst sein. So lange unser glückliches Zusammensein schon währt, ist es durch einen hohen Grad an Bewusstheit und Reflexion darüber geprägt, dass sich nichts von selbst versteht: weder die vielen Jahre noch die Umstände und Bedingungen unseres gemeinsamen Lebens, schon gar nicht unserer beider Gesundheit und das Grundgefühl der Geborgenheit, des Schutzes und der Erfüllung von Sinn und Daseinsglück. Beide sind wir uns der großen Kraft unserer Liebe bewusst, sie ist Quelle und Basis all dessen, was wir in der Zeit, die uns gegeben war und hoffentlich noch lange sein wird, auf die Beine gestellt, hinbekommen haben und weiter hinbekommen wollen.

Ich sehe in unserer Beziehung so etwas wie Konstanz und Entwicklung; mit Konstanz meine ich all das, was früh schon angelegt war und sich durchzieht, wie etwa ein Grundverständnis vom Zusammenleben mit Freiräumen für unsere jeweilige Entfaltung, das sich speist aus gegenseitiger Stärkung und Stützung, Ermutigung und dem Füreinander Einstehen. Entwicklung bezieht sich dann auf die jeweiligen Phasen unseres Lebens, in denen sich dieses Gemeinsame ausdifferenziert; das sieht in jungen Jahren naturgemäß anders aus als jetzt, wo wir „Alte“ sind, die „sich nicht so fühlen“ (frei nach A.Sch.). Zur Entwicklung gehören ganz wesentlich auch sich verändernde Bedingungen, aus denen sich (neue) Möglichkeiten des Handelns ergeben, die wiederum Entscheidungen erfordern; hierbei kann man Fehler machen, die einem oft erst viel später richtig klar werden.

Hier denke ich allem voran an Dein Schreiben als schriftstellerische Tätigkeit. Wie oft haben wir in letzter Zeit darüber gegrübelt, wann der richtige Zeitpunkt dagewesen wäre, diesen Schritt zu wagen, ob und wann wir hier einen Fehler gemacht haben und wie anders unser Leben verlaufen wäre, wenn… Doch Lebensplanungen wie diese kann man nicht im Konjunktiv vornehmen; also war der nächst mögliche Zeitpunkt unser gemeinsamer Ausstieg aus dem Beruf. Seit 20 Jahren erfüllt Dich nun bereits das Schreiben, das Deinem Leben einen ganz neuen Sinn verleiht; Du hast es mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und all Deiner Kreativität in Angriff genommen - wie man an den vielen Büchern sieht, mit großem Erfolg. Und genauso zählt zur Entwicklung in dieser Zeit, dass ich im Lesen und (darüber) Schreiben eine sinnstiftende Aufgabe für mich gefunden habe, die es mir auch ermöglicht, Dein Schreiben engagiert zu verfolgen, zu begleiten und zu unterstützen. Unverzichtbar sind unsere vielen, regelmäßig gepflegten Diskussionen über Kunst und Literatur als gemeinsame Plattform unserer Interessen, zu denen auch immer und unverzichtbar das Politische gehört hat.

Dazu kommen die großen Veränderungen der letzten Zeit, was unsere „Behaustheit“ angeht: Das Aufgeben von Zimmerschied - mit all den damit verbundenen Verlusten, die wir erst mit etwas Abstand so richtig gespürt haben: was da alles dranhing und nun fehlt - und unser gesteigertes Engagement in Wilhelmshaven, das wir sinnfälligerweise mit „Aufbau Nord“ bezeichnen und den Verlust des einen etwas kompensieren soll, obwohl es doch sehr anderes ist. Auch das zählt zum Aspekt „Entwicklung“.

So leben wir, was die Umstände und Bedingungen betrifft, in einer doppelten wie vagen Hoffnung, die mit der Frage einsetzt: wie lange können wir diese Lebensform mit zwei Domizilen aufrechterhalten, und wie lange machen unsere gesundheitlichen und psychischen Dispositionen dies möglich? Wir wissen es nicht, und vielleicht ist das sogar gut so. Es entspricht auch wiederum einer Konstante in unserem Leben, die da heißt, alles dem Moment zu geben, im Jetzt zu leben und das Beste daraus zu machen. Alles andere müssen wir auf uns zukommen lassen – sich auf Vorrat zu sorgen und zu mutmaßen, was alles kommen könnte, hat keinen Sinn. Und schon gar nicht möglich ist uns, darüber zu spekulieren, wie sich die große Weltlage entwickelt und auch unser Leben gefährdet; im Bewusstsein, dass auch wir in finsteren Zeiten leben, müssen wir die Kraft aufbringen zum „Lotta continua“, etwas anderes bleibt uns nicht übrig.