Porcus das charakterlose Schwein - Otto W. Bringer - E-Book

Porcus das charakterlose Schwein E-Book

Otto W. Bringer

0,0

Beschreibung

Auf einem Latein-Gymnasium bildeten sie einen Club: Fünf Jungen, die ihre Namen auf Lateinisch riefen, lange noch nach dem Abitur. Einer von ihnen, Porcus - lateinisch das Schwein -, war schon in der Quarta der Bösewicht, verpetzte sie beim Klassenlehrer, wenn sie unerlaubterweise mit den Mädchen des nahen Lyzeums schmusten. Schlimmer kam es, als sie erwachsen waren. Seine Aggression wurde immer größer; auch gegen den Klassenkamerad Portandus, der eine Frau streichelte, die er selber gerne gestreichelt hätte. Er versuchte ihn zu töten. Sein Schuss mit dem Pfeil verwundete ihn. Ab da sahen alle sich bedroht, trafen sich mit ihren Frauen und diskutierten. Porcus gab immer wieder einen neuen Anlass, zum Beispiel durch einen Einbruch in Portandus´ Haus, bei dem er Wertsachen mitgenommen hat. Ihr Alltag kreist um eine einzige Frage: Wann schlägt er wieder zu? Gespräche über Kunst, Philosophie und Religion werden allesamt von Porcus überschattet - bis er in Argentinien geschnappt und nach Köln überführt wird. Es kommt zum Prozess, er wird eingesperrt, flieht, überfällt eine Bank, wird geschnappt, landet in der Psychiatrie. Bei einem Freigang überfällt er eine Frau. Daraufhin kommt er in eine geschlossene Anstalt. Nach Jahren wird er entlassen. Ob aus dem Teufel ein Engel wurde? Lesen Sie selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 212

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Otto W. Bringer

Porcus das charakterlose Schwein

Imprint

Porcus das charakterlose Schwein Otto W. Bringer

Titelgestaltung vom Autor

E-Book Konvertierung:

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, stöhnte schon Faust in Goethes Drama. Jeder von uns ist zwiegespalten. In Gut und Böse. Helligkeit und Dunkel. Gott und Teufel. Wie sich diese Tatsache auswirkt, hängt von den Umständen ab. Die sind so unterschiedlich wie Menschen verschieden sind. Ihre Lebensbedingungen, Einflüsse von außen, Emotionen von innen und Schicksalen. Den puren Gutmenschen gibt es nicht. Den Bösen hin und wieder. Mensch ist des anderen Wolf, schreibt der römische Dichter Plautus. Ein Raubaffe, sagt Friedrich Dürrenmatt. Es muss etwas daran sein.

Schon in der Schule fiel Porkus unangenehm auf. Nicht ohne Grund gaben seine Mitschüler Fritz Schwein den lateinischen Namen Porcus. Klingt schon wie ausgekotzt. Eine neue Mode kam ihnen gerade recht, sich lateinisch anzureden. Also Porcus statt Schwein. Wie kann man nur Schwein heißen? Fragte sich mancher. Väter haben es versäumt, die Namensänderung zu beantragen. Oder wohnten seine Vorfahren in einem Lande, in dem es keine Schweine gab? Hätten aber gerne welche gehabt. Sollen lecker schmecken.

Heinrich Kleinebley nannte man ParvumPlumbum. Kurt Vogel Avis. Karl Otto Bauer Agricola. Franz Müller Molerus. Den Autor dieses Buches Portandus. Von portare bringen. Gerundium, der Bringende, wörtlich übersetzt. Alle fühlten sich mächtig stolz als gebildete Lateinschüler. Lateiner waren eine besondere Klasse Jugendlicher. Ein Club der Auserwählten gewissermaßen.

Vorspel oder Lünekichelsdorf dagegen waren die Dummen. Für sie gab es keine lateinische Vokabel. Hätten ihre Eltern gewusst, dass es eine so große Rolle spielt, hätten sie sie aufs Naturwissenschaftliche geschickt. Das Altsprachliche aber hatte einen sehr guten Ruf. Und der war wichtiger als die Marotte einiger Schüler.

