Ronco - Die Tagebücher 24: Der letzte Wagen - Dietmar Kuegler - E-Book

Ronco - Die Tagebücher 24: Der letzte Wagen E-Book

Dietmar Kuegler

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Beschreibung

Seit Camelot of Bodmin wieder in seiner britischen Heimat angekommen ist, wird er von den Schergen Prinz Johanns gejagt. Er weiß, dass ihn der Tod erwartet. Doch dann taucht ein alter Freund auf. Der Rote Jäger. Gemeinsam stellen sie sich dem Terror.Die Printausgabe umfasst 150 Buchseiten.

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Seitenzahl: 281

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RONCO

In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

2711 Dietmar Kuegler Pony Express

2712 Dietmar Kuegler Todgeweiht

2713 Dietmar Kuegler Revolvermarshal

2714 Dietmar Kuegler Goldrausch

2715 Dietmar Kuegler Himmelfahrtskommando

2716 Dietmar Kuegler Im Fegefeuer

2717 Dietmar Kuegler Die Ratten von Savannah

2718 Dietmar Kuegler Missouri-Guerillas

2719 Dietmar Kuegler Höllenpoker

2720 Dietmar Kuegler Das Totenschiff

2721 Dietmar Kuegler Der eiserne Colonel

2722 Dietmar Kuegler Der Feuerreiter

2723 Dietmar Kuegler Die Ehre der Geächteten

2724 Dietmar Kuegler Der letzte Wagen

2725 Dietmar Kuegler Die Händler des Todes

2726 Dietmar Kuegler Das Massaker

Dietmar Kuegler

Der letzte Wagen

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-171-7Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Der letzte Wagen

von Dietmar Kuegler

26. Oktober 1881.

Als ich anfing, dieses Tagebuch zu schreiben, war ich ein Mann, der vom Gesetz nichts zu erwarten hatte. Ich wollte Gerechtigkeit, und Gesetz und Gerechtigkeit sind zwei Paar Stiefel, die sich sehr voneinander unterscheiden. Das Gesetz ist nur Papier, und Papier ist geduldig. Es kann gekauft und zurechtgebogen werden, heute so und morgen so, wie es denen gerade passt, die die Macht dazu haben. Die Gerechtigkeit aber ist unteilbar.

Ich habe mir niemals vorstellen können, dass ich einmal jenes Gesetz vertreten würde, das für mich damals gleichbedeutend war mit Ungerechtigkeit, Falschheit und Korruption.

Und doch ist es so. Meine Meinung darüber hat sich in den Wochen, die ich den Ranger-Stern trage, nicht geändert. Aber ich habe gelernt, dass Gerechtigkeit eine Sache der Menschen ist, die das Gesetz vertreten. Bei den Rangern habe ich bis heute schon viele Männer kennengelernt, die denken wie ich.

Aber es gibt noch immer Männer, die reich und mächtig sind und daher meinen, sich nicht an Regeln halten zu müssen. Sie schaffen ihre Gesetze selbst.

Ich habe mein Tagebuch damals begonnen, um ein Dokument meiner Unschuld zu hinterlassen, denn ich war ein gejagter Mann. Inzwischen habe ich längst begriffen, dass es falsch wäre, jetzt damit aufzuhören, jetzt, da ich selbst den Stern trage und rehabilitiert bin.

Ein Mann wie ich wird niemals völlig rehabilitiert sein. Die Hoffnung, einmal Ruhe zu haben, habe ich aufgegeben. Es wird immer wieder Leute geben, die mir etwas am Zeug flicken wollen, weil ich ihnen auf die Füße trete. Ich kann einfach nicht anders. Wer jahrelang unschuldig verfolgt wurde und gegen eine ganze Welt kämpfen musste, um sein Recht zu erhalten, der verlernt es wohl, gegenüber wirklich großen Schuften den Mund zu halten, sich vor ihnen zu ducken.

Die meisten tun das. Auch die, die den Stern tragen. Ich gehöre nicht dazu. Für mich ist der Stern eine Verpflichtung, die ich ernstnehme. Denn genauso, wie ich schließlich meine Unschuld beweisen konnte, konnte ich die Schuld und die Verstrickungen all jener beweisen, die mich in die Gesetzlosigkeit gestoßen hatten. Alles hat seine Stunde, jeder stößt einmal an seine Grenzen.

Mein Tagebuch verhindert, dass ich die Vergangenheit vergesse, und hilft mir, die Gegenwart schärfer zu sehen. Und ich habe begriffen: Die Geschichte gleicht sich, auch die Menschen, die einem begegnen, gleichen sich. Es sind immer dieselben, die meinen, das Gesetz und alle menschlichen Regeln umgehen zu können. Während ich hier schreibe, denke ich daran, denn die Erinnerung beweist mir, dass man nie aufhören darf, gegen sie zu kämpfen. Sie sind alle zu besiegen. Aber man muss auf der Hut sein. Wer gegen sie ist, wird von ihnen verfolgt, manchmal über den Tod hinaus. Deshalb höre ich nicht auf, meine Geschichte weiterzuschreiben, und ich höre nicht auf, weiterzukämpfen.

1.

Elton spielte mit Shita auf dem Hof. Sie tobten herum. Shita hechelte, kläffte und sprang den Stöcken nach, die Elton warf.

Texas im Oktober 1865. Es war heiß. Die Sonne stand hoch. Ein Himmel ohne Wolken. Die weiten Ebenen dehnten sich zu den Horizonten. Der Westwind war schwach und atmete Erschöpfung und Dürre.

Der Sommer war fast vorbei. Die Tage würden nicht mehr lange so heiß sein. Sie waren bereits kürzer und die Nächte länger. Einmal hatte es schon Frost gegeben.

Elton war fünfzehn. Groß für sein Alter und mager. Ein Pickelgesicht mit langen blonden Haaren, etwas zu breitem Mund und blitzenden Augen.

Ich sah Shita und Elton am Brunnen vorbeirennen. Sie schienen um die Wette zu laufen. Elton stolperte und fiel der Länge nach hin. Shita stürzte sich auf ihn und beleckte mit wahrer Begeisterung sein Gesicht. Ich hörte Elton schreien und grinste.

Mistress Vandam brachte mir einen Teller mit Spiegelei und frischem Brot. In der linken Hand hielt sie eine große Kanne. Es duftete nach frisch geröstetem Speck und Kaffee.

Mistress Vandam war Eltons Mutter. Elsa Vandam: Mittel­groß war sie, kräftig, breite Hüften, starke Schultern, volle, fleischige Arme und kleine, schwielige Hände, die zupacken konnten.

Ihr Gesicht war rund und von rosiger Frische. Die Augen waren lebhaft und sahen alles, es entging ihnen nichts.

„Danke, Ma‘am“, sagte ich.

„Essen Sie nur, Ronco“, sagte sie.

Ihre Wangen glänzten so rot wie Paradiesäpfel. „Es tut Ihnen gut. Immer das eintönige Essen im Fort ist nichts für einen jungen Mann. Mögen Sie danach noch einen Apfel?“

„Gern, Ma‘am. Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben.“ Ich griff nach einer Gabel und schaufelte das Ei in mich hinein, während sie mir Kaffee in eine dicke Porzellantasse einschenkte. Zwischendurch hob ich den Kopf, mampfte und sagte mit vollem Mund: „Ich habe noch nie so gut und viel gegessen, bevor Sie sich hier niedergelassen haben.“

Das Kompliment schien ihr zu gefallen. Sie lächelte und bewegte sich durch den Aufenthaltsraum zu einer grob gezimmerten Truhe. Sie holte einen Apfel heraus. Er war grün und hatte ein paar rosige Flecken. Sie wischte ihn sorgfältig an ihrer geblümten Schürze ab, bis er glänzte wie eine Billardkugel.

Die Vandams waren seit sechs Wochen in dieser Gegend. Sie hatten eine kleine Station für die neue Postlinie aufgebaut, die seit zwei Wochen in Betrieb war und von Eagle Pass an der Mexiko-Grenze über Fort Calhoun, immer die Overlandstraße entlang, bis nach ­Corpus Christi am Golf von Mexiko und wieder zurück nach Eagle Pass führte. Von da aus ging es noch weiter nach Westen.

Seitdem war ich oft hier. Fort Calhoun war nicht der Nabel der Welt, hatte aber den militärischen Schutz für die neue Postlinie. Ich war froh, dass ich als Scout viel unterwegs sein und die Vandams immer wieder besuchen konnte. Sie waren eine Familie, die mir gefiel und bei der ich mich wohlfühlte.

Auch Shita fühlte sich hier wohl. Elton war geradezu verrückt nach ihm, und Elsa Vandam hatte jedes Mal für mich etwas zu essen. Sie war mütterlich um mich besorgt. Das war neu für mich, aber sehr angenehm.

„Elton bringt sich mit Shita noch um“, sagte sie. Sie stand am Fenster, nachdem sie mir den Apfel zum Tisch gebracht hatte. „Er will auch einen Hund, genauso einen wie Shita.“

„Ein Hund ist was Feines für einen Jungen“, sagte ich kauend. „Es ist sehr einsam hier. Elton braucht Gesellschaft.“

„Es wird sicher bald mehr Farmen hier geben“, sagte Mistress Vandam. „Die Postlinie zieht Siedler hierher, glauben Sie mir. Dann wird es irgendwann eine Stadt geben. Vielleicht sogar dort, wo jetzt Fort Calhoun liegt, und auch eine Schule wird es geben. Eine Schule ist wichtig. Mein Mann kann lesen, ich kann lesen und schreiben. Aber Elton soll einmal mehr können als nur das.“

„Bis dahin wird noch Zeit vergehen“, sagte ich. Ich trank einen Schluck Kaffee. „Bis dahin ist Elton ein Mann. Dann hat er selbst Kinder, und die können vielleicht in die Schule gehen.“

„Sie wissen sehr viel über das Land, obwohl Sie noch so jung sind, Ronco“, sagte sie.

„In diesem Land lernt man schnell, Ma‘am“, sagte ich. „Wer das nicht tut, wird hier nicht alt. Ich war schon mit zwölf Jahren ein Mann, und Elton wird es auch bald sein. Aber Elton hat Sie, und er hat seinen Vater. Ich hatte keine Eltern. Elton hat einen besseren Start.“

„Es tut mir sehr leid, Ronco.“

„Danke, Ma‘am, aber das ist nicht nötig. Damals, als ich es gebraucht hätte, war niemand da, der Mitleid hatte, und heute habe ich mich daran gewöhnt, allein zu sein. Ich hatte niemals Zeit, mich selbst zu bemitleiden oder darüber nachzudenken, was alles aus mir hätte werden können, wenn ich Vater und Mutter gehabt hätte. Ich musste sehen, wo es lang ging, und ich habe versucht, mich durchzuschlagen. Man soll sich nicht gegen etwas wehren, was nicht zu ändern ist, sondern versuchen, aus jeder Lebenslage das Beste herauszuholen.“

„Sie sind zwanzig, nicht wahr?“

„Neunzehn, Ma‘am“, sagte ich. Ich aß mein Spiegelei und kostete von dem Brot. Elsa Vandam backte das beste Brot, das ich je gegessen hatte.

„Sie sind nur vier Jahre älter als Elton“, sagte sie. „Wenn ich Sie ansehe, kann ich es kaum glauben.“

Ich antwortete nicht. Sie hatte recht. Ich hatte schon immer älter ausgesehen, als ich war. Jetzt war ich neunzehn und sechs Fuß groß. Früher war ich sehr hager gewesen, wie ein junger Wolf. Jetzt hatte ich etwas angesetzt. Ich war breiter geworden, aber ich schleppte kein Gramm Fett zu viel mit mir herum. Ich hatte schmale Hüften, mein Brustkorb war breit, meine Schultern muskulös, meine Arme kräftig und sehnig. Ich trug ein paar Narben an meinem Körper, und in mein Gesicht hatten sich ein paar scharfe Falten gekerbt. Die Sonne hatte meine Haut dunkel gebrannt, und das blonde Haar trug ich noch immer schulterlang wie damals, als ich noch zum Stamm der Chiricahua-Apachen gehört hatte. An der Hüfte hing rechts in einem Holster mein alter, zernarbter Navy-Colt, links trug ich ein Messer. Stets bedeckte ein dünner Bartflaum meine Wangen, denn ich hatte selten Gelegenheit, mich regelmäßig zu rasieren.

Es stimmte: Ich sah älter aus, ich fühlte mich auch älter. Mein bisheriges Leben und die vielen Erfahrungen hatten mich geprägt, innerlich und äußerlich.

Ich schob den leeren Teller zurück und kaute auf der Brotrinde herum, die knusprig und dunkel war und besonders würzig schmeckte, wie mir schien. Dann griff ich zur Tasse und trank.

Mistress Vandam kochte auch den besten Kaffee, den ich je getrunken hatte.

„Elton mag Sie sehr“, sagte sie. „Er möchte werden wie Sie, hat er gesagt.“

„Lieber nicht“, sagte ich.

„Er hält sehr viel von Ihnen“, erklärte sie. „Er sagt, er würde gern Ihr Freund sein.“

„Shitas Freunde sind auch meine Freunde“, sagte ich. „Wenn ich einmal Zeit habe, werde ich mit Elton auf die Jagd gehen.“

„Ich glaube, dass er dann für den Rest seines Lebens davon träumen wird“, meinte Mistress Vandam. „Er hat sich nur noch nicht getraut, Sie darum zu bitten, aber er redet schon lange davon.“

„Das Ei war ausgezeichnet, Ma‘am“, sagte ich. „Ihr Brot muss im Himmel gebacken worden sein, und für Ihren Kaffee würde ich tausend Meilen weit reiten.“

Sie strahlte über das ganze Gesicht, trat zum Tisch und räumte das Geschirr ab. Als sie damit in die Küche ging, bellte Shita draußen wieder.

Ich erhob mich. Alles hier im Raum duftete neu. Die Balken waren frisch geschält und hell, sie rochen nach Harz. Die Bodendielen waren blankgescheuert, genauso die Tische. Elsa Vandam war eine Frau, die auf Sauberkeit hielt.

Mister Henry Vandam war um diese Frau zu beneiden. Er war ein schweigsamer, vierschrötiger, fleißiger Mann, der in den wenigen Wochen, die die Familie hier war, nicht nur zusammen mit seiner Frau und einem Helfer, den die Postlinie hergeschickt hatte, das Stationshaus aufgebaut, sondern auch hinter dem Haus ein großes Feld abgesteckt hatte, auf dem er im nächsten Jahr Mais säen wollte.

Er arbeitete jetzt im Stall. Der Helfer, den die Postlinie geschickt hatte, war längst wieder weg. Es gab aber noch viel zu tun, und ich hatte noch keinen Tag erlebt, an dem Henry Vandam die Hände in den Schoß gelegt hätte.

Außer natürlich am Sonntag, denn die Vandams waren gottesfürchtige Leute. Sonntags zogen sie ihre besten Kleider an und fuhren nach Fort Calhoun hinüber, mit einem klapprigen Einspänner, der von einem altersschwachen grauen Hengst gezogen wurde. In Fort Calhoun wurde sonntags eine Messe gelesen, und ich hatte es seit sechs Wochen nie erlebt, dass die Vandams eine Messe versäumt hatten.

Sie hatten schnell Freunde gewonnen, obwohl die Nachbarn sich hier nur selten sahen. Westlich von Fort Calhoun gab es nur wenige Farmen. Die meisten Siedler hatten sich östlich des Forts im Gebiet am Rio Doro niedergelassen. Aber jeder kannte die Vandams.

Fort Calhoun war von Vandams Station gut zehn Meilen entfernt, vom Farmgebiet am Rio Doro fast dreißig. Aber ab und zu trafen einzelne Farmer die Vandams im Fort. Dann wurde über Gott und die Welt geredet.

Sonntags, nach der Messe, tauschten die Frauen Kochrezepte aus, und manchmal brachte Mistress Vandam selbstgebackenen Kuchen oder Plätzchen mit ins Fort. Für Colonel Hampton Lester, den Kommandanten, für irgendeine Siedlerfamilie, in der jemand krank war, und natürlich für mich. Ich teilte das Gebäck immer mit Jicarilla, dem zweiten Scout, und der spülte es mit Brandy hinunter. Allein der Gedanke daran ließ mich schauern.

Colonel Lester hatte einmal gesagt: „Hundert Leute wie die Vandams, und diese Wildnis wäre ein zivilisiertes Paradies.“

Er konnte damit durchaus recht haben, zumal die Vandams sich in einem Punkt von vielen Siedlern unterschieden: Sie waren keine Indianerhasser. Wenn sich ein paar Apachen bis auf Vandams Station trauten, erhielten sie von Mistress Vandam ein Stück Kuchen und von Henry Vandam eine Handvoll Tabak und zogen friedlich wieder ab.

Die Vandams hatten auch keine Angst vor Indianern. Das mochte daran liegen, dass sie ihr halbes Leben in Gegenden zugebracht hatten, in denen es keine Indianer mehr gab. Keine richtigen Indianer jedenfalls, nur solche, die lethargisch an den Straßenecken der Städte hockten und um ein paar Cents bettelten, die sie dann sofort in Schnaps umsetzten.

Ich hatte die Vandams gewarnt und ihnen gesagt, dass es nicht nur friedliche Indianer in unserer Gegend gäbe. Aber in den Indianerlagern am Rio Doro waren sie mittlerweile genauso bekannt und beliebt wie in Fort Calhoun.

Ich erhob mich, streckte mich gähnend, denn ich hatte in der letzten Nacht schlecht geschlafen, und schlenderte durch den Aufenthaltsraum zu einem Fenster.

Shita bellte wieder. Zuerst sah ich Henry Vandam. Er war aus dem Stall getreten und hielt eine Mistforke in der rechten Faust. Der hohe Hut mit der schmalen Krempe saß ihm weit im Genick. Das spärliche aschblonde Haar vorn war ihm in die Stirn gerutscht.

Sein Kopf war kantig wie ein Stein, aber sein Gesicht wirkte gutmütig, und seine Augen blickten geradezu milde.

Seinen Rücken konnte man mit dem Lauf eines Sharps-Karabiners messen, und seine Schultern waren breit.

Henry Vandam blickte nach Westen. Ich trat näher ans Fenster und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er seine Mistgabel an die Stallwand lehnte und langsam über den Hof schritt.

Ich sah nun auch Shita und Elton. Sie hatten aufgehört, herumzutoben und standen nebeneinander am westlichen Rand des Hofes. Der Wind zauste in Eltons Haar.

Auf den Hügeln im Westen, gut eine Meile entfernt, sah ich ein Vierergespann auftauchen.

Die Kutsche, dachte ich. Sie ist pünktlich. Ich werde sie nach Fort Calhoun begleiten.

Aber es war nicht die Kutsche. Das Gespann war allein. Es schleifte die zerrissenen Geschirrriemen hinter sich her.

Ich wandte mich vom Fenster ab und lief zur Tür. Aus dem Küchendurchgang tauchte Elsa Vandam auf.

„Sie haben Ihren Apfel noch nicht gegessen!“, rief sie. „Möchten Sie noch ein Glas Milch, Ronco?“

„Danke, Ma‘am“, sagte ich. „Das ist zu liebenswürdig. Später vielleicht.“

Ich riss die Tür auf und stürmte hinaus. Hinter mir sagte sie noch etwas, aber ich verstand es nicht.

*

Henry Vandam stand neben dem Brunnen. Elton und Shita hatten sich noch nicht vom Fleck gerührt.

Der Hufschlag verstärkte sich. Er klang wie ein dumpfer Trommelwirbel. Der Wind frischte auf einmal auf. Eine heftige Bö fuhr über den Hof und trieb zwei Tumble­weedkugeln, ausgetrocknete Dornensträucher, in denen strähnenartig die weißen Fäden des Indianersommers hingen, über den Hof der Station gegen die westliche Stallwand.

Die Pferde preschten in donnerndem Galopp auf die Station zu. Schaumflocken standen vor ihren Nüstern. Ich sah, dass das Tier rechts hinten einen blutigen Striemen an der Flanke hatte.

Ich lief an Henry Vandam vorbei und blieb einen Moment neben Elton und Shita stehen. Shita bellte laut.

„Geh zur Seite!“, rief ich Elton zu, dann hastete ich den Pferden entgegen.

Sie stürmten geradewegs auf mich zu. Ich sah die wirbelnden Hufe, den dichten Staub, sah die breiten, muskulösen, schweren Pferdeleiber heranjagen.

Sie würden mich gleich erfassen, durch die Luft schleudern, und ich würde schwer stürzen.

Wenn nicht mich, dann würden sie Elton niedertrampeln, vielleicht sogar Mister Vandam.

Ich riss beide Arme hoch, als die Pferde keine zehn Yards mehr von mir entfernt waren, und brüllte laut, dass sich meine Stimme überschlug.

Das vordere linke Tier scheute und warf den Kopf herum. Es bäumte sich auf und stürzte fast, da die Geschirrriemen ihm die Bewegungsfreiheit nahmen. Das Tempo der anderen Tiere verlangsamte sich. Aber sie hielten nicht an.

Im letzten Moment warf ich mich zur Seite und erwischte im Sprung noch die Riemen des Kopfgeschirrs des rechten vorderen Tieres. Trotzdem traf mich die Brust des Pferdes mit einem Rammstoß und riss mich in die Höhe. Aber ich hielt den Kopfriemen fest umklammert, obwohl ich das Gefühl hatte zu fliegen. Um mich herum drehte sich alles. Meine Arme drohten aus den Schultergelenken zu reißen. Ich schrie und konnte meinen eigenen Schrei nicht hören, so laut dröhnte der Hufschlag der vier Pferde. Eins wieherte grell. Es klang wie ein Trompetenstoß.

Meine Füße schlugen am Boden auf und schleiften mit. Ich spürte einen schmerzhaften Stich im linken Knöchel und hielt immer noch fest.

Durch den wirbelnden Staub sah ich Shita. Er sprang wie ein Verrückter neben den Pferden her und bellte sich fast die Seele aus dem Leib. Er sprang das linke Tier an und wurde zur Seite geschleudert, überschlug sich, richtete sich aber sofort wieder auf.

Dann sah ich Elton Vandam.

Er stand wie angewurzelt mitten im Weg. Die Pferde rasten auf ihn zu.

„Geh weg!“, brüllte ich.

Er war bleich, seine Augen waren groß. Er hatte den Mund aufgesperrt und die Hände abwehrend vorgereckt.

Plötzlich war Shita da und warf sich gegen ihn. Elton verlor das Gleichgewicht und stürzte seitlich zu Boden. Einen Sekundenbruchteil später jagten die Pferde vorbei. Die wirbelnden Hufe verfehlten seinen Körper höchstens um eine Handbreite.

Ich spürte, wie die Tiere langsamer wurden, und obwohl meine Muskeln schmerzten, klammerte ich mich weiter fest, denn ein Sturz bei diesem Tempo hätte mich ein paar Knochen gekostet.

Henry Vandam tauchte vor mir auf und sprang seitlich gegen das linke vordere Tier. Er erwischte das Kopf­geschirr und wurde ebenfalls mitgeschleift. Aber das Tier scheute wieder und versuchte, sich aufzubäumen. Das brachte die anderen endgültig aus dem Rhythmus. Ihr Tempo verlangsamte sich merklich. Neben dem Stall blieben sie schließlich mit zitternden Flanken stehen. Schaum tropfte aus ihren Nüstern.

Ich taumelte, und meine Knie waren weich wie Pudding, als ich das Kopfgeschirr losließ und wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Der Staub senkte sich. Ich verspürte einen starken Hustenreiz und taumelte um die Pferde herum.

Elton hatte sich wieder erhoben. Er näherte sich steifbeinig und zitterte am ganzen Körper. Sein rechter Hemdsärmel war zerrissen.

Aus dem Haus stürzte Elsa Vandam und schlang ihre Arme um Elton. Shita hüpfte um beide herum, als hätte.er einen Frosch verschluckt, und bellte.

Ich bückte mich nach dem Ende der Geschirrriemen. Sie waren durchgerissen. Dickes, gutes Leder. Es musste einen Unfall gegeben haben, wenn nicht Schlimmeres. Ich glaubte an Schlimmeres, denn ich sah den roten Striemen auf dem Rücken des einen Tieres und war sicher, dass er von einer Gewehrkugel herrührte.

Shita trabte auf mich zu. Ich bückte mich, tätschelte seinen Kopf und sagte: „Du bist der Größte, mein Alter.“

„Den Hund sollte man mit Gold aufwiegen“, sagte Henry Vandam. Er war neben mich getreten. Er war kreide­bleich. Ich hatte ihn noch nie so gesehen.

„Alles in Ordnung, Elton?“, fragte ich.

Mistress Vandam ließ ihren Sohn los. Elton strich sich unsicher das strähnige Haar aus der Stirn. Er hockte sich wortlos zu Boden und schlang beide Arme um Shitas Hals, und Shita wedelte mit dem Schwanz, dass ich sicher war, er würde ihm gleich abbrechen.

„Ich muss reiten“, sagte ich. „Mit der Kutsche ist was passiert. Ich glaube nicht, dass die Pferde sehr weit gelaufen sind. Höchstens vier oder fünf Meilen.“

„Ein Unfall?“, fragte Henry Vandam.

„Vielleicht ein Überfall.“ Ich drehte mich um und ging zum Stall, um mein Pferd zu holen. Als ich es gesattelt wieder auf den Hof führte, waren im Westen ein paar Wolken aufgezogen. Der Wind hatte zugenommen. Es hatte sich etwas abgekühlt. Ich hoffte, dass es nicht regnen würde.

„Bleiben Sie im Haus“, sagte ich zu Mister Vandam. „Am besten verlassen Sie die Station nicht, bis ich wieder zurückkehre.“

„Wollen Sie allein reiten?“

„Das ist mein Job“, erwiderte ich. „Komm, Shita.“

„Shita muss einen Knochen kriegen“, erklärte Elton.

„Später“, sagte ich. „Er kann ihn sich abholen, wenn wir zurück sind. Vielen Dank für das gute Essen, Ma‘am.“

Ich hatte meinen breitrandigen Hut aufgesetzt und tippte mit der Rechten an die Krempe. Dann trieb ich den Hengst an und ritt vom Hof. Shita kläffte einmal hell und folgte mir mit großen Sätzen. Der Wind stand mir ins Gesicht, als ich die Overlandstraße westwärts ritt. Der Hengst fiel in leichten Galopp. Ich zurrte die Fangschnur des Hutes unter meinem Kinn fest und sah in der Ferne seitlich von mir einige Tumbleweedkugeln, die der Herbstwind über die Prärie trieb. Sie glichen riesigen, schmutzig-weißen Schneebällen.

2.

Die Kutsche war umgestürzt, ein schwerer Concord-Wagen mit großen Rädern und soliden Federn. Man nannte sie eine „fahrbare Wiege“. Das war übertrieben, aber die großen Schlaglöcher der Overlandstraße ließen sich während einer Fahrt mit ihr leichter ertragen als in einem anderen Wagen.

Die Kutsche lag schräg auf der südlichen Böschung der Straße. Ein geborstenes Deichselende ragte in die Höhe. Die Abdeckplane des hinteren Gepäckraums hatte sich gelöst und flatterte im Wind auf und ab. Ein paar Gepäckstücke waren vom Dach gefallen und lagen im Gras verstreut.

Ich sah sie aus gut vierhundert Yards Entfernung von einer Anhöhe aus. Noch immer war der Wind von Westen ziemlich stark. Die Wolken am Himmel hatten sich verdichtet und grau gefärbt. Die Sonne sah aus, als läge sie hinter einer dicken Milchglasscheibe. Sie hatte merklich an Kraft verloren, ihr Glanz war stumpf geworden.

Ich konnte den zu erwartenden Regen riechen. Die Vögel flogen niedrig, über buntem Salbei und Kreosot wimmelte es von Mücken und winzigen Gewitterfliegen. Auch in meiner Nähe ballten sich Schwärme zusammen. Der Hengst verscheuchte sie mit dem Schlagen seines Schweifs, aber sie kehrten immer wieder zurück. Ich hielt ein kurzes Spektiv in der Hand, das mit genarbtem Leder überzogen und einem Armee-Stempel versehen war. Sorgfältig suchte ich die Umgebung der Kutsche ab.

Alles schien menschenleer. Nirgends gab es ein Lebenszeichen. Ich entdeckte auch den Kutscher nicht. Dafür sah ich durch das Glas, dass das Gras beiderseits des Wagenweges zertrampelt war. Ich suchte die Hügel ringsum ab.

Schließlich steckte ich das Spektiv weg, ging zu meinem Pferd und schwang mich in den Sattel.

Shita bellte. Ich sah ihn an. Er wirkte völlig ruhig. Keine Spur von Nervosität. Ich konnte sicher sein, dass wir im Moment allein waren.

Ich trieb den Hengst an und ritt die Wagenstraße entlang. Shita folgte in einigem Abstand.

Ich erreichte die Kutsche, als ein paar Regentropfen fielen. Sie trafen mich ins Gesicht. Ich zügelte das Pferd und stieg ab. Einige Pfeile steckten in der Heckseite des Wagens, ein abgebrochener Pfeilschaft ragte aus der linken Tür.

Überall waren Hufspuren. Unbeschlagene Pferde. Es waren Indianer gewesen.

Shita war um die Kutsche herumgelaufen und bellte nun wieder. Ich folgte ihm und sah den Kutscher. Er lag halb unter dem Wagen begraben und von der Bockbank verdeckt.

Er war tot. Beim Sturz musste er sich das Genick gebrochen haben.

Ich kletterte an dem Gestänge an dem Dach hoch und schaute von oben durch das linke Vorderfenster in die Kutsche.

Im Innern sah ich zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Sie lagen verkrümmt neben den Sitzen, von denen sie beim Sturz des Wagens geschleudert worden waren.

Beide waren blutig. Im Wagen roch es nach Pulverdampf und Blut.

Die Frau war von einem Pfeil getroffen worden, der Mann von mehreren Kugeln.

Auf der Tür stand in dicken Lettern: Vanderbilt Overland Stage. Mehrere Kugeln hatten die Tür getroffen und den Lack aufgesplittert.

Ich ließ mich zurückgleiten und schaute mich um. Hinter der Böschung entdeckte ich im hohen Gras einen weiteren menschlichen Körper.

Es war ein Mann, groß, massig, dunkelