Farewell - Joke Frerichs - E-Book

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Joke Frerichs

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Beschreibung

In meinem Journal halte ich fest, was mir im Jahr wichtig war: Leseeindrücke. Berichte von Ausstellungen und Konzerten. Begegnungen. Naturschilderungen. Reflexionen. Erlebnisse der besonderen Art. Es handelt sich um Schreibversuche, Fingerübungen, Arbeitsnotizen, Materialsammlungen, kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

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Seitenzahl: 193

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Wir verbringen den Jahreswechsel in Zimmerschied. Am 29.12. sind wir spontan hergefahren, wegen des herrlichen Winterwetters. Täglich machen wir eine längere Wanderung und genießen die Ruhe hier. Auch am Silvesterabend blieb es ruhig, da die Nachbarn allesamt ausgeflogen sind.

Am Neujahrstag besuchten wir Elias mit einer Flasche Rotwein, um aufs Neue Jahr anzustoßen. Er saß im Nachthemd auf dem Sofa und schaute fern. Sofort schaltete er den Apparat aus, und wir unterhielten uns munter ca. 1 ½ Stunden lang. Lutz zeigte uns eine Skulptur von einer Sitzenden; sie gefiel uns, und wir kauften sie für 200 €. Ein Freundschaftspreis, da die Beiden stets klamm sind. Elias schenkte uns einige Kinderbilder, die wir in Köln an die Kinder im Haus weitergeben wollen.

Bei unserem Rundgang am Nachmittag trafen wir einige Dörfler: Klaus, Bianca, Geli, Wolfgang, deren Schwägerin, Christoph und Hafermanns.

*

Sehen uns auf ARTE den Dreigroschen-Film an. Der Film arbeitet ausschließlich mit Originalzitaten aus dem Dreigroschenroman und dem Dreigroschen-Prozess. Die Besetzung ist hervorragend, und man merkt sofort, dass die Schauspieler wissen, was sie da spielen. Lars Eidinger spielt den Brecht; Tobias Moretti den Macheath; Joachim Krol den Peachum und Max Raabe den Moritatensänger. Regie: Joachim Lang, der auch das Drehbuch geschrieben hat. Wir kannten ihn bisher nicht, aber er ist ein Brecht-Kenner; hat ein Buch über das Epische Theater geschrieben und mehrere Bühnenstücke Brechts inszeniert.

Werden uns den Film auf DVD kaufen, um ihn noch einige Male in Ruhe anschauen zu können.

*

Klaus schickt eine Mail mit einem Novalis-Zitat und dem Entwurf einer Zeichnung. Das Zitat lautet wie folgt:

Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzen-Reihe sind. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man andere nie wahrhaft verstehen lernen.

Ich schreibe ihm zurück:

Das Novalis-Zitat gibt sehr präzise den Traum der Romantiker von einer besseren Welt wieder. Leider blieb es nur ein Traum, aber dieser hatte seine Berechtigung in sich. Als ich über das Zitat nachdachte, wurde mir klar, dass ich mich ambivalent dazu verhalte: Was die Natur und Tierwelt angeht, bin ich ohne Zweifel ein Romantiker. Viele meiner Gedichte sind aus diesem Gefühl oder besser: der Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie entstanden. Was jedoch die menschliche Gesellschaft und vor allem die Geschichte der Menschheit betrifft, bin ich Skeptiker durch und durch – bis hin zur Resignation. Nirgendwo ein Lichtblick; im Gegenteil, man hat das Empfinden, es wird täglich schlimmer in der Welt. Dass man sich dadurch nicht vollends entmutigen lassen darf, ist klar. Wir versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen. Aber das ‚Dennoch’ fällt zunehmend schwer. In diesem Sinne wünschen wir Euch ein gutes, schöpferisches Jahr!

*

Klaus schreibt folgende Mail zurück:

Vielen Dank für Eure Rückmeldungen. Das Novalis-Zitat ist, für sich genommen, für mich vor allem in dem Satz „indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe“ wie eine Definition des magischen Realismus, wie ich ihn verstehe. Genazino geht ja auch in diese Richtung. In seiner Gänze zielt diese Äußerung natürlich in die von Joke angesprochene Richtung, mit allen Vor- und Nachteilen romantischer Empfindungen. Interessant finde ich die von ihm angesprochene Ambivalenz des Fühlens und Denkens, wenn es etwa um Naturnähe und die politische Situation geht. Genau in dieses Spannungsfeld gehört für mich das kulturelle Arbeiten. Brechts „was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“, zeigt unser Dilemma. Es ist alles schlimm genug, aber wir leben gottlob in anderen Zeiten und können uns den Luxus erlauben, über Bäume zu dichten oder sie zu malen – allein schon um Kraft zu schöpfen. Sonst wäre ein unvermeidlicher Skeptizismus wohl kaum auszuhalten.

Zur Kunst:

Auch in die Tätigkeit des Kopierens muss man sich erst einfinden. So schrieb Petra Kipphoff sehr treffend, dass Janssens Kopien ‚keine Kopien sind, sondern Zitate, Variationen, Kadenzen, Verwandlungsspiele, in die er sich und sie verwickelt’. Eigentlich ist das logisch, denn man setzt sich ja auch nicht vor eine Landschaft, um sie abzubilden, sondern man spielt mit den Gegebenheiten, formt sie, gestaltet. Dahin muss man aber erst einmal gelangen.

Bei der gegenwärtigen Zeichnung habe ich die Vorlage zunächst schwarzweiß ausgedruckt, um zwar die Formensprache zu übernehmen, aber zu einer eigenen Farbgebung zu gelangen. Während des Zeichnens, sobald ich mich von den Figuren zu dem Drumherum wendete, merkte ich, dass gerade in der vorgegebenen Farbgebung ein besonderer Reiz liegt und habe darauf zurückgegriffen. Da bei meinen Farbstiften sich welche in Gold-, Kupfer- und Bronzetönen befinden, entwickelte sich auch ein eigener Weg. Eine große Veränderung an der Tanzgruppe habe ich vorgenommen, indem ich den Kopf des Mannes weggelassen habe, der in der Vorlage über dem Gesicht der Frau herausragt. Grund war einmal, dass der Hals eine gewaltige Länge hätte aufweisen müssen. Auch ändert sich die Deutung, wenn die Kraft, die wirkt, plötzlich anonym wird. Einiges ist noch zu tun, vor allem im Feinschliff. Ich bin selber gespannt auf das Endergebnis.

Ein gelungener Jahresauftakt zu unserem Kunstdialog. Immer öfter haben wir durch die Schilderungen von Klaus Einblick in sein künstlerisches Schaffen. Was er über das Kopieren sagt, ist hochinteressant. Wir haben es schon immer sehr geschätzt, von der ersten Beckmann-Kopie aus dem Jahre 1969 an, die er uns als Hochzeitsgeschenk schickte.

*

Zum Abschluss unseres Aufenthalts in Zimmerschied erleben wir abermals einen wunderschönen Wintertag. Wir unternehmen noch eine zweistündige Wanderung Richtung Dausenau. Später gab es einen Sonnenuntergang und eine klare Mondnacht gratis.

*

7.1.2020: Sind zurück in Köln, wo uns freundliche Grüße von Erasmus Schöfer zum Neuen Jahr erwarteten. Er schreibt: Ich hoffe euch weiter gesund und aufmerksam sowie aktiv für die Rettung der Welt oder wenigstens unserer ausgedünnten Demokratie. Ich brauche ziemlich lange, um meine 5 Treppen hochzukraxeln, und die verbleibende Energie für den Rest reicht nicht mehr für neue Werke.

Auf seine Art ist er doch treu – kann nur nicht aus seiner Haut. Aber wer kann das schon?

*

Im Basil’s unterhalte ich mich mit Rolf. Er ist eine Art Universalgenie; gebildet und vielseitig interessiert. Er fährt Reisegruppen zu Kulturstätten in ganz Europa. Entsprechend gut kennt er sich aus. Aber man kann auch über den FC Liverpool, deren Spiele er regelmäßig verfolgt, oder über Kochrezepte mit ihm reden. Und obendrein kann er zuhören und ist im besten Sinne amüsant. Kurzum: es macht Spaß mit ihm zu reden.

*

Rufe Wolfgang an. Wir sprechen lange über die Situation der SPD. Auch er sieht die Lage kritisch. Die neuen Vorsitzenden sind relativ isoliert von der Fraktion und erst recht von den eigenen Regierungsmitgliedern; also ohne eigentliche Hausmacht, da auch die Zentrale im Willy-Brandt-Haus nicht gerade für sie arbeitet. So wird es ihnen nicht gelingen, die Beschlüsse des letzten Parteitages umzusetzen. Es bleiben Einzelvorstöße, die unabgestimmt daherkommen. Hier ein bisschen, da ein bisschen. Zudem haben sie die Presse gegen sich, die die wenigen Vorschläge dann noch verzerrt wiedergibt.

Und Beiden fehlt ein gewisses Charisma. Sie wirken brav (NoWaBo) oder verbiestert (Eskens). Letzterer fällt es überhaupt schwer, sich verständlich zu artikulieren. So wird das nichts mit der Wiederauferstehung der Partei.

*

Beende vorerst meine Safranski/Nietzsche-Studien. Die Philosophie Nietzsches war immer eine Leerstelle bei mir, obwohl sich viele Philosophen und Schriftsteller auf ihn bezogen: z.B. Heidegger; Benn; Freud; Sartre; Camus; Thomas Mann; Hesse usw.

Dank der sensiblen Herangehensweise Safranskis verstehe ich die Terminologie Nietzsches immer besser, und nach anfänglichen Schwierigkeiten macht es schließlich Spaß, auch einige Originaltexte zu lesen.

Besonders gefällt mir die existenzielle Dimension seines Denkens. Es ist existentiell, weil es um seinen Lebenskampf und die Gestaltung des eigenen Lebens geht. Um nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das ist eine Philosophie, die aufs Ganze geht und die im besten Sinne radikal ist. N. möchte die Menschen vom Ballast religiöser bzw. bürgerlicher Moralvorstellungen befreien, damit sie bei sich selbst ankommen. Er sieht in der Kunst das Potential des Schöpferischen, das den Menschen ausmacht. Alles andere – Politik; Wirtschaft; Alltagsleben; Normalität – ist nur Beiwerk, das oft genug ein Hindernis für die freie Entfaltung der menschlichen Lebensmöglichkeiten darstellt.

Begrifflichkeiten wie Übermensch oder Wille zur Macht, die oft genug für politische Zwecke missbraucht wurden, verlieren ihren Schrecken, wenn man weiß, was er darunter versteht. Mit Übermensch umschreibt N. sein Anliegen, der Einzelne möge seinen alltäglichen, durch Gewohnheiten eingeübten Horizont überschreiten, um seine kreativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Mit Wille zur Macht meint er den unbedingten, diesseitigen Lebenswillen, allen religiösen oder sonstigen Normvorstellungen zum Trotz. Es geht nicht um die Macht über andere, sondern um die Macht über sich selbst, um das Beste aus sich herauszuholen. Alles läuft darauf hinaus, dass Jeder seine Phantasie, Träume, Emotionen und geistigen Fähigkeiten in die schöpferische Gestaltung des Lebens einbringt, so als wäre das Leben ein Spiel, das es unbedingt zu gewinnen gilt.

N. ist, wie andere große Philosophen auch, ein hervorragender Stilist; ja eigentlich ist er ein Dichter, der, ähnlich wie Adorno in seiner Minima Moralia, die Form des Aphorismus wählt, was seinem Hang zum Assoziieren entgegen kommt. Seine Ausführungen über Musik (Wagner) und Kunst sind teilweise brillant und tiefgründig, weil er deren Entstehung aus dem Mythos nachvollzieht. So sind ihm das Dionysische und das Apollinische die zwei Pole, die die Entwicklung von Kunst und vor allem Musik ausmachen. Ersteres steht für das Sinnliche, Rauschhafte; letzteres für die Formgebung und kreative Gestaltung. Beides muss im künstlerischen Akt zusammenkommen; jedes für sich allein wäre defizitär.

Noch ein Wort zu Safranski: Er versteht es meisterhaft, schwierige Zusammenhänge – und davon gibt es bei N. viele – darzustellen und zwar oft so spannend, dass man die Lektüre am liebsten gar nicht unterbrechen möchte. Aber man sollte es tun, weil die Gedankengänge N.s äußerst komplex sind, u.a. wegen der Rückgriffe auf die griechische Philosophie, Schopenhauer, Schelling, die Romantiker usw. Das ist teilweise ein hartes Brot, und es gibt durchaus Durststrecken, die man überwinden muss. Insgesamt war es eine lohnende Lektüre, die mir eine Lücke geschlossen hat, um die viele Dichter und Denker besser zu verstehen.

*

Telefoniere mit Wolfgang, nachdem dieser von A.M. in einem Beitrag aufs Übelste attackiert wurde. M. bezeichnet ihn als Jemanden, der versucht hat, die NDS zu unterwandern und amerikanisches Gedankengut zu infiltrieren. Das ist einfach nur krankhaft, eine Ausgeburt wahnhafter bzw. größenwahnsinniger Phantasien. W. scheint es gut verkraftet zu haben, soweit man das aus der Distanz beurteilen hat. Er wird nichts gegen die Angriffe unternehmen, worin ich ihn nur bestärken kann. Auseinandersetzungen mit A.M. lohnen nicht, weil dieser buchstäblich nichts begreift und sein ausgeprägter Narzissmus Sichtweisen Anderer nicht zulässt, so sehr ist er von sich überzeugt.

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Petra ermuntert mich, meinen Text über Heinz Langerhans für den Blog zu überarbeiten. Ich kürze und aktualisiere ihn an einigen Stellen, so dass er lesbarer wird.

Überhaupt überlegen wir, welche Texte wir in 2020 einstellen sollten. In Frage kommen solche über Hesse; Brigitte Reimann; Jean Paul; Kempowski und sicher immer wieder welche über Dieter Wellershoff; z.B. Die Auflösung des Kunstbegriffs.

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Kehre noch einmal zur Benn-Lektüre zurück; diesmal lese ich die Biographie von Gunnar Decker über ihn. Vor Jahren las ich die von Dieter Wellershoff, die mit dazu beitrug, dass Benn nach dem Krieg wieder aktuell wurde. Ebenso trug dazu bei die vierbändige Benn-Ausgabe, die Dieter und Maria Wellershoff herausbrachten. Die Witwe Benns verhinderte damals, dass Maria W. als Mitherausgeberin genannt wurde.

Benn fasziniert mich immer erneut. Ist es sein Skeptizismus; seine Melancholie; seine spezielle Lyrik; sein Sprachstil? Vielleicht von allem etwas. Und natürlich ist es sein Verhältnis zu Nietzsche, das ich jetzt besser einzuschätzen weiß. Man könnte fast sagen, Benn löst literarisch ein, was Nietzsche von der Kunst erwartet: die bedingungslose Hinwendung auf die Sache ohne Rücksicht auf Moral, Zeitgeist und gesellschaftliche Normen.

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Im Stadtteil Kalk, einem sozialen Brennpunkt Kölns, ist ein Kino eröffnet worden. Zwei relativ junge Leute, die auch schon vorher im Kinomilieu tätig waren, haben gemeinsam mit engagierten Architekten ein altes, nicht mehr genutztes Gebäude vor dem Verfall gerettet und zu einem Kino umgebaut. Im KStA heißt es:

Die Theke aus Holz, die Nierentische, Licht aus altmodischen Lampen. Der Blick fällt auf die Galerie der Schwarz-Weiß-Fotos mit den Leinwandgrößen der 40er Jahre. Davor stand hier ein gemauertes Nichts. Davor eine Disco. Davor tatsächlich ein Kino.

Das Kino zieht u.a. Kinder aus dem ehemaligen Arbeiterviertel an. Die Betreiber sagen über sie:

Sie sind ein wichtiges Publikum. Die Kalker Kinder sind einfach anders. Sie kommen häufig allein. Sie sind irgendwie freier. Es gibt eine Clique von Kindern, die während der gesamten Bauarbeiten mitfieberte. Am Ende haben sie sich wahnsinnig über dieses Kino gefreut. Eines Tages kauften sich diese Kinder Karten für ‚Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm’. Sie hatten den Trailer gesehen und sagten, sie liebten die Musik und die Liebe. Man sieht: Kalker Kids sehen und verstehen Brecht.

Wir erinnern uns an eine Theater-Aufführung in der Studio-Bühne unter der Regie von Hiltrud Kissel. Sie brachte Jugendliche aus Höhenhaus, einem vernachlässigten rechtsrheinischen Viertel, auf die Bühne, die dort nach Herzenslust rappen und tanzen und damit ihre Bedrängnisse artikulieren und darstellen konnten. Auch sie hatten verstanden, worum es in dem Stück ging.

