2,99 €
„Ich darf mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Solveig Gräfin Solangen. Und ich bin ein Geist“. So stellt sich Solveig auf einer Firmenveranstaltung von Gerold Manning vor und sorgt für Aufmerksamkeit.
Wer ist sie? Bei der Besetzung der Pfalz 1792 durch französische Truppen wird Solveig Gräfin Solangen ermordet. Doch sie weigert sich, den Tod hinzunehmen und kehrt zurück. Als Geist beschützt sie ihr Zuhause und wartet auf den französischen Offizier, um ihn zu bestrafen. Doch sie weiß nicht, dass der bereits tot ist.
Mit den Jahren arrangiert sie sich mit den jeweiligen Besitzern und Erben des Schlösschens, selbst als der Letzte ihrer Linie es an den Industriellen Manning verkauft. Sie mischt sich nicht ein, solange ihr ein eigenes Refugium zugestanden wird. Immerhin schafft sie es, aus dem unsichtbaren Geist hin zu einer menschlich wirkenden Person zu wechseln.
Erst mit dem heutigen Besitzer, Gerold Manning, kommt sie mehr in Kontakt. Er holt sich seine Softwarefirma neben das Schlösschen. Damit gibt es erste Begegnungen, erste Konfrontation. Und sie einigen sich. Sie kann ihm sogar in einer Notlage helfen. Ab jetzt sind Begegnungen häufiger. Plötzlich ist gegenseitiges Interesse vorhanden.
Nebenbei lernt sie, dass er sich in einem anderen, privaten Bereich engagiert. Sie findet auch heraus, dass sein Verhalten sogar auf sie selber zurückgeführt wird. Doch es ist ein Engagement, der jedes Mal für Niedergeschlagenheit bei Gerold führt. Und auch hier wagt sie einen großen Schritt, um ihm zu helfen.
Hilfe verbindet und er erfährt mehr über sie. Er erfährt auch, dass es ein Rätsel gibt, dessen Lösung ihr Dasein als Geist beenden wird. Nur sehen beide absolut keine Lösung. Doch sie geben nicht auf.
Aber es sind die massiven Angriffe auf sein Unternehmen, die beide vor Herausforderungen stellen, wie sie die Gefahren abwenden können.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ich erzähle eine Geschichte, keinen Tatsachenbericht.
Wegen der expliziten Beschreibungen ist sie für Leser (m/w/d) ab 18 Jahren geeignet.
Alle hier vorkommenden Personen sind erwachsen und frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt.
Die Geschichte spielt in der Pfalz, irgendwo zwischen Neustadt a.d.W. und Landau. Das Schlösschen selber ist Fiktion. Historische Rahmenelemente sind Tatsachen. Ortsnamen wie Spire (Speyer) oder Neustatt (Neustadt) sind für den historischen Part aus der damaligen Zeit übernommen.
1792
Existenz
Gerold
Liebe
Nina
Leben
Tiefschlag
Präsentation
Michelle
Zauberbann
Veränderungen
Epilog
Schwarz.
Die Welt war schwarz. Himmel, Erde … alles war tintenschwarz.
Die junge Frau sah nichts, gar nichts. Zumindest verstand sie sich als Frau. Warum, hätte sie allerdings nicht beantworten können. Ein ‚Bauchgefühl‘ traf es am ehesten. Denken zu können, bedeutete, dass sie existierte, fand sie. Woher sie diese Erkenntnis hatte, konnte sie nicht sagen. Denken zu können und dabei nichts wissen, war ein hilfloser Zustand. Und es waren unendlich viele Fragen, die sie gerade überschwemmten. Aber sie ließen sich auf einige grundlegende zusammenfassen.
Wer bin ich?
Was bin ich?
Wo bin ich?
Nichts sehen war fast wie ein nicht sein. Als sie den Finger hob und ihre Nase berührte, spürte sie es, aber sie sah ihn nicht, egal, wie nahe sie den Finger dann an ihr Auge führte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Dunkelheit erlebt zu haben, dass sie den Finger nicht sah, wenn er ihre Wimpern berührte. Erinnern? An was will ich mich erinnern? Womit vergleichen, wenn ich doch nichts über mich weiß? Und doch denke ich, dass ich so etwas noch nie erlebt habe? Wieso?
Sie hatte plötzlich den Eindruck, dass sie nicht allein war, dass andere hier in diesem Raum, dieser Welt oder wo auch immer sie existierte, waren. Nur sah sie niemanden. Sie hörte auch nichts. Wieder war es dieses ‚Bauchgefühl‘, dass sie nicht erklären konnte. Sie öffnete den Mund und rief … aber nicht ein Ton erschallte. War sie stumm geworden? Im zweiten Versuch trat sie fest auf. Der Boden war fest und gleichzeitig ein wenig federnd. Sie spürte nicht einmal den Tritt im eigenen Fuß, geschweige denn, dass sie das Stampfen hörte. Als ob man auf Gelee tritt. Wieder zuckte die Frage durch ihren Kopf, woher sie wusste, was ein Gelee war. Eine Antwort konnte sie nicht geben. Gelee ist fest und doch weich. Aber was ist das eigentlich? Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Etwas mit etwas zu vergleichen, was man nicht erklären konnte, war irgendwie aberwitzig.
Nur wagte sie keinen Schritt zu machen. Wenn man nicht wusste, wo man war und auch nichts sehen konnte, sollte man besser warten.
Zuerst fiel es ihr nicht auf, aber da war ein winziger Lichtpunkt. Er erhellte nicht, es war eher wie eine Kerzenflamme in tausend Meter Entfernung.
Sie fixierte diesen Punkt. Es gab ja sonst nichts außer schwarz.
Die Frau runzelte die Stirn. Der Lichtpunkt schien näherzukommen. Aus der Spitze einer Nadel wurde der Kopf eines Nagels. Dann war es so groß wie ein Fingernagel. Das Licht wuchs weiter wie ein Handteller und schließlich war es wie ein beleuchtetes Stadttor aus 50 Schritt Entfernung.
Das Licht war hell und blendete ein wenig. Es wirkte warm, anheimelnd und einladend. Doch es erhellte die Umgebung nur ganz schwach. Es wirkte wie ein Tor. Die Seiten, der obere Rundbogen, sogar die Torflügel meinte man zu sehen.
Jetzt sah man zumindest den Boden. Eben, glatt, schwarz. Er schien unendlich zu sein und verschmolz mit der schwarzen Luft.
Und die Frau sah nun die anderen. Drei Männer und sechs Frauen. Alle standen einige Meter voneinander im Abstand. Was ist ein Meter? Woher weiß ich das? Sie alle wirkten wie blasse graue Gestalten, die fast bewegungslos standen. Sie alle blickten zu der Lichtpforte. Sie alle schienen auf etwas zu warten.
Neugierig betrachtete die Frau diese anderen Personen. Wieso waren hier überhaupt andere? Worauf warteten sie? Wer waren sie? Wer bin ich?
Schockiert stand die Frau da. Wer war sie eigentlich? Sie wusste nicht, wer sie war? Sie wusste nicht, wo sie war? Sie wusste nicht, wann sie war? Sie wusste, dass sie eine Frau war und … wie alt war sie eigentlich? Der Blick an sich herunter zeigte ihr, dass sie wohl ähnlich war, wie diese anderen Wesen. Zumindest, was das Äußere anging.
Aber … ist das überhaupt wichtig?
Es war ein merkwürdiger Gedanke, der ihr mit der Frage durch den Kopf schoss. Ich lebe. Ich fühle mich nicht schlecht. Es ist zwar merkwürdig hier und ich verstehe es nicht. Aber das Licht gefällt mir irgendwie.
Wieder gab es eine Veränderung. Jemand kam aus dem Tor. Eine Gestalt aus Licht. Faszinierend.
Die Frau neigte ihren Kopf ein wenig. Ein winziges Lächeln kam an ihre Lippen. Die Gestalt bestand aus dem gleichen Licht wie das Tor und doch konnte man sie unterscheiden. Die Gestalt war menschlich. Ein Kopf, ein Körper, zwei Arme und zwei Beine, die sich bei Gehen ganz normal bewegten. Nur bestand alles aus Licht. Körper, Kopf, Arme und Beine. Alles Licht. Konturlos, gesichtslos und doch irgendwie ein Mensch. Was ist ein Mensch?
Während die Gestalt ruhig herankam, betrachtete die Frau nochmals die anderen Personen. Sie alle trugen etwas, was wie ein weißes, knöchellanges Hemd mit Ärmeln bis zum Ellenbogen aussah. Weiß, hätte es die Frau eingestuft.
Ansonsten waren die Haare diese Personen individuell. Da schienen blonde, braune oder schwarze Haare zu sein. Eine Person, die die Frau gefühlsmäßig männlich einstufte, hatte sogar gar keine Haare. Trotzdem wirkten alle wie jemand zwischen Zwanzig und Dreißig. Niemand war alt oder gar gebrechlich. Wieso kann ich Farben und Alter zuordnen? Alle standen aufrecht und entspannt. Gelassen.
Vielleicht war es der Auslöser, denn die Frau zog ihre Brauen nachdenklich zusammen. Irgendwie schienen ihr die Personen bekannt vorzukommen. Doch sie kam nicht darauf. Wenn ich sie kenne, dann müsste ich sie früher schon einmal gesehen haben. Früher? Ich weiß ja nicht einmal, was ich vor dem Erwachen in der Schwärze getan habe. Habe ich da überhaupt etwas getan? Wer bin ich? Sie kam immer wieder zu der Leere in ihrem Kopf zurück.
Die Lichtgestalt war herangekommen und blieb vor ihnen stehen.
WILLKOMMEN.
Das Wort entstand in ihrem Kopf und ein warmes Gefühl wie Geborgenheit, Sicherheit und Erleichterung durchlief sie. Die Begrüßung war freundlich, war warmherzig.
Die Lichtgestalt ging zu der ihr nächsten Person. Sie neigte leicht den Kopf wie bei einer Begrüßung. Dann hob sie mit einer ruhigen Bewegung den rechten Arm und deutet auf das Tor. Die begrüßte Person, ein Mann, wie die Beobachtende glaubte, neigte seinen Kopf wie einen Dank und schritt ruhig und gemessen auf das Tor zu.
Das gleiche scheinbare Zeremoniell geschah auch bei der nächsten Person und auch den anderen. Alle, die die Beobachtende als Männer einstufte verbeugten sich, die als Frauen geglaubten machten dagegen einen tiefen Knicks. Person für Person schritt danach zum Tor. Keiner drängelte, keiner ging von alleine. Nur Ruhe und Gelassenheit herrschte. Jede Person wartete auf die individuelle Begrüßung und den zeigenden Arm. Erst dann bewegte sie sich.
Zuletzt stand die Lichtgestalt vor der Beobachterin. Das nichtvorhandene oder nicht sichtbare Gesicht faszinierte die Frau. Man sah nur ein gleichförmiges Licht und doch hatte man das Gefühl von längeren weißen Haaren, einem jugendlichen Gesicht, dass Mann oder Frau gehören konnte und einem herzerfreuenden Lächeln um die nicht sichtbaren Lippen.
WILLKOMMEN, SOLVEIG.
Diese Worte in ihrem Kopf galten nur ihr. Die Frau wusste es einfach. Hatte das erste Willkommen allen gleichzeitig gegolten, so war das ihr persönliches Willkommen. Und ihr Kopf explodierte vor der Flut der Erinnerungen.
Solveig? Ist das mein Name? Ja, ich bin Solveig. Solveig Gräfin Solangen. 22 Jahre alt, Geboren am 1. März 1770 in Philisbourg. Meine Eltern sind Frederik Freiherr von Hohenberg und Sybille Freifrau von Hohenberg. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in unserem Landhaus und manchmal reisten wir nach Karlsruhe, wenn der Großherzog geruhte, unsere Familie zu einem Ball einzuladen. Im Sommer 1788 heiratete ich meinen Mann, Augustus Melchior Friederich Graf Solangen und zog mit ihm in sein Schlösschen auf der Pfälzer Seite. Es war wunderschön gelegen. Halb den Hang der Rheintiefebene hinauf mit einem herrlichen Blick über die Weinberge und Bauerhöfe in der Ebene. Bei schönstem Wetter glaubte ich am Horizont meine Geburtsstadt zu sehen. Unsere Ehe war glücklich und noch kinderlos. Mein Gatte hatte viel in Worms und auch Spire zu tun. Politik eben.
Heute ist der 12. Juli 1792. Ein schöner sonniger Tag. Ein leichter Wind wehte. Heute ist der Tag, an dem ich gestorben bin.
Mit brachialer Gewalt schlugen die Ereignisse des Tages auf sie ein. Mit wachsendem Grauen erlebte sie in Sekundenbruchteilen den Tag. Ihr Name und das Erkennen hatte eine Lawine an Erinnerungen in ihrem Kopf ausgelöst.
ICH BIN SOLVEIG GRÄFIN SOLANGEN. ICH BIN TOT. ICH BIN HEUTE ERMORDET WORDEN.
Mit diesem Erkennen der eigenen Person lief auch das Erkennen der Personen, die gerade zum Lichttor gingen. Yvette, ihre Kammerzofe – heute ermordet. Bastian, der Haushofmeister – heute ermordet. Heinrich, der Gärtner. Frederique, die Hausdame. Johann, der kahle Kutscher. Henriette, die Köchin. Und die anderen Bediensteten ihres Hauses. Alle heute ermordet. Nur ihr Gatte lebte noch. Er war nach Neustatt gefahren, um mit dem französischen General zu verhandeln. Alle, die bei ihr waren … tot … TOT … ERMORDET.
--- xxx ---
Am späten Vormittag des 11. Juli 1792 waren Hufschläge aufgeklungen auf dem gepflasterten Weg vor dem Schlösschen. Jeder nannte es Schlösschen, obwohl es eigentlich nur ein Gebäude war. Manche sagten auch zwei, denn alles bestand aus einem viereckigen Wehrturm aus dem Mittelalter. Mit zwei Metern Wanddicke und 15 Metern im Quadrat als Innenbereich war es massiv zu nennen. Direkt an eine Seite angelehnt war der frühere Palas, das Wohngebäude einer Burg. Mehr war von der früheren Burg nicht mehr existent. Irgendein Ahnherr musste die Wände des Turms mühsam durchbrochen haben, so dass die drei Ebenen des Palas nun Zugang hatten. Der Turm selber hatte noch ein weiteres Stockwerk, dass aber nur erreichbar war über die Wendeltreppe in der einen Ecke des Turms, die alle Ebenen dort verband.
Den Palas hatte man zu dem Zeitpunkt auch umgebaut. Fenster waren vergrößert worden oder neu hinzugekommen. Balkone und kleine Erker lockerten das Bild auf. Die ganze Fassade war weiß getüncht und unter jedem Fenster waren Blumenornamente aufgemalt worden. Das Spitzdach hatte man mit roten Ziegeln gedeckt. Später hatte man noch ein Kutschenhaus, einen Stall und eine Scheune neben das Schlösschen, wie es wegen seinen verspielten Verzierungen genannt wurde, gebaut.
Küche, Foyer und der große Raum, der für Diners und kleine Feste genutzt wurde, bildeten das Erdgeschoss. Darüber befand sich die Wohnung der Schlossherren mit Schlafzimmer, Ankleidezimmer, Speisezimmer, Bad, Toilette und Arbeitszimmer. Natürlich durfte die beiden Besuchszimmer für Gäste nicht fehlen. Ob zum Kaffeeklatsch im roten Saloon für die Damen oder als Raucherzimmer im blauen Saloon für die Herren, sie waren gesellschaftlich notwendig. Eine gewinkelte breite Treppe führte vom Foyer dorthin. Die zweite Etage, erreichbar über eine schmalere Stiege, gehörte den Bediensteten. Kleine Kammern und je ein gemeinschaftliches Bad für Männer und Frauen, sowie auch zwei Toilettenkammern waren fortschrittlich. Zumindest wenn sie der Dienerschaft zur Verfügung standen. Das Dach war als Lagerraum genutzt und von der Küche ging noch ein unterirdischer Raum als Kühlkeller ab. Im Turm selber waren die Bibliothek und Gästezimmer untergebracht. Geheizt wurde dort über einen Kamin auf jeder Etage, die in einen Schlot zwischen Turm und Palas mündeten.
Schlösschen Sol wurde es in der Umgebung genannt. Sol, die Sonne, schien auch gern und ließ den gemalten Blumenschmuck leuchten. Kein Bewohner hatte etwas gegen den Namen, denn er verband sich auch mit Solangen, dem Adelsgeschlecht der Eigentümer. Und denen gehörten noch etliche Weinberge und Äcker in der Umgebung. Nebenbei hatte man Anteile an verschiedenen Produktionen, Schmieden, Transportunternehmen auf Land und Fluss und anderem mehr. Die Grafen von Solangen waren umtriebig und nutzten Chancen, ohne ihre Angestellten dabei auszubeuten. Sie setzten auf treue, langjährige Mitarbeit und schraubten dazu sogar ihren Gewinn ein wenig zurück. Nicht der schnelle Gewinn, sondern der stetige war ihr Motto. Dafür brachten sich alle fleißig ein. Familien waren teilweise seit Generationen beim Grafen beschäftigt.
Der Blick aus dem Fenster zeigte der Gräfin, dass ein Halbzug Berittener einer französischen Jäger-Escadron auf dem Rondell vor dem Haupthaus anhielt. Ein Oberleutnant deutete auf einige Punkte und paarweise ritten einige Jäger dorthin.
Seit den 1790er Jahren wurden die linksrheinischen Gebiete als Teil der französischen Revolutionskriege besetzt und als französischer Besitz deklariert worden. Mal waren in der Vergangenheit württembergische Truppen vorgerückt und hatten Gebiete ‚befreit‘, dann waren erneut die Franzosen als ‚Befreier‘ gekommen. Jetzt saßen sie bis an den Rhein und hatten Spire besetzt.
Ihre Gegend selber war nicht in Kriegshandlungen verwickelt gewesen. Der tobte woanders, zerstörte dort und hinterließ Tote und Ruinen. Es war der Grund, weswegen ihr Gatte in Neustatt weilte. Er wollte seine Friedfertigkeit bescheinigen und gleichzeitig die Vorteile seiner Unternehmungen auch für die Besatzer sicherstellen. Keine Kampfbereitschaft, keine Partisanen, keine Unruhen brachten keine Ressentiments und stattdessen florierende Geschäfte. Gut für beide Seiten. Neustatt war momentan der Standort einer Brigade leichter Kavallerie in Gestalt von Chasseurs à cheval oder auch berittenen Jägern.
Nun waren französische Truppen im Hof. Die Gräfin beeilte sich, ins Foyer zu gelangen, denn Bastian trat gerade nach draußen. Durch die Fenster sah Solveig, wie der alte Haushofmeister würdevoll die wenigen Stufen vor der Haustür hinabschritt und sich dem Oberleutnant näherte, der die kleine Truppe der 25 Reiter befehligte. Während sie die Stufen der Treppe zum Foyer hinuntereilte, schmunzelte sie für einen Moment. Es ist erstaunlich, wie schnell man Uniformen und Ränge lernt, wenn sich Neues ergibt, dachte sie. Zumindest schneidig sehen die Reiter ja aus.Mal sehen, was sie wollen. Bedenken hatte Solveig im Moment noch nicht. Zwar herrschte irgendwie Krieg, doch sie selber beteiligten sich nicht. Richtiger Krieg war es auch nicht. Andere nannten es das politische Pochen auf alten Verträgen, die bis zu den Pfälzer Erbfolgekriegen zurückreichten und den Besitz dieses Landstriches regelte.
Alle Reiter waren grün gekleidet. Grüne Hosen, die in engen kniehohen schwarzen Stiefeln mit weißer Bordüre steckten. Ein weißes Wams und darüber ein grüner Rock mit weißen Stickereien bei der Knopfleiste. Nur die obersten Knöpfe waren geschlossen und präsentierten den steifen Kragen. Der Jackenschnitt offerierte das Unterwams um den Bauch und den weißen Gürtel mit der Messingschnalle. Kragen und Ärmelabschluss war in einem dunklen Rot mit weißer Rahmung gehalten, wahrscheinlich die Regimentsfarben. Jeder Reiter trug eine schwarze Flügelmütze auf dem Kopf, dazu einen weißen Busch mit roter Spitze auf der linken Seite, zusammen mit der Kokarde. Und jeder hatte einen weißen breiten Riemen von der linken Schulter zur rechten Hüfte, an der die Patronentasche für das Sattelgewehr hing. Nur der Oberleutnant hatte einige goldene Bänder an der Schulter als Rangabzeichen.
Noch in der Tür blieb Solveig stehen und wartete ab.
„Was können wir für Sie tun, Monsieur Offizier?“ fragte der Haushofmeister freundlich und machte eine kleine Verbeugung.
„Chevalier de Sauvagne. Seit die Republik Frankreich die Kontrolle über ihr rechtmäßiges Territorium wieder zurückgewonnen hat, kontrollieren wir, ob sich hier Rebellen aufhalten.“
Der Chevalier bezog sich auf die Pfälzischen Erbfolgekriege vor über 100 Jahren, bei denen Frankreich die Kontrolle über die Pfalz übernommen … und Jahre später wieder an das Deutsche Reich verloren hatte. Deswegen hatte der Nationalkonvent in Paris beschlossen, frühere französische Gebiete wieder zu annektieren, nachdem es der ehemalige König ja unterlassen hatte, sich um seine Besitzungen zu kümmern.
Bastian, der Haushofmeister, straffte seine Gestalt. Fast herablassend antwortete er dem Reiter.
„Monsieur Chevalier. Hier gibt es keine Rebellen.“
„Du weißt, dass Rebellen getötet werden und ihr Besitz der Regierung übertragen wird?“
„Natürlich, Monsieur Chevallier. Wir kennen die Proklamationen.“
Der Chevallier sah sich um.
„Nett, es gefällt mir hier. Das könnte ich mir als Wohnsitz gut vorstellen. Hiermit erkläre ich euch zu Besetzern meines zukünftigen Eigentums und zu Rebellen. Und die Rebellen müssen weg. Aber ich bin gnädig. Packt eure Sachen und verschwindet.“
In der Haustür wich Solveig einen Schritt zurück bei der anmaßenden Rede. Mit zwei Schritten war sie bei der Kommode, die hier im Foyer stand. Selten hatte es einmal Banditen gegeben, aber sie wusste, dass ihr Gatte hier zwei geladene Duellpistolen für alle Fälle aufbewahrte. Und sie holte sich eine davon. Den Hahn spannen und aus der Pulverflasche etwas Pulver auf das Zündloch geben, beherrschte sie. Mochte ihre Hauptwaffe das Nähzeug sein, so hatte sie doch auch die Jagd genossen und den Umgang mit Pistole und Gewehr gelernt.
Mit der geladenen Pistole trat sie gerade wieder an die Tür, als draußen ein Schuss krachte.
Das Pferd des Chevallier tänzelte, aber er hatte es fest im Griff. Noch immer zeigte seine Rechte mit der Reiterpistole auf den Haushofmeister. Der schien zu wanken und presste seine Hände an die Brust. Langsam sank er auf die Knie und kippte fast gemächlich nach hinten. Als er mit dem Rücken auf den Boden schlug, fielen auch seine Hände auseinander. Seine Augen zeigte Erstaunen, aber er sah schon nichts mehr.
„Mörder!“ gellte Solveigs Schrei von der Tür her.
Überrascht blickte die Reiter vor der Treppe zu ihr hoch. Und sie riss die Waffe, mit beiden Händen gehalten, hoch. Ein kurzes Zielen und ihr Schuss krachte. Er hätte den Chevallier getroffen, wenn sich nicht ein anderer Reiter dazwischengeschoben hätte. Dafür warf der nun die Arme hoch und sank vom Pferd.
Für eine Sekunde waren alle wie erstarrt. Die Franzosen, weil der Schuss tatsächlich abgefeuert worden war und einen der ihren getroffen hatte. Und Solveig, weil sie nicht das Ziel getroffen hatte, dass sie anvisiert hatte.
Mit ihrer Bewegung, sich die zweite Waffe zu holen, kam Leben in alle. Während sie lief, brüllte der Offizier Befehle. Die Reiter sprangen von den Pferden und er eilte ihr mit seinen Männern nach.
Für sie reichte die Zeit nicht, die Waffe schussbereit zu machen. Gerade, als sie das Pulver in die Pfanne schütten wollte, traf sie ein harter Schlag in die Seite. Die Wucht schleuderte sie von der Kommode weg und auf den Boden. Die Pistole entglitt ihrer Hand und rutschte weiter. Und gleich darauf kniete ein Mann auf ihrem Rücken, während ein anderer ihre Hände auf den Rücken fesselte.
Draußen krachten noch einige Schüsse und zwei Schrei waren kurz zu hören. Kurz darauf kam ein Soldat herein und baute sich vor dem Chevalier auf.
„Chevallier, melde, dass zwei weitere Rebellen draußen unschädlich gemacht wurden. Das Gelände ist gesichert.“
„Danke, Jerome. Alle Männer durchsuchen das Haus. Jeder hier ist ein Rebell und so zu behandeln. Wenn Sie mit der … ah ... Suche fertig sind, übernehmen Sie mit den Leuten die Wache und die Abgelösten … durchsuchen erneut. Verstanden?“
Der Offizier grinste schmierig.
„Jawohl, Chevallier. Merci.“
Förmlich mit Freudenschreien rannten die Männer hier im Foyer los und schwärmten aus. Es dauerte nicht lange und weibliche Entsetzenschreie ertönten. Und dann wurden es Hilferufe und Schmerzensschreie.
Entsetzt starrte Solveig den grinsenden Franzosen an. Nur zwei Männer waren bei ihm geblieben. Sie begriff, was gerade begann.
„So macht Rebellenjagd Spaß.“
Seine Kumpane wussten genau, was er meinte und lachten laut. Dann packten sie Solveig und riss ihr das Kleid auf. Der Chevallier bediente sich als Erster. Aber er war nicht der Einzige und Letzte. Diese Gnade bekam keine Frau im Haus.
Den restlichen Tag und die Nacht durch mussten die Frauen die Männer ertragen. Gellende Schreie tönten laufend durch das Haus. Nur die Wache draußen wechselte und erholte sich dabei.
Erst mit der Morgendämmerung befahl der Chevallier, es zu beenden. Die Schreie verstummten abrupt. Nur Solveig lag apathisch im Foyer, wo sie hatte leiden müssen. Eher unbewusst bekam sie mit, dass ein Reiter etwas von einer Grube erzählte, die am Waldrand ausgehoben war. Genauso unterbewusst assoziierte sie, dass der Mann wohl von der Grube redete, die sie angefangen hatten, um einen neuen unterirdischen Kühlraum zu bauen, um Wein und anderes dort lagern zu können.
Immer noch bewegungslos apathisch nahm sie wahr, wie sechs Frauenkörper in kaum bekleideten Zuständen die Treppe hintergebracht und aus dem Haus getragen wurden.
Solveig kam erst wieder richtig zu sich, als sie auf die Beine gestellt wurde. Dann stand sie vor dem Chevallier und wurde von zwei Soldaten festgehalten.
„Ihr Schweine habt meine Leute umgebracht. Mörder. Vergewaltiger. Bastarde. Franzosen“, murmelte sie mit schwacher Stimme.
Vom Schreien in der Nacht war sie fast heiser. Ihre Kehle schmerzte. Mit der Verbindung wurde Franzose den anderen Bezeichnungen gleichgesetzt. Doch den Chevallier zuckte nur gelangweilt die Schulter.
„Wenn ich meinen Onkel, dem Brigadegeneral, gesprochen hab, gehört mir dieses Haus und die dazugehörigen Besitzungen. Schloss Sol, habe ich gehört. Klingt gut. Gefällt mir. Du Hure kannst sicher sein, dass der Name bleibt.“
„Wenn du Bastard wieder hierherkommst, werde ich dich töten. Dieses Mal werde ich besser zielen.“
Der Franzose lachte nur für einen Moment.
„Du willst mich töten? Ich denke, du verkennst die Situation. Du hast einen tapferen französischen Soldaten aus dem Hinterhalt getötet. Dafür wirst du jetzt hingerichtet. Ich bin gespannt, wie du mich danach erschießen willst. Noch etwas?“ fragte er höhnisch.
Solveig schüttelte den Kopf und spuckte ihm vor die Füße. Jetzt war sie keine Gräfin mehr mit entsprechendem Gebaren. Jetzt war sie nur noch eine gequälte Frau voll Ohnmacht.
Dann wurde sie von den beiden Männern nach hinten geschleift. Erst unter der Treppe hielten sie an. Und Solveig sah die Schlinge vor ihrem Kopf. Irgendwer hatte sie irgendwann dort hingehängt. Sie verlief über das obige Geländer. Genüsslich kam der Chevallier heran und legte ihr die Schlinge um den Hals. Mit einem Ruck zog er sie eng. Er nickte den beiden Männern zu und sie ließen Solveig los. Mit den gefesselten Händen und der Schlinge um den Hals konnte sie nicht weglaufen. Ihr Blick folgte ihnen, als sie zur Seite traten. Und ihre Augen weiteten sich, als sie das Seilende dort gewahr wurde.
„Ich kriege dich“, konnte sie noch einmal voll Hass murmeln.
Betont langsam zogen die beiden Männer das Seil an und Solveig vom Boden weg. Ihre Füße waren knapp über dem Boden, als das Seil wieder gesichert wurde.
„Tanze, meine Schöne. Tanze für uns“, grinste der Chevallier böse.
Die Männer grinsten, während sie das Strampeln und Zappeln der Frau beobachteten. Lange Minuten sahen sie zu, wie das Strampeln langsam erstarb. Das Gesicht von Solveig war dunkel geworden und ihre Zunge ein wenig vorgequollen. Doch erst, als die Augen gebrochen waren, zog der Chevallier blank und durchbohrte sie mit seinem Säbel. Sie pendelte nur noch.
Minuten später wurde sie abgeschnitten und auch hinausgebracht. Eine weitere halbe Stunde lang schaufelten die Reiter die Grube wieder zu. Dann gab der Chevallier den Befehl. Alle saßen auf und ritten zurück zur Garnison nach Neustatt. Ihren erschossenen Kameraden hatten sie auf sein Pferd gebunden.
--- xxx ---
TRITT EIN erklangen die Worte der Lichtgestalt in ihrem Kopf.
Sekundenbruchteile waren nur vergangen, seit ihre Erinnerung sie überschwemmte. Sie wusste wieder alles.
Nein!
Auch wenn sie sprach und die Lippen bewegte, kam kein Laut über ihre Lippen. Und doch schien die Lichtgestalt vor ihr sie genau verstanden zu haben. Fragend, was sie denn stattdessen vorhabe, legte die Gestalt den Kopf leicht auf die Seite und Solveig verstand ihn. Er sagte nichts. Kein Wort, keine Frage entstand in ihrem Kopf und doch wusste sie exakt, was er wollte.
Ich kann noch nicht. Ich habe meinem Mörder geschworen, dass er mich am Ort seiner Tat finden wird und ich werde ihn bestrafen. Mein Wort. Ich muss es halten. Meine Ehre verlangt es.
Die Lichtgestalt nickte verstehend. Für einen Moment schien sie zu überlegen. Solveig hatte den Eindruck, sie empfing Informationen, die sie selber nicht hören konnte.
NUN GUT. DU WIRST WIEDER SEIN. TUE, WAS RICHTIG IST. ICH GEWÄHRE DIR DIE MÖGLICHKEIT.
Die Lichtgestalt hob ihre Rechte und legte sie leicht auf Solveigs Stirn. Wärme durchströmte sie von diesem Berührungspunkt bis hinab in die Fingerspitzen und Zehen.
DEIN KIND WIRD DEINE ZEIT BEENDEN.
Die Gestalt senkte den Arm und wandte sich ab. Auch sie ging wieder zu dem Lichttor. Solveig sah, wie gerade die letzten ihrer Begleiter hindurchschritten und mit dem Licht verschmolzen. Zumindest wirkte es für so, denn sie konnte sie hinter dem Tor nicht mehr sehen. Oder war das Licht ein Vorhang?
Warte bitte. Was meinen Sie? Ich habe kein Kind? Was bedeutet es?
Wie angewurzelt stand Solveig und die Gestalt ging einfach weiter. Solveig hatte den Eindruck, die Gestalt hatte alles gesagt und würde sich nicht wiederholen. Warum auch, wenn nur sie selber es war, die nicht verstand, was anscheinend verständlich war?
Hinter der Lichtgestalt schloss sich das Tor und schien gleichzeitig in die Ferne zu rasen, bis der winzige Lichtpunkt erlosch.
Schwärze umgab sie. Schwärze, die ganz langsam ein Grau wurde. Und es formten sich um sie die Landschaft und das Schlösschen, dass sie so gut kannte. Jetzt stand sie auf dem grauen Boden, hinter sich der graue Wald und vor ihr das graue Schlösschen vor den grauen Bäumen und dem grauen Himmel mit der grauen Sonne.
Grau.
Nun war ihre Welt nicht mehr schwarz, sondern grau. Alles war grau. Auch sie selber, stellte sie fest, als sie an sich hinuntersah. Sie trug auch jetzt dieses merkwürdige Kleid oder lange Hemd, wie die Personen vorhin, die durch das Tor gegangen waren. Eigentlich war es sogar noch schlimmer, stellte sie fest, als sie an sich hinuntersah. Schemenhaft erkannte sie den Boden und die Pflanzen unter und hinter ihr. Sie war … durchsichtig?
--- xxx ---
Einige Stunden später in Neustatt, Residenz des Brigadegenerals der leichten Kavalleriebrigade.
Beim Abendessen saßen der ältere Brigadegeneral, Baron de Sauvagne, mit seinem Gast, Graf Solangen, zusammen. Ihre Gespräche waren gut verlaufen. Der Graf hatte seine benötigten französischen Bescheinigungen als treuer Untertan bekommen. Dafür würden bestimmte Waren zu Vorzugspreisen an die Armee geliefert.
Jetzt bei Abendessen plauderten beide Herren zufrieden. Anschließend gingen sie beide in den Rauchersaloon und gönnten sich ein Pfeifchen. Spendabel bot der Graf einen speziell für diesen Moment mitgebrachten Tabak an, den der General dankend akzeptierte. Gegenseitiges Lob gehörte auch dazu. Heute würde der Graf noch Gast sein und erst morgen zurückkehren.
Während man zusammensaß, wurde ein Chevallier de Sauvagne vom Diener gemeldet.
„Mein Neffe“, nickte der General stolz dem Gast zu.
„Bereits Oberleutnant und stellvertretender Escadron-Führer.“
Anerkennend murmelte der Graf seine Glückwünsche für so einen tüchtigen Verwandten. Mit festen Schritten trat Chevallier de Sauvagne ein. Ganz kurz stockte sein Schritt, als er den zivil gekleideten Gast sah. Dann schritt er mit festem Gang weiter und machte eine exakte Meldung vor dem General.
„Mon General, Oberleutnant de Sauvagne zurück von der Patrouille. Eine Rebellengruppe aufgespürt und vernichtet. Eigene Verluste: einen toten Reiter.“
„Merde. Schon wieder Rebellen. Warum erkennen die nicht, dass wir überlegen und im Recht sind“, wandte sich der General finster an seinen Gast, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Was ist passiert?“ ging seine nächste Frage an den Oberleutnant.
„Die Bande unter Führung einer Rebellenhure hatte sich in ihrem Gehöft verschanzt und schoss aus dem Hinterhalt. Dabei fiel Reiter Francoise Brataque. Wir haben die Bastion im Sturm genommen. Dann haben wir die Rebellen aufgerieben und verscharrt.“
„Bravo, bravo, mon ami. Noch etwas, Chevallier?“
„Mon General. Da die Besitzerin ein Rebell war und den Tod fand, steht das Gut nun besitzlos. Ich beanspruche den Hof und Besitz, um ihn im Sinne Frankreichs zu führen.“
„Ah. Gut, gut. Die Bitte ist gewährt. Schreibe den Bericht und die Beanspruchung. Ich unterschreibe morgen.“
„Bitte um Entschuldigung, dass ich mich einmische, Chevallier. Können Sie mir den Namen des Gutes nennen. Ich kenne eigentlich alle Nachbarn und weiß nicht, bei wem ich mir geirrt habe mit meinen Freundlichkeiten“, bat der Graf höflich den Chevallier.
Der blickte hochmütig auf den Zivilisten herab.
„Die haben das Bauwerk hochtrabend ‚Schloss‘ genannt. Schloss Sol genauer. Kannten sie die Besitzerin?“
Graf Solangen stand wie erstarrt. Sein Blick trübte sich. Rote Schleier wogten vor seinen Augen. Als sich der Chevallier wegen der ausbleibenden Antwort zu seinem Onkel drehte, griff der Graf zu. Bevor irgendjemand reagieren konnte, riss er dem Chevallier seinen Säbel aus der Scheide und rammte das Metall in dessen Brust.
„Ich bin der Besitzer und meine Frau ist keine Hure oder Rebellin“, knurrte er hasserfüllt.
In den letzten Sekunden seines Lebens zog Verstehen in die Augen des Chevallier. Da sank er bereits tot zusammen. Sekunden später folgte ihm sein schreiender Onkel, während der Graf den Säbel gegen den Nacken des Fliehenden schwang und tödlich traf.
Die Wache, die kurz darauf eintrafen, sahen die beiden toten Offiziere und den Zivilisten mit dem blutigen Säbel in der Hand. Graf Solangen wehrte sich nicht, als er durch die Wachen getötet wurde. Sein Leben hatte seinen Sinn verloren. Er gehörte zu den seltenen Männern, die ihre Frau innig geliebt hatten.
--- xxx ---
Ihre Welt war grau und sie war … durchsichtig?
Durch Solveig ging es wie ein Hammerschlag. Ihr Mund öffnete sich zu einem verzweifelten Schrei, doch sie hörte … nichts. Kein Ton. Weiterhin nur Schweigen. Entsetzt schloss sie den Mund wieder. Dann erst fiel ihr auf, dass sie gar nichts hörte. Keinen Vogel, kein Rascheln von Laub in den Bäumen hinter ihr, … nichts. Nur lähmendes, bedrückendes Schweigen.
Und wieder erst nach und nach sickerte in ihr Bewusstsein, dass sie auch nichts fühlte. Keinen Wind … obwohl sich Gräser und Äste sanft in irgendeinem Wind wiegten. Sie roch auch nichts. Keine Blumen, kein Harz von den Bäumen, wieder nur … nichts.
Sie konnte nicht sagen, ob es Minuten oder Stunden dauerte, bis sich ein für sie krankes Bild in ihrem Kopf festigte. Das Bild von Solveig in einem Glaskasten mit grauen Scheiben und die Ohren dick mit irgendetwas verstopft.
Und wieder begann in ihrem Kopf der Versuch, zu verstehen. Es blieb bei dem Versuch. Nicht einmal einen Ansatz zum Verstehen, so klein der auch sein mochte. Sollte sie sagen, sie war an einem Ort und einem Zustand, den es gar nicht gab, gar nicht geben konnte? Oder sollte sie sich eingestehen, dass sie irgendeinem Wahnsinn verfallen war? Aber selbst das passte nicht. Welcher Wahnsinnige wusste denn, dass er wahnsinnig war? Und doch scheiterte sie bei jedem Versuch, ihre Welt, ihr Dasein, ihre Empfindungen zu erklären.
Die einzige Frage, die sie sich sicher beantworten konnte, war die Frage nach dem ‚Wer bin ich‘. Da hatte sie mit Solveig Gräfin Solangen überhaupt keine Schwierigkeiten. Eine klare Antwort auf zumindest eine Frage, war aber auch schon eine winzige Beruhigung. Das ‚Wer‘ konnte sie abhaken.
Die nächste, einfach erscheinende Frage war die nach dem ‚Wo bin ich‘. Nahm sie das Bild vor ihren Augen, dann war sie auf der Wiese zwischen Wald und ihrem Schlösschen. Damit war sie eigentlich zuhause. Nur, und da fingen die Probleme an, ihr Zuhause war nicht grau. Gerade, wenn sie, wie sie jetzt den Eindruck hatte, die Sonne schien, dann war ihre Welt bunt. Das weiß gestrichene Schlösschen mit den Blumengirlanden in roten, gelben und blauen Farben. Da wäre die saftig grüne Wiese und das rot leuchtende Ziegeldach. Da tanzte die Sonne mit Licht und Schatten über den Steinboden. Aber nicht dieses Grau wie der Blick durch eine dick angelaufene und verschmutzte Scheibe. Also blieb vorerst nur der Gedanke an einen Ort, der irgendwie ihrem Zuhause ähnelte.
Am deutlich schwierigsten gestaltete sich die Frage nach einem ‚Was bin ich‘. Die Frage entstand auch, weil sie durchsichtig war und nichts mehr hörte oder fühlte. Das war nicht mehr ‚Mensch‘. Was also war sie dann. Als Solveig hatte sie das Verständnis, ein Mensch zu sein. Jetzt dagegen passte alles nicht zusammen. Alles, was bisher Mensch ausmachte, traf nicht mehr zu. Gut, sie konnte sich fühlen. Tastete sie sich ab, fühlte es sich an, wie früher. Nur da konnte sie dabei nie durch ihre Hand durchsehen.
Was also war sie? War sie tot? Sie hätte die Frage im ersten Moment verneint, denn Tote dachten nicht mehr nach. Vor allem nicht über so eine Frage. Und doch hätte sie die Frage bejaht, denn sie war ja gestorben. Die Erinnerung dazu hatte sie. Die Franzosen, die zigfache Vergewaltigung, das Erhängen. Also weder ein eindeutiges Ja noch ein Nein. Gab es da … mehr? Aber welche? Auch die Kirche lehrte nur ein entweder oder. Obwohl … laut Bibel gab es noch die Engel und den Teufel mit seinen Dämonen auf der anderen Fraktion. Als Dämon sah sich Solveig nun gar nicht. Und für einen Engel hielt sie sich auch nicht. Prompt machte sie den Blick über die Schulter, aber da waren keine Flügel.
Und doch gab ihr dieser Gedanke einen Schubs beim Denken. Engel wurden gerne als Geistwesen beschrieben … was immer das auch war. Dämonen wurde vereinfacht oft als böse Geister bezeichnet. Aber bei Geistwesen, oder kürzer Geist genannt, schimmerte eine Idee durch ihren Kopf. Von Geistern in Form von Gespenstern hatte sie schon gehört. Das waren in der Regel irgendwelche unglücklichen Seelen, die an einen Ort gebannt waren und dort ihr Schicksal fristeten. Wenn Solveig den Autoren von romantischer Literatur folgte, dann gab es oft einen Fluch oder ähnliches. Und es gab ein Rätsel, dass, wenn es gelöst wurde, den Geist von seinem Schicksal erlöste.
War sie nun auch so ein Geist? Wieso? Warum? Welchen Fluch gab es denn? Wie konnte sie erlöst werden? In den romantischen Büchern wussten die Geister das doch immer und gaben verklausulierte Hilfen?
Langsam tauchte eine weitere Erinnerung in ihr auf. Die schwarze Ebene. Das Lichttor. Diese merkwürdige Lichtgestalt. War das ein Engel? Er … es … hatte sie eingeladen. Aber sie hatte sich geweigert. Sie hatte sich an dem Franzosen rächen wollen. Sie hatte ihm die Rückkehr, ihre Rückkehr angekündigt. Sie wollte ihr Wort halten. Und die Lichtgestalt hatte sie zurückgeschickt.
Zurück? Wohin? In diese merkwürdige Existenz? Als was denn? So konnte sie doch gar nichts machen. Was nutzte es, wenn der verdammt Franzose zurückkam? Wie sollte sie sich rächen können?
Im ersten Moment kochte sie vor Wut. Wut über diese komische Existenz, die Lichtgestalt, die sie auf diese Weise verschaukelt hatte, auf den Franzosen, der so straffrei ausgehen würde.
Dann beruhigte sie sich wieder. Kühles Nachdenken kam auf. Zurückgeschickt, damit sie ihr Wort einlösen konnte. Das war das eine. Die Lichtgestalt verband sie aber nicht mit einem Verschaukeln. Merkwürdigerweise war sie sich absolut sicher, dass diese Lichtgestalt das Konzept ‚Lüge‘ gar nicht kannte. Also musste es etwas geben, wie sie ihr Wort einlösen konnte. Nur hatte sie das noch nicht gefunden.
Und dann war da noch die Sache mit dem Kind. ‚Dein Kind wird die Zeit beenden‘ hatte die Gestalt ihr mitgegeben, es aber nicht erklärt. War das das Rätsel um ihre Erlösung? Von welchem Kind war die Rede? Sie selber war nie schwanger gewesen Also hatte sie noch nie ein Kind geboren. Noch nicht einmal eine Totgeburt hatte sie gehabt. Auch das passierte in ihrer Zeit. Was also bedeutete ‚Dein‘? Wenn sie sich nun als Geist ansah, wie sollte sie dann ein Kind bekommen? Äh … und wie sollte ein Mann … der dafür unbedingt notwendig war … in diese komische graue Welt kommen? Noch ein Geist? Aber alle ihre Bediensteten, die mit ihr gestorben waren, waren durch das Tor gegangen. Wer also?
Plötzlich durchlief sie ein neuer Schauer. Hatten die Vergewaltigungen Folgen? Hatte einer der Bastarde ein Kind in mich gepflanzt? Bin ich jetzt schwanger? Schwanger mit einem Franzosenbalg? Kann ein Geist schwanger sein und ein Kind austragen?
Für einen Moment herrschte Panik in Solveig. Nur langsam kam sie wieder herunter. Kann ein Geist schwanger sein? Davon hatte sie noch nie gehört. Natürlich hatten sich Frauen umgebracht. ‚Ins Wasser gehen‘ war so eine gängige Umschreibung, wobei tatsächlich die meisten den Freitod in Seen oder Flüssen suchten, denn schwimmen konnten die wenigsten. Kurz verzog sich ihr Mund zu einem bitteren Lächeln. Ich ja auch nicht. Ich habe höchstens geplantscht. Es war schon mutig, wenn das Wasser über meine Hüfte ging. Ihre Gedanken kehrten zurück. Aber die Frauen kehrten nicht als Geister zurück.
Also, dachte sie grimmig. Da gibt es nun zwei Rätsel. Wenn ich mich rächen will, muss ich mit dem Bastard auf seiner Ebene sein, nicht auf dieser grauen Welt. Es muss also einen Weg nach drüben geben. Ich muss ihn nur finden. Und zweitens, wenn ich mit ihm fertig bin, muss ich das … äh … mein Kind finden und es wird mir sagen, wie ich wieder in die schwarze Welt und zum Tor komme. Oder ist ‚mein‘ nur eine metaphorische Aussage. Irgendein Kind hat die Lösung? Egal. Zuerst der Franzose, dann meine Erlösung.
Schritt eins. Ist das da vor mir wirklich mein Schlösschen? Und wieviel Zeit ist vergangen zwischen meiner Ermordung und jetzt?
Und sie ging los. Die ganze Zeit über sah sie sich um und verglich mit ihrer Erinnerung. Alles war genauso, wie sie es kannte. Alles? Nein. Etwas war anders. Nach wenigen Schritten hatte sich hinter sich gesehen. Und da war der Unterschied. Hinter ihr musste eigentlich die Rampe sein, die sie schon ausgehoben hatten, um den neuen Keller für Wein zu bauen. Nur … die Rampe war verschwunden. Die ausgehobene Erde … oder zumindest das meiste davon … war wieder in das Loch geschaufelt worden. Warum?
Zögernd trat sie wieder näher. Alles sah frisch aus. Wenn also noch nicht so viel Zeit vergangen war, dann mussten es die Franzosen gewesen sein. Aber warum? Warum überfielen die ein friedliches Haus, machten alle nieder und schaufelten ein Lo….
Solveig stockte der Atem, als ihr eine Möglichkeit durch den Kopf schoss. Wenn sie jetzt Recht hatte, dann stand sie vor einem Grab. Ihrem Grab. Und dem ihrer Bediensteten. Von allen, die mit ihr auf dieser schwarzen Ebene gewesen waren. Von allen, die das Tor durchschritten hatten. Das war ….
Sie schaffte es nicht, diesen Gedanken zu fassen. Und doch war er so klar und deutlich in ihrem Kopf. Es gab keine andere Lösung. Es musste so sein. Es war … ein Schock. Einerseits war es der winzige positive Aspekt, dass ihre toten Körper nicht irgendwo herumlagen. Aber es war auch der viel größere, der schockierende Aspekt, dass man sie verscharrt hatte wie Tiere. Einfach ein Loch nehmen, Leichen reinwerfen und Erde drüber. Kein Priester, kein Segen, nichts. Nur ein Verscharren.
Fast wankte sie weg von dem flachen Erdhaufen. Sie bekam Angst vor dem, was sie im Schlösschen finden würde. Und ihre Ängste bewahrheiteten sich.
Im Foyer ihre Kleiderreste, den einen Schuh zu sehen, dann am Treppenaufgang das noch hängende Seil, von dem man sie wohl nur abgeschnitten hatte und den zweiten Schuh darunter, war ein neuer Schock. Hier stand sie am Ort ihrer Vergewaltigung und Hinrichtung. Nun sah sie es aus fast dritter Perspektive, auch wenn keine Personen vorhanden waren. Aber das Bild ließ sie alles nochmals erleben. Sie erinnerte sich an jede einzelne Sekunde.
Voll Grauen ging sie durch die Räume. Niemand war da. Nur Verwüstung. Geöffnete Schränke, herausgezerrte Sachen, offene und leere Schatullen … Plünderung eben. Und dazwischen Kleiderfetzen und dunkelgraue Flecken auf dem grauen Umfeld. Viele Jahre später verglich sie ihre Sicht aus der grauen Welt mit einem schwarz-weiß-Bild. Nur gehörten die kaputten Kleidungsstücke ihren Bediensteten.
Da lag in der Küche die Schürze und das schwarze Kleid von Henriette, der Köchin, mitten zwischen Töpfen und Gemüse am Boden. Dort in dem anderen Raum, einem Arbeitszimmer, der zerbrochene Stuhl, die herumliegenden Zettel und Teile des mit Blumen bestickten Kleides von Frederique, der Hausdame. Komisch, wie gut man mit der Erinnerung die unterschiedlichen Grautöne einer Farbe zuordnet. Und dann ihr eigenes Schlafzimmer. Yvette, ihre Zofe, musste wohl hier überrascht worden sein, denn alles war zerwühlt, besonders ihr Bett. Und die dunklen Flecken auf dem weißen Linnen sprachen eine deutliche Sprache für Solveig. Sie musste nicht erst das blauweiß gestreifte Kleid finden, um zu wissen, was hier geschehen war.
Erschüttert setzte sie auf den Stuhl. Oder sie wollte es, denn sie sank durch ihn hindurch und fand sich auf dem Boden wieder. Nur war der Stuhl nun um sie herum. Mit einem stummen Schrei sprang sie auf und wich zurück. Und es wurde noch erschütternder, als sie sich gegen die Wand lehnen wollte und dadurch trat. Entsetzt blickte sie sich um. Das war das Arbeitszimmer ihres Mannes. Auch hier war alles durchwühlt.
Mit wildem Herzklopfen machte sie den Schritt nach vorne … und trat erneut durch die Wand. Nur der Boden war fest. Auch die Treppe musste es gewesen sein. Mit Türen und Wänden war es ihr bisher nicht aufgefallen, weil alle Türen offenstanden. Und wer versuchte schon, durch Wände zu gehen.
Langsam fasste sie sich wieder und versuchte, die neuen Erkenntnisse zu verarbeiten. Und dann experimentierte sie, um es zu verstehen. Am Ende konnte sie festhalten, dass nur Böden und Treppen stabil waren. Treppen waren eben nichts anderes als schräge Böden. Alles andere war zwar in grau sichtbar, aber nicht greifbar oder ein Hindernis. Durch Wände konnte sie zwar nicht hindurchsehen, aber dafür hindurchgehen.