Inside out - Joke Frerichs - E-Book

Inside out E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

Bis Ende 2015 habe ich täglich Tagebuch geschrieben, um schließlich festzustellen, dass es da viele Redundanzen; viel Unwichtiges gibt. Kurzum: mir war es zu "buchhalterisch". Daher bin ich übergegangen zum Journalschreiben. In meinem Journal halte ich fest, was mir in den letzten zehn Jahren wichtig war: Leseeindrücke; Berichte von Ausstellungen und Konzerten; Begegnungen; Naturschilderungen; Reiseberichte; Reflexionen; Erlebnisse der besonderen Art.

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Inhalt

Vorbemerkung

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

Angaben zum Autor

Vorbemerkung

Es gibt verschiedene Formen, seine Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Die gebräuchlichste ist das Tagebuchschreiben. Man notiert, was sich täglich ereignet hat und was einem wichtig genug ist, um festgehalten zu werden. Dies kann mehr oder weniger reflektiert geschehen. Thomas Mann z.B. hielt so ziemlich alles fest, was sich an einem Tag tat: vom morgendlichen Rasieren bis hin zum Briefwechsel mit seinem Verleger. Max Frisch handhabte das Tagebuch wie eine Kunstform: er überarbeitete es mehrmals, wohl auch im Hinblick auf die Nachwelt. Und für Martin Walser war das Tagebuch ein Probierfeld für literarische Fingerübungen. Fritz J. Raddatz hielt darin seine Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten fest, aber auch Eindrücke, die er während seiner Reisen gewann oder bei der Lektüre von Büchern; d.h. er selektierte aus dem Alltagsgeschehen das Besondere.

Dass das Tagebuch nicht mit einer Autobiographie zu verwechseln ist, versteht sich nach dem bisher Gesagten von selbst; dazu ist es zu rhapsodisch; d.h.: es werden relativ flüchtige, oft aber auch unzusammenhängende Ereignisse dargestellt, während die Autobiographie die kontinuierliche Entwicklung einer Persönlichkeit schildert, mithin auf die unverwechselbare Subjektivität eines Individuums gerichtet ist.

Vom Tagebuch zu unterscheiden ist die Form des Journals. Auch dieses ist keine festumrissene literarische Gattung: Jürgen Becker benutzt die Journalform, um Assoziationsketten, die oft einen lyrischen Beiklang haben, daran zu knüpfen. Sie ist für ihn neben seinen Gedichten und Romanen die literarische Form schlechthin geworden.

Eines gemeinsam haben all die erwähnten Formen: sie versuchen eine mehr oder weniger enge Verknüpfung von Leben und Schreiben herzustellen. Am eindringlichsten hat dies Paul Nizon formuliert. Er schreibt über das Verhältnis von Wirklichkeit, Schreiben und Leben:

Die Wirklichkeit ist nicht ein für allemal abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen. Sie ereignet sich. Sie will verdeutlichend mitgemacht werden und eigentlich mehr als das: Sie muß hergestellt werden, zum Beispiel im Medium der Sprache.

Nizon setzt Schreiben und Leben in Beziehung, indem er sie in eine sprachliche Form bringt. Ihm geht es darum, sich schreibend das Leben anzueignen und über die Sprache ins Leben zu finden. Paul Nizon hat das Journalschreiben zur höchsten Vollendung entwickelt und damit eine Literaturform geschaffen, deren Qualität der seiner Romane sehr nahe kommt.

Eine Zwischenform zwischen autobiographischem Roman und Journal hat Dieter Wellershoff in seiner Schrift Die Arbeit des Lebens entwickelt. Dort hat er zentrale Weichenstellungen und Einschnitte seiner Schriftstellerexistenz dargestellt. Interessant daran sind seine collageartigen Darstellungen lebensgeschichtlicher Abschnitte: der Autor gibt Einblick in seine Herkunft, die schwierigen Lebensumstände, die seinen Weg als Schriftsteller begleitet haben; aber er greift auch immer wieder auf zeitgeschichtliche Themen zurück, die über die individuelle Lebensgeschichte hinausweisen.

Geschrieben habe ich über 40 Jahre lang. Als Wissenschaftler schrieb ich Texte über Veränderungen der äußeren Welt: in Gesellschaft, Politik und Organisationen. Hin und wieder auch ein Gedicht. Gewissermaßen dazwischen platziert; als Erholung von all dem Bedrängenden, was sich da draußen tat. Irgendwas in mir wollte sich frei machen davon. Das literarische Schreiben unterschied sich dann doch sehr von dem, was ich bisher praktiziert hatte. Das was sich im Inneren aufgehoben hatte, drängte ans Licht. Das Ganze glich einer Selbstbefreiung oder einem Sich-freischreiben: alles wollte gleichzeitig hinaus: Gedichte; Essays; Prosatexte – über die Kindheit, Herkunft, eigene Entwicklung.

Bis Ende 2015 habe ich täglich Tagebuch geschrieben, um schließlich festzustellen, dass es da viele Redundanzen; viel Unwichtiges gibt. Kurzum: mir war es zu buchhalterisch.

Daher bin ich übergegangen zum Journalschreiben. Es ist der Versuch, Ausschnitte meines Lebens festzuhalten – wohl wissend, dass das Leben weitergeht und sich nicht festhalten lässt. Aber durch das Schreiben werden bestimmte Ereignisse fixiert; lassen sich noch einmal gedanklich reproduzieren. Man schafft sich gewissermaßen ein Gegenüber, das man abrufen und an dem man sich abarbeiten kann. In meinem Journal halte ich fest, was mir in den letzten zehn Jahren wichtig war: Leseeindrücke; Berichte von Ausstellungen und Konzerten; Begegnungen; Naturschilderungen; Reiseberichte; Reflexionen; Erlebnisse der besonderen Art.

Inside out – das übersetze ich ganz frei – meint: das Innere nach außen kehren. Es handelt sich um Vorstufen der literarischen Verarbeitung; um Schreibversuche; Fingerübungen; Arbeitsnotizen; Materialsammlungen – kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

2005

Guter Start ins literarische Projekt. Schreibe an meinem ersten Prosatext Zugänge. Wie man aufwächst, so denkt man. Jeden Tag ein wenig – fast wie Thomas Mann, der angeblich täglich eine Seite schrieb. Ich betrachte die kurzen Textpassagen als Steinbruch, aus dem sich später mehr machen lässt.

Nachdem ich 2003 meinen ersten Lyrikband Dem Lärm der Wolken lauschen herausgebracht habe, reizt mich das Prosa-Experiment. Ich staune, was sich so alles angesammelt hat als Stoff. Soeben fällt mir ein, dass ich vor 40 Jahren aus dem Beruf ausgestiegen bin und mich auf die lange Reise des Zweiten Bildungsweges begeben habe. Literatur, Theater, Musik, Kunst – lauter neue Welten taten sich auf. Es war bis dahin der größte Umbruch in meinem Leben.

*

Höre mir das Interview von Peter Bamm mit Peter Handke an. Viel Relevantes über das Schreiben. Handke hat eine angenehme, unprätentiöse Art, über sein Schreiben zu reden. Er spricht über das Verhältnis von Planung und Freizügigkeit eines Schreibvorgangs. Plädiert für das Innehalten und Gewährenlassen. Er möchte die alltägliche Lebenswelt der Individuen und deren Erfahrungen als Gegenentwurf zur offiziösen Geschichtsschreibung darstellen; deren Innenwelt als Gegensatz zur äußeren Welt der Erscheinungen oder des medial Thematisierten.

Handke besitzt die Fähigkeit, universell (allgemeingültig) und dennoch konkret und bildhaft zu schreiben. Diese Fähigkeit habe er an Kafka studiert, dem er andrerseits mit seiner vertrauensvollen, eher optimistischen Art des Weltanschauens diametral entgegen steht. Handke: Fortschritt in der Geschichte ist möglich.

*

Fahre mit dem Fahrrad und einer Flasche Rotwein zu meinem Malerfreund Zezo Dinekov. Er hat meinen Gedichtband gelesen und möchte mit mir darüber diskutieren. Er ist angetan von meiner, wie er sagt, assoziativen Schreibweise und sieht deren Prinzip darin, von einem Ausgangspunkt her Verzweigungen herzustellen, um später zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Er arbeite ähnlich.

Gewundert hat ihn der tiefe Pessimismus einiger Gedichte. Ich erkläre ihm den Entstehungszusammenhang: gewisse menschliche Enttäuschungen und eine intensive Beschäftigung mit dem Werk Fernando Pessoas, der sich seinerzeit ebenfalls stark aus der menschlichen Gemeinschaft zurückgezogen hatte und sein Werk völlig isoliert und ignoriert geschaffen hat. Seine Manuskripte fand man später in einer Holzkiste. Tausende von Seiten.

