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Aimee Blackfeather, eine junge Frau, muss erleben, wie sich ihre Vorstellung von Zukunft verändert.
Mit 18 wendet sie sich an Joyce Gain. Ihr Urgroßvater hat sie dazu angehalten, als sie merkt, dass auch sie eine Wandlerin sein wird. Männer werden Haie, Frauen zu Delphinen. Das ist bekannt und deswegen sucht sie den Kontakt, um sich anleiten und ausbilden zu lassen.
Doch wie ist es, wenn man erkennen muss, dass man nicht Delphin, sondern Seeadler wird?
Wie ist es, wenn man bei einem Übungsflug abgeschossen und verletzt geborgen wird?
Wie ist es, wenn man als Adler vom Retter Cedric Baker anfangs in einen Käfig gesteckt wird?
Wie ist es, wenn sich Cedric auch noch als Besitzer eines BDSM-Clubs herausstellt?
Und wie ist es, wenn man für so einen Mann Gefühle entwickelt?
Auch Cedric ist verwirrt. Er findet einen bewusstlosen Seeadler und nimmt ihn mit nach Hause. Und der verhält sich völlig zutraulich … bis er spurlos verschwindet. Dafür ‚erscheint‘ unvermutet eine nackte junge Frau auf seinem Grundstück. Sie scheint an Amnesie zu leiden und lässt sich ohne Scheu von ihm helfen. Das Mysterium um die Frau und ihre Person fasziniert ihn wieder.
Ein plötzlicher Trauerfall bei Cedric öffnet erste Türen, doch erst eine fast tödliche Notlage erfordert Entscheidungen von Aimee. Wie ist es, wenn man erlebt, dass Fantasy Realität wird? Auch Aimee lernt mehr über sich, als sie je erwartet hätte.
Doch der tödliche Schatten bei Cedric ist nicht verschwunden. Er hat nur ein Ziel. Und der Tod ist kein Hindernis für ihn. Im Gegenteil. Vielleicht taucht unerwartete Hilfe auf, bevor es zu spät ist.
Wegen expliziten Beschreibungen nur für Erwachsene geeignet.
Leseprobe:
….
Auf der Armlehne der dortigen Couch thronte der Adler. Das Rundholz glich wohl einem dicken Ast. Also hatte er sich darauf niedergelassen. Die gelben Augen waren auf Cedric fixiert.
„Wieso bist du noch hier?“ staunte der Mann.
Er war fast fassungslos, weil das Tier noch hier saß. Alle Türen waren offen gewesen. Niemand hätte ihn aufgehalten, wenn er fortgeflogen wäre. Fortgeflogen ... das war das Stichwort, das Cedric half.
„Du kannst es noch nicht, habe ich Recht. Deine Verletzung hindert dich. Aber du magst den Käfig nicht.“
Der Adler nickte mit dem Kopf. Cedrics Augen wurden fast noch größer. Das war ja fast wie eine Reaktion auf seine Frage. Versteht das Tier mich etwa? Nein, das ist Blödsinn. Das können Tiere nicht. Oder doch? Ist es vielleicht ein abgerichtetes, ein trainiertes Tier? Wieder kam ein Bündel neuer Fragen in ihm hoch. Und der einzige, der sie beantworten konnte, konnte nicht sprechen.
„Ich brauche dringend etwas zu essen. Oder ich falle endgültig ins Delirium“, stöhnte er leise.
Beinahe schierer Sarkasmus auf seine Gedanken eben trieb ihn zu seiner nächsten Frage.
„Willst du auch etwas? Soll ich dir etwas mitbringen?“
Wieder schnappte Cedric nach Luft, als der Adler einmal mit dem Kopf nickte und ihn dann nur fixierte mit seinem Blick. Mühsam stemmte der Mann sich hoch und wankte fast aus dem Zimmer. Er stand immer noch wie unter Schock, weil es nun das zweite Mal war, dass er den Eindruck bekam, das Tier hätte ihn genau verstanden und geantwortet.
Für ihn war es schiere Fantasy, so etwas überhaupt nur zu denken. Das war völlig absurd. Das war schlichtweg unmöglich. Nur wusste er nicht, dass Aimee innerlich lachte über sein belämmertes Gesicht beim Hinausgehen. Sie freute sich auf den nächsten Schritt. Und sie hatte schon eine Ahnung, wie der wohl aussah.
Tatsächlich hatte Cedric ein kleines Tablett bei sich, als er zehn Minuten später wiederkam. Langsam näherte er sich der Couch, auf dessen Lehne der Adler hockte.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich hier Platz nehme?“
Fast zögernd klang seine Frage auf. Doch das kurze Kopfschütteln des Adlers entlockt ihm wieder ein Keuchen.
„Ich bin verrückt“, murmelte er schwach, „ein Adler versteht mich und antwortet. Das glaubt mir niemand.“
….
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Ich erzähle eine Geschichte, keinen Tatsachenbericht.
Wegen der expliziten Beschreibungen ist sie für Leser (m/w/d) ab 18 Jahren geeignet.
Alle hier vorkommenden Personen sind erwachsen und frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt.
Es werden auch Aktionen aus dem Bereich BDSM beschrieben.
Bitte denken Sie immer an die Grundsätze bei BDSM:
Gegenseitiges Einverständnis, bewusste Akzeptanz und vor allem Sicherheit.
Auch wenn die Örtlichkeiten der Keys existieren, so sind doch Turtle Island, das Therapiezentrum und das Resort Erfindungen.
Es würde mich freuen, wenn diese Geschichte gefällt.
Vorwort
Inhalt
„Hallo“
Wandel
Bruchlandung
Neugier
Rockies
Jagd
Flucht
Rückkehr
Entdeckungen
Besuch
Überraschungen
Entführung
Epilog
„Hallo, Joyce, wie geht’s dir?“
Die Angerufene lächelte und schüttelte den Kopf. Joyce Gain war 24 Jahre alt. Sie hatte eine knabenhafte schlanke Figur, blaue Augen und blonde schulterlange Haare. Doch sie nicht die typische Blondine aus den Witzen. Seit zwei Jahren war sie mit Henry Gain verheiratet. Er betrieb ein Therapiezentrum für physisch oder psychisch eingeschränkte Personen, hauptsächlich Kinder. Dem Zentrum gehörte eine Bucht, in der zurzeit bis zu sieben Delphine lebten.
Seit einem Jahr gab es auf dem riesigen Besitz direkt daneben ein Therapie-Hotel der damals neugegründeten Musketeer-Gruppe. ‚Einer für alle, alle für einen‘ hatte der Eigentümer als passendes Motto befunden. Der Besitzer, der fast 60jährige Joseph Bentam, arbeitete mit Henry Gain eng zusammen. Im Unterschied zu Henry arbeitete Jo, wie Joseph auch genannt wurde, mit Hunden und Pferden oder Ponys. Er trainierte diese Tiere und würde sie zukünftig an andere Einrichtungen weitergeben. Im Hotel lebten seine Patienten, die mit den Tieren ihre Probleme reduzieren wollten.
Jo und Henry waren zusammengekommen, als Jos verbrecherischer Neffe das Zentrum übernehmen und sogar Jo umbringen wollte. Der Plan war allerdings durch Joyce Verwandte, die das DSC, das ‚Dolphin and Shark Center‘ auf Turtle Island betrieben, vereitelt worden. Zu dem Zeitpunkt war Joyce bereits mit Henry verlobt gewesen.
Obwohl Henry fast 20 Jahre älter war als seine junge Frau, war es eine intensive Liebe zwischen den beiden. Mit Henrys Tochter, der nun 21jährigen Jane, verband Joyce eine enge Freundschaft. Ob als Stiefmutter, denn die leibliche Mutter von Jane war bei einem Unfall gestorben, beste Freundin und Co-Trainerin im Zentrum … die beiden Frauen verbrachten viel Zeit miteinander. Seit einem dreiviertel Jahr war Jane nun auch verheiratet und hieß nun Jane Smythe. Ihr Ehemann Eric arbeitete auch im Zentrum und kümmerte sich um die Technik dort.
Nur die Ehepartner wussten, dass Eric und Joyce die heimlichen Trumpfkarten im Zentrum waren. Reden taten sie nicht darüber.
Im Wesentlichen waren es die drei weiblichen Delphine Pride, Cloud und Dancer, die Jane und Joyce bei der Arbeit unterstützten. Allerdings waren inzwischen die absoluten Lieblinge die etwa einjährigen Delphinkinder, die verspielt zusahen … oder störten. Und doch waren es genau diese ‚Störungen‘, die die kranken ‚Gäste‘, wie sie im Zentrum bezeichnet wurden, anspornten. Delphinkinder waren auch Kinder. Kinder halfen Kindern, wesentlich unkomplizierter und unorganisierter. Aber es half. Die drei Delphinmütter waren nachsichtig. Sie lebten schon länger in der Bucht und kannten die Gains gut. Sie vertrauten ihnen. Sie genossen den Schutz und unterstützten dafür.
Nur der einzige männliche Delphin, Joker getauft, tanzte aus der Reihe. Mal half er, mal übersprang er einfach die Netzbarriere, die die Bucht gegen Raubfische absicherte. Alle Menschen wusste es. Sie schmunzelten, wenn er wieder tat. Doch sie hinderten ihn nicht daran. Wozu auch, denn er kam spätestens am nächsten Tag wieder. Seine drei Damen folgten ihm nicht. Wenn Jane ihnen damals nicht gezeigt hätte, dass sie das Netz überspringen konnten, und wenn zwei ausgewachsene Große Weiße Haie ihnen nicht geholfen hätten, dann wären sie heute tot. Ein Rudel anderer Haie hatten die damals schwangeren Tiere gejagt und vor dem Netz in die Enge getrieben. Und jetzt waren sie Mamas und mussten ihre Kinder schützen. Und hier lebten sie sicher und wohlversorgt. Sie hatten vielleicht beschränkten Platz, dafür aber Freiraum und wurden zu nichts gezwungen.
„Hallo Joyce, wie geht’s dir?“
„Mir geht es gut, Dolph.“
Natürlich hatte Joyce ihren ältesten Bruder sofort an der Stimme erkannt. Ebenso hatte ihr das Smartphone bereits den Anrufer angezeigt. Es hatte geklingelt, als sie auf dem Weg zur täglichen Abschlussbesprechung war.
Dolph Corbin leitete mit ihrem zweiten, auch älteren Bruder Benedict, kurz Ben gerufen, das DSC auf Turtle Island. Die Insel gehörte dem Center, beziehungsweise den Eigentümern, zusammen mit einer riesigen Wasserfläche darum herum in Richtung Atlantik. Das DSC war ein privates Naturschutzgebiet, dass staatlich anerkannt war. Neben Dolph und Ben gehörten auch deren Ehefrauen Xenia, eine bekannte Autorin, und Luana, ein früheres Party-Girl und jetzige Organisationschefin, zu den Eigentümern. Auch Joyce war, da das DSC aus einem Familienunternehmen gegründet worden war, immer noch Miteigentümerin und die Jüngste von allen. DSC und Therapiezentrum standen in regem Austausch.
„Und wie geht es meiner kleinen Nichte?“
Egal, warum er anrief, Dolph fragte immer nach seiner Nichte Topaz. Die Kleine war jetzt fast 18 Monate alt und fast bei jedem Anruf gab es neue Entwicklungen. Joyce und Henry hatten ihre gemeinsame Tochter, die sechs Monate nach der Hochzeit geboren wurde, Topaz genannt wegen ihrer hellblauen Augen. Diese und die blonden Haare hatte sie wohl von der Mutter geerbt, wobei sich alle nicht völlig sicher waren, ob das bei zunehmendem Alter blieb. Bisher hatte es keine Veränderung gegeben.
„Topaz hat jetzt festgestellt, dass Laufen schneller ist als Krabbeln. Wann immer sie kann, zieht sie sich hoch und tappst los. Momentan plumpst sie zwar alle paar Schritte wieder auf ihre Pampers, aber sofort bemüht sie sich wieder. Fast schon verbissen beim Üben.
Und wenn sie könnte, würde sie mit Huey, Dewey und Louie um die Wette schwimmen und tauchen“, lachte Joyce.
Auch Dolph lachte. Den drei neugeborenen Delphinen hatten sie die Namen von Comicfiguren und zwar von Donald Ducks Neffen gegeben. Natürlich lernte Topaz seit kurzem auch das Baden im warmen Wasser der Bucht kennen. Das salzige Wasser war der Grund für die ersten aufgerissenen Augen und einen verzogenen Mund gewesen. Die Delphine hatte den Winzling in Joyce Händen neugierig betrachtet, wie auch umgekehrt. Und Topaz hatte nach den Momenten des Staunens vor Freude gequietscht und gespritzt. Und Joyce und ihre Tochter hatten das Echo ertragen dürfen. Wieder hatte die Kleine kurz gestaunt und dann begeistert gestrampelt. Die ausgestreckten Hände hatten deutlich zu verstehen gegeben, was das Mädchen wollte.
Noch einige Sätze wurden über das Befinden der restlichen Familienmitglieder ausgetauscht. Jane und Eric gehörten auch dazu. Dann wurde Joyce ernst. Sie hatte schon oft das Talent bewiesen, schnell auf den Punkt zu kommen.
„Warum rufst du an, Bruderherz. Wegen deiner Nichte nicht. Da würde ich eher an einem der nächsten Wochenenden mit eurem Erscheinen rechnen.“
„Du hast Recht. Es gibt einen anderen Punkt. Old Blackfeather hat mich angerufen.“
Joyce musste nicht lange nachdenken. Blackfeather hieß der uralte Medizinmann bei den Miccosukee Indianern, die kleine Dörfer in den Everglades bewohnten. Sie selber hatte ihn noch nicht kennengelernt, aber der Kontakt war über Dolphs Frau Xenia zustande gekommen. Mit einem mehr als merkwürdigen Ergebnis.
Xenia hatte ihre Buchreihe über den Privatdetektiv Pitt Logan verändern wollen. Da Dolph, Ben und Joyce Wandler waren, hatte sie zur Veränderung ihrem Romanhelden Pitt eine Freundin zur Seite gestellt. Namatee, wie die Frau im Buch hieß, war Ranger in den Everglades und konnte auch mit einem magischen Amulett wandeln. So bekam die Buchreihe einen Fantasy-Touch, der bei den Lesern inklusive Wechsel gut ankam. Da Xenia immer sehr präzise recherchierte, hatte sie bei dem Stamm der Miccosukee um Unterstützung gefragt und diese vom greisen Medizinmann erhalten. Ihm hatte die Darstellung der Namatee gefallen. Das war das eine.
Doch er hatte Dolph und Xenia auch eine mysteriöse Geschichte aus der Vergangenheit seines Volkes erzählt. Da ging es um einem vom Himmel gefallenen Stein, Spanier, Kämpfe und am Ende um Liebe mit dem Ergebnis in Gestalt von Kindern, die gesegnet waren. Eine der üblichen Legenden, wie sie anfangs gedacht hatten. Verwirrend aber war gewesen, dass der Greis gemurmelt hatte, dass er Dolphs Großvater das ‚Schwimmen‘ beigebracht habe und um die gleiche Gefälligkeit für seine Urenkelin Aimee bat, ‚wenn deren Zeit gekommen wäre‘. Genauer erklärt hatte der Medizinmann es wohl nie. Dolph hatte auch nicht nachgefragt, weil es nie wieder angesprochen worden war, aber Xenia hatte interpretiert, dass der Alte wusste, dass Dolphs Familie wandeln konnte und diese Aimee wohl auch, wenn sie das richtige Alter erreichte. Denn das Wandeln funktionierte erst ab einem bestimmten Alter.
„Blackfeather?“ fragte Joyce trotzdem zögernd nach.
Sie ahnte, dass jetzt etwas kam, was wohl auch sie betraf. Auch Dolph zögerte sekundenlang.
„Richtig, der uralte Medizinmann der Miccosukee aus den Everglades.“
Erneut zögerte Dolph mit dem Weitersprechen.
„Er hat mich an mein Versprechen erinnert. Du weißt, seiner Urenkelin das Schwimmen beibringen.“
Erneut herrschte Schweigen in der Verbindung. Dolph wollte die Information sacken lassen und suchte selber nach Worten für seine Bitte.
„Wenn Xenia Recht hat mit ihrer Idee, dass Aimee wandeln kann, dann ist es wohl soweit. Der Alte möchte, dass sie dabei Anleitung erfährt und nicht mit Selbstüben an das Thema gehen muss. Er möchte sie übernächste Woche zu uns schicken für zwei oder drei Wochen.“
Wieder war Schweigen in der Verbindung. Nun ahnte Joyce, dass sie hier beteiligt werden würde. Sonst würde ihr Bruder nicht so herumdrucksen.
„Mein Problem ist, dass Jennifer in der Zeit auf einem längeren Weiterbildungskurs ist und Henriette draußen eine Bergung mit ihrem Mann unterstützt.“
Jennifer und Henriette waren zwei Frauen, die im DSC arbeiteten und ebenfalls wandeln konnten. Da das DSC auf einer Insel war, bot sich dies als gute Ausgangsbasis an. Jeder Mitarbeiter konnte es oder wusste Bescheid. Man war auch abgeschieden genug, um niemandem aufzufallen.
„Und weil dir damit keine weibliche Betreuerin zur Verfügung steht, hast du an mich gedacht“, führte Joyce seine Rede weiter.
Sie konnte die Überlegung verstehen. Außer Dolph und Ben gab es noch den etwas älteren Ronald auf der Insel, der wandeln konnte. Doch es waren nur Männer. Und zum Wandeln musste man nackt sein. Also eine Situation, die wahrscheinlich einem jungen Mädchen weniger zusagte. Ein Betreuen oder Anleiten aus der Ferne oder hinter einem Wandschirm hervor, war auch nicht sinnvoll.
„Richtig“, klang Dolph beinahe erleichtert.
In Gedanken ging Joyce bereits ihren Kalender der nächsten Wochen durch.
„Aimee ist jetzt Mitte 18. Schule ist abgeschlossen“, ergänzte ihr Bruder noch schnell.
„Also gut. Ich bekomme das hin. Am besten plant sie einen Monat bei mir ein. Offiziell kann sie mit einer Trainerausbildung anfangen. Dann lernt sie auch mehr über das natürliche Verhalten von Delphinen. Und ich kann mich um ihre andere ‚Ausbildung‘ kümmern. Unsere Delphine kennen mich inzwischen und akzeptieren Star. Ich muss dann nur den lästigen Joker abwimmeln. Das kann sie dann auch gleich lernen.“
Am Ende grinste Joyce bei den Gedanken und auch Dolph lachte. Schließlich wusste auch er, dass Joker sich für die Delphinvariante von Casanova hielt und jeden weiblichen Delphin in seiner Umgebung anbaggerte. Wann immer Joyce sich in die Delphinfrau Star wandelte, klebte Joker an ihrer Schwanzflosse. Da Joyce damals auch gelernt hatte, dass mit Beginn der Schwangerschaft ein Wandeln nicht mehr möglich war, hatte sie keine Lust neben Topaz noch ein Delphinkind zu bekommen. Falls das überhaupt möglich war, denn die Grundform der Wandler war der Mensch. Nur wollte Joyce absolut kein Risiko eingehen.
„Gut, dann bringe ich Aimee übernächsten Samstag. Xenia kommt auch mit und wir bleiben das Wochenende bei euch. Schließlich will meine Frau auch Topaz‘ Fortschritte sehen.“
Damit konnten beide Seiten kichern. Joyce wusste, dass sie mit Xenia eine sehr begeisterte Spielgefährtin für ihre Tochter bekam. Denn Xenia dachte inzwischen auch über eine eigene Mutterschaft nach.
Nachdenklich machte sich Joyce auf den Weg ins Büro zu ihrem Mann. Der kümmerte sich um das Organisatorische. Und deswegen musste sie ihn von ihrer Zusage in Kenntnis setzen. Die Unterbringung war kein Problem. Es gab aktuell sogar zwei freie Bungalows auf der Betreuerseite. Einen davon konnte diese Aimee beziehen. 18 Jahre jung. Dadurch, dass beide Paare verheiratet waren, gab es diese freien Häuser. Damit war es auch der Vorteil, wenn Joyce‘ Verwandte über das Wochenende zu Besuch kamen.
Im Büro saßen bereits Eric, Jane und Henry beisammen und unterhielten sich über allgemeine Dinge. Henry erhob sich kurz, als seine Frau herankam und ihm einen Kuss gab, bevor auch sie sich setzte. Henrys Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. Er hatte den leicht abwesenden Blick bei Joyce gesehen.
„Was ist los, Liebling? Gibt es ein Problem?“
Joyce schüttelte den Kopf.
„Ein Problem eigentlich nicht.“
Sie merkte selber, dass nun drei Augenpaare sie fragend ansahen. Ein schmales Lächeln lag um ihren Mund, um die Situation zu entspannen. Dann erklärte sie genauer.
„Dolph hat mich gerade angerufen. Übernächstes Wochenende werden er und Xenia vorbeikommen und beide Tage bleiben. Aber sie werden noch jemanden mitbringen, der vielleicht vier Wochen hier ist.
Sie heißt Aimee Blackfeather, ist 18 Jahre jung und eine Miccosukee-Indianerin. Dolph möchte, dass ich sie anleite, weil bei ihm keine Frau verfügbar ist.“
„Äh, aber Xenia ist doch da, oder?“ platzte Jane dazwischen.
„Es geht nicht um Xenia. Die könnte nicht viel helfen. Ich kann helfen, denn Aimee soll sein wie ich.“
Eric kam am schnellsten auf die Ursache.
„Sie kann oder besser wird auch wandeln können? Das meinst du mit ‚wie ich‘?“
Joyce nickte. Jane und Henry staunten.
„Ihr wisst doch, dass es erst mit etwa 18 möglich ist. Anscheinend spürt sie ihr zweites Ich. Und ich soll ihr dabei helfen und auch wie es ist, ein Delphin zu sein. Hier in der Bucht sollten wir es eigentlich problemlos hinkommen, wenn wir es an meinem Lieblingsplatz machen.“
„Ok, verstehe“, murmelte Henry, „es wird so ein Frauending werden. Besonders bei der Ausgangslage verstehe ich es. Doch ich würde gern das Ergebnis sehen. Natürlich nur, wenn ich darf.“
Henry kannte die Abläufe. Drei Monate nach der Geburt von Topaz hatte Joyce das erste Mal wieder gewandelt und Henry hatte zugesehen. Sie hatte es ihm versprochen. Für ihn war es jedes Mal ein faszinierender Anblick, wenn die milchigtrübe Wolke Mensch oder Delphin verbarg und hinterher Delphin oder Mensch auftauchte.
Auch Jane bekam leuchtende Augen. Noch jemand, der wandeln konnte. Und dann noch in etwa ihrem Alter. Sie freute sich schon jetzt auf den Gast.
Nachdem auch Henry und Eric keine Einwände hatten, konnte der Punkt abgehakt werden und man besprach den Tag.
Am übernächsten Samstagnachmittag war es soweit. Dolph und Xenia hatten es auf sich genommen und waren bis in die Everglades gefahren, um Aimee abzuholen. Mit einem Koffer und einem Trolley ausgestattet, hatten sie die junge Frau mitgenommen. Kurz hatten sie noch mit dem alten Medizinmann und Aimees Mutter gesprochen. Sie hatten zugesichert, dass sie sich um Aimee kümmern würden. Falls es Probleme gab, hatten sie die Handynummern getauscht.
Nun erstarb der Motor nach stundenlanger Fahrt auf dem Parkplatz des Therapiezentrums. Beim Aussteigen sah sich Aimee aufmerksam um. Hier würde sie die nächsten Wochen verbringen. Es sah alles sehr gepflegt aus, war ihr erster Eindruck.
Dann lächelte sie. Vom Hautgebäude kamen Joyce und Henry langsam herüber. Zwischen ihnen, sich jeweils an einem Finger festhaltend, tippelte Topaz auf spitzen Füßen. Auch wenn sie schwankte wie ein Grashalm im Wind, war sie ganz konzentriert dabei.
Die drei Besucher kamen näher, um der Kleinen die Anstrengung zu mildern. Und das kleine Mädchen hatte gar nichts dagegen, als Xenia sie hochhob und ihr einen Kuss auf die Wange gab. Im Gegenteil quietschte sie vor Freude. Schließlich kannte sie die Frau.
Erst als sie die Unbekannte sah, verstummte sie. Mit großen Augen betrachtete sie die junge Frau. Der etwas dunklere Teint war für sie etwas Besonderes. Und die langen schwarzen, dabei leicht bläulich schimmernden Haare bis zum Po waren etwas Besonders, wenn sie sich so ungebändigt im Windzug bewegten.
Auch die anderen ließen ihre Blicke über die Unbekannte schweifen. Der leichte Bronzeton in der sonstigen Bräune deutete die indianische Abstammung an. Das pechschwarze Haar mit dem bläulichen Schimmer passte auch dazu. Ebenso der Hauch mandelförmiger Augen. Die Frau war knapp einssiebzig groß und schlank. Markant fielen die spitz geformten Brüste auf, die das enganliegende weiche Shirt formten. Mit den klassischen blauen Jeans inklusive der heute modernen Löcher um die Knie plus Turnschuhe war sie das Bild einer jungen und selbstbewussten Frau.
„Hallo zusammen“, fing Dolph Corbin an.
Schnell hatten sich alle kurz umarmt oder die Hand geschüttelt. Und wieder lag die Aufmerksamkeit bei der Unbekannten, die still im Hintergrund geblieben war.
„Das ist Aimee Blackfeather. Sie ist 18 und steht vor neuen Herausforderungen. Sie wird eine Zeitlang hier sein.“
Dann wandte er sich der jungen Frau zu.
„So, Aimee. Hier hast du einen Teil meiner Verwandtschaft“, lächelte er und seine Hand zeigte auf die jeweiligen Personen zu den Namen.
„Das ist meine Schwester Joyce. Sie wird sich hauptsächlich um dich kümmern, denn sie ist wie du. Ich kann das laut sagen, denn alle hier wissen Bescheid. Sie ist verheiratet mit Henry und der kleine Floh auf Xenias Arm ist deren Tochter Topaz. Du wirst hier auch noch Henrys Tochter Jane kennenlernen und deren Ehemann Eric. Eric gehört auch zu uns. Du kannst ihnen allen hier vertrauen.“
Lächelnd ging Joyce auf die Jüngere zu und umarmte sie einfach.
„Willkommen. Ich denke, wir werden gut zusammenarbeiten.“
„Ich hoffe es. Denn da ist etwas in mir, was herauswill. Mein Urgroßvater hat mir Hinweise gegeben, aber ich weiß noch nicht, wie es gehen soll.“
„Kein Problem. Wir gehen es langsam an und du sammelst Erfahrungen. Übung macht den Meister. Den Spruch kennst du doch wohl, oder?“
Aimee lachte ebenfalls.
„Ich kenne auch ‚Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen‘. Also werde ich lernen und üben.“
Auch Henry und die anderen lachten mit. Der Gast war schlagfertig. Es würde eine interessante Zeit.
Gemeinsam gingen sie zu einem der Bungalows. Henry führte Dolph und Xenia zu seinem Haus, während Joyce mit Aimee zu dem gingen, dass die junge Frau in den nächsten Wochen bewohnen würde. Auf der Seite der Anlage gab es vier größere Gebäude, die für die Eigentümer und Mitarbeiter vorgesehen waren. Derzeit bewohnten Henry und Joyce das eine, während Jane und Eric ein anderes bezogen hatten. Alle anderen Mitarbeiter wohnten in den umliegenden Gemeinden und kamen jeden Tag. So gab es genügend Platz für Gäste.
Joyce zeigte Aimee alles und beide Frauen besprachen in der Kürze, wie sie vorgehen wollten. Aimee sollte zuerst einmal ankommen. Später würde sie zum Abendessen rüberkommen und man würde gemeinsam grillen und sich bekannter machen. Morgen würde sie die Anlage kennenlernen und man würde sie den hier lebenden Delphinen vorstellen. Am Montag würde man dann anfangen.
Dann ließ Joyce die junge Frau erst einmal alleine, sich einzurichten und mit ihrer Unterkunft vertraut machen.
Zum Grillen fand sich auch Aimee wieder bei den anderen ein. Umgezogen hatte sie sich nicht. Aber sie braucht nur dem Geruch der Grillkohle und des Bratendufts zu folgen. Dabei traf sie dann auch Jane und Eric. Der Abend begann mit lockeren Gesprächen. Die anderen erzählten kleine Anekdoten, um der Neuen in ihrem Kreis Eindrücke zu vermitteln, wer und wie sie waren. Und das Du galt von Anfang an. Auch Aimee gab einige kleine Geschichten von sich preis. Hier war sie ja die Jüngste und lebte eigentlich noch zuhause. Groß erlebt hatte sie noch nichts, aber sie half ja bei der Pflege ihres Urgroßvaters und die bisherige Schule war auch immer ein dankbares Thema.
Dass auch Topaz neugierig war und nun die neue Frau in ihrer Umgebung erkunden musste, half an dem Abend ebenfalls. Vor allem die so langen Haare hatte es der Kleinen angetan. Die konnte man greifen, daran ziehen und verwuscheln. Wenn dann alle lachten, war das Mädchen glücklich. Und das Grinsen von Aimee bestätigte der Kleinen, dass sie nichts falsch machte.
Dafür wischte Aimees Blick oft nachdenklich zwischen Joyce und Jane hin und her. Zumindest bis Joyce verstand, warum. Dann kicherte sie.
„Nein, Aimee, Jane ist nicht meine Tochter. Sie stammt aus Henrys erste Ehe. Die Mutter starb vor etlichen Jahren. Und obwohl ich kaum älter bin als Jane, sind wir beste Freundinnen, Kolleginnen und ich bin nebenbei noch ihre böse Stiefmutter.“
„Genau“, sprang Jane grinsend ein, „sie hat mir immer gesagt, ich solle mein Zimmer aufräumen. Deswegen habe ich mir meinen eigenen Ehemann gesucht, um ihr zu entkommen.“
„Ach, so war das also“, brummte Eric grinsend im Hintergrund.
Das laute Lachen von allen zeigte aber deutlich, dass das kleine Wortgefecht nur Frotzelei war und dass viel Liebe untereinander herrschte. Kurz darauf brachte Joyce ihre Tochter ins Bett, aber über Babyphone hatte sie weiterhin die Kontrolle, als sie zurückkam.
Dann kam später Janes vorsichtige Frage, warum Aimee hierher zu ihnen käme. Wären da nicht eher die Familienmitglieder gefragt? Für einige Sekunden lag Schweigen im Raum, denn Aimee hatte plötzlich ein trauriges Gesicht.
„Es gibt niemanden in der Familie, der es mir zeigen könnte. Urgroßvater weiß es zwar, aber er kann altersbedingt nicht mehr wandeln. Er könnte mir nur die Theorie nennen. Manchmal denke ich, dass er glaubt, unsere Familie wäre verflucht. Ihr wisst schon, der Zorn der alten Götter. Er kennt niemanden außer Dolphs Familie, die wandeln kann, wie er mir einmal erklärt hat. Da war irgendetwas von gegenseitiger Hilfe und so, aber das muss sehr lange her sein.
Ansonsten bin ich nach sieben Generationen das erste Mädchen in der Geburtenhistorie unserer Familie. Sonst waren es immer Männer, die es weitergeben konnten. Auch meine Mutter kann es nicht. Ich will jetzt nicht den Begriff einführen, sie ist normal, aber sie ist eben keine Wandlerin. Urgroßvater sieht den Fluch in der Geburt von nur Männern und dass die auch noch früh sterben. Keine gute Voraussetzung, um eine Frau zu werben.
Mein Urgroßvater hatte einen Vater. Der fiel im zweiten Weltkrieg bei Omaha Beach am 6. Juni 44. Mein Urgroßvater war damals sechs Jahre alt. Er selber heiratete Ende der 50er jemanden aus einem Nachbardorf. Sein Sohn war gerade vier Jahre alt, als es einen schweren Unfall im Dorf gab. Seine Frau starb und er wurde derart verletzt, dass er keine Kinder mehr bekommen konnte. Und so ging es weiter. Sein Sohn, mein Großvater, wuchs auf, heiratete, hatte einen Sohn, meinen Vater, … und fiel 1980 im Rahmen der Geiselbefreiung in Teheran. Anfang der 2000er heiratete mein Vater. Ich habe ihn nie kennengelernt, denn er starb vor meiner Geburt bei einem Verkehrsunfall mit einem Betrunkenen.
So, alle meine Vorväter waren große Helden, meist Soldaten. Mein Vater starb auch jung. Irgendwie verstehe ich meinen Urgroßvater, wenn er an einen Fluch denkt.“
Melancholisch und gleichzeitig etwas ironisch hatte Aimee das Ganze geschildert. Doch auch die anderen blieben stumm und nachdenklich. Aimees Familiengeschichte war bei dieser Schilderung schon tragisch zu nennen.
Nur langsam kehrte Unbeschwertheit wieder in der Runde ein. Alle mussten über die Geschichte nachdenken. Aber sie verstanden, warum Aimee hierherkam. Und sie freuten sich, dass die junge Frau trotz allem scheinbar fest im Leben stand.
Doch alle blieben noch eine Stunde, bevor man sich zur Ruhe begab. Der nächste Tag würde neue Erfahrungen bringen.
Und die folgenden vier Tage waren dem Eingewöhnen gewidmet. Aimee wurde alles gezeigt und wie sie in der nächsten Zeit mit unterstützen konnte. Dafür nahm Joyce und auch Jane den Gast mit in das große Becken, um sie mit den Delphinen vertraut zu machen. Aimee, die ja sonst auf dem Land in den Everglades lebte, sollte sich die Bewegung und das Verhalten der Tiere einprägen.
Wenn sie selber wandelte, musste sie sich ähnlich verhalten, sonst würde sie nur auffallen. Und auffälliges Verhalten landete oft in Tiershows. Und da wieder entkommen, …?
Für die junge Frau waren es die ersten Begegnungen mit den Tieren. Sie war fasziniert von der Klugheit und Sanftmut, die sie ausstrahlten. Und sich dann auch einmal ziehen lassen, war ein völlig überraschendes Erlebnis.
Natürlich zeigte ihr Joyce auch ihre abgelegene Ecke und nannte ihr die Regeln für das Wandeln. Immerhin dauerte es runde fünf Minuten, um von der einen in die andere Gestalt zu kommen. Ein Unterbrechen oder Abbrechen gab es nicht, wenn der Vorgang einmal gestartet war.
Auch die anderen Regeln waren wichtig. Prinzipiell hatte Aimee sie schon von ihrem Urgroßvater genannt bekommen, aber Joyce erklärte es ihr anschaulicher. Allein das Platzproblem galt es immer zu berücksichtigen. Denn Mensch und Tiergestalt hatten unterschiedlichen Größen. Hindernisse waren gefährlich. Auch hier musste Joyce zugeben, dass es einfach Hypothesen waren, denn wirklich ausprobiert hatte es keiner. Wer wollte auch schon wissen, wo eine Stange direkt neben dem Menschen dann bei Ergebnis Tier gelandet war.
Dann war es soweit. Das erste Mal stand an.
Joyce sah sich noch einmal um und nickte dann Aimee zu. Beide zogen sich aus und legten ihre Kleider zusammen.
„Warum das Umsehen? Es kommt doch kaum jemand hierher, oder?“
„Eigentlich ja. Aber es sind zwei Gründe. Der wichtigste ist natürlich, dass wir nicht wollen, dass uns jemand beim Wandeln zusieht. Überlege dir nur, was es bedeuten würde, wenn es jemand sieht und uns an die Behörden verpetzt. Wenn die es glauben, was meinst du, wird mit uns passieren? Vielleicht sind wir da auch ein wenig paranoid, aber keiner von uns möchte sein Leben als Agent oder in einem Labor verbringen. Du könntest sicher sagen, wir können doch im Wasser verschwinden. Richtig. Aber würdest du verschwinden, wenn dein Partner oder dein Kind weiter bei denen eingesperrt und möglicherweise Repressalien ausgesetzt ist?“
Aimee nickte verständnisvoll. Erpressung war eine eindeutige Sache. Und jeder hatte Familie oder andere Personen, für die man alles machen würde. Und man unterstellte einigen Behörden schlichtweg, dass der Begriff ‚Moral‘ in deren Handbüchern nicht vorkam.
„Und der andere Grund ist ganz einfach, dass ich nicht möchte, dass mich jemand nackt sieht. Zumindest jetzt auf keinen Fall, weil ich verheiratet bin. Das darf nur noch Henry sehen.“
„Und vorher?“
Joyce Wangen wurden rot.
„Da gab es einige, die meinen Körper gesehen haben. Natürlich bin ich nicht nackt durch die Stadt gegangen, aber es gab Momente, da habe ich mich anderen so hinter geschlossenen Türen präsentiert.“
Aimee pfiff leise und Joyce‘ Wangen wurden noch dunkler.
„Nein, nicht wegen Sex. Es war nur … ich wollte etwas … da musste ich nackt sein.“
Am Ende stotterte sie, denn sie wollte den wirklichen Grund, nämlich sich auspeitschen lassen, nicht nennen.
„Du meinst also, es ist nicht ganz so schlimm, wenn ich mir vorstelle, dass mich andere nackt sehen?“
Jetzt hatte auch Aimee dunkle Backen bei dem Geständnis. Joyce sah sie abwägend an.
„Das hängt vom Grund ab. Willst du gesehen werden? Erregt es dich, wenn jemand dir zusieht? Oder hat es mit Angst zu tun?“
Die junge Frau sah zu Boden.
„Ich glaube, es macht mich heiß, wenn ich weiß, dass ich beobachtet werde.“
„Macht es dich heiß, wenn ich jetzt deinen nackten Körper sehe?“
Ruckartig hob sich Aimees Kopf.
„Nein, überhaupt nicht. Das jetzt ist … normal? Notwendig? Voraussetzung? Wir sind es beide, weil es anders nicht geht? Es ist … falsche Wort … nur normal. Wie ein Umziehen in der Umkleidekabine.
Aber ein Lieblingsfilm von mir ist ‚Striptease‘ mit Demi Moore. Und die Stripszenen, die heizen mir ein. Dann stelle ich mir vor, ich wäre auf dem Podium, die Männer beobachten mich. Wie im Film kann ich in den Gesichtern lesen, was sie am liebsten machen würden mit mir.“
Joyce lachte.
„Du magst es dann zumindest, wenn du betrachtest wirst. Ich finde, du bist bei den Vorstellungen auch im Einklang mit deinem Körper. Du magst ihn und willst es zeigen.“
Nachdenklich blickte Aimee die Freundin an. Die Idee hatte sie noch nicht gehabt, aber sie erschien einen logischen Grund zu haben. Die Überlegung war nachvollziehbar. Wer nicht zufrieden mit seinem Körper war, ob zu dick oder zu dünn oder sonst etwas, der wollte ihn nicht zeigen. Es musste wohl nicht nur Lust dahinterstehen.
„Ich hoffe, ich schockiere dich nicht nach diesem Gespräch, aber mir gefällt dein Körper“, gab Joyce noch einen drauf.
„Wie meinst du das?“ stotterte Aimee.
Wollte die Freundin damit sagen, sie wollte …. Sie brachte den Gedanken nicht zu Ende. Auch das jetzt belustigte Grinsen zeigte ihr, dass sie wahrscheinlich auf dem Holzweg war.
„Nun“, dehnte Joyce, „dein Busen ist einiges schöner als meiner. Selbst nach Schwangerschaft und Stillen langt es bei mir nur zu einem A. Immerhin war es vorher nur ein AA gewesen. Deine spitzen festen Brüste dagegen sind schön. Und meine Schwangerschaftsstreifen gefallen mir auch nicht sehr. Da bin ich froh, wenn ich die im Einteiler verstecken kann. Und ja, ich beneide dich ein bisschen um deinen Körper.“
Aimee staunte zuerst, dann kicherte sie.
„Dann heißt es nach deinen Worten, du bist nicht so ganz im Einklang mit deinem Körper.“
„Touché. Jedenfalls nicht mit diesem Körper. Da wünsche ich mir an gewissen Stellen mehr.“
„Warum, Joyce? Wenn ich an meine Schulzeit denke und die Jungs dort, dann reduzierte sich deren Denken meist nur auf Brüste. Wie oft habe ich Sprüche mitbekommen wie ‚Mann, hat die dicke Titten‘, ‚Wie die wohl schaukeln im Doggy‘, und ähnliches mehr, wenn die sich über Frauen und Schulkolleginnen unterhalten haben. Selten hörte ich etwas über die Intelligenz von Frauen oder andere Aspekte.
Und dann schau dich an. Du hast ein tolles Mädchen geboren. Sind Schwangerschaftsstreifen dann nicht Ehrenzeichen? Dein Mann sieht dir in deine Augen, nicht auf deine Brust. Er liebt dich. Dich, mit Seele und Körper. Ich bin ja nicht dabei, aber hat er sich einmal, ein einziges Mal über deinen Körper beklagt? Hat er jemals mehr Körper gewünscht? Sei stolz, dass dein Henry dich liebt, WIE du bist, nicht wie er dich vielleicht gerne hätte in deinen falschen Überlegungen.“
Joyce staunte. Hatten sie vorhin über ihre ‚Weisheit‘ gelacht, so konnte sie jetzt nur über die von Aimee staunen. Mit 18 schon solche Ansichten?
„Wow. Du hast Recht. Ich sehe mich nicht mit seinen Augen, sondern es sind meine eigenen. Wieso weißt du so viel darüber?“
Aimee lachte.
„Ich habe keine Erfahrungen. Aber ich kümmere mich mit um meinen Urgroßvater. Der ist vielleicht nicht mehr beweglich, aber sein Kopf ist messerscharf. Und er gibt nicht sein Wissen als das Nonplusultra weiter, sondern er stellt dir eine Frage und lässt dich die Antwort selber finden.
Bei ihm hatte ich mich mal beklagt, weil Jungs mich weniger beachteten. Er hat mich gefragt, was Jungs denn beachten bei den Klassenkameradinnen, den Körper, den Kopf oder beides. Dann habe ich gezielt beobachtet und du willst nicht wissen, wie meine Strichliste hinterher aussah.“
Sie brauchte es nicht zu erklären, denn Joyce lachte wissend. Joyce hatte mit ihrer Erinnerung selber ein Bild von zwei leeren Spalten vor sich. Joyce fand es faszinierend, wie der Urgroßvater, den sie selber nur als ‚Old Blackfeather‘ kannte, andere zum Lernen anhielt.
Minuten später standen beide Frauen bis an den Hals im Wasser.
„Also nochmals, Aimee. Zum Wandeln musst du im richtigen Medium sein. Delphine leben im Salzwasser. Zumindest hier. Und du musst daran denken, dass dein gewandelter Körper größer ist als dein menschlicher. Also brauchst du Platz um dich herum. Schließlich willst du ja vom Ufer weg und nicht einen auf gestrandetem Wal machen.“
Aimee rollte die Augen.
„Das hast du nun schon zig Male erklärt. Und ich soll mich jetzt darauf konzentrieren, ein Delphin zu sein. Auch so, wie du es über dich sagst. Du stellst dir das Bild eines Delphins vor. Du fokussierst dich darauf, dieser Delphin zu sein. Und wenn du im Kopf diesem Bild freien Lauf lässt, wandelst du. Es kommt die milchige Wolke, du siehst eine Zeitlang nichts und dann kannst du losschwimmen.“
„Aimee, nimm es nicht so einfach. Die Kombination aus deiner Vorstellung und deinen Geist entspannen ist entscheidend. Sonst würde ich jedes Mal wandeln, wenn ich über die Delphine hier in der Bucht nachdenke. Mein angestrengtes Wollen und gleichzeitiges Entspannen sind die Kriterien, dass es nur gezielt klappt.
Und nun versuch es.“
Aimee schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Delphin seine Bahn durch die Bucht ziehen. Sie versuchte, dieses Bild mit ‚Ich‘ zu verbinden. Sie würde so schwimmen. Sie würde tauchen, den Grund der Bucht erforschen, übermütig springen. Sie. Sie, der Delphin Aimee. Innerlich fühlte sie das Kribbeln. Das erste Mal hatte sie es vor einigen Wochen gespürt und ihr Urgroßvater hatte ihr das unbekannte Gefühl gedeutet. Ihr zweites Ich stand in den Startlöchern. Heute, jetzt, sollte es das erste Mal loslaufen dürfen. Aimee stellte sich vor, wie sie in Zukunft in einer versteckten Bucht wandelte und stundenlang den Ozean durchforschen konnte.
Vorsichtig blinzelte sie mit einem Auge. Da war keine milchige Wolke. Sie sah ganz normal das Wasser. Und sie sah ihre Hand vor sich in diesem Wasser. Noch war sie kein Delphin. Noch hatte es nicht angefangen.
„Worauf wartest du?“ klang neben ihr die Stimme von Joyce auf.
„Es funktioniert nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Na, ich konzentriere mich auf das Bild des Delphins und des Schwimmens. Ich merke, wie es in mir kribbelt. Da ist etwas, dass raus möchte. Das fühlte ich. Aber es passiert nichts.“
„Versuch dich zu konzentrieren und entspanne gleichzeitig. Der Delphin bin ich und es ist so herrlich. Nicht durch kräftiges Wünschen, sondern entspanntes willkommen heißen. Du BIST ein Delphin. Also konzentriere dich auf das Lebewesen, das du sein wirst. Stell dir vor, wie entspannt ein Delphin durch das Wasser gleitet und denke ein ‚ich‘ dabei. Ich, der Delphin.“
„Was glaubst du, was ich versuche. Aber irgendetwas passt nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Ich merke mein zweites Ich. Dieses Kribbeln und Drängen. Aber, um es mit einem Bild zu beschreiben, mein zweites Ich ist wie ein Rennpferd und scharrt mit den Hufen, will losrennen. Aber sobald ich die Tür der Starterbox öffne, dreht es sich um und lehnt an die Wand. Verstehst du, was ich meine?“
„Soll das heißen, dein zweites Ich … weigert sich?“
Joyce klang mehr als erstaunt. Sie selber hatte sich jahrelang geweigert, ihrem eigenen zweiten Ich Raum zu geben, aber als sie wollte, war es sofort losgegangen. Sie hatte noch nie gehört, dass ein zweites Ich sich weigerte. Außer …
„Bist du schwanger?“ fragte Joyce leise und zögernd.
Aimee riss die Augen auf.
„Wenn ich schwanger bin, dann wäre es die zweite Jungfrauengeburt in der Geschichte“, antwortete sie nach einer Pause mit hochroten Wangen.
Die Frage von Joyce verstand sie, denn Joyce hatte ihr schmunzelnd erzählt, wie es damals mit Verlobung und so weiter bei ihr gelaufen war, was durch die Schwangerschaft alles erklärt werden musste. Aber selber laut zugeben, dass man noch nie mit einem Jungen herumgemacht hatte und doch schon 18 war, erschien ihr wie eine Ausnahme. Jedenfalls nach den Berichten ihrer Schulfreundinnen hatte jede betont, ihr erstes Erlebnis mit 14, spätestens 15 gehabt zu haben. Jede hatte so voll Erfahrung erzählt über was und wie. So wie die Jungs sich über dicke Titten unterhalten hatten, war die Diskussion bei den Mädchen bei dicken oder langen Schwänzen hängengeblieben, dem Kichern über männliche Schnellschüsse und dem Bewundern männlicher Ausdauer. Für Aimee war es nur das Glück gewesen, dass die anderen sich mit ihren Erfahrungen übertreffen wollten und nicht nach noch einer Konkurrentin gesucht hatten.
Beide jungen Frauen lagen ausgestreckt auf den Handtüchern. Ihre nackten Körper glänzten feucht, denn sie hatten es vor wenigen Minuten wieder versucht. Es war jetzt bereits der vierte Anlauf gewesen. Und immer ohne Erfolg bei Aimee. Immer wieder hatten beide Frauen gesprochen und Joyce konnte ihr keinen besseren Rat geben oder Fehler finden. Und doch wandelte Aimee nicht.
Während es bei Joyce ohne Schwierigkeiten funktionierte, wandelte sich Aimee nicht. Sie fühlte den inneren Drang, aber es erschien ihr, als ob das zweite Ich seine Arme vor der Brust verschränkte, grinste und den Kopf ablehnend schüttelte.
Schweigend starrten sie in den Himmel. Beide hatten darüber gesprochen, aber sie waren nicht weitergekommen. Keine wusste, woran es lag. Und Schwangerschaft, was damals bei Joyce der Grund gewesen, nicht mehr wandeln zu können, hatte Aimee kategorisch ausgeschlossen. Sie war Single und Jungfrau, wie sie betonte. Sie hatte ja nicht einmal einen Freund.
Aber warum klappt es nicht? Ich fühle den Drang in mir. So hat es mir mein Urgroßvater beschrieben und auch Joyce. Ich will es doch. Was muss ich denn noch machen? Ich stelle mir den Delphin vor, ich stelle mir vor, dass ich es bin. Ich mach doch alles, was mir Joyce sagt. Warum wandele ich mich dann nicht?
Hoch über ihnen kreiste eine Möwe. Wahrscheinlich hielt sie Ausschau nach leichter Beute.
Fast ein wenig sehnsüchtig blickte Aimee ihr hinterher. Frei sein. Da oben zu fliegen und auf die Welt herabzusehen, muss wohl die ultimative Freiheit sein. So wie das ungehinderte Schwimmen im unendlichen Meer. Erneut dachte sie traurig daran, dass sie das Wandeln nicht fertigbrachte. Ihr Urgroßvater würde enttäuscht sein. Möglich, dass er sich an sein Leben klammert, um mich einmal schwimmen zu sehen. Er will wohl sehen, dass sein Erbe weitergegeben wurde.
Sie schloss die Augen. Ja, da oben fliegen. Dann könnte ich meine Probleme hier unten lassen. In ihren Gedanken stellte sie sich vor, wie es wäre, ein Vogel zu sein und die Welt von oben zu betrachten.
Neben ihr kam ein ersticktes Keuchen auf. Was hat denn Joyce? Sie wollte den Kopf drehen und musste feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie fühlte sich wie gelähmt und doch passierte etwas mit ihr. Selbst der Himmel war aus ihrem Blick verschwunden. Stattdessen hatte sie den Eindruck, in einem Berg Watte eingegraben zu sein. Sie sah nur eine weiße Wolke.
Im ersten Moment hatte sie völlige Panik. Wahrscheinlich würde es jedem so gehen, wenn man sich plötzlich und unerklärlich nicht mehr bewegen konnte, nur noch in weiße Watte sah und doch spürte, wie etwas mit dem Körper passierte.
Erst nach Sekunden beruhigte sie sich. Ihr Kopf hatte das Denken wieder übernommen. So hatten ihr Joyce, Dolph und die anderen das Wandeln beschrieben. DAS WANDELN? Ich wandelte mich gerade. Also funktioniert es doch. Aus Panik wurden riesige Glücksgefühle.
Und gleich darauf kam wieder der Umschwung in Richtung Panik. Sie wandelte! Aber sie wandelte sich an Land, nicht im Wasser. Das warf das erste Fragezeichen auf. Hatte man ihr nicht erklärt, sie brauche den Kontakt mit Meerwasser? Oder reichte der noch etwas nasse Körper bereits?
Aber sie wusste noch nichts über ihre neue Gestalt, was Größe und so anging. Zumindest brauchte ein Delphin Luft. Hier draußen hätte sie mit dem Atmen keine Probleme. Doch ein Delphin konnte austrocknen. Sie hatte sich nur informiert, was sie in etwa erwartete, wenn sie sich in einen Delphin, einen Großen Tümmler, wandeln würde. Ein Großer Tümmler konnte als erwachsenes Tier zwischen zwei und vier Meter Länge haben. Dazu kamen mindestens 150 Kilo Gewicht, vielleicht auch 200, 300 oder noch mehr. Das würde Joyce niemals bis ins Wasser bewegen können.
Erneut beruhigte sie sich wieder. Austrocknen würde sie nicht. Joyce konnte sie mit Wasser übergießen und sie brauchte keine Frist abzuwarten, bis sie sich zurückwandeln konnte. Damit konnte sie der Zukunft nun endgültig gelassen entgegensehen. Wenn nötig, konnte Joyce auch Hilfe rufen.
Obwohl … gelassen? Ich wandele mich. Das erste Mal. Wow. Wahnsinn. Die Freude war auf jeden Fall in riesiger Menge vorhanden.
Nach wenigen Minuten wurde der Nebel in ihrem Sichtfeld in Sekundenschnelle dünner und verschwand schließlich komplett.
Die ersten Sekunden nahm Aimee ganz bewusst wahr. Vor allem nahm sie die Welt anders wahr als noch vor fünf Minuten. Ihre Sinne waren andere und damit die komplette Wahrnehmung, das Hören, Sehen, Fühlen. Ich bin gewandelt. Wie ist mein neuer Körper? Sie hörte alle Geräusche sehr deutlich. Da war das Rascheln der Blätter aneinander, das Glucksen der Wellen am Strand, sogar das leise Wispern des Windes. Auch ihre Augen sahen besser als vorher. Von ihrem Liegeplatz sah sie fast jeden Tropfen, der sich beim Brechen der Welle löste, auch die Aderung von großen Blättern und die Rinde der Bäume erkannte sie nun. Wahnsinn. Ich hätte nie gedacht, dass Delphine so viel besser sehen und hören. Gut, unter Wasser braucht man das. Wahrscheinlich ein ähnlicher Wechsel, als ob ich als Mensch ohne oder mit Taucherbrille unter Wasser bin. Ein Delphin ist sicher noch besser angepasst.
Neben ihr war wieder das harte Keuchen. Neben ihr? Das musste Joyce sein. Sofort schwenkte ihr Kopf herum, um nach der Freundin zu sehen. Die kniete auf ihrem Handtuch und hatte die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und zeigten eine Mischung aus Faszination und Entsetzen.
„Aimee?“ flüsterte sie fast tonlos.
Aimee nickte. Wer soll es denn sonst sein? Hören hatte sie das Flüstern sehr deutlich gekonnt. Mein Gehör ist wirklich besser geworden. Sie legte den Kopf schief, als Joyce langsam eine Hand nach ihrem Handy ausstreckte. Was hat sie vor? Sekunden später hätte sie fast gegrinst, weil sie erkannte, dass Joyce ein Foto von ihr machen wollte. Natürlich. Dann kann ich selber meinen Delphinkörper betrachten. Ein großer Spiegel im Wasser wäre zwar schön, aber schlecht möglich.
Einige Male klickte es, dann ließ Joyce das Handy wieder sinken.
„Sieh nach unten“, wisperte sie.
Immer noch klang ihre Stimme fasziniert und doch auch verstört. Aimee war verwirrt. Sah sie als Delphin so anders aus? Doch sie folgte der Bitte und senkte den Kopf. Jetzt war sie es, die keuchte und den Kopf wieder hochriss. Jetzt war sie es, die Joyce entsetzt ansah. Obwohl … das Entsetzen tobte nur in ihrem Kopf. Ihre Augen mit der gelben Iris blickten kalt und unbewegt.
Da waren keine Flossen zu sehen gewesen. Da gab es Krallen. Aimee hatte dünne gelbliche Klauen gesehen, bedeckt mit hornigen Schuppen und braunschwarze nadelspitzen Krallen, die sich in das Handtuch gebohrt hatten. Und die gelben hornigen Beine hatten darüber braune Federn gehabt.
Gelbe Schuppen? Federn? Krallen? Wie bei einem Vogel? Aimee schrie vor Schreck. Ein schriller langgezogener heller Schrei durchschnitt die Stille. Aimee verstummte abrupt. Auch dieser Schrei entsprach keinem Delphinlaut.
Fast verzweifelt dachte sie an ‚Mensch‘ und sie wollte wieder zurück in ihrer vertrauten Gestalt. Die versprach ihr jetzt Sicherheit vor diesem Alptraum. Nur langsam beruhigte sich ihr hämmerndes Herz, als sich wieder der Nebel um sie schloss und sie vor der Welt verbarg.
„Was ist mit mir passiert?“ flüsterte sie ängstlich, als der Nebel sich verzogen hatte und Joyce vor ihr kniete.
Wortlos drehte die ihr Handy und rief die Galerie auf. Jetzt keuchte Aimee, denn sie sah einen Vogel. Nicht irgendeinen, sondern Amerikas Wappentier, den Weißkopfseeadler. Gute 80 Zentimeter hoch, saß das Tier auf ihrem Handtuch. Der weiße Kopf, die gelbe Iris der Augen, der leicht geöffnete Schnabel mit der dünnen Zunge, das braune Gefieder, die gelben Klauen.
Sie wurde kein Delphin, sondern ein Adler?
Für Aimee war es der Himmel, dass Joyce das Handy fallenließ und ihre Arme öffnete. Wie ein Husch war Aimee in der Umarmung verschwunden. Sie brauchte jetzt das Auffangen nach dem Schock. Lange Minuten versteckte sich die junge Frau vor der Realität in den Armen der Freundin.
Dann löste sie sich langsam. Noch immer spiegelte ihr Gesicht Unverständnis und Fassungslosigkeit. Doch auch das Strahlen über das Wandeln, das erste eigene Wandeln, zeigte sich.
Auch bei Joyce war immer noch das Staunen zu sehen. Sie sparte sich die Frage, ‚was ist passiert?‘, weil das hatten sie erlebt. Auch ein ‚was hast du gemacht?‘ war unsinnig, denn das Wandeln war bekannt.
Nur das Ergebnis war unbekannt. Jede Frau, die sie kannte, wandelte sich in einen Delphin, so wie jeder Mann, wie ihre Brüder und Eric, sich in einen Weißen Hai wandelte.
„Warum werde ich ein Adler?“ flüsterte stattdessen Aimee.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Joyce auch leise.
„Außer Hai und Delphin kenne ich nichts.“
Wieder herrschte Grübeln über das Wunder des Unerwarteten. Beide suchten nach irgendwelchen Hinweisen.
Plötzlich runzelte Joyce die Stirn. Da war ein Splitter Erinnerung aufgetaucht, den sie nur noch nicht greifen konnte. Auch Aimee sah das Stirnrunzeln.
„Was ist, Joyce? Hast du doch eine Idee?“
„Nein. Obwohl … es ist nichts Greifbares. Nur irgendetwas, dass mir Xenia mal genannt hatte.“
„Willst du sie anrufen?“
„Bloß nicht“, kicherte Joyce.
„Bevor ich ausgesprochen hätte, wäre sie hier, um dich mit Fragen zu löchern. Autoren und ihre Recherche. Berufskrankheit. Sie kommen wahrscheinlich sowieso übernächste Woche wieder, um nach ihrer Nichte zu sehen. Nebenbei erwarten sie die große Vorführung.
Egal, da war irgendetwas. Das ist aber schon lange her.“
„Lange? Das verstehe ich nicht. Ich dachte, sie hat das Wandeln doch auch erst bei ihrem Mann kennengelernt?“
„Ja, aber da war noch etwas. Die Bücher in ihrem Haus über Gestaltwandler kenne ich. Da steht nichts drin. Aber … verdammt, ich komme nicht darauf.“
„Also mein Urgroßvater sagt immer, wenn man etwas wissen will, soll man nicht daran denken. Dann kommt das Wissen hervorgekrochen aus seinem Versteck, weil es neugierig ist, warum man es nicht mehr jagt.“
Joyce kicherte ein wenig bei dem Bild, dass Wissen sich wie eine Jagdbeute versteckte und wieder hervorkam, wenn die Jagd beendet wurde. Doch dann schnippte sie mit den Fingern. Aimee hatte ihr den Hinweis geliefert.
„Dein Urgroßvater. Das war’s. Xenia war doch vor etwa zwei Jahren bei ihm gewesen wegen ihrem ersten Buch mit einem Gestaltwandler. Sie hatte sich von ihm beraten lassen, weil die Frau aus dem Roman aus eurem Volk kam und sie alles korrekt beschreiben wollte.
„Stimmt“, konnte Aimee beipflichten.
Allerdings wusste sie nicht mehr, was damals gesagt worden war. Doch dann färbten sich ihre Wangen rot, als ihr anderes dazu einfiel. Das war doch das Treffen, bei dem ihr Urgroßvater Xenias Mann Dolph, gebeten hatte, ihr, Aimee, das Schwimmen beizubringen.
„Xenia hat mir damals erzählt, dass Old Blackfeather sie überrascht habe, weil er ihnen eine Geschichte, wahrscheinlich eine Legende der früheren Indianer erzählt hatte, wie ein Wächtervolk einen heiligen Gegenstand verteidigte. Ich glaube, in dem Zusammenhang war später noch etwas über Krokodile und Adler gesagt worden.“
„Du meinst …?“
„Möglich. Da war auch die Rede davon, dass eine der beiden geretteten Indianerinnen bei dem einzig überlebenden Weißen blieb. Wir haben es noch nicht nachvollziehen können, weil zu viele Unterlagen fehlen, aber es wäre möglich, dass ich und wir anderen von Turtle Island aus der Linie stammen. Zumindest Xenia hält dies für möglich. Und weil es wahrscheinlich ein Meteorit war, vermutlich mit Strahlung, hat das zu genetischen Veränderungen geführt, also dem Wandeln. Das ist Xenias These.