Nur wenige von ihnen kamen über die Drei in Latein hinaus. Aber bei ihren lateinischen Namen blieb der Club konsequent bis zum Abitur. Noch bei ihren späteren Jahrestreffen begrüßten sie sich: „Hallo ParvumPlumbum.“ „Hallo Avis.“

Porcus petzte. Hinterrücks. Sie hätten ihn verprügelt, hätten sie es gewusst. Rätselten, wer wohl ihre geheimen Treffen mit den Mädchen des Lyceums einmal die Woche verraten hat? Sie mussten zur Strafe hundertmal schreiben: Du sollst keine kleinen Mädchen verführen. Als wäre es das elfte Gebot und sie der Beelzebub persönlich. Mädchen waren damals noch eine geschützte Kathegorie der Gattung Mensch. Im verschlossenen Schulgebäude eingekerkert. Bewacht von feuerspeienden Drachen, Studienrätinnen ihres Zeichens.

Erst in der Obersekunda erfuhren sie von Porcus´ Verrat. Die heutige Freundin Portandus´ hatte ihn damals gesehen, als er vom Ast einer Kastanie auf der Königsallee Jungen und Mädchen in einem Hauseingang beobachtete, die sich umarmten. Damals dachte sie sich nichts dabei. Als Portandus es ihr erzählte, erinnerte sie sich.

Was sollten sie tun nach so langer Zeit? Porcus verprügeln? Zur Rede stellen? Der inzwischen ein Schwergewicht mit 70 Kilo. Und Muskeln wie ein Ringer. Trainierte seit einem Jahr zweimal die Woche, als wollte er Weltmeister werden. Gegen einen solchen Kraftprotz hatten sie keine Chance. Außerdem gab es andere Probleme. Untersekunda und Obersekunda schaffen. Das Abitur vor der Nase. Da passierte wieder eine sehr schreckliche Sache.

In der Pause marschierten drei finster blickende Männer in Ledermänteln über den Schulhof. Direkt auf zwei Jungen zu, von denen alle wussten, sie waren Juden. Der Direktor hatte sie bis dahin schützen können. Schenkte ihnen neutrale Pullover ohne den gelben Judenstern. Für den Aufenthalt in der Schule. Juden waren sogenannten Ariern immer schon verdächtig, wusste der Direktor, ein Historiker. Die Geheime Staatspolizei Hitlers hatte davon Wind bekommen. Porcus das Schwein?

Sie sahen ihn in der braunen Uniform der Hitlerjugend auf die Polizei zugehen, die rechte Hand heben zum Hitlergruß, hörten ihn lauthals schreien, dass es alle hörten: „Juda verrecke!“

Niemand sonst trug in der Schule diese Uniform. Nur bei den wöchentlichen Diensten. Man hatte sie dazu verpflichtet. Sich weigern bedeutete vier Wochenenden Umerziehung in einem Hitlerjugendheim und peinlichste Verhöre der Eltern. Porcus petzte. Der Schulhof hatte plötzlich große Ohren.

Es verstand sich von selbst, dass alle sich von Porcus distanzierten. Niemand hatte Lust, seine Eltern und sich selbst zu gefährden. Wegen einer leichtsinnig geäußerten Kritik an Hitler oder einem seiner Parteigenossen. Dem Angeber Baldur von Schirach z.B., Reichsjugendführer. Oder dem Fettwanst Robert Ley, Arbeiterführer. Es schien nur noch Führer zu geben. Wo war das Volk? Der zweite Weltkrieg war im Gange. Sirenen heulten fast jeden Abend. Luftschmutzübung nannten sie es.

Abends, wenn alle Arbeiter zuhause beim Bier saßen, Zeitung lasen oder Radio hörten, die Lehrer sich von ihren Frauen zur Belohnung für ihre harte Arbeit umarmen und küssen ließen, kam für die Jungens die Stunde der Freiheit.

Karl Otto Bauer, der Agricola, besaß Schallplatten. Eine ganze Sammlung dieser schwarzen Scheiben. In deren Ritzen geheimnisvollerweise die ganze Welt zuhause war. Italien mit Benjamino Gigli, dem ewig liebeskranken Tenor. Deutschland mit Richard Tauber, dem lyrischen Tenor, der Franz Lehars Operetten zu den meistgespielten Bühnenstücken machte. Bis er als Jude ausgeschaltet wurde. Dann Amerika mit Louis Armstrong, dem Jazz-Trompeter aus New Orleans. Eine Offenbarung.

Alle die Lateiner rutschten von den Stühlen auf die Knie. Sprangen wieder auf und schwangen ihre Arme und Hüften. Schlossen ihre Augen und genossen den ihnen noch unbekannten Rhythmus wie eine Reise in unbekannte Fernen. KO Bauer wusste mehr von seinen Eltern, die Jazz-Fan waren, wie er erzählte. Schon zweimal den Mardi Gras in New Orleans gefeiert. Mit den Schwarzen durch die Straßen gezogen, die ihre Trompeten bliesen, als wäre es ihr letztes Lied. Sehnsucht ist die Grundstimmung des Jazz. Sehnsucht der ausgewanderten Afrikaner nach Irgendwohin. Ihre Heimat?