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Schicke meinen Langerhans-Text an Rolf N., mit dem ich im Basil’s darüber gesprochen hatte. Er antwortet prompt:

Wahrhaft beeindruckend, wie Du es schaffst, eine derartig komplexe und komplizierte ‚Geschichte’ vor dem Vergessen zu bewahren. Es hat mich sehr berührt, vor allem vom unglaublichen Lebensende Langerhans' zu erfahren. Wie absurd sein Weg dann hinter Gittern endete – in der Dunkelheit.

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Telefonate und reger Mail-Wechsel mit Klaus. Er schickt die Skizze eines neuen Bildes. Wir finden es gut, dass er zu neuen Ufern aufgebrochen ist. Die gewählten Motive sind beeindruckend; dazu die für ihn neuen Farben, und alles ist gekonnt in Szene gesetzt. Dabei fällt mir auf, dass wir ganz ähnlich arbeiten: Mosaikstein für Mosaikstein entsteht. So ist es zurzeit auch beim Schreiben. Ich entdecke immer noch neue Nuancen eines Themas. Und solange es so ist, werde ich den Text nicht ruhen lassen.

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Lese zum x-ten Mal Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. Ein Meisterwerk, das mich sofort wieder fasziniert. Zuerst hatte ich ihn im Ostfriesland-Urlaub 1985 gelesen. Seither begleitet er uns, und man liest ihn immer wieder neu.

Danach lese ich den Leviathan. Ein ganz anderer Stil, aber ebenfalls ein großer Wurf. Das gleiche gilt für Die Umsiedler. Was allein an stilistischen Raffinessen in den kleingedruckten Passagen steckt, die die jeweiligen Kapitel einleiten. Und immer wieder diese Naturbeschreibungen; surrealistisch, verblüffend und doch atmosphärisch. Sein Schreiben ist ohne Beispiel, oder wenn, müsste man sehr viele Einflüsse berücksichtigen: auf jeden Fall Joyce. Werde daraufhin noch einmal bei Reemtsma nachschauen.

*

Erhalte überraschend die folgende Mail von H. Groß:

Vor zwei Tagen habe ich an der Trauerfeier für Guntram Schneider teilgenommen. Ihn habe ich sehr gemocht und geschätzt. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie hat mich dieser traurige Anlass dazu gebracht, an die Diskussionen um die und mit den Gewerkschaften zu denken. Und in diesem Kontext habe ich mich an Dich und Petra erinnert. Und ich würde Euch gerne irgendwann mal treffen, wenn das möglich ist. Ich habe Deine Emailadresse auf Deiner Homepage gefunden.

Ich schreibe ihm zurück, dass man wohl kaum umhin käme über die alten ISO-Zeiten zu sprechen, ich aber die zwiespältigen Erinnerungen daran nicht auffrischen möchte. Er akzeptiert das.

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Die erste Erkältung des Jahres klingt ab. Sie war kurz, aber heftig. Jetzt plagen Petra Halsschmerzen. Hoffen, dass es nicht so schlimm wird.

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Mein Beitrag über Heinz Langerhans ist im Blog erschienen. Dazu schreibt Uwe Pöhls:

Das ‚Wort zum Sonntag’ kommt heute etwas spät, ich bitte das zu entschuldigen. Der Beitrag ist für mich ungeheuer interessant und ich muss gestehen, er macht mich schmerzlich auf eine echte Bildungslücke aufmerksam. Aber der Beitrag ist darüber hinaus auch enorm persönlich – im positiven Sinn – und erschütternd.

Bei der Bildsuche bin ich leider nicht fündig geworden im Hinblick auf ein Bild von Langerhans. Aber das Erschütternde an diesem Lebensschicksal und natürlich auch das wirklich nahegehende Ende hat mich erwogen, das Bild eines ‚lost places’ zu wählen. Es verbindet ja beides, das Erinnern an ‚finstere Zeiten’ und den Kampf gegen das Vergessen. Ich habe es vor zwei Jahren in den Heilstätten Beelitz aufgenommen. Evtl. habe ich das schon einmal bzw. ein ähnliches im Blog verwendet, aber das ist dann schon eine Weile her. Ich würde mich freuen, wenn Sie dennoch damit einverstanden sein könnten. Herzlichen Dank für diesen wirklich tollen Beitrag und die Erinnerung an einen besonderen Menschen.