Zezo erkennt sofort die Berechtigung eines solchen Vorgehens; gerade Gedichte drücken stets etwas höchst Subjektives und Persönliches aus und sind sehr abhängig von den jeweiligen Stimmungen ihrer Entstehungszeit. Zezo begreift überhaupt schnell und tief. Das liegt überwiegend daran, dass er über eine enorme künstlerische Erfahrung verfügt: er ist auf allen Gebieten theoretisch und praktisch zu Hause: er macht Bühnenbilder für das Theater und kennt von daher viele Stücke; er ist ein Filmfreak; er liest viel, und Kunst hat er von der Pike auf studiert.

Ich erlebe bei ihm, was ich im Berufsleben stets vermisst habe: Begeisterungsfähigkeit für die Sache; Inspiration; Anerkennung und Übereinstimmung, die nicht auf faulen Kompromissen beruht, sondern Resultat gründlicher, tiefgehender Diskussionen ist. Nie hört man von ihm billige Phrasen oder Allgemeinplätze. Alles an seinen Ansichten ist hart erarbeitet. Die Bekanntschaft mit ihm ist ein großer Gewinn für mich. Hoffentlich gilt das auch umgekehrt.

Einige Tage später suche ich ihn erneut auf. Ich hatte mir ein Bild von ihm ausgesucht und möchte es abholen. Er kommt noch einmal auf unser Gespräch zurück und meint: die Zeile vom müden Menschen im Gedicht Walking Around sei vielleicht der Anti-Alltagsmensch, der aufgehört habe, an die Zukunft zu glauben und sich weigert, seine Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Er macht nicht mehr mit; die Gesellschaft sieht in ihm eine Gefahr für sich, weil er nicht mehr funktioniert.

Dann sprechen wir über meine These, die Popularität Edward Hoppers hänge vielleicht damit zusammen, dass dessen Themen jedem zugänglich seien. Damit ermögliche er vielen einen direkten Zugang zu seinen Werken. Ich kam darauf, weil Zezo sich über Hoppers Berühmtheit wunderte. Künstlerisch sei er kein so Großer; er habe viele handwerkliche Mängel bei ihm entdeckt.

*

Hole in der Buchhandlung Bittner einige Bücher von Handke ab, die ich bestellt hatte. Das ist immer mehr als ein Kaufvorgang. Wir reden über Handke und sind uns einig, dass dieser einer der wenigen Schriftsteller ist, die das Prädikat Dichter für sich in Anspruch nehmen könne. Dann schenkt er mir ein handsigniertes Buch von Handke.

Hatte mir von Handke u.a. die drei Versuche bestellt. Imponierend, wie er beispielsweise die diversen Müdigkeitszustände beschreibt; in Bildern, wie er immer wieder selbst betont. Seine Darstellung des geglückten Tages hilft mir, mich für alltägliche Ereignisse zu sensibilisieren; gerade auch für die sogenannten unbedeutenden. Aber gibt es das überhaupt, das Unbedeutende? Der Flug des Vogels; die Wolken am Himmel; das Licht des heraufziehenden Tages; die Wärme des Ofens; ein Gespräch mit dem Nachbarn; das Warten; das Hoffen? Ist das etwa unbedeutend? Man muss nur verstehen innezuhalten und sich seinen Tag gestalten, selbst schaffen, ihm Sinn zu verleihen, dann gewinnt alles eine neue Bedeutung. Das ist das Geheimnis der Versuche.

*

Abends ruft mein Bruder Klaus an. Er hat noch einmal meine Gedichte, einige Briefe und meinen Text über den verstorbenen Freund gelesen und ist erstaunt über die literarische Form, die gerade auch dieser hat. Er habe diesen Text zunächst als unmittelbare Reaktion meiner Betroffenheit über den Freitod Helles verstanden.

Ich hatte mir eine derartige Reaktion schon früher gewünscht, muss Klaus aber aufgrund seiner beruflichen Belastung einiges nachsehen. Zurzeit malt er kaum, was hoffentlich kein Dauerzustand wird. Aber der Lehrerberuf frisst die Leute buchstäblich auf: ständig geht es mit Korrekturen u.ä. in die Freizeit und sogar Ferien. Da muss er sich jede anderweitige Beschäftigung immer erst erkämpfen.

Wir kommen überein, uns wieder öfter auszutauschen; vielleicht per E-Mail.

*

Lese den Roman Junges Licht von Ralf Rothmann an einem Tag. Mehr Zeitaufwand lohnt nicht. Der Roman enthält sehr gute Milieu-Darstellungen, ist aber ästhetisch nicht allzu anspruchsvoll. Diesen Eindruck hatte ich schon bei Wäldernacht.

Man kann bei Rothmann lernen, wie man das Leben im Arbeitermilieu schildert. Aber mir fehlt die Transformation, dieses Mehr als eine naturalistische Darstellung. Was mir imponiert, ist die Warmherzigkeit und Empathie, mit der R. seine Figuren schildert, ohne dabei sentimental zu werden. Er kann ohne Zweifel Charaktere darstellen. Und dann findet sich ein Satz, der die ganze Lektüre lohnt: Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.

*

Schauen uns zum gefühlten zehnten Mal den Film Kinder des Olymp von Marcel Carné mit den unvergleichlichen Jean-Louis Barrault als Baptiste, der schönen Arletty als Garance und Pierre Brasseur als Schauspieler Frédérick an. Welch ein Kunstwerk, in Zeiten der deutschen Besetzung Frankreichs unter extrem schwierigen Bedingungen bei einer Drehzeit von zwei Jahren produziert. Die ganzen Kulissen mussten abgebaut und in Südfrankreich wieder aufgebaut werden, daher die lange Produktionszeit. Nichts davon merkt man dem Film an. Er demonstriert den (Über-) Lebenswillen der Menschen. Ist von einer Leichtigkeit und Melancholie gleichzeitig. Die Kunst zu leben und zu lieben – das ist die Botschaft des Films, gipfelnd in der Aussage: Die Liebe ist doch so einfach.

Während der Pausenunterbrechung schauen wir uns im Foyer um: viele in die Jahre gekommene Liebespaare scheinen über das Vergehen der Zeit zu sinnieren. Ich beobachte ein älteres Paar – geschätzte 75 Jahre alt beide. Er drückt ihr stumm die Hand. Angerührt. Mir scheint, beide verdrücken ein paar Tränen. So geht es wohl den meisten. Alle scheinen entschlossen, beim nächsten Termin wiederzukommen. Wie Kinder ins Puppentheater gehen, so gehen wir in den Film: wir sind eben Die Kinder des Olymp.

*

Lese von Jürgen Becker: Felder; in einer Erstausgabe mit persönlicher Widmung. Der Text erschien erstmals 1964. Mein Bruder Klaus schenkte mir das Buch. Es handelt sich um experimentelle Literatur. Erläutert wird sie in einem ausgezeichneten Nachwort von Heinrich Vormweg. Becker selbst schreibt über sein Werk: Dieser Text demonstriert nur die Bewegungen eines Bewusstseins durch die Wirklichkeit und deren Verwandlung in Sprache. Bewusstsein: das ist meines in seinen Schichten, Brüchen und Verstörungen; Wirklichkeit: das ist die tägliche, vergangene, imaginierte. Sie lesen nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt hier, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise, die aus dem jeweiligen Vorgang kommt. So entstehen Felder; Sprachfelder, Realitätsfelder etc. (153 f.)

Becker sucht für alle Realitätsausschnitte, von ihm Felder genannt, einen spezifischen literarischen Ausdruck. Ähnlich wie bei einer anspruchsvollen Lyrik muss man sich in die Texte einlesen. Sobald das gelingt, wird es zunehmend interessant und anregend. Und wieder einmal zeigt sich: nichts ist so spannend wie der Alltag.

*

Anhaltendes Winterwetter. Das Vogelfutter geht zu Ende. Hatte beim letzten Einkauf keines mehr bekommen. Verfüttere jetzt Müsli.

*

In Zimmerschied kümmere ich mich um meinen alten Nachbarn, Willi Breibach. Ehemaliger Holzarbeiter. Kaufe für sie ein; u.a. Weintrauben (!?); Willi wundert sich über den Preis: 14 Euro für Weintrauben im Februar. Er wollte unbedingt welche.

*

Lese weiter Beckers Felder und parallel dazu Handkes Geschichte des Bleistifts. Für meine Zugänge will ich heute das Kapitel über Einsamkeit schreiben. Vielleicht auch ein anderes. Man weiß ja im voraus nie, wie es angeht. Hauptsache: Schreiben.

*

Lese in Handkes Geschichte des Bleistifts: Die Verzweiflung ist ein Entsetzen: das ist ihr Name (sie beginnt mit Entsetzen). Dabei erinnere ich mich, dass ein Bekannter – immerhin ist er Professor für irgendetwas – nach der Lektüre meiner Gedichte darüber verwundert war, wie oft ich von Entsetzen rede. Ich antwortete ihm darauf: Welches Gefühl sollte einem beim Anblick der Welt denn kommen? Ich habe später meine Gedichte durchgeblättert. In 25 Gedichten war dreimal von Entsetzen die Rede. Und das hatte ihn nun so sehr erschreckt.

*

Vieles wäre besser mit mir, könnte ich nur einverstanden sein mit meiner Müdigkeit; könnte ich ruhen in meiner Müdigkeit. (Handke) Auch ich fühle ständig diese Müdigkeit in mir; oft schon nach der Lektüre weniger Seiten. Ich muss mich dann ausruhen. Ist es die Erschöpfung, die mich bei der Lektüre solcher Texte erfasst? Oder ist es eine viel tiefer liegende Daseinsmüdigkeit? Jedenfalls: wenn ich ermüde, kann ich nicht lesen; schreiben schon gar nicht. Ich muss, denkend, mein eigenes Denken vernichten. Ich kann mich nur durch das Schreiben denken.

Ich würde es so formulieren: Ich kann nur schreibend meine Gedanken ordnen und festhalten. Nur indem ich schreibe, gewinnen meine Gedanken Konturen; mache ich sie gewissermaßen feuer- und wasserfest. Im Schreiben erhält das Denken materielle Gestalt, Substanz. Es lässt sich wieder abrufen. Ansonsten zerfließt alles und ist schwer zugänglich. Und wie ist es mit dem Erinnern? Das ist ein eigener Vorgang mit einer ganz anderen Logik.

*

Lese in einem Buch über Hundertjährige, das mein Malerfreund Zezo mir überlassen hat. Es handelt sich um Lebenserinnerungen. Ganz anheimelnde, rührende Gespräche der Zurückgebliebenen mit ihren längst verstorbenen Frauen oder Geliebten sind darunter. Man kann daran lernen, was wirklich wichtig im Leben ist. Kein Schmu mehr, kein Drumherumreden: Die Liebe, der Himmel, die Sterne, die Seele, die Blumen, die Sonne, das ist was zählt. Weniger die leibhaftigen Menschen. Sie finden in die Seelenwelt der Hundertjährigen keinen Eingang mehr.

*

Fahre nach drei Wochen Zimmerschied zurück nach Köln. Es ist schön wieder hier zu sein. Vor 37 Jahren haben wir uns kennengelernt. Petra hat für den Tag einiges vorbereitet; wir entschließen uns aber, den Nachmittag im Eigelstein-Viertel zu verbringen. Wir lieben dieses Viertel wegen der kleinen Geschäfte, Cafés, Lokale (unter denen auch das volkstümliche Weinlokal Vogel ist). Außerdem befindet sich dort unser Lieblings-Kino: die Filmpalette.

Mittags gehen wir ins Restaurant Breuer; Frau Breuer und ihr Sohn kochen hervorragend. Ohne Schnickschnack, aber überaus wohlschmeckend. Die Atmosphäre und Einrichtung des Restaurants hat etwas antiquiertes, aber das macht es schon wieder reizvoll. Vielleicht passt gerade das zu uns. Nach dem Essen, Wein und Kaffee gehen wir in ein kleines Lädchen nahe der Eigelsteintorburg, das wir stets besuchen, wenn wir im Viertel sind. Oft schauen wir uns nur die originellen Sachen an, die hier ausliegen, ohne etwas zu kaufen.

Wir schenken uns normalerweise nichts zu den sog. Festtagen. Wir brauchen keine besonderen Anlässe dafür. Aber heute ist mir danach, meiner Liebsten etwas zu schenken. Am Ende wird es ein selten schönes Halsband mit kleinen Plättchen; dazu passend ein Doppelring, der über zwei Finger aufgesteckt wird. Und eine italienische Handtasche aus edlem Leder; handgearbeitet und wie alles Italienische: chic.

*

Wie immer, wenn wir uns länger nicht gesehen haben, gibt es viel zu diskutieren. Petra liest von Dieter Forte: Auf der anderen Seite der Welt. Sie ist sehr angetan davon, und so werde auch ich den Roman demnächst lesen. Und dann – wie jedes Mal – diskutieren wir über meine Schreibversuche. Wir diskutieren anhand von Texten meiner Zugänge. Diesmal geht es um das Thema Schreiben. Es geht mir nicht darum, alle Aspekte des Schreibens darzustellen – das wäre ein wissenschaftlicher Essay über das Schreiben – sondern um die Bedeutung des Schreibens für mich; meine Schreiberfahrungen; meine innersten Antriebe. Über all das schreibe ich ohne Systematisierungszwänge oder Anspruch auf Vollständigkeit.

Wir diskutieren über den Unterschied von Sprechen und Schreiben. Auch das Sprechen strukturiert unsere Gedanken. Aber das Sprechen ist gegenüber dem Schreiben spontaner; es kann auf Nebengleise abdriften; den Faden verlieren; abgelenkt werden durch das stets vorhandene Gegenüber, den Zuhörer. Dieser kann den Sprechenden irritieren: durch Stirnrunzeln; Desinteresse; aber auch durch zustimmendes Nicken usw. All das kann das Sprechen in eine ungewollte Richtung drängen. Man kann sagen: das Sprechen ist etwas Flüssiges, noch nicht Geformtes. Das unterscheidet es vom Schreiben.

Wenn Kleist von der Verfertigung von Gedanken beim Sprechen schreibt, erfasst er genau den Übergang vom noch formlosen Denken zur Sprache, die immer schon eine Struktur darstellt. Weiter führt dieser Gedanke, wenn man von der Transformation des Denkens durch Schreiben sprechen würde. Schreiben ist schon vom Zeitaspekt oder Tempo her ein viel langsamerer Vorgang und lässt Raum fürs Überlegen. Es hat gewissermaßen höhere Hürden zu überwinden als das Sprechen. Aber der Unterschied ist nur gradueller Art: ich muss nur daran denken, was es mir ausgemacht hat, vor Publikum zu sprechen; als Student im Seminar etwa; wie viel Angst ich hatte, etwas Falsches zu sagen, mich zu blamieren. Selbst bei vorbereiteten Redebeiträgen ging es mir oft so. Womit wir beim nächsten Aspekt wären: dem Denkprozess. Auch dieser macht Stadien durch: vom noch unklaren, ungefähren Gedanken zum fertigen Satz.

Wir sehen also: Denken, Sprechen, Schreiben – sie stellen Entwicklungsstufen und Formen e i n e s Prozesses dar, in dem aus noch fließenden Gedanken die Struktur eines Satzes entsteht – bis hin zur festen Form des Geschriebenen. Es handelt sich gleichzeitig um einen Reduktionsvorgang: um die Reduktion von Komplexität (Luhmann). Ein Gedanke kann in kurzer Zeit viele Denkschleifen drehen; das gesprochene Wort schon weniger; der geschriebene Satz stellt demgegenüber die äußerste Form der Reduktion dar. Insofern ist er eine schärfere Form der Selektion: aus einem Chaos fliehender, rauschender Gedanken wird ein relativ festes Gebilde.

Nach dieser intensiven Diskussion, bei der wir uns wie immer gegenseitig beflügeln, ist uns nach Handfestem: einem Glas Champagner; Mus aus Kichererbsen; Avocados und italienischen Frikadellen.

Später beim Wein schauen wir uns den Film Sprich mit ihr (Hable con ella) von Pedro Almodóvar an; dieses melodramatische Geschehen um Liebe, Tod und Verhängnis, das uns jedes Mal stärker anrührt. Überhaupt die Filme von Almodóvar: sie haben dieses Überschüssige, Mystische, das große Kunst ausmacht. Und sie sind bis ins Detail gut gearbeitet; mit hervorragenden Schauspielern, mit denen er schon jahrelang zusammenarbeitet. Eine verschworene Truppe offenbar.

*

Gehen zu einem Vortrag von Albrecht Müller über sein Buch Die Reformlüge in die Buchhandlung Ludwig im Hbf. Treffen dort auch Wolfgang Lieb. Anschließend werden wir ins Campi am Wallrafplatz eingeladen. Die Wände hängen voll Fotos von Künstlern, Politikern und anderen Berühmtheiten, die hier verkehrt haben. Wir befinden uns in illustrer Runde: dem Verleger Droemer; Altoberbürgermeister Norbert Burger (recht aufgeräumt und gar nicht so spießig wie ich dachte); dem Betriebsratsvorsitzenden des Verlages Lübbe-Bastei; der Bürgermeisterin Renate Canisius; dem Buchhändler und Wolfgang Lieb, mit dem wir anschließend an diese sozialdemokratisch-gemütliche Runde noch einen Wein im Morio trinken.

*

8.3.: Frauentag. Wir gehen zum Kurden Hayal, einem Weinlokal mit guter Küche. Die Frau kocht selber. Spezialität: Vorspeisenteller mit verschiedenen Gemüsen und Schafskäsevariationen. Und Lammgerichte. Petra nimmt ein Lammsteak; ich eine Grillplatte mit diversen Zutaten. Dazu eine Flasche türkischen Rotweins und zum Abschluss den obligatorischen türkischen Mokka.

Wir mögen die Atmosphäre in diesem Lokal: gedämpfte, gute Musik. Die alten Möbel; die freundliche Art des Chefs. Man kann sich unterhalten und trifft hin und wieder Leute, die man kennt.

