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Ein Sack Saatkartoffeln im kleinen Hafen von Bunbeg verrät es: Noch ist die Familie Kelly nicht umgezogen auf die kleine raue, fast verlassene Insel an der irischen Westküste, noch muss sie in ihrem Häuschen im Norden zu finden sein. Walter Kaufmann begibt sich auf die Spur dieser vielköpfigen liebenswerten katholischen Familie und begleitet sie in ihr neues Zuhause. – Hochzeit in Dundalk: Guinness – das schmackhafte schwarze Bier –, Musik, Gesang, Geselligkeit. Sehen Hochzeiten in Irland nicht immer so aus? Nur hier im Süden ist diese Hochzeit möglich, ohne Schüsse oder Bomben fürchten zu müssen: denn die Braut ist katholisch, der Bräutigam Protestant. – „Kein Grund zur Besorgnis, wenn hier Landminen lägen, wäre ich der Erste, der’s erfährt. Die werden doch nicht ihren Tierarzt opfern“, sagt Doc Flannagan. Aber ohne ihn hätte dieser Abstecher in den nordirischen Grenzort, wo gerade wieder einmal ein britischer Offizier entführt und ermordet wurde, ein böses Ende finden können. Abenteuerlust und Liebe zu diesem Land führten Walter Kaufmann im Jahr 1977 quer durch die grüne Insel Irland.
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Seitenzahl: 159
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Walter Kaufmann
Irische Reise
ISBN 978-3-96521-278-7 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
Das Buch erschien erstmals 1979 in Der Kinderbuchverlag Berlin
Für Leser von 12 Jahren an.
2020 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
www.edition-digital.de
Die grüne Insel Irland ist seit 1921 geteilt: Nach 300-jähriger Besetzung erzwang die Republik Irland im Süden ihre staatliche Unabhängigkeit von England – der Preis dafür waren die sechs Grafschaften im ökonomisch entwickelten und strategisch wichtigen Norden. Sie blieben ein Teil Großbritanniens, des „Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland“.
Die Republik Irland ist trotz Selbstständigkeit ökonomisch weiter abhängig von Großbritannien, der Norden Irlands ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch abhängig; er wurde eine englische Kolonie. Seine einheimische irische Bevölkerung – Katholiken – ist durch die Nachfahren englischer und schottischer Siedler – Protestanten – zur Minderheit geworden, diskriminiert im eigenen Land. Die Katholiken haben weder die gleichen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten noch die gleichen politischen Rechte wie die Protestanten.
Seit Jahrhunderten kämpfen die Iren um ihre Glaubensfreiheit, das heißt um ihre Gleichberechtigung und Unabhängigkeit. Die IRA, die Irische Republikanische Armee, für diese Ziele gegründet, fand große Anhängerschaft. Selbst der von der IRA abgespaltete Flügel, der mit Terror und Bomben gewaltsame Lösungen sucht, hat lange Sympathie bei einem Großteil der katholischen Bevölkerung gefunden, besonders wenn er den Angriffen protestantischer Schlägertrupps zu begegnen verstand.
1967 bildete sich die Nordirische Bürgerrechtsbewegung, die keine religiösen Schranken kennt. Die britische Armee reagierte mit Panzern, Tränengas, Internierung und Folterung auf diese immer stärker werdende Volksbewegung, die auch von der Kommunistischen Partei Irlands unterstützt wird.
Weder britische Tanks noch Terroraktionen des bewaffneten Flügels der IRA werden die Probleme in Irland lösen, denn es geht hier nicht um Religions-, sondern um Klassenfragen. Allein das gemeinsame Handeln von Arbeitern beider Konfessionen wird Irland die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit bringen.
Natürlich musste ich das bemerken – es war mir, als trüge er, wie einst die Juden in Nazideutschland, den gelben Stern weithin sichtbar auf der Brust. Dabei war es nur ein pfenniggroßer vergoldeter Davidstern, an einem kurzen Kettchen um den Hals, hier im gemächlich dahinpolternden Personenzug von Belfast nach Carrickfergus in Nordirland.
Kurz zuvor war der junge Mann zugestiegen, an einem Bahnhof, der zwischen Bergen und weißem Strand unterhalb des weitgestreckten Geländes der Technischen Universität von Ulster liegt; hatte einen Fensterplatz belegt und bald ein Buch zu lesen begonnen. Das Sonnenlicht des frühen Nachmittags erhellte die mir abgewandte Seite seines schmalen Gesichts, ließ sein rötlichblondes Haar und den Stern am Kettchen aufleuchten, der mit den Zugbewegungen über den aufgeschlagenen Seiten des Buches hin und her schwang. Allmählich spürte er meine Aufmerksamkeit, hob den Blick und sah mich prüfend an. Dabei zuckte leicht seine linke Braue. Ich wechselte den Platz, setzte mich ihm gegenüber und, nachdem ich um Verständnis für meine Störung gebeten hatte, sagte ich ihm, warum er mir aufgefallen war.
„Ach was, nein, nein“, wehrte er ab, „mit Zuneigung für Israel oder die Juden hat das nichts zu schaffen – der Stern ist bloß ein Talisman. Wer aber glaubt, dass ich Jude bin, der soll’s ruhig tun.“
„Ihr Aussehen ließ mich kaum auf den Gedanken kommen.“
„Aber trotzdem, Sie hatten Zweifel.“
Ich nickte, und gleichzeitig begriff ich, dass er es förmlich darauf anlegte, als Fremder zu gelten, als zugewanderter oder durchreisender junger Jude jenseits allen irischen Streits – katholisch nicht und auch nicht protestantisch.
Das gab er unumwunden zu. Vor wenigen Tagen erst sei er aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo man ihm mehrere Bombensplitter aus der Wade seines rechten Beins entfernt habe. Wieder zuckte seine Braue, und auch seine Hände zitterten, als er den Stoff seiner Jeans nach oben streifte, um mir die noch frischen Narben zu zeigen.
„Und das ging für mich noch glimpflich ab“, sagte er. „Andere wurden weit schlimmer verletzt. Der Dozent vorn auf dem Podium sogar tödlich.“
„Ein Attentat auf einen Dozenten?“
Er schüttelte den Kopf. „Dem es gegolten hat, kam mit dem Schrecken davon. Er hatte sich abgewandt, um Aufzeichnungen an der Tafel zu machen, als die Bombe hochging. Sie hätten das erleben müssen – die halbe Stirnwand weggeblasen, die Fenster zertrümmert, natürlich auch das Podium und das Pult. Der Hörsaal war ein Schlachtfeld, überall Schreie und Blut. Richter McDermott aber wurde kein Haar gekrümmt.“
„Wem?“
„Ein Richter aus Belfast – McDermott, zu einer Gastvorlesung geladen, und da ist es passiert …“
Das Weitere hörte ich kaum noch. Ich sah mich in den Gerichtssaal von Belfast zurückversetzt, wo ich vor zwei Jahren als Reporter erlebt hatte, wie just dieser Richter den neunzehnjährigen Gerard McGavigan wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Deutlich sah ich ihn wieder vor mir – ein hagerer Fünfziger in roter Robe und Perücke, mit spitzer Nase und dünnen Lippen, und ich hörte seine scharfe Stimme. Fünfzehn Jahre! Solche unerbittliche Urteile, das hatte ich mir schon damals gesagt, würden in dieser Stadt der Gettos, Bomben und Gewehre unweigerlich Folgen nach sich ziehen.
„Das habe ich kommen sehen“, bemerkte ich jetzt, mehr zu mir selbst als zu dem jungen Mann vor mir.
„Und da fragen Sie mich aus, als wüssten Sie von nichts!“ Er war stutzig geworden und plötzlich erschrocken. „Wer sind Sie, und was machen Sie eigentlich?“
Ich versuchte es zu erklären, doch er wandte sich ab und blickte starr aus dem Fenster über die Bucht von Carrickfergus hinweg, wo fern am Horizont ein Schiff mit dem Blau des Himmels und des Wassers verschmolz und bald verschwand.
„Das mag alles zutreffen“, erwiderte er schließlich, „doch was soll’s – mich interessiert nur noch eins: dass ich wegkomme von hier, weit weg, nach England oder sonst wo.“ Er fingerte am Davidstern. „Wo Sie herkommen, da trägt wohl keiner so was, oder?“
„Kann schon sein“, sagte ich ihm. „Nur wenn, dann nicht aus solchen Gründen.“
Er schwieg, und auch ich sagte nichts mehr, bis wir auseinandergingen.
Meiner Reise nach Carrickfergus waren etliche Tage in Belfast vorangegangen, irische Sommertage, mild und hell und sonnig bis in die späten Nächte, wenn mit den Schatten über den Bergen die mitternächtliche Stunde nahte und es allmählich dunkelte.
Belfast hatte sich mir in noch ärgerer Bedrängnis gezeigt als vor zwei Jahren. Die britischen Soldaten wirkten schroffer, autoritärer, schienen die Bevölkerung mehr noch als zuvor unter der Knute zu haben. Nach sechs Uhr abends lag die Innenstadt wie ausgestorben, der Autoverkehr war abgewürgt, die Schlagbäume in der High Street waren festgekettet, nur noch wenige Fußgänger bewegten sich im Umkreis des Rathauses wie verirrte Statisten inmitten von Kulissen. Keine Busse fuhren mehr ins Zentrum, keine Taxis, und an allen Ecken wachten britische Soldaten mit Maschinenpistolen, Männer mit kugelsicheren Visieren vor den Gesichtern und Wachhunden an den Leinen. Das Hotel, in dem ich einst gewohnt hatte, wurde zum Verkauf angeboten – wer würde es kaufen? Denn tot lag auch die Royal Avenue im abendlichen Sonnenschein, so tot und verlassen bis hin zum Donegall Square, dass sich Neil Fagin quer aufs Pflaster warf und dort lange liegenblieb, die Arme und Beine ausgestreckt. „Hier ruhst du wie in Abrahams Schoß!“ Tatsächlich, kein Fahrzeug überrollte ihn, auch nicht die Jeeps der britischen Armee. Die Soldaten lehnten an den Wänden und sahen belustigt zu – ein Irrer, dachten sie wohl. Was ihnen nicht einmal zu verübeln war, denn wild und unberechenbar und ungezügelt hatte sich Neil Fagin schon gezeigt, als wir uns vor langer Zeit in einer Studentenkneipe kennenlernten.
Bald dröhnte tief über den Dächern ein Hubschrauber, die Besatzung in der Glaskanzel wirkte zum Greifen nah und war dann plötzlich nicht mehr auszumachen hinter dem Tiefstrahler, der am Rumpf des Flugzeugs aufleuchtete. Ein greller Lichtkegel fuhr über Neil Fagins Gesicht, er musste die Augen schließen, die Hände vor die Augen werfen, dann sprang er auf die Füße, reckte die Faust zum Himmel und schrie: „Jesus Christ Superstar – hab Erbarmen mit Belfast!“
Es war der Abend eines Mittwochs im Mai, so wie damals, als ich zum ersten Mal in diese Stadt gekommen war und das brennende Auto gesehen hatte, die Trümmer der Gettos in der Innenstadt. Seit wann aber kreiste der Hubschrauber über der Stadt, täglich, nächtlich, der Tiefstrahler am Rumpf gleißender als die Sonne, die Sterne und der Mond? Seit wann hatten sich die Militärkontrollen verschärft, war die Belagerung massiver geworden? Wahrlich, bisher hatte kein Gott Erbarmen mit Belfast gezeigt. Wie eh und je waren die protestantischen Viertel durch Drahtverhaue, Mauern und hohe Zäune von den katholischen getrennt. Und der junge Kieran Macnamara, den ich vor zwei Jahren im Internierungslager Long Kesh hatte aufsuchen wollen, wohin man ihn unter dem Verdacht illegalen Widerstands verbannt hatte, war noch immer nicht in sein Elternhaus in der Leeson Street zurückgekehrt. Er saß nun in verschärfter Haft, bekleidet nur mit Decken, weil er sich geweigert hatte, Sträflingskleidung anzuziehen: „Niemals – ich bin ein Freiheitskämpfer und kein Strauchdieb!“
Tage in Belfast – Glenveagh Drive und Clifton Street, Cavehill Road und The Shankill, Mayo Street und Oldpark Avenue, in diesen Straßen wohnten jene Männer, deren Kehlen zerschnitten wurden von einem rasenden Fabrikarbeiter namens William Moore, der jetzt vor dem Richter steht, angeklagt wegen neunfachen Mordes, ein hagerer Mann von zweiundzwanzig, unrasiert und mit trübem Blick.
In den nahen Kneipen schütteln die Männer die Köpfe, wenden den Blick ab, ziehen die Schultern ein, während der Sprecher im Rundfunk die Namen der Toten verliest – Francis Crossan, Thomas Quinn, Dominic Rice, Francis Cassidy, Edward McQuaid, Cornelius Neeson, Joseph Morrisey, Edward McClafferty.
Grauenvolleres hatte es in diesem Krieg der Bürger von Belfast noch nicht gegeben – neun Männer hinterrücks ums Leben gebracht, acht davon Katholiken. Nur Noel Shaw, achtzehn Jahre alt und Protestant, hatte sein Ende durch Gewehrkugeln gefunden, war tot in einem Wäschekorb aufgefunden worden. Womöglich zählte er gar nicht zu den Opfern dieses William Moore, der mit Messer und Beil gegen Katholiken zu Werke gegangen war.
Es ist düster im Gerichtsgebäude, draußen aber, über der Stadt, strahlt weiterhin die Sonne, ein lauer Wind streicht über die Berge und das blaue Meer, Sommerblumen blühen, und die Wiesen glänzen saftig grün.
In der Agrarausstellung im Vorort Balmoral lächeln die Schönheitsköniginnen, lassen sich zwischen Mähdreschern, Traktoren und Preisbullen fotografieren, Kinder reiten auf Ponys, Whisky fließt frei hinter Theken, und in Smithfield, im Zentrum von Belfast, rücken die Markthändler ihre Stände in die Sonne. Der pfiffige Sean Flynn, blond, blauäugig und flink, dem ich nur Tage später in einer Hafenkneipe von Carrickfergus wiederbegegne, setzt für teures Geld billigen Schmuck ab. „Kauft, liebe Leute, kauft schnell, bevor die Polizei kommt!“ Auch Füller, die nichts taugen, gehen weg, denn Sean beherrscht den Trick, ihre Federn auf den Tisch zu schlagen, ohne sie zu beschädigen. „Seht her, was diese Füller aushalten!“ – und krach! Die Feder verschwindet in der geballten Faust.
Die Geschäfte rings um den Markt öffnen ihre Türen weit, und die Angestellten am Eingang schauen nur flüchtig in die Taschen der Hausfrauen. „Keine Bomben, meine Damen – natürlich nicht!“
Im Reporterzimmer des „Sunday Call“, wohin es mich aus alter Verbundenheit verschlagen hat (schließlich war ich einmal unter abenteuerlichen Umständen für dieses nordirische Massenblatt als Reporter tätig), schrillen wie immer die Telefone. Die blonde Beatrice Cleaver, verheiratet inzwischen, hat jetzt eine Kollegin zur Seite, ist nicht mehr wie früher Henne im Korb, auch Colin McCausland hat geheiratet – in ein paar Wochen will er mit Frau und Kind nach Kalifornien auswandern, was bedeutet, dass Warren Messenger und Peter Fielding aufrücken werden.
Wie damals, so auch heute hilft mir Alex McMurray, der stellvertretende Chefredakteur, im Lande Fuß zu fassen und kommt nach kurzem Nachdenken auf eine Idee: „Wie wär’s mit ein paar Wochen auf Owey Island?“– Was soll das hergeben, will ich wissen, und er berichtet von einer katholischen Familie aus Carrickfergus, die sich wegen der Gewalttätigkeiten in Nordirland auf diese Insel in der Republik Irland abgesetzt haben soll. Und schon telefoniert er, holt Informationen ein, findet heraus, dass im kleinen Hafen von Bunbeg, an der Küste von Donegal, noch ein Sack Saatkartoffeln für die Familie Kelly liegt, was heißt, dass die Kellys noch nicht auf der Insel sein können. Ob sie in den harten Wintermonaten aufgegeben haben und zurück nach Carrickfergus sind? Auch das will Alex McMurray noch erkunden, in wenigen Tagen schon – „bis dann nimm’s leicht und mach dir ein fröhliches Wochenende“.
Charles McNulty – seine Freunde nennen ihn Red, der Haarfarbe, nicht etwa seiner Ansichten wegen –, Draufgänger mit sanften braunen Augen im bärtigen Boxergesicht, Trinker, Frauenheld, Freund wider Willen, kundiger Reiseführer vergangener Jahre, konnte mit sich und der Welt nicht im Reinen gewesen sein, als er mir spontan den Vorschlag zu einer zweitägigen Segelpartie gemacht hatte. Schon während der Autofahrt zu seiner hundertundfünfzig Kilometer entfernten Heimatstadt Omagh
wollte er alles wieder abblasen und seine Frau verständigen, dass er meinetwegen in Belfast geblieben sei.
„Einmalige Chance, mich für ein Wochenende von der Familie abzusetzen. Das begreifst du doch!“
Was gab es da zu begreifen! In der Bar der Agrarausstellung war nicht nur mir seine Zuneigung für die schöne junge Mitarbeiterin des Reisebüros aufgefallen, eine Angestellte von ihm. Andererseits aber wusste ich auch von dem Versprechen gegenüber seiner Frau Moira und den beiden Kindern – was ihn eigentlich zur Weiterfahrt hätte bewegen müssen und nicht zum Anhalten bei der nächsten Tankstelle, wo er in einer Telefonzelle verschwand, um seiner Familie abzusagen.
Durch die Scheiben der Telefonzelle war zu erkennen, wie er zunächst eindringlich, dann immer zögernder in die Muschel sprach, bis er schließlich mit einem Achselzucken den Hörer auflegte und zum Auto zurückkam. Offensichtlich hatte Moira an sein Gewissen gerührt, denn er setzte nun doch die Fahrt nach Hause fort. Sein verbissenes Schweigen unterbrach er nur durch leise Flüche, wenn vor uns der Verkehr seine Überholmanöver behinderte. Er schien es plötzlich enorm eilig zu haben, seine Lieben in die Arme zu schließen. Doch kaum waren wir am Ziel, zeigte er sich ihrer überdrüssig und fing an, sich mit Frau und Kindern zu streiten.
Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass wir dann doch im Laufe des Samstagmorgens gemeinsam das Haus verließen und uns allesamt in dem vollbepackten Auto nach Enniskillen auf den Weg machten, wo seine Jacht vor Anker lag. Das Wetter zeigte sich so spannungsgeladen wie die allgemeine Stimmung – brütende Hitze über der Stadt, gefolgt von Gewittern, die sich blitzend und donnernd über den weiten Wassern des Lough Erne entluden. Und die Zwistigkeiten, die sich bald an Bord entwickelten, erinnerten wieder an den Vorabend. Erst war Moira schuld, dass der Kabinenschlüssel nicht gleich gefunden wurde – „ich schlag die Tür ein, wenn das verhexte Ding nicht augenblicklich auftaucht!“ Und als die Kinder sich beim Beladen und Verholen der Jacht ungeschickt zeigten, traktierte er sie mit Kopfnüssen und schimpfte sie aus. „Als ich in eurem Alter war …“
Der Junge und das Mädchen blickten trotzig drein, und fern jeglichen Versuchs, sich zu beweisen, belauerten sie ihn immer noch mit unverhohlener Feindseligkeit, als wir längst zwischen den grünen Ufern im böigen Wind dahinsegelten.
„Statt zu glotzen, würde ich mich mal ein bisschen umsehen!“, rief er ihnen unwirsch zu. „Zum Beispiel die Klosterruinen dort drüben auf Devenish Island – die sind über tausend Jahre alt. Aber das interessiert wohl keinen. Hättet gleich zu Hause bleiben können. Es lohnt nicht, euch tölpelhaften, verwöhnten Gören was zu bieten!“
Nur der bewundernswerten Ruhe von Moira war zu verdanken, dass seine Ausbrüche sich nicht steigerten, und bewundernswert war auch, wie sie es schaffte, mit wenig Aufwand in beengtem Raum eine Pilzsuppe und ein Irish-Stew zuzubereiten. Doch weder die Mahlzeit noch der Whisky, den ich dazu stiftete, konnte seine Stimmung auf die Dauer heben – denn kaum lagen wir am Pier einer lieblichen Insel mit blumenreichen Wiesen und dichten Wäldern, machte er lauthals seinem Ärger über die Radiomusik an Bord einer anderen Jacht Luft, Geräusche, die später noch übertönt werden sollten von dem trunkenen Grölen eines deutschen Touristen, der auf einem Bierfass saß und mit glasigen Augen ins Nichts starrte.
Charles McNulty stöhnte auf.
„Zum Auswachsen! Lass uns den Whisky leeren! Schlafen kann bei dem Krach sowieso keiner.“
Es war ein Fehler, dass ich darauf einging, anstatt mich in die Blockhütte zurückzuziehen, wo mir der Kneipenwirt der Insel für teures Geld ein Bett hatte zurechtmachen lassen. Denn Charles McNulty nahm völlig unerwartet ein Streitgespräch vom Vorabend wieder auf, das nicht ohne eine gewisse Spannung zwischen uns geendet hatte. Es war, als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet.
„Belsen Kids!“, rief er verächtlich und spielte noch einmal auf das Titelfoto von „Patrick“, eines meiner Bücher, an, das eine Gruppe wacher Jungen und Mädchen aus dem Belfaster Getto zeigt. „Sehen meine Kinder etwa so aus? Sind die nicht auch typisch irisch?“
Schon wollte ich das Foto des irischen Fotografen erneut verteidigen, da riss er mir das Buch aus der Hand und schleuderte es aus der Kabine. Seinen Whisky verschüttete er dabei, doch er merkte es nicht.
„Immer Salz in die Wunde, jawohl!“, rief er. „Nur kein Pardon. Dabei ist von der ganzen Misere doch nur ein Bruchteil der Bevölkerung betroffen!“
„An wem, glaubst du, sollte man die soziale Lage eines Landes messen – an den Ärmsten oder den Reichsten?“, fragte ich.
„Weder, noch“, entgegnete er. „Sieh uns an – weder arm noch reich. Und geht es uns etwa schlecht? Haben wir kein Haus, kein Auto, keine Jacht, bin ich vielleicht ohne Stellung, und kommen wir nicht alle aus Belfast?“
„Zugegeben. Nur, du bist nicht katholisch.“
„Sonst wäre ich wohl auf der Strecke geblieben, was?“
„Nenn mir einen einzigen Katholiken in führender Position in deinem staatlichen Reisebüro.“
Während er überlegte, stieg ich an Deck und holte das Buch, ich richtete die Pappe und steckte es in meine Reisetasche zurück.
„Fällt dir wohl niemand ein?“
„Du musst noch viel ruhiger werden“, antwortete er mit wenig Logik, betroffen wohl auch durch den Ton meiner Frage. „Schenk ein und verdirb uns nicht den Tag.“
„Zum Wohl“, sagte ich und sah hinaus in den Sonnenuntergang zwischen den tief liegenden dunklen Wolken über dem Wasser, wo sich farbenprächtig ein Regenbogen wölbte.
„Am Ende wird es doch noch ein stimmungsvoller Abend.“
Er blickte an mir vorbei. „So stimmungsvoll, wie er hätte sein können, wird er nicht“, sagte er, und ich begriff, dass sein Unmut wohl zum Großteil mit dem Wunsch zu tun hatte, dort zu sein, wo er nicht war.
War es wirklich ständige Furcht vor der Gewalt, die katholische Familien zur Flucht aus Carrickfergus getrieben haben sollte? Der erste Eindruck des kleinen Hafenstädtchens ließ mich daran zweifeln.
Als ich aus dem Bahnhof trat, umgab mich gleich das gemächliche Treiben der Ladenstraßen, einer Fußgängerzone mit Kurz- und Textilwarenläden, einem Uhrengeschäft, einer Buchhandlung, Bäckerei, Fleischerei, Drogerie und einem Friseurladen. Auch Restaurants und ein kleines Café mit Eisdiele fanden sich, und nichts erinnerte an den Stadtkern von Belfast, wo die Bahnhöfe zerstört, Laternen und Telefonzellen zertrümmert und die Türen und Fenster vieler Häuser vermauert waren, wo die Restaurants und Cafés den Betrieb eingestellt hatten und die Kneipeneingänge durch schwere Tonnen gegen Bombenattentate abgesichert wurden.
Warm und hell leuchtete die Sonne vom hohen Himmel auf die bunten Dächer herab, die Luft war salzig und frisch, man spürte die Nähe des Meeres. Alte Männer, Rentner wohl, bevölkerten die Bänke auf dem Platz beim Stadttor, Kinder trieben Reifen vor sich her, peitschten Kreisel und tollten laut durch die Hafengässchen.
Zwar wurde ich bald gewahr, dass auch in Carrickfergus die zum Zentrum führenden Straßen durch Schlagbäume abgesichert waren und Polizisten die Zubringerfahrzeuge gründlich kontrollierten. Auf der unteren Larne Road jedoch bewegte sich der Autoverkehr zügig an Küste und weitem Strand vorbei.
Wo sich das Haus der Familie Kelly befand und ob sie tatsächlich zurückgekehrt war, hatte Alex McMurray doch nicht herausfinden können; trotzdem brauchte ich nicht lange zu suchen. Der Wächter auf dem Parkplatz hinter den Polizeiabsperrungen verwies mich an eine ältere Dame, die gerade in ihrem kleinen Auto abfahren wollte. Bereitwillig ließ sie sich aufhalten, wusste auch Auskunft zu geben und erbot sich sogar, mich zu den Kellys zu fahren.
„Ihrer Beschreibung nach können das nur die Jeremy Kellys sein – irgendwer aus dieser liebenswürdigen Sippe findet sich fast täglich bei mir in der Bibliothek ein.“
„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Da ist doch nichts dabei. In Carrickfergus kennt jeder jeden, und da hilft man sich eben. Mich wundert eigentlich, was Sie da über eine Insel sagen, wohin die Kellys verzogen sein sollen. Aus welchem Grund denn wohl?“
Als sie mich hinter einer Parkanlage bei einem Ziegelhäuschen absetzte, das nicht schlechter in Schuss zu sein schien als die anderen Häuser, war mir der Entschluss der Kellys, ihr Leben hier mit dem auf einer rauen Insel zu vertauschen, noch weniger begreiflich als zuvor. Abgesehen von Schlagbäumen und hohen Stahlzäunen über der Polizeistation, die auch routinemäßige Sicherheitsmaßnahmen sein konnten, schien nichts in Carrickfergus auf Gewalttätigkeiten hinzuweisen.