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20.1.: Fraukes 77. Geburtstag. Der erste ohne sie.

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Klaus schreibt zum Blog-Beitrag: Das ist Dir ganz hervorragend gelungen. Je öfter ich das lese, desto mehr bewegt mich dieser Lauf des Lebens. Den darf man in der Tat nicht vergessen!

Volker B. schreibt: ,Ich liebe deine Texte‘.

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Arbeite mehr oder weniger intensiv an meinem Roman. Solange mir noch neue Aspekte kommen, wird es so bleiben. Als Titel schwebt mir vor: Zeit der ungerufenen Bilder oder: Zeit der unverhofften Bilder. In dem ‚unverhofft’ steckt vielleicht das ‚ungerufen’ bereits mit drin. Werde später entscheiden, welchen Titel ich wähle.

Das Problem, an dem ich arbeite, ist: Ein Verständnis von Kunst zu entwickeln, das meinen neu gewonnenen Einsichten entspricht. Bis vor einigen Wochen hatte ich mich noch mit Formulierungen wie: Kunst hat den Raum für neue Möglichkeiten zu erweitern zufrieden gegeben. Das würde ich auch jetzt noch sagen; die Frage ist nur: WIE. Nach der Lektüre von Nietzsche und Benn bin ich sensibler, was derartige Anforderungen an die Kunst angeht. Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Brechts Lyrik ist am schwächsten, sobald er Lern- oder Agitprop-Gedichte schreibt. Sie sind vordergründig politisch, aber ästhetisch kaum nennenswert. Dagegen ist ein Gedicht wie An die Nachgeborenen zwar nicht unmittelbar politisch, aber von einer ästhetischen Schönheit, die ganz schlicht daherkommt und dennoch von einer ungeheuren Aussagekraft ist.; z.B. die unlängst von Klaus zitierte Zeile: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume schon fast ein Verbrechen ist. Das zeigt: ein Gedicht muss aus sich heraus wirken, nicht, indem politische Losungen in Gedichtform gefasst werden. So in etwa wäre die Aussage zu verstehen, Kunst habe Kunst zu machen und sonst nichts. Darüber ist weiterhin nachzudenken.

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21.1. – 28.1. Zimmerschied

Nachdem ich mich eingerichtet habe, lese ich den Roman Sunset von Klaus Modick; ein Tipp von Klaus. Modick wird demnächst in der a Lasko-Veranstaltungsreihe lesen. Der Roman handelt von der Begegnung Feuchtwangers mit Brecht. Da Modick über Feuchtwanger promoviert hat, kennt er sich in dessen Leben und Werk bestens aus. Trotz des Altersunterschieds haben F. und B. sich gut verstanden, wobei Brecht den Feuchtwanger durchaus für seine Zwecke instrumentalisiert hat. Aber ohne die wechselseitige Inspiration hätte dies wahrscheinlich nicht funktioniert. Beide haben sich Anfang der 1920er Jahre kennengelernt. Brecht bat Feuchtwanger, ihn bei der Veröffentlichung und Aufführung seiner frühen Stücke zu unterstützen; wenn nicht zu protegieren. Das gilt vor allem für die frühen Stücke wie Trommeln in der Nacht.

*

Erster Wintermorgen. Ich sitze und warte auf den Sonnenaufgang. In den Bäumen spiegelt er sich bereits, obwohl die Sonne selbst noch nicht zu sehen ist. Sie geht hinter dem Haus der Dame in Weiß auf. Der Rasen auf dem Friedhof ist in Raureif getaucht. Alles ist ruhig, geradezu von einer feierlichen Stille. Eine rotbraun gefärbte Katze kommt die Auffahrt hinauf. Ich habe sie noch nie hier oben gesehen. So ändert sich doch einiges hier, obwohl man den Eindruck haben könnte, hier steht die Zeit still.

Später dann der aufsteigende Nebel. Darüber der blaue Himmel. Dazwischen die sich einschmeichelnde Sonne. Idylle pur.

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Komme gut ins Arbeiten. Füge drei kleinere Textstellen ein und korrigiere etwa 10 Seiten. Danach lese ich den Roman von Modick weiter, der mir gut gefällt. Nachmittags mache ich einen Spaziergang, trinke Kaffee und arbeite weiter. Abends Lektüre und/oder Fernsehen. Meine Linsensuppe reicht für 3 Tage. Ansonsten ist Schmalhans angesagt

*

Habe den Roman Sunset von Klaus Modick zu Ende gelesen. Der Roman schildert sehr sensibel die gewiss nicht einfache Beziehung Feuchtwangers zu Brecht. Ich habe mich täglich auf die Lektüre gefreut und mir – nach getaner Arbeit – jeweils eine Stunde Zeit dafür genommen. Der Roman hätte von mir aus doppelt so lang sein können. Er ist an keiner Stelle langatmig.

Dass Feuchtwanger großen Einfluss auf Brecht gehabt hätte, würde ich nicht sagen. Brecht war ein zu eigenständiger und vor allem auch eigenwilliger Kopf, der sich gern die Meinung anderer anhörte und dann selbst entschied, was er davon für sich verwenden konnte. Ich denke, dass seine Mitarbeiterinnen und Geliebten und auch Eisler stärkeren Einfluss auf Brecht hatten als Feuchtwanger; schon deshalb, weil sie enger mit ihm zusammen arbeiteten. Dass aber Feuchtwanger das Genie Brechts so früh erkannt hat, spricht für ihn.

Sollte man deren Verhältnis charakterisieren, würde ich sagen: Freundschaft wäre ein zu großes Wort für diese Beziehung. Aber sie haben einander respektiert. Das allein reicht aber auch noch nicht: vielleicht sollte man das gute alte Wort Vertrauen benutzen. Sie haben einander vertraut, auch in den schwierigen Zeiten, was unter den Exilanten durchaus nicht selbstverständlich war (s. das schwierige Verhältnis Brechts zu Thomas Mann oder Adorno).

Das alles kommt in dem Roman gut raus. Er schildert die Atmosphäre des Exils sehr nachvollziehbar. Die ständige Bespitzelung, die kulturelle Fremdheit (Hollywood), die Dominanz des Tauschwerts, die Flachheit und Leere der sozialen Beziehungen usw. Besonders das Kapitel 4, wo es um die Schwierigkeit geht, in einer fremden Sprache zu schreiben, hat mich sehr beeindruckt. Darunter haben wohl alle gelitten, auch diejenigen, die des Englischen/Amerikanischen mächtig waren. Die Übersetzungen trafen meist nicht den verborgenen Sinn eines Textes. das gilt vor allem für die Lyrik, die wahrscheinlich ohnehin unübersetzbar ist. Modick macht das Problem an einem Wort wie Eisblume fest. Man kann es in andere Sprachen übersetzen, trifft aber nicht die eigentliche Bedeutung. Da ist das gleiche Bild und dennoch etwas ganz anderes. Denn die Muttersprache ist nicht nur der Sinn, der begriffliche Inhalt von Wörtern, sondern auch eine Atmosphäre, ein Hauch, ein Stromwechsel zwischen Ober- und Untertönen, die etwas ausdrücken, was jenseits der Bedeutung mitschwingt.

Für Brecht muss das Exil die Hölle gewesen sein. Alles Amerikanische war ihm verhasst; selbst der Natur begegnete er achtlos. Ich sehe an jedem Baum das Preisschild, hat er in seinen Arbeitsjournalen notiert. Und: Hier versteht man meine Absichten nicht, weil man nur am finanziellen Erfolg interessiert ist. Die Kunst ist Nebensache; Mittel zum Zweck.

Unser Freund Langerhans berichtete von einem Besuch bei ihm. Seine ganze Sehnsucht galt dem Theater am Schiffbauerdamm, um endlich das Theater machen zu können, das ihm vorschwebte.

Noch einmal zu Feuchtwanger. Ich kenne nur seinen Goya-Roman, über den wir ja auch im Blog der Republik geschrieben haben. Den Roman fand ich großartig. Vor allem gefiel mir die Darstellung der Herr/Knecht-Beziehung zwischen Goya und seinem Assistenten. (Alles Weitere steht in unserer Besprechung).