*

Bin spontan nach Zimmerschied gefahren, nachdem es mit Petra knirschte. Anlass war ihr Text über Kunst. Ich brachte meine Zustimmung wohl nicht so recht rüber; regte dazu noch an, den Text zu ergänzen und einiges zu verbessern. Das nahm sie übel und meinte, ich würde sie distanzieren wollen und auf diese Weise mein eigenes Schreiben immunisieren.

Ihre Empfindlichkeit jeglicher Kritik gegenüber teile auch ich. Vielleicht ist es eine Berufskrankheit; man war diesen ewigen Kritikgestus irgendwann einfach satt.

Ich schloss daraus, dass eine gewisse Distanz gut wäre. Dann kann jeder in sich gehen, zur Ruhe kommen, nachdenken. Hier fällt einem das leicht. Der Frühling ist buchstäblich ausgebrochen. Die Natur explodiert. Überall Spitzen und Triebe. Die Vögel überbieten sich mit ihrem Gesang. Vor Tagen sind die Kraniche zurückgekehrt, wie mir die Nachbarin berichtet. Der Winter war sehr lang; man hatte ihn irgendwann über. Jetzt ist das Grün zurück; die Sonne scheint, und es wird endlich wärmer. Der Frühling und unsere Nachdenklichkeit werden es schon richten.

*

Jürgen Becker hat mir geschrieben. Hatte ihm vor Wochen meine Lektüre-Eindrücke über die Felder mitgeteilt (auf Anregung von Klaus hin). Becker wundert sich, dass so alte Texte von ihm überhaupt noch gelesen werden und freute sich über meine Reaktion. Er schickt den Sonderdruck Hinterlassenes Terrain mit, indem er sich über die Felder äußert. Da sein Sohn Boris in unserer Nähe ein Foto-Atelier hat, würde man sich dort vielleicht einmal treffen. Und er teilt mit, dass er keinen PC besitzt. Man muss sich also in alter Manier Briefe schreiben. Wie schön!

*

Nachmittags setze ich mich zu Willi Breibach, unserem Nachbar. Wir sitzen vor dem Haus in der Sonne. Er in einem kanadischen Holzfäller-Hemd mit Strickjacke. Bei 20 °. Willi, der stets aufblühte, wenn wir ins Diskutieren kamen – worüber auch immer: über seine Arbeit, das Boxen, den Fußball, die Schlechtigkeit der Menschen – er sitzt stumm da und nimmt kaum noch wahr, was um ihn herum geschieht. Dieser ehrliche, aufrechte Kerl. Was hat er von seinem Leben gehabt? Schufterei von klein auf. Wie oft hat er erzählt, dass er und sein Bruder schon vor der Schule aufs Feld mussten. Oder die Tiere füttern. Mit vierzehn Jahren ging es dann in den Wald. Holzfällen im Akkord. Wie ihm ein schwerer Ast aus zehn Metern Höhe ins Kreuz fiel, alles grün und blau war und er trotzdem am nächsten Tag wieder gearbeitet hat. Wie sie von Vorgesetzten angetrieben und getriezt wurden. Dass sein Vater ihm eine Beziehung zu einem Mädchen, das er hatte heiraten wollen, verboten hat. Im Dorf hieß es, jetzt sei sein roter Mercedes-Sportwagen-Oldie seine Braut. Viele Boxkämpfe und Fußballspiele haben wir gemeinsam angeschaut.

All das geht mir durch den Kopf, als ich ihn so sitzen sehe. Er ist am Ende, und ich kann ihm nicht helfen. Höchstens für ihn einkaufen; den Hund ausführen und ihm in seiner Stummheit Gesellschaft leisten.

Meine letzte Begegnung mit ihm kurz nach unserem Treffen: ich sehe ihn mit einer Gießkanne auf dem Friedhof stehen. Ihm sackt ständig die Hose runter. Ich gehe zu ihm runter und binde ihm die Hosenträger fest. Dann bringe ich ihn nach Hause.

Während ich über meine Eindrücke von dieser letzten Begegnung mit ihm schreibe, wird er von einem Krankenwagen abgeholt. Wie ich später höre, wird er nach Lahnstein in die Psychiatrie gebracht. Er wird nicht mehr nach Hause zurückkehren. Einige Tage später ist er gestorben.

*

Sehe auf ARTE einen Film über Charly Parker, gespielt von Forest Whitaker, den wir schon aus dem Film Smoke kennen. Ein einziges, bedrückendes Dokument der Rassendiskriminierung ist dieser Film über Charly Parker, diesem herausragenden Altsaxophonisten und Bebop-Interpreten. Man nannte ihn ob seiner spezifischen Spielkunst The Bird. Woher haben Leute wie er – man könnte Dutzende weitere hinzufügen – die Kraft und die Motivation für ihre Musik genommen? Wohl aus dem tiefsten Gefühl heraus, sich auszudrücken und – wie auch immer – zu überleben. Die nackte Wut überkommt einen, wenn man sieht, wie diese Leute nach allen Regeln der Kunst ausgenommen wurden. Und wie einer nach dem anderen durch Drogenkonsum, Alkoholismus, Mißachtung und Vergessen zugrunde gingen. Eine ewige Schande für die selbsternannte Weltmacht der Menschenrechte. Keiner soll glauben, die Rassendiskriminierung gehöre der Geschichte an. Sie ist lebendig wie eh und je; tarnt sich nur etwas geschickter. Ein Blick in die Gefängnis-Statistik genügt.

*

Soeben wird gemeldet, der US-Senat habe mit 51 zu 49 Stimmen beschlossen, die Öl- und Gasquellen in einem Naturschutzgebiet in Alaska auszubeuten. Herr Bush prophezeit daraufhin der amerikanischen Wirtschaft ein glänzendes Wirtschaftswachstum.

*

Sitze mit einem Glas Rotwein im Wintergarten und lese meine und Jürgen Beckers Gedichte. Die Bäume wiegen sich im Wind, und der Horizont glitzert silbern durch die Tannen.

*

Besuch im Kölner Filmhaus. Sehen den Film von Marcel Schwierin über die Ästhetik des Dritten Reiches. Eine sehr spezifische Schönheit; auf den Führergeschmack zugeschnitten. Ein gut gemachter Film. Die Nazis wussten die damals neuen Medien zu nutzen. Zum Teil erklärt das ihren Aufstieg.

Wir schreiben an Marcel und teilen ihm unseren positiven Eindruck mit.

Rufe seinen Vater, Gerhard Kraiker, an. Er ist munter und interessiert wie immer. Wir kündigen unseren Besuch an, was ihn offensichtlich freut. Und er freut sich über unsere Reaktion auf den Film von Marcel. Vaterstolz.

Gerhard ist immer noch an der Uni aktiv. Am 30.9. wird er offiziell verabschiedet. Er ist jetzt 68 Jahre alt. Lädt uns zur Abschiedsfeier ein.

*

Lese Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, nachdem ich vor einigen Tagen bereits Eine Frau, eine Wohnung und ein Roman von ihm gelesen habe. Beide Romane sind leicht und geistreich. Kluge Lebensweisheiten, gelungene Formulierung. Zu bewundern ist seine Fähigkeit, kleinste Details aus dem Alltag wahrzunehmen. Große Literatur ist es nicht; aber sehr gut zu lesen. Seine Schilderungen über die Lebens- und Gefühlslagen eines Schriftstellers teile ich größtenteils. Z.B. seine Formulierung: Ich erleide so etwas Ähnliches wie eine Ermattung durch zuviel Wirklichkeit. Das trifft eine meiner Grundempfindungen. Auch Stellen, wo er von seiner Kompliziertheit spricht, treffen auch auf mich zu. Z.B. meine Lärmempfindlichkeit.

Ich bin jedes Mal froh, wenn Literatur mir Einsichten verschafft und mir den Spiegel vorhält. Dann wird sie zum Begleiter und Lebenshelfer. Das tut mir gut. So an diesem Morgen, an dem es neblig und regnerisch ist. Also zurück zu Text und Tee.

*

Keine rechte Muße zum Schreiben. Will mein Fahrrad zur Reparatur nach Bad Ems bringen, aber die Werkstatt ist vor kurzem abgebrannt, wie mir mitgeteilt wird. Ich habe Probleme, Ersatz zu finden.

Dann funktioniert der neue Computer nicht. Soll in den nächsten Tagen mit professioneller Hilfe installiert werden.

Ich versuche, die Motorsäge in Gang zu bringen. Lese die Gebrauchsanweisung durch. Aber die Gebrauchsanweisung ist gewissermaßen nicht zu gebrauchen.

Frühabends kommt der Dachdecker und sieht sich die beschädigte Stelle am Dach an. Sein Fazit: am besten wäre es, das ganze Dach zu erneuern, da einige schadhafte Stellen vorhanden sind.

Einen Besuchstermin von Helmut Martens sage ich ab. Auch eine Fahrradtour mit Wolfgang und Renate Lieb nach Ditzum müssen wir wegen schlechten Wetters verschieben.