Wenn sie einmal die Woche bei Agricola Jazz hörten, kroch eine unbestimmbare Sehnsucht ins Gedärm. Von dort übers Herz, das zu zittern begann. Bis in die Ganglien ihres Gehirns. Wo sie ankerte. Und nicht mehr losließ, solange sie lebten. Jazz, ein alter Menschheitsgesang. Der Heimat verspricht. Heimat, die es nicht gibt.

Drei schwere Luftangriffe hatten sie hinter sich. Spannend. Theater, das nichts kostet, meinten die meisten der Klasse. Liefen hinaus ins Freie, wenn sie nicht die Angst fesselte ans scheinbar sichere Gemäuer eines Kellers. Die dröhnenden Geschwader am Himmel zu sehen. In den gekreuzten Fängen der Scheinwerfer waren sie gut zu erkennen. Wie Motten im Licht. Warfen Christbäume ab, die Stadt unter ihnen zu erhellen. Die Ziele, die sie treffen wollten. Bis es orgelte, pfiff und explodierte. Häuser einstürzten oder in Brand gerieten. Ängstlich hockten Eltern und Großeltern in den Kellern, Zitterten. Und hörten nicht auf zu zittern, als es längst vorbei war.

Sie waren noch nicht siebzehn, als sie das Vaterland zum Krieg rief gegen eine ganze feindlich gesonnene Welt. Im Osten den Bolschewismus, im Westen den Kapitalismus. Deutschlands Städte vor englischen und amerikanischen Fliegern zu schützen. Genauer vor ihren Bomben. Mit denen sie die Rüstungsindustrie lahm legen und wichtige Verkehrswege zerstören wollten. Dabei in Kauf nahmen die Zivilbevölkerung zu treffen. Ihre Häuser, Kirchen und Denkmäler zu zertrümmern. Unschuldige Menschen zu töten, hunderttausende bis zum endlichen Schluss. Angst hörte nicht auf. Die Pfarrer hatten viel zu tun. Mehr als jemals wieder danach.

Wie in Trance das Volk, ein Reich, ein Führer entschlossen, auszuhalten bis zum Endsieg. 18. Februar 1943, gut zwei Jahre vor der Kapitulation im Berliner Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Nun Volk, brich auf und Sturm brich los.“ Schrie Propagandaminister Josef Goebbels ins Mikofon. Die Stimme des Jesuitenschülers überschlug sich fast. Ist es typisch für die Natur des Menschen, Engel zu sein und Teufel in einer Person?

Und alle im Saal brüllten Heil, Heil Heil Hitler!“ sangen „Deutschland, Deutschland über alles. Über alles in der Welt.“ Als glaubten sie es. Das Publikum nur eingeladene Parteigenossen. Die nichts anderes konnten als lauthals brüllen. Wenn sie ihre komfortable Stellung behalten wollten. Ja sagen zu was auch immer. Als wäre ihr eigener Wille ausgeschaltet. Nachdenken könnte für sie Folgen haben. Den Kopf kosten. „Goldfasane“ nannte Portandus´ Vater diese Sorte Parteigenossen. Weil sie mit goldenen Schnüren, glitzernden Epauletten auf ihren braungelben Jackets und hohem Salair geadelt waren. Für jedermann Warnung oder Respekt. Je nachdem.

Stalingrad fiel. Auf allen Schlachtfeldern starben Millionen Soldaten. In Konzentrationslagern sieben Millionen Juden, Roma, Zindis, Kriegsgefangene. Weil das Gewissen in Wächtern offensichtlich ausgeschaltet war. Schlummerte, als es wach sein sollte. „Der Untertan“, Heinrich Manns berühmtes Buch charakterisiert diese deutsche Mentalität. Ob Kaiser oder Führer? Hauptsache einer befiehlt. Wir folgen. Letzter Grund für die großen Kriege des letzten Jahrhunderts.

Die Kindersoldaten bekamen eine Uniform in der Farbe der Luftwaffe, blaugrau. Bridgesähnliche Hose, Bluse mit Schulterklappen, Stiefel, Käppi und Stahlhelm. Zu sonntäglicher Heimfahrt oder Bummel auf der Kö eine Schirmmütze. Einen Tornister mit Kochgeschirr. Tabletten gegen ungewollte Versteifung des Gliedes. Sie nannten es „Hängolin“. Führers „Mein Kampf“. Fertig war der Flakhelfer. Ein fast perfekter Soldat.

Flak auf Deutsch Flugabwehrkanone. Sie sollten helfen, Granaten in die Rohre zu schieben. Die leeren Hülsen nach dem Schuss wieder in Bunkern zu lagern. Besser waren die dran, die am Messtisch arbeiteten. Oder am Horchgerät. Beide unentbehrlich, feindliche Flieger auszuspähen, ihren Standort zu bestimmen. Damit die Schüsse aus den vier Rohren der Batterie sie trafen. Wieviel blind in die Luft geballert wurden, hat niemand gezählt. Kanoniere machten ihrem Herzen Luft aus Pflichtgefühl gemischt mit Angst.

Geplant war täglicher Unterricht in der Stellung. Schule sollte nicht zu kurz kommen bei allem Militärischen. Ihr Klassenlehrer Dr. Battes kam zum Unterricht in die Baracke drei. Deutsch und Geschichte. Professor Wernke, ihnen den Logarithmus beizubringen. Pater Johannes Kleine-Natrop das Wort Gottes. Sie lernten und lernten und bereiteten sich aufs Notabitur vor. Aber der Stress des Alltags machte keinen Spaß.

Unteroffiziere ärgerten sie mit läppischen Befehlen. Leutnant Ypsilon durch seine arrogante Art. Ordnete an, ihn jederzeit zu grüßen. Stramm zu stehen, wenn er vorbei ging. Mit an die Schläfe gelegter Hand zu grüßen. Wehe, einer machte es zu lässig. Hatte die Hacken nicht knallen lassen beim Strammstehen. Zwanzig Kniebeugen waren die geringste Strafe. Draußen, ob es regnete oder die Sonne vom Himmel brannte wie Feuer.

Eines Tages waren sie es leid. Beschwerten sich bei Dr. Battes. Sie wussten, er war Hauptmann im ersten Weltkrieg. Der, auf Seiten seiner Schüler, kam am folgenden Morgen in voller Uniform. An seiner Brust prangte der Pour le Mérite, am Hals das Eiserne Kreuz erster Klasse. Und sonst noch, was sie nicht kannten.

Als der Leutnant, nichts ahnend die Baracke betrat, der Unterricht müsste beendet sein, sah er den Klassenlehrer Dr. Battes. Erschrocken riss er die Hacken zusammen, dass sie knallten. Hand an die Mütze: „Heil Hitler Herr Hauptmann!“ „Guten Morgen Herr Leutnant. Das reichte. Ab da benahm er sich freundlicher. Ständig die Furcht im Nacken, angepfiffen zu werden von seinem Vorgesetzten Generalleutnant Übler, wegen falsch verstandener Kameradschaft. Da kann man mal sehen, wozu Uniformen gut sind.

Zweimal feierten sie Weihnachten in einer Flak-Batterie. Das erste in Düsseldorf-Hamm, nahe der gefährdeten Eisenbahnbrücke über den Rhein. Ziel vieler Bombenangriffe. Das zweite in Düsseldorf-Kalkum, den zwischen Kaiserswerth und Lohausen liegenden Flughafen zu verteidigen. Ganz in der Nähe des Diakonissen-Mutterhauses. Ebenso nur ein Katzensprung zu Tante Mathilde und Onkel Willi. Vetter zweiten Grades von Portandus´ Mutter. Er war Aufpasser eines Gaskessels. Die Tante verwöhnte Portandus mit Aprikosenkuchen.

Weihnachten 1943 in Kappeshamm, so nannten sie den ländlichen Vorort. Das Zentrum des Kohlanbaus. Major Oebel ordnete an, eine Zehnmetertanne aufzustellen. Er besaß in seinem Zivilleben eine Brotfabrik in Köln. Gut katholisch, nahe liegend. Als es langsam dunkelte, war die ganze Batterie angetreten, rund um die Tanne. Die mit vielen elektrischen Kerzen illuminiert in den schwarzen Himmel strahlte. Allen Verdunkelungsvorschriften zum Trotz.

Generalleutnant Uebler, der ranghöchste in dieser Runde hob an: „Hohe Nacht der klaren Sterne.“ Neumodisches Weihnachtslied der nationalsozialistischen Jugendbewegung. Kaum einer sang mit. Sie kannten das Lied von ihren nächtlichen Fahrten, aber die Texte nicht bis zur letzten Strophe.

In die relative Stille nach der letzten Strophe tönte die markige Stimme des Brotbäckers Major Oebel: „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Uebler verstummte, verkrümelte sich. Junge und ältere Soldaten aber sangen aus voller Brust das schönste Lied der Christenheit. Vom kräftigen Bariton des Brotbäckers Oebel angeführt.

„Da wird einem öbel und übler“ frotzelten sie nicht lange danach. Erzählten es immer wieder, wenn sie sich trafen, Jahre später und Jahrzehnte noch.

In der Kommandatur ihrer Stellung waren auch Mädels beschäftigt. Luftwaffenhelferinnen genannt. In eine besonders hübsche verguckte sich Portandus, Helene Schuwerak. Lenchen genannt. Kein Problem miteinander ins Gespräch zu kommen. Bereits am dritten freien Samstag gingen sie ins Apollotheater. „Quax der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann gucken. Es gab einiges zu lachen, anderes zu fürchten. Ende gut, alles gut.

Zum ersten Mal mit einer Frau allein. Sein siebzehnjähriges Herz aufgeregt. In seinem Kopf die kühnsten Fantasien. Seine Hand auf ihrem Knie nicht abgewehrt. Portandus machte sich Hoffnung. Nicht vergebens, wie es den Anschein hatte. „Du kannst bei mir übernachten, wenn du willst“. Sie wohnte in Düsseldorf, vom Apollo zweimal um die Ecke.

Natürlich wollte er. Sagte nicht „aber gern“, sondern „wenn du ein Bett für mich hast.“ Sie hatte. Es war eine Couch. Sie legte ein frisches Nesseltuch darauf, holte eine flauschige Wolldecke, ein Sofakissen für den Kopf. Und verschwand ins Bad. In seinem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbaum. Sah sie schon im hauchdünnen Nachthemd an seinem Bett stehen. Vielversprechendes Lächeln im schönen Gesicht. Sich herunter neigen, seine Lippen küssen. Hörte den Himmel voller Geigen.

Sie kam. In einen dicken Bademantel gehüllt. Kein blankes Knie, kein Busenansatz zu sehen. Setzte sich auf die Kante der Couch, nahm mit sicherem Griff seine Hände, legte ihre Innenflächen zusammen: „Jetzt wird gebetet: Jesukindchen klein, mach mein Herzchen rein. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“

Er schlief unruhig. Wälzte sich dauernd hin und her. Sein Kopf das reinste Martyrium. Hätte ich sie doch einfach an mich gerissen, geküsst. Und so weiter und so weiter. „Hast du gut geschlafen?“ Zum Frühstück gab es weich gekochtes Ei. Toast mit Erdbeermarmelade. Eine große Tasse Schokolade für ihn. Sie, drei Jahre älter als er, trank Gerstenkaffee, genannt Muckefuck. Sonderration für die Woche. Wenn er sich später an diesen ersten Versuch erinnerte, als fast Volljähriger eine Frau zu besitzen, musste er schmunzeln. Lachte hellauf, so einfältig kann nur ein Katholik sein. Zu nichts anderem fähig als beten. Dabei den großen Verführer im Kopf, die unreifen Gedanken eines Spätpubertierers.

Wo aber war Porcus geblieben die lange Zeit? Nicht dabei, als es zur Flak ging. Auch nicht beim nachgeholten Abi, Februar 1946. Irgendwie fehlte er ihnen. Mensch braucht einen, den er hassen kann. Man munkelte, er habe sich krankschreiben lassen im Krieg. Seine Leber sei geschädigt. Nachsichtige vermuten, dass ihm mehr als eine Laus über dieselbe gelaufen ist. Grund für sein menschenfeindliches Verhalten. Porcus wurde vom aktiven Wehrdienst befreit.

Wo also steckt er jetzt. Die Lateiner hockten zusammen beim vierten Treffen nach Friedensschluss. Alle bereits vor dem Abschlussexamen. Avis dem Dr. der Orthopädie. ParvumPlumbum als Dipl. Betriebswirt. Portandus als Dipl. Architekt und Dr. der Kunstgeschichte. Molerus hatte bereits den Brennstoffgroßhandel seines Vaters übernommen. Wie gesagt, sie hockten bei Altbier und Röggelchen. Machten sich heftige Gedanken. Über einen, der zu ihrem Leben gehörte. Auch wenn sie ihn für das Arschloch in der dritten Potenz hielten.

ParvumPlumbum meinte, er hätte ihn gesehen, wie er in die Untergrundbahn stieg. Dann aber aus den Augen verloren. Avis vermutete ihn in der DDR. Agricola konnte keine Meinung haben. Er war in den letzten Kriegstagen gefallen. Als sie dies hörten, schwiegen sie belämmert und sehr traurig. Der Mensch Karl Otto Bauer war allen sympatisch. Nicht nur, weil er sie mit dem Jazz bekannt gemacht hatte. Er hatte einen offenen Charakter. Ganz im Gegensatz zu einem Porcus von Schwein. Auf dem Schwarzmarkt gab es schwarze Scheiben mit Armstrong. Wenn man Glück hatte. Portandus hatte fies Glück, wie man so sagte. Lud alle Lateiner zu sich auf die Dachkammer im elterlichen Haus. Ein eigenes hatte er noch nicht. Und lauschten der unnachahmlichen Trompete ihres Louis. Bewegt und hingerissen zugleich.

Da geschah, mit dem niemand gerechnet hatte. Porcus rief an. Hatte sich Avis ausgesucht. Woher aber wusste er von seinem Beruf? Weil Schweine überall rumrüsseln, giftete ParvumPlumbum. Vielleicht auch weil der Orthopäde sich immer verständnisvoll gezeigt hat. Damals und sicher auch heute noch. Charakterliche Schwächen behandelt wie eine verklemmte Bandscheibe. „Du musst mir helfen“, quälte sich ein gepeinigter Porcus am anderen Ende der Leitung um die richtigen Worte. Wusste er doch, warum sie ihn hassten.

Avis überlegte, „Was mag wohl in ihn gefahren sein? Plötzlich so unterwürfig. So gar nicht hinterfotzig. Oder führt er was im Schilde? Avis gewitzt durch Porcus´ üble Petzerei, sein menschenverachtendes Verhalten, wartete, bis er ihm antwortete. Ich lass ihn jetzt zappeln, damit ihm der Arsch auf Grundeis geht. Späte Rache, sagte seine Unvernunft. Nachdenken, seine Vernunft. Wie soll es weiter gehen?

Ließ ihn kommen. Streckte ihn, dehnte Gelenke und Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß und empfahl: „In einer Woche wiederkommen.“ Er kam wieder. In jämmerlicher Verfassung. Straft der liebe Gott so die Sünder? Avis wurde von seiner Mutter areligiös erzogen, dachte an Gott und weiß was. Den üblichen Religionsunterricht durfte er schwänzen. Tat was er am besten konnte. Streckte ihn, dehnte seine Gelenke, die Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß. Hoffte, es hilft. Auch Ärzte müssen hoffen, dass sie Recht behalten mit ihrer Therapie. Porcus musste ein drittes Mal kommen.

Sie wechselten auch diesmal kein Wort während der Behandlung. Jeder von ihnen konzentriert auf das Naheliegende. Oder Entfernte. Dann Abschied ohne Händedruck: „Tschö“. „Tschö, Porcus Deine Versicherungskarte!“ Rief Avis ihm nach. Glaubte, er habe sie vergessen abzugeben. Porcus war nicht versichert. „Dieses Schwein“, fiel ihm von der Zunge. Schickte ihm eine gesalzene Rechnung.

Die Adresse hatte er ihm entlockt. Bei Verweigerung hätte er ihn nicht behandelt. Wartet auf Zahlung. Kein Geld kam auf sein Konto. Nach vier Wochen nicht, einem Vierteljahr immer noch nicht. Die dritte Mahnung kam zurück: Empfänger unbekannt.

Als er es seinen Mitschülern erzählte, frotzelte Portandus: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Einer lachte. Es war Avis selber, der lachte. Als freute er sich über einen gelungenen Streich. Von außen betrachtet. In Wahrheit aber wurmte es ihn. Trieb ihn auf die Palme. Dahin, wo Gottes Zorn zu spüren ist. Auch bei denen, die nicht an ihn glauben. Porcus ist und bleibt ein charakterloses Schwein. „Ja, du hast Recht Portandus: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ha, ha.“

Alles mittlerweile Vergangenheit. Ein Gemischtwarenladen wie viele nach dem Krieg. Erinnert, amüsiert und kurz nacheinander geheiratet die verbliebenen Lateiner, vier an der Zahl. Molerus die Libanesin Alyssa. Zwei von ihnen gut versorgte Töchter. Schön sehen sie auch aus, wenn man aus der Ferne auf sie blickt. Annegret, die von ParvumPlumbum, auch bei näherer Betrachtung. Ihr Vater erbte von seinem Vater eine Bank. Privatbankier stand auf seiner Visitenkarte. Bald auch auf der ParvumPlumbums. So weiß jeder, dass er Geld vor sich hat. Und verneigt sich vor seiner Gemahlin. Insgeheim wünschend sie wäre die Seine. Keiner der Lateiner denkt an Mitgift. Bei Gott nein. Nur an ihre schlanke bella Figura. Avis bleibt solo vorerst.

Portandus heiratet die Tochter eines Restaurantbesitzers. Immerhin braucht er für Essen und Trinken nichts zu bezahlen. Dem noch erfolglosen Architekt fehlte aber etwas und wusste nicht was. Als er Annegret kennenlernt, machte er ihr den Hof. Das Gemälde Alessandro Botticellis im Kopf mit dem hinreißend gemalten Frühling. Scharwenzelt um sie herum, blickt ihr tief in die himmelblauen Augen. Hofft auf zustimmendes Nicken. Weiß aber gleichzeitig ich darf es nicht. Ich bin verheiratet. Sie ist ParvumPlumbums Frau. Seine Geliebte. Respektiert hatten sie immer das, was anderen gehörte. Plötzlich wie ein Blitz die Frage: Gehört Frau ihrem Mann? Wie man eine Bank besitzt oder ein Haus, ein Klavier? Kommt zu dem Ergebnis, Frau gehört nur sich selber. Lange bevor Alice Schwarzer es formulierte.

Entscheidet, wen sie lieben kann. Den, der ihr schöne Augen macht. Eine Dose Pralinen schenkt. Ein Paket Aktien. Gar eine Rose. Eine einzelne mit Tautropfen auf den Blättern. Ewiges Symbol der Liebe. Sagt, was sich denken, aber nicht aussprechen lässt. Worte berühren nur den Rand der Dinge. Diese frühe Erkenntnis enthebt Portandus der Entscheidung, auf der Stelle und sofort zu handeln. Wartet auf eine günstige Gelegenheit. Sie kommt schneller als er dachte.

ParvumPlumbum veranstaltet in seinem Garten eine Sommerparty. Das komfortable Haus hatte sein Schwiegervater ihnen zur Hochzeit geschenkt. Wollen diese Tatsache feiern. Am meisten beeindruckt sie das geräumige Bad. Dusche mit acht verschiedenen Düsen. Wasser nach Hebelstellung kalt, warm oder heiß. Gesprenkelt, gespritzt, geschüttet, gezielt gestrahlt von Kopf bis Fuß. Kräftig oder im sanften Brauseregen. Das blanke Sieb am Boden schluckt gurgelnd das seifenschaumige Nass.

Zweite Überraschung der Kamin. Wie ein Turm ragt er vom Marmorboden bis zur Decke. Eine gerundete Nische über der Öffnung mit farbigen Gläsern. Die sie aus Glasbläsereien Muranos oder Cas Concas auf Mallorca mitbrachten. Wunderschöne Rememberings.

Als sie den Raum betreten, flackert bereits das Holz im großen Feuerloch. Es liegt auf dem üblichen Gitter aus Eisenstangen. Nur hebt das Gitter keine Eisenkonstruktion auf Distanz zum Boden, damit Luft von unten die Flammen hellauf lodern lässt. Sondern Soldaten der Garde National. Napoleon III. private Leibwache. Sie hatten das Unikum aus Eisenguss auf ihrem Urlaub bei einem Antiquaire gesehen und spontan gekauft. Präzis in Saulieu, Burgund. Portandus wurde richtig neidisch. Hatte er doch ähnliche Vorstellungen von einem Kamin. Und einer schönen Frau auf dem Bärenfell vor lodernden Flammen. Den Champagnerkelch in der rechten Hand. Ihre linke winkt: komm.

Es wird ein rauschendes Fest. Der Abend zog sich in die Nacht zurück. Den Lichtern auf Tischen Gelegenheit zu geben, das Ihrige zu tun. Zu leuchten in der Finsternis. Den Lampions an zwischen Bäumen gespannten Drähten im Wind zu schaukeln, gute Stimmung zu erzeugen. Und Wünsche zu wecken. Es dürfte allen so ergehen. Den Männern, den Frauen. Aus Familie und Freundeskreis. Alle geladen zu feiern und den Alltag zu vergessen. Portandus´ Frau Maria musste zuhause bleiben. Sich um das kranke Baby kümmern. Ein zweites Kind war unterwegs. Aus drei Lautsprechern klang gedämpfter Jazz.

Zufällig oder nicht? Zwischen drei riesigen Eiben eine dunkle Stelle. Kein Tisch mit Kerze im Glas. Kein Lampion. Nur Gebüsch und gelbes Geriesel auf der Wiese, abgefallene Nadeln der drei Eiben. Lange bevor der Herbst andere Blätter färbte. Die Nadeln zu einem Teppich gewebt wie es schien. Einem sicher drei Zentimeter dicken. Müsste wunderbar weich sich anfühlen. Wenn man darauf sitzt oder liegt. Denkt Portandus. Und lässt seiner Fantasie freien Lauf.

Ähnliche Gedanken beschäftigen auch Annegret, ParvumPlumbums Frau. In Gedanken verloren nähert sie sich dem Dunkel unter den Eiben. Der Garten eher ein Park mit Bäumen, Sträuchern und Blumenbeeten. Von einem Landschaftsgärtner hin gestreut, typisch englisch angelegt. Natur bleibt Natur. Mensch fühlt sich wohl. Leine los statt gelenkt von Wegen, Gittern und Buchsbaumhecken. Ohne dass sie es wissen haben Portandus und Annegret die gleichen Gedanken. Und große Lust sich hinzugeben. An was auch immer.

Sie erkennen sich beim Näherkommen. „Auch Sie ein Bedürfnis nach Stille?“ Sie nickt: „Eine kleine Pause tut immer gut. Tagsüber gönne ich mir ein zwei Viertelstunden der Ruhe. Lege mich hin. Und fühle mich danach wie neugeboren. Vorausgesetzt ich habe wirklich abgeschaltet. Alle Gedanken, Sorgen, Wünsche. Gebe zu, nicht immer gelingt es mir.“

Portandus, von ihrer weichen Stimme fasziniert, weiß nicht, was er darauf antworten soll. Ihr beipflichten zu plump, findet er. Ihr sagen, es treibe ihn unentwegt zu kreativen Höhenflügen, Ruhepausen brauche ich nicht - zu angeberisch. Am besten schweigen. Schweigt. Betrachtet ihre Gestalt. Das Gesicht im Dunklen nicht gut zu erkennen. Ich müsste näher gehen, es zu sehen. Am liebsten mit der Hand streicheln. Fühlen ist mehr als sehen. Sie rührt sich nicht von der Stelle, als er einen Schritt auf sie zu macht. Immer noch nicht, als er ihre Hand nimmt. Wieder fallen lässt. „Pardon Madame.“

Er hatte gerade einen Französischkurs beendet. Madame rutschte ihm so heraus. Und er bedauert es nicht. Klingt es nicht nobler? Nicht nur gebildet, respektvoller. Wie von einem, für den Respekt nur die Overtüre zur Liebe ist. Zu feiern das Opus ihrer Einmaligkeit. Mit allen Instrumenten des Orchsters. Eines baldigen Tages. Denkt er bei sich und sagt es nicht.

Annegret hatte alles nicht mitbekommen. Nicht einmal ahnen können, was in seinem Kopf vorging. Erzählt gelegentlich sie sei sehr glücklich mit ihrem Mann. Was Portandus von sich nicht sagen kann. Die Seinige weigert sich schon seit Monaten mit ihm zu schlafen. Schützte Schwangerschaft vor. Obwohl andere Frauen gerade dann ihre Libido spüren, den Beischlaf verlangen.

Durch Zufall fand er die neueste Ausgabe der Zeitschrift „Emma“ in der Schublade des Küchenschrankes. Alice Schwarzers Hauspostille. Blätterte und dachte, jetzt weiß ich warum. Mann ist der Feind der Frau. Unterdrücker per se. Frau müsste ihm den Penis abschneiden mit dem Küchenmesser. Schrieb Schwarzer tatsächlich in ihrem Aufsatz. In dem sie von einer Amerikanerin berichtete, die ihren Mann auf diese Weise entmachtete. Seine Maria das Opfer von Schwarzers Kampagne?

Annegret und Portandus gehen wieder auf die hell erleuchtete Wiese zu den anderen. Reden laut und lachen. Dass niemandem der Verdacht kommt, sie hätten was miteinander. Da aber kommt ihr Mann auf sie zu. Parvum Plumbum schnellen Schrittes, als müsste er noch rasch eine Nachricht loswerden. Zerrt Portandus beiseite, sieht ihn an, zischt: „Hüte dich, meine Frau anzufassen, an ihr rumzufummeln. Ich habe Zeugen.“ Portandus fällt aus allen Wolken, verdattert: „Was soll ich getan haben? Du spinnst.“