Und die zweite Indianerin schloss sich einem anderen Indianer an. Wenn ich Xenias These weiterspinne, dann könnte die Vermutung bestehen, dass deine Familie dort ihre Wurzeln haben.
Lege ich noch eine Schippe auf ihre These, dann sucht sich Wandler-Gen eine Gestalt, die in der Gegend des Menschen auftritt. Wir leben am Meer. Damit wären Hai und Delphin erklärbar. Ihr lebt heute in den Everglades. Das ist Süßwasser und Hai und Delphin passen nicht. Ich glaube auch nicht, dass das Gen eine Autofahrt zur Küste einplant. Also könnte der Weißkopfseeadler eine Wahlmöglichkeit sein. Tja, und einmal gewählt, kann es nicht mehr verändert werden. Frage mich nicht, ob da der Zeitpunkt der Geburt oder ein späterer eine Rolle spielt.“
Wieder hingen beide den neuen Überlegungen nach. Sie erschienen zumindest logisch zu sein. Einen Widerspruch fanden beide nicht.
„So“, rutschte Joyce etwas zurück, „egal, was du wirst. Üben steht auf dem Programm. Also wandele dich wieder, mache ein paar Bewegungen und retour. Fliegen steht nächstes Mal auf dem Programm.“
Aimee nickte. Inzwischen hatte sie soweit akzeptiert, dass ihr Wandeln aus dem Rahmen fiel. Auf der anderen Seite war etwas Besonderes auch eine Herausforderung.
Die restliche Zeit übte sie. Es ging momentan nur um ein Wandeln. Wie intensiv musste sie sich konzentrieren, welche Gedanken halfen am meisten, was blockierte? Und am Ende dieses Übungsblocks war sie soweit, dass sie fast schon lässig in die eine oder andere Richtung wandelte. An Land funktionierte es problemlos, im Wasser stehend gar nicht. Sie brauchten nicht lange für eine Erklärung. Ein Adler war kein Pelikan, der auf dem Wasser schwimmen konnte. Normal schlug er sich den Fisch direkt unter der Oberfläche und stieg wieder auf. Im Wasser gestrandet, gab es mehr Probleme durch nasses Gefieder und damit Gewicht.
Auch das Gehen oder Schreiten als Vogel fiel leicht. Sie musste nicht mit den Armen pendeln wie ein Mensch. Es wirkte vielleicht ruckartiger, aber es war einfach. Und Joyce fand, wonach sie nebenbei Ausschau hielt. Eine der untersten weißen Federn des Kopfes zeigte im Nacken einen grauen fünfzackigen Stern. Zwar nur schwach sichtbar, aber für den, der suchte, deutlich. Damit wurde die Zugehörigkeit zu den Wandlern nochmals erkennbar und die Unterscheidung zu echten Wildtieren möglich.
Am Abend studierte Aimee im Internet noch viele Clips, die einen Adler bei Fliegen, Starten und Landen zeigten. Sie wollte die Abläufe sehen, damit sie für den kommenden Tag vorbereitet war.
Für den nächsten Tag kamen auch Jane und Eric mit. Joyce hatte mit Aimee gesprochen und sie war einverstanden gewesen. Schließlich gab es keine lange Strecke über Land zum Üben. Da gab es nur die Wiese bei den Bungalows nahe dem Haupthaus. Das allerdings hätte jede Menge Zuschauer bedeutet. Ein Wandeln wäre dann unmöglich.
Die Alternative war der Start und Flug über das Wasser. Auch hier gab es die Alternativen der Bucht und das offene Meer. Beides bot Gefahren. Keiner konnte sagen, ob die Delphine einen wassernden Seeadler als Gefahr für die Jungtiere ansahen und angriffen. Und draußen gab es andere Räuber, die vielleicht nichts gegen einen Happen hatten, der ins Wasser fiel.
Doch bevor Jane und Eric nachkamen, wollten Joyce und Aimee erst einmal kurze Strecken mit Gleiten überbrücken. Dafür hatte sich Joyce einen dicken Arbeitshandschuh mitgebracht.
Zuerst räumten die beiden Frauen eine kleine Schneise frei. Alles Gestrüpp am Boden kam zur Seite. Sie wollten vermeiden, dass der Adler darin landete und sich verletzte. Dann suchten sie einen Baumstumpf aus, von den sie starten konnte. Damit galt es bereits, die Flugvideos nachzuahmen.
Nach dem Wandeln kletterte der Adler auf Joyce‘ behandschuhte Hand. Sie stemmte den Vogel vorsichtig hoch und brachte ihn nahe an den Baumstumpf, so dass er übersteigen konnte.
In der nächsten Stunde kam Joyce ziemlich ins Schwitzen, denn ein Hin- und Herwandeln zwischen den Gleitversuchen dauerte zu lange. Und ein ziemlich ausgewachsener Weißkopfseeadler brachte es auf runde acht Kilo Lebendgewicht. Und das Gewicht tragen und hochheben kostete Kraft.
Vor allem, weil bei fast jedem Versuch die Strecke größer wurde. Aimee gewann Erfahrung und am Ende kamen auch die ersten Versuche mit dem Flügelschlagen hinzu.
Dann durfte Eric das Tragen übernehmen. Jane und Eric hatten fassungslos gestaunt, als ihnen Joyce nun erst erklärte, wer der Vogel war. Dann aber waren beide fasziniert. Und mit Aimee klappten die Flugversuche immer besser. Schon am ersten Tag kamen ein, zwei Flügelschläge hinzu. Bedeutete es anfangs den schnelleren Absturz, gelang am Ende eine weitere Strecke.
Dann kamen an den nächsten Tagen immer längere Strecken hinzu, inklusive anfänglichen ‚Notwasserungen‘. Und jemand musste hinausschwimmen und den nassen Vogel zurückbringen. Trotzdem hatten alle Spaß daran, denn sie sahen die Erfolge.
Nach einer Woche konnte Aimee fliegen. Start und Landungen klappten wie in den Clips. Jagen musste sie zwar nicht, aber spaßeshalber hatten sie kleingeschnittenes Fleisch einmal mitgebracht und Aimee in ihrer zweiten Gestalt gefüttert.
Erst da hatten sie Henry eingeweiht. Ihn hatten sie auf den Steg hinausgeführt und gesagt, Aimee würde gleich vorbeikommen. Angestrengt hatte Henry nach einem Delphin Ausschau gehalten. Er hatte einen erschrockenen Schritt zur Seite getan, als der Adler neben ihm auf der Brüstung landete. Und er hatte seine Augen weit aufgerissen, als seine Frau ihm „Aimee“ zuflüsterte. Laut konnte sie es nicht sagen, weil auch die Gäste über diesen scheinbar sehr zutraulichen Vogel staunten. Aber alle nahmen das Erlebnis mit, an dem Tag einmal im Leben einen lebenden wilden Seeadler gestreichelt zu haben. Dann flog er wieder fort.
Erst hinter geschlossenen Türen konnte Henry seine Faszination herauslassen. Hatte er sich vor rund zwei Jahren noch strikt geweigert, an die Existenz von Wandlern zu denken, so hatte ihm das Vorführen von Eric und später seiner Frau eines Besseren belehrt. Und nun auch noch ein Seeadler.
Diese Idee nahm Aimee am nächsten Tag mit. Es war herrlich gewesen, diese staunenden Gesichter zu betrachten. Und niemand hatte mitbekommen, dass sie in gewissem Sinne nicht echt war.
Aimee lächelte. Langsam formte sich ein Plan. Sie würde ihren Urgroßvater auch überraschen. Dazu würde sie ihr Heimatdorf im Flug ansteuern. Irgendwo zwischen 150 und 200 Kilometern lagen dann vor ihr. Das würde für den Adler etwa drei bis vier Stunden in normalem Tempo bedeuten. Noch hatte sie keine Vorstellung, was das für sie selber bedeuten würde. Derart lange war sie noch nie in der Luft geblieben.
Überhaupt, wie sollte sie fliegen? Ein Seeadler konnte sich an anderen Dingen orientieren. Sie selber hatte keine Erfahrungen, wie sie mit den Eindrücken als Adler umgehen sollte. Am einfachsten erschien ihr, der Verbindungsstraße über die Inseln zu folgen. Bei den Everglades konnte sie tiefer gehen. Wieder musste sie schmunzeln. Es würde auch bedeuten, dass sie die Bilder, die sie bisher auf dem Erdboden gesehen hatte, sich nun aus der Luft vorstellen musste. Große Parkplätze, bestimmte Häuser konnten ihr weiterhelfen. Allerdings sah sie hauptsächlich die Dächer. Vielleicht sollte sie sich mal mit den Luftbildern aus Google Earth auseinandersetzen und so erste Bilder im Kopf behalten.
Parallel wollte sie ihre Ausdauer und Kraft testen und trainieren. Dazu würde sie im näheren Bereich eine Strecke mehrfach abfliegen. Es würde, falls ihr die Kraft ausging, mit Sicherheit noch bis hierher zurück reichen.