Will jetzt wenigstens einige Knittelverse schreiben. Als Fingerübung.

*

Sonntags zur Pferderennbahn, wo wir auf ein Pferd namens Königstiger setzen und 101 Euro gewinnen.

*

Im Hayal treffen wir Wolfgang und Renate Lieb. Da das Wochenende gut werden soll, schlagen wir vor, unsere Ostfriesland-Tour jetzt zu machen. Wir bekommen problemlos über Ulrike Nie ein Ferienhaus in Ditzum. Wolfgang und Renate wohnen oben; wir unten. Fahrradtouren Richtung Holland; Emden (über das Uphuser Meer); Richtung Leer (mit Station in Jemgum). Nach einer Woche fahren Wolfgang und Renate zurück. Wir bleiben noch: besuchen die Geschwister in Emden und Kraikers in Oldenburg. Über ihn, einen der Herausgeber der Tucholsky-Ausgabe, bestellen wir die Gesamtausgabe mit 40 % Autorenrabatt.

Tage später noch einmal nach Emden, wo wir Neffe Joke treffen, der mittlerweile in einer Rockband spielt. Spiele mit ihm auf der E-Gitarre, was Riesenspaß macht wegen der Klangdichte.

Fahren noch zum Campener Leuchtturm und von da aus mit dem Fahrrad nach Greetsiel; ca. 30 km. Danach zurück nach Köln, in die große Hitze (34 °).

17.7. – 22.7.: Berlin

Wir fahren nach Berlin. Petras Geburtstagswunsch. Wir kaufen ihr in der Marburger Straße – in der Nähe vom KaDeWe – zwei sehr schöne Kleider: Unikate. Den Abend verbringen wir am Prenzlauer Berg; bummeln herum und gehen Essen. Alles in allem gut, aber nichts Besonderes. Mir gefällt es hier nicht; zu monokulturell: Neugrüne; Gutbetuchte; Alternative.

Höhepunkt des Aufenthalts: der Besuch der Goya-Ausstellung in der restaurierten Alten Nationalgalerie. Als wir eine halbe Stunde vor der Eröffnung ankommen, stehen bereits Hunderte davor und warten auf Einlass. Dank einer geschickten Regie dauert es nur 50 Minuten, bis auch wir eingelassen werden. Die Zeit des Aufenthalts ist begrenzt, damit weitere Gruppen die Ausstellung sehen können. Wir beschränken uns auf die Sektionen Visionen, Ängste und Träume. Unglaublich, was Goya auf seinen Caprichos auf engstem Raum an Genauigkeit und Details unterbringt. Und dann sehe ich im Original dasjenige Capricho, über das ich so oft mit meinem ehemaligen Deutschlehrer Peter am Hessen-Kolleg gesprochen habe: Der Schlaf (Traum) der Vernunft gebiert Ungeheuer. Welch ein Moment. Ich denke warmherzig an meinen alten Lehrer.

Wir sind glücklich, die Ausstellung gesehen zu haben, zumal wir zufällig zu dem Zeitpunkt in Berlin waren.

*

Das Dach unseres Hauses in Zimmerschied ist erneuert worden. Sieht mit der neuen Kaminverkleidung sehr gut aus. Jetzt noch das Gerüst abgebaut, und dann ist der Kopf wieder frei für andere Dinge. An kontinuierliches Arbeiten war natürlich nicht zu denken in letzter Zeit.

*

Werde ganz überraschend von der Zeitschrift Das Gedicht, zu einer internationalen (deutschsprachigen) Lyrik-Tagung nach München eingeladen. Hatte ihnen mein Gedicht Alte Liebe zugeschickt, das sie sehr gut fanden. Die Tagung wird vom Schriftsteller Kurt Drawert und dem Herausgeber dieser bedeutenden Lyrik-Zeitschrift, Anton G. Leitner, moderiert.

25.8. – 8.9.: Ligurien

Haben das Haus von Radgar, einem Bekannten aus der Kneipe, gemietet. Wegen sintflutartiger Regenfälle können wir nicht über die Schweiz anreisen, sondern fahren über Frankreich Richtung Nizza und dann östlich nach Ligurien. Ein eher ernüchternder Aufenthalt. Wir können uns kaum bewegen in den Bergen. Die wenigen Wege zum Wandern sind vom Regen aufgeweicht; die Küste ist sehr unzugänglich; uns steht nur ein winziger Strandabschnitt zur Verfügung; alles andere haben die Hotels belegt. Wir machen das Beste draus, sind aber doch ziemlich frustriert. Dafür lohnt sich die lange Anfahrt nicht.

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Von der Nationalbibliothek erhalte ich die Nachricht, dass mein Gedicht Wozu Lyrik in die nächste Edition aufgenommen wird.

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Habe über einen längeren Zeitraum hart gearbeitet. Über 40 Texte für mein Buch Zugänge sind fertig; Petra und Klaus lesen die Texte. Petra ist sehr engagiert; es ist unser gemeinsames Projekt. Jetzt muss noch ein Vorwort, eine Kurzbiografie und ein Exposé geschrieben werden. Dann müssen die Verträge unterzeichnet werden, und das ganze Paket geht zu BoD (Books on Demand). Mein erstes literarisches Buch mit Prosatexten; nach dem Lyrikband Dem Lärm der Wolken lauschen, der im Eigenverlag herauskam.

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Zezo fragt an, ob ich bereit wäre, ein Laudatio zu seiner nächsten Ausstellung in Ratingen bei Düsseldorf zu halten. Ich muss ihm absagen, da wir schon eine Nordreise gebucht haben.

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Fahre am 30.9. zur Verabschiedung Gerhard Kraikers nach Oldenburg. Fahre vor der Veranstaltung bei ihm vorbei, um die Tucholsky-Ausgabe abzuholen. Treffe dort seine Frau Gisela und Sohn Marcel, den ich vor ca. 30 Jahren zum letzten Mal gesehen habe. Wir verbrachten damals einen Kurzurlaub mit Kraikers an der Nordsee.

Die Feier selbst: eine würdige Veranstaltung, die der Person Gerhards und seiner Leistung für die Universität gerecht wird. Aus allen Reden spricht Hochachtung. Dieter Eißel, mittlerweile Professor in Gießen, moderiert die Veranstaltung. Auch er ein langer Weggefährte. Überraschend für mich: ich werde mehrfach erwähnt. Als Mitautor unseres gemeinsamen Buches zur Marxschen Staatstheorie. Dann, als Kraiker über seinen Werdegang berichtet, als einer seiner ersten Studenten; und kurioserweise Klaus dann als einer seiner ersten Studenten in Oldenburg. Ich erinnere mich der vielen gemeinsamen Aktivitäten: mehrere Seminare habe ich als sein Tutor mit ihm durchgeführt; dann habe ich 1974 bei ihm meinen Magister Artium und 1984 meine Promotion bei ihm gemacht.

Während des Studiums in Gießen und später nach unserer Übersiedelung nach Bremen gab es viele private Kontakte.

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Liebs laden uns zum Essen zu sich nach Hause ein. Renate hat ein köstliches Menü gezaubert. Wolfgang berichtet von der Gründung eines Vereins zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung (IQM). Er fragt uns, ob wir Gründungsmitglieder werden möchten. Und mich fragt er, ob ich bereit wäre, mit ihm gemeinsam in den Vorstand zu gehen; er als 1. und ich als 2. Vorsitzender. Am nächsten Tag sagen wir zu.

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Erleben in Zimmerschied einen Oktober wie selten: blauer Himmel; windstill; wunderbare Herbstfarben. Machen täglich eine Wanderung oder eine Radtour. Fühlen uns ziemlich fit.

Die Gedichte für die Münchener Lyrik-Tagung sind ausgewählt und abgeschickt. Ein gutes Gefühl.

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Fahren nach Pleisweiler zur ersten Mitgliederversammlung des neuen Vereins. Unterwegs kaufen wir in Diedesheim ca. 50 Flaschen Wein und essen im Winzervereinslokal. Dann geht es weiter nach Pleisweiler, wo Albrecht Müller in einem ehemaligen Wasserschlösschen wohnt, das er modernisiert hat.

Die Sitzung verläuft planmäßig; Wolfgang und ich werden zu Vorsitzenden gewählt; im Bürgermeisteramt lassen wir unsere Unterschriften beglaubigen, und damit ist der Verein gegründet und handlungsfähig. Es geht vor allem darum, Spenden für die Nach-DenkSeiten reinzuholen.

Nach der Sitzung fahren wir nach Weißenburg (Wissenbourg) ins Elsaß. Mit Liebs schlendern wir durch die Gassen und kaufen herrlichen Käse u.a. schöne Sachen ein.

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Höre eine Radio-Sendung über Franz Hessel; Freund Walter Benjamins und vieler Künstler.1 Hatte gute Sprüche drauf: In Deutschland muss man müssen, um zu dürfen. Lese einiges von ihm, z.B. den Roman Der Alte. Stark die Briefstellen der Tochter Lella über das Leben und seine Formulierung: Er liebte seinen Körper wie ein altes Haustier. Beachtenswert das Nachwort von Bernd Witte.

Ich bewundere seine Beobachtungsgabe, seine Sensibilität für kleinste Dinge, seinen Humanismus in allem, was er beschreibt. In der kleinen (in Wirklichkeit sehr großen) Prosa: Ermunterung zum Genuss, schreibt er von der schwierigen Kunst des Spazierengehens. Im Nachwort dieser liebevoll gestalteten Ausgabe (Verlag Brinkmann u. Brose) findet sich Walter Benjamins: Die Wiederkehr des Flaneurs. Originalton Hessel: Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr bewohnen.

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Ich denke voller Wärme an meine Liebste: sie klingt so hell, so freudig, so lebendig, so voller Pläne. Dabei stets bei mir. Zur Hilfe bereit. Zur Liebe bereit.

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Mir fällt ein, dass ich bald für eine Woche nach München fahre, zu dieser Lyrik-Tagung. Ganz wohl ist mir nicht, obwohl ich ziemlich ruhig und selbstbewusst bin. Ich mag keine öffentlichen Veranstaltung; schon gar nicht, um Gedichte vorzulesen, die doch immer etwas Intimes offenbaren.

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Meine Lieblingsstunde: hinter den Tannen versinkt die Sonne. Ich lese Gedichte von Thomas Brasch und Kurt Drawert, den ich ja in München kennenlernen werde. Seine Gedichte gefallen mir. Und ich lese zur Einübung eigene Gedichte: laut. Wie fremd mir meine Stimme vorkommt.

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Treffe beim Einkauf unseren Elektriker Leonhard. Kahlköpfig. Hatte einen Tumor im Kopf und Krebs im Körper. Er blickt ganz verlegen, als wolle er um Entschuldigung bitten. Oder war es doch die fehlende Haarpracht?

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Endlich die Lyrik-Tagung in München. 40 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Slowenien. Zunächst lesen Drawert und Leitner eigene Gedichte. Viel zu viele. Dann stellen sich alle Teilnehmer mit mehr oder wenigen langen Gedichten vor. Nach einiger Zeit rauscht alles nur noch an einem vorbei.

Am nächsten Tag werden Gruppen eingeteilt. Jeder trägt ein Gedicht vor, das anschließend diskutiert wird. Leitner lobt mein Gedicht Alte Liebe wegen starker, sehr starker Bilder. Nachmittags übernimmt Drawert die Gruppe. Ich lese das Wolken-Gedicht. Drawert meint, es geht gut ein – vor allem, die ersten drei Strophen. Mit dem anschließenden Bruch im Gedicht kommt er nicht klar. Meines Erachtens: weil er es fehlinterpretiert. Er versteht die Wolken nicht als Projektionsfläche (so eine Teilnehmerin), sondern nimmt sie ganz wörtlich, als seien die Wolken das Subjekt. Er schlägt sogar vor, an Stelle der Wolken von Nebel zu sprechen. Damit wäre dann allerdings mein Gedicht vollständig zerstört.

Die Moderatoren, aber auch die Tagungsteilnehmer, sind angesichts der Fülle von höchst unterschiedlichen Gedichten völlig überfordert. Drawert gibt dies später beim Bier auch ungeniert zu. Da liegt der Konzeptionsfehler der Tagung.

Ich bin froh, als alles vorbei ist. So etwas werde ich mir nicht mehr antun. Es bringt so gut wie nichts.

Abends kommt Petra. Ich hole sie am Hauptbahnhof ab, und wir bummeln durch München: über den Karlsplatz und den Viktualienmarkt; später geht es in das Augustiner Brauhaus, wo wir nach einer Schweinshaxe ein herrliches Bier und einen noch herrlicheren Obstschnaps trinken; angeregt diskutierend mit einem Dr. Meyer aus Hannover, der als Projekt-Manager arbeitet und Interessantes von sich gibt. Seine Tochter wohnt in Köln-Porz und spielt Fußball.

Am nächsten Tag besuchen wir die große Franz Marc-Ausstellung im Lenbachhaus – einer ehemaligen U-Bahn-Station. Die Ausstellung präsentiert sich sehr anspruchsvoll. Petra ist begeistert und inspiriert; mir sagen die blauen Pferde etc. nicht viel.

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Erhalten die Nachricht, dass Gerhard Kraiker einen Herzinfarkt und eine Hirnembolie erlitten hat. Wir sind schockiert. Einen Monat nach der Pensionierung. Der Mann hat jahrzehntelang gesund gelebt; kaum Alkohol getrunken; täglich gejoggt usw. Man weiß nicht, was man dazu sagen soll: wozu das alles. Wir können nur hoffen, dass er durchkommt und sich einigermaßen von diesem doppelten Schlag erholt.

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Höre auf SWR 2 eine Musiksendung über Mozart. Darin sein Klarinetten-Konzert, eine seiner letzten Kompositionen. Der Sprecher zitiert Hegel: Wir hören traurige Musik, aber wir wissen nicht, worin die Traurigkeit besteht. Das trifft es ganz genau.

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Der kleine Aaron aus Zimmerschied ist gestorben. Vier Jahre alt. Ein ungewöhnlicher, tapferer Junge. Als wäre er nicht von dieser Welt. Zu seiner Mutter sagt er kurz vor seinem Tod: Ihr müsst nicht um mich weinen. Die Pastorin zitiert in ihrer Andacht ähnliche Aussprüche. Ihre Frage: War das nun ein ganzes Leben? kann niemand beantworten.

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Unser Neffe Ole kommt aus Karlsruhe zu Besuch. Ihm geht es schlecht. Will einiges mit uns besprechen. Er findet keinen rechten Zugang zum Studium dort. Das Reden tut ihm offensichtlich gut, obwohl wir natürlich keine Lösungen für seine Probleme wissen. Wir kommen aber miteinander klar, was vor allem auch an seiner offenen und angenehmen Art liegt. Er scheint ganz einfach die falschen Studienfächer gewählt zu haben. Hinzu kommt, dass er sich isoliert fühlt. Er sollte die Konsequenzen aus allem ziehen und vielleicht neu starten. Mehr können wir ihm auch nicht raten.

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Schauen uns im Museum Ludwig die Ausstellung Pariser Leben an. Danach die Sammlung Haubrich mit Bildern von Beckmann, Macke, Kirchner, Müller, Chagall, Kandinsky, Klee u.a.

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16.12.: Jokes 16. Geburtstag. Wir erinnern uns: Als wir endlich die Nachricht von seiner Geburt erhielten – er hatte sich Zeit damit gelassen – gingen wir mit einer Flasche Sekt und den Worten: Unser Kind ist da zu unseren Nachbarn in Zimmerschied. Emmy konnte sich nicht mehr einkriegen vor Lachen und sprach immer wieder davon.

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Mit einer Flasche Rotwein zu Zezo. Wir sprechen stundenlang über Filme, Theater (er ist u.a. Bühnenbildner), und natürlich über Kunst. Wir lieben beide das erzählende Kino, also Wim Wenders, Jim Jarmusch usw. Und wir reden (erneut) über Hopper und Cézanne. Hopper hält er für überschätzt (s.o.). Cézanne bewundert er sehr. Er sei ein Revolutionär in der Malerei gewesen; künstlerisch von höchster Brillanz.

Wir stellen fest, dass wir beide die großartige Cézanne-Ausstellung im Folkwang-Museum Essen gesehen haben. Petra und ich gemeinsam mit Nele.

Dann spricht Zezo davon, dass er seine Kunst der letzten zwei Jahre erst jetzt verstanden habe. Sie folge dem Gesetz des Schweigens. Ich verstehe nicht recht, was er damit meint und denke lange darüber nach. Schließlich schreibe ich einen kleinen Text darüber2. Er hatte erzählt, dass er in Konfliktsituationen immer öfter schweigt. Vielleicht sind seine Bilder Ausdruck dessen, was er sich dabei denkt, aber nicht ausspricht. Ich schicke ihm meinen Text, aber er schweigt auch dazu.

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Gestern Abend Diskussion mit unser Wirtin Gabi vom Basil‘s über Islamismus. Sie hält den Islam für eine besonders aggressive, menschenverachtende Religion. Wir halten dagegen und weisen darauf hin, dass alle Religionen fundamentalistische Strömungen haben. Schlimm sei, wenn diese politisch instrumentalisiert würden, wie im Iran, Israel und anderswo. Nach unserer Meinung handelt es sich weniger um ein Problem der Religion, als vielmehr um eines der Politik. Und oft steckt auch eine soziale Problematik dahinter.

Der Ingenieur Harald kommt hinzu. Er erzählt von Konflikten bei der Telekom. Die Gewerkschaft habe einmal mehr über die Köpfe der Leute hinweg eine Strategie beschlossen, von der er nicht wisse, ob er ihr folgen könne.

Man könnte schier verzweifeln: Überlege, ob ich ihm meine Bücher über eine beteiligungsorientierte Betriebspolitik empfehlen soll. Aber was soll es: Die Gewerkschaften lernen einfach nicht dazu: keine Kommunikation, keine Beteiligung. Eine interessante Frage wäre: Warum können sich Gewerkschaften nicht als lernende Organisationen verstehen? Offensichtlich deshalb, weil das organisationsinterne Wissen nicht weitergegeben wird, so dass jeder Funktionär glaubt, das Rad neu erfinden zu müssen. Der Slogan der alten Arbeiterbewegung: Wissen ist Macht gewinnt so eine ganz eigentümliche Bedeutung: Jeder Funktionär monopolisiert sein Wissen und benutzt es als eine Art Machtquelle.

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Sind zum Jahresausklang in Zimmerschied. Hier liegen 15 cm Schnee. Reden viel über das abgelaufene Jahr, das voller Aktivitäten und Ereignissen war: Skiurlaub im Allgäu; Karneval; Radtouren in Ostfriesland; Reparaturen am Haus; Kraikers Verabschiedung von der Uni; dann seine schwere Erkrankung; Gründung des Vereins zur Herausgabe der NachDenkSeiten; Urlaub in Ligurien; Berlin-Reise mit Goya-Ausstellung; Lyrik-Tagung in München mit zwei Lesungen; neue Computer; Fertigstellung meines ersten literarischen Buches Zugänge; Belebung der Freundschaft mit Liebs; Gespräche mit Zezo; Reiz des Ortswechsels zwischen Köln und Zimmerschied, mit langen Arbeitseinheiten, vielen Wanderungen und Radtouren, Sauna u.a. So kann es weitergehen.

1 Franz Hessel ist der Vater von Stephàne Hessel, der 93jährig aufrief: Empört euch!

2 Künstlertreff oder: Das Gesetz des Schweigens, in: Joke Frerichs: Begegnungen, 2007, 60 ff.

2006

Ende letzten Jahres erschienen die Zugänge. Wir haben das Buch an etliche Adressaten geschickt, und es kommen erstaunliche Rückmeldungen, mit denen nicht zu rechnen war. Teilweise von Leuten, die ich Jahrzehnte nicht mehr gesehen habe. So wirkt das Buch als Kommunikationsstifter.

Bei einem unserer Spaziergänge treffen wir Elias Weisgärber. Er hat seit einiger Zeit Vertrauen zu uns geschöpft, nachdem wir ihm einige seiner Bilder abgekauft und uns mehrfach unterhalten haben. Auch jetzt erzählt und erzählt er ohne Unterbrechung. Viel Privates und wie schwer es für ihn ist, sich durchzuschlagen. Wir müssen uns bei ihm neue Bilder ansehen. Eines wollen wir kaufen, aber er will die 30 Euro nicht annehmen. Bis ich die Formel präge: Auch künstlerische Tätigkeit ist Arbeit und muss bezahlt werden. Damit lässt er sich umstimmen.

Später bringe ich ihm ein Buch vorbei. Er liest es in einem durch und ruft zurück: Insbesondere der Text über Müdigkeit hat ihm gefallen. Und der Ausdruck Oblomovieren behagt ihm.

Auch Klaus hat endlich das Buch erhalten, auf das er tagelang gewartet hat. Er hebt die vielen Stilarten hervor, je nach Thema variiert. Er will mit dem Chefredakteur der Emder Zeitung reden. In diesem Zusammenhang spricht er von der Idee, seine Werft-Bilder mit einzubeziehen – als Illustration zu einem Text über das Buch. Eine sehr gute Idee.

Die vielen positiven Urteile motivieren mich; warum den Schwung nicht mitnehmen in ein neues Projekt?

12. – 24.1.: Winterurlaub im Allgäu

Wir konnten täglich langlaufen, was ordentlich Kondition bringt. Eine ganze Talrunde mit der Ausweitung bei Bolsterlang. Nachmittags dann meist noch eine Schneewanderung durch das herrliche Tal. Mit dem Lift lassen wir uns in Ofterschwang auf den Berg bringen und fotografieren von oben das Tal und die umliegenden Berge.

In der Pension gibt es gute Hausmannskost einschließlich der berühmten Käsespätzle, die viel Arbeit machen und uns noch nicht einmal besonders gut schmecken. Aber die Wirtin Linde ließ sich nicht davon abbringen, sie uns zu kredenzen. Hans Häberle bietet uns bei einem Feigenschnaps das Du an. Er erzählt viel Interessantes aus seiner Zeit beim Bosch, wo er 40 Jahre als Meister gearbeitet und so manches erlebt hat – vor allem mit den studierten Vorgesetzten.

27. – 30.1.: Klaus zu Besuch in Köln. Besuch im Museum Ludwig. Er sucht sich stets ein Bild aus, mit dem er sich besonders intensiv auseinandersetzt. Diesmal ist es Picassos Atelierbild. Anschließend geht es ins Museums-Café zu Erbsensuppe und Rotwein. Klaus berichtet von Reaktionen aus seinem Bekanntenkreis auf mein Buch. Der Chefredakteur Kolbe habe gesagt: Der versteht was von Literatur. Er will das Buch in Ruhe lesen. Es wäre gut, wenn er einen Artikel schreiben würde.

Klaus sieht in den Geschichten des Buches Bausteine, die man weiterentwickeln kann. Gemeinsam mit Petra überlegen wir, wie es literarisch weitergehen soll. Ich würde am liebsten als nächstes einen Lyrikband machen.

Im Kölner Filmhaus schauen wir uns den Film Auf der Suche nach Mozart an. Ein Film über die Entwicklung Mozarts. Dirigenten, Musiker, Kunst- und Musikwissenschaftler haben den Film gemacht. Der Film ist derart anregend, dass man in ein regelrechtes Mozart-Fieber verfällt. Mozart scheint doppelt so intensiv gelebt zu haben wie normale Menschen. Frappierend deutlich werden die Ebenen oder Sphären seiner Musik: vordergründig der leichte, spielerische Effekt. Und dann die darunter oder dahinter liegende Schicht: ein existentieller, tief emotionaler, ja seelischer Tiefgang, den ich bei ihm vorher nie wahrgenommen habe (wie bei Shakespeare, flüstert einer der Zuschauer). Der Film gefällt auch deshalb, weil alle Beteiligten wie besessen scheinen: voller Begeisterung und Inspiration. Dazu die göttliche Musik. Alles zusammen färbt einfach auf den Betrachter ab.

Im Wallraf-Richartz-Museum verbringt Klaus nahezu zwei Stunden vor einem mittelalterlichen Triptychon. Petra schaut sich die moderne Abteilung an, und ich bleibe im Café sitzen, um die Eindrücke des Mozart-Films zu verarbeiten. Ich mache mir Notizen.

Zu Hause diskutieren wir über Petras Kulturnotizen. Sie erhält starke Ermunterungen zur Weiterarbeit in diesem Genre, das ihr liegt. Klaus berichtet von seiner künstlerischen Arbeit an elf Frauenköpfen, von der Technik der Haar-Malerei; einem Buch über Körperdarstellungen u.a. Und zwischendurch immer wieder von Reaktionen auf mein Buch: er hat 14 Bücher gekauft und verteilt. Morgen will er shoppen gehen und dann fahren. Insgesamt freuen wir uns über einen gelungenen Besuch.

1.2.: Fahren nach Bonn zum Haus der Geschichte (wir mussten es Klaus versprechen). Über diesen Besuch habe ich einen eigenen Text geschrieben.

Abends treffen wir uns mit Renate und Wolfgang beim Hayal. Für mich die angenehmste Art und Weise, den Abend meines Geburtstages zu verbringen. Renate meint, ich würde in meinem Buch viel von mir preisgeben. Wolfgang spricht sich bewundernd über das Ausmaß an Reflexion zu Phasen meiner Entwicklung aus.

Anschließend geht es ins Basil‘s, wo mir ein Ständchen gebracht wird. Bis zwei Uhr plaudern wir dann noch weiter.

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Schreibe Texte über den Besuch im Haus der Geschichte und über den Roman Der Liebeswunsch von Dieter Wellershoff.

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Wir beschließen, einen Band mit meinen Gedichten herauszubringen; Titel: Dem Lärm der Wolken lauschen. Muss mich „innerlich“ mit meiner Schriftstellerei identifizieren. Habe bisher nur sporadisch geschrieben; das hat sich mittlerweile geändert. Ich schreibe nahezu täglich. Das bedeutet: im Prinzip wird alles – der Alltag, die Ereignisse, die Beobachtungen – zum literarischen „Material“. Hilfreich für die Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung ist das Fotografieren.

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Petra wird ein Buch mit ihren kulturkritischen Texten machen. Sie wollte ohnehin ihre z.T. handgeschriebenen Texte transkribieren. Titel wird sein: Momentaufnahmen. Notizen über Literatur, Malerei, Film.

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Fahren für eine Woche nach Zimmerschied in den Schnee. Dadurch ist es dort noch ruhiger als ohnehin schon. Machen lange Wanderungen. Morgens füttern wir die Vögel, und wir sitzen lange stumm und beobachten ihr munteres Spiel. Idylle pur.

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Lese (endlich) die Jahrestage von Uwe Johnson. Bin sehr angetan von der Lektüre. Der Wechsel der Zeitebenen und Ereignisfolgen entspricht der Weise unseres Erinnerns, das sich in Assoziationen und einer eigenen Logik vollzieht. Eben nicht chronologisch, wie man meinen könnte, sondern als eine Folge von Bildern, Sinneseindrücken, Traumfetzen. Der Stil ist hochinteressant und erinnert mich an Joyce, der im Ulysses einen Tag schildert, während Johnson sich auf ein Jahr kapriziert.

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Petra hat einen eigenen Text über Wellershoffs Liebeswunsch geschrieben. Sie schlägt einen Bogen zu Goethes Wahlverwandtschaften. Dazu hatte sie noch einmal den Essay von Walter Benjamin gelesen. Dort ist die Thematik der Konflikt zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit, und die Figuren Goethes könnte man als Typen bestimmter existentieller Grundsituationen ansehen. Das könnte auch der Schlüssel zum Verständnis des Wellershoff-Romans sein.

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Klaus ruft an. War in der Uni-Bibliothek in Oldenburg. Er ist immer noch auf der Spur des Triptychon-Malers, den er im Wallraf-Richartz-Museum in Köln entdeckt hat. Der Köln-Besuch hat ihn sehr inspiriert.

Berichtet von weiteren Reaktionen auf mein Buch. Mir sind die Urteile von sog. Laien genauso wichtig wie professionelle. Alle sind Leser und haben ein Recht auf eine eigene Meinung.

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Schauen uns den Rosenmontag-Zug in Welschneudorf an. Die Leute haben ihre Wagen selbst geschmückt und zeigen sich voller Stolz. Anschließend feiern wir im Westerwälder Hof. Treffen Bekannte aus unserem Dorf; u.a. Patrick, der außer sich vor Freude ist, uns wiederzusehen. Vice versa. Erzählt, dass er jetzt in Köln bei Netcologne arbeitet. Wir verabreden, in Kontakt zu bleiben.

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Petra hat ihren Text über den Liebeswunsch auf Anraten von Klaus an Dieter Wellershoff geschickt, der zurück schreibt: Ich danke Ihnen sehr für die Rezension meines Romans, die zugleich konzentriert und differenziert ist und in der gedrängten Beschreibung der Handlung und des Themas, auch seiner Tiefendimension, absolut kompetent ist. Gleichzeitig schickt er einen Vortrag über das Verständnis von seinem Schreiben mit: Totalität und Perspektive. Leben und Schreiben als Wege ins Ungebahnte.

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Klaus hat mit Kolbe über mein Buch gesprochen. Dieser hat sich intensiv damit beschäftigt; einen ganzen Tag darin gelesen. Er ist sehr beeindruckt: als Redakteur und als Literaturleser. Weiß aber nicht, wie er das Buch den Lesern in Emden vermitteln soll, da die Emden-Bezüge nicht ausdrücklich erwähnt werden.

(Eigentlich wäre das sehr einfach: ich könnte in einem Interview die Bezüge herstellen).

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Lese im Buch der Unruhe von Fernando Pessoa. Haben uns die Sonderausgabe des Ammann-Verlages gekauft, nachdem wir vorher nur eine Taschenbuch-Ausgabe mit Textausschnitten hatten. Die wunderbaren Texte Pessoas werden sehr auf meinen Lyrikstil abfärben, das weiß ich schon jetzt.

Parallel lese ich den amerikanischen Lyriker William Carlos Williams, der mir gut gefällt, weil er unprätentiös, ja regelrecht lakonisch schreibt. Und – gewissermaßen als Dauerlektüre – die kleinen Bücher von Handke; die drei Versuche und z.Zt. über das Unterwegssein. Ich mag seinen Erzählrhythmus. Er beruhigt mich.

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Haben uns den Film Capote angesehen. Das kaltblütige Genie Truman Capote wird von Philip Seymour Hoffmann gespielt. In seinem Roman Kaltblütig verfällt der Schriftsteller Capote einer fatalen Obsession: Dem Wunsch, ein wahrhaftiges Buch über einen Mordfall zu schreiben.

Bei seinen Recherchen entwickelt sich eine Affinität zum charismatischen Mörder Perry Smith, die den Schriftsteller völlig überfordert. P.S. Hoffmann bietet nicht nur eine frappierende Darstellung des exzentrischen Capote, sondern legt gleichzeitig dessen faustische Persönlichkeit bloß. Capote hatte das Vertrauen des Mörders erworben und nutzt dieses für seinen Roman gnadenlos aus. Er merkt zu spät, dass er für den Erfolg des Romans seine Seele verkauft hat. Capote hat danach nie mehr einen Roman geschrieben. Er ist später an seinen Alkoholexzessen zugrundegegangen.

Hoffmann spielt die Rolle des Capote überirdisch: abgehoben, weltfremd und wenn es sein muss: zynisch, arrogant oder naiv – immer so, als bewege er sich in anderen Sphären. Er scheint gar nicht anwesend zu sein, wenn er kommuniziert, sondern schon beim Formulieren. Gleichwohl ist er vollkommen verstrickt in seine Sache, wenn er sich mit dem Gefangenen Perry Smith unterhält; als sei er dessen Komplize. Und in der Tat ist er das: er ist der Komplize in seiner eigenen Phantasie; ein virtueller Täter, der genauso skrupellos im Umgang mit seinem „Material“ ist, wie der Mörder es mit seinen Opfern gewesen ist.

Hoffmann hat für seine Darstellung des Capote den Oscar für die beste Schauspielerleistung erhalten; völlig zurecht.

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Lese parallel zu Fernando Pessoas Buch der Unruhe den Abschnitt Das mutiple Selbst in Finn Skaderuds Buch Unruhe. F.S. ist Psychiater und interpretiert aus seiner Perspektive verschiedene Künstlerpersönlichkeiten: Strindberg; Kafka; Musil; Thomas Bernhard und eben auch: Fernando Pessoa.

F.P. hat sich bekanntlich zeitlebens in Heteronyme verwandelt und schreibt aus deren jeweiliger Sicht über das Leben. Dadurch multipliziert er seine eigene Persönlichkeit in diejenige der anderen und kann sich auf diese Weise gewissermaßen transzendieren; z.B. Dinge aussprechen, die er sich als F.P. nie getrauen würde.

Skaderud versteht es meisterhaft, die psychischen Dispositionen der Schriftsteller auszuloten. Er entwirft Psychogramme oder Krankheitsgeschichten dieser Persönlichkeiten und weist nach, wie diese ihre Problematiken in Literatur übersetzt haben. Man könnte auch sagen: die Literatur diente diesen Leuten als Therapie, als Bewältigungsform ihrer Leiden. Das gilt insbesondere für Kafka und Pessoa.

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Arbeite seit einigen Tagen an meinen Gedichten. Es ist viel anstrengender, als wenn man einen Prosatext schreibt. Es kommt auf jedes Wort an oder anders gesagt: ein falsches Wort kann das ganze Gedicht verderben.

Wie immer in solchen Situationen ziehe ich mich nach Zimmerschied zurück. Ich lebe wie ein Mönch und komme so allmählich in meinen Rhythmus, den ich für diese Arbeit brauche. Vor allem: lange Spaziergänge an der frischen Luft und keinen Alkohol.

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7.3.: Fahre nach Bremen, wo ich mich mit meiner früheren Freundin Marie Luise Rochell treffe. Ich hatte ihr meine Zugänge geschickt, die ja u.a. von der Zeit handeln, als wir befreundet waren. Vor 50 Jahren waren wir zusammen, in dem Sechs-Monate-Kurs an der Heimvolkshochschule Springe. Ich bereitete mich auf den Zweiten Bildungsweg vor; sie auf ihr Studium an einer Pädagogischen Hochschule.

May ist der Kumpeltyp geblieben, der sie schon damals war. Aber sie ist alt geworden. Man sieht ihr an, dass sie ein schweres Leben hatte: drei Fehlgeburten; dann doch noch eine Tochter, mit der sie sich gut versteht; aber wohl keine sehr glückliche Ehe. Zudem bekam sie Brustkrebs, den sie aber wohl überstanden hat. Sie wohnt mehrere Monate im Jahr allein in Riperello, einem kleinen Ort in der Toscana.

Über mein Buch reden wir kaum. Stattdessen schlendern wir über den Bremer Marktplatz, die Böttcherstraße, den Schnoor und landen schließlich in der Ständigen Vertretung; just in dem Lokal, in dem wir während unser Bremer Zeit mit Manfred Hahn, unserem Freund Geschichtsprofessor, die unwiderstehliche Windstärke 9 (Matjes auf Toast mit einer Creme aus Zwiebeln, Sahne und Meerrettich) genossen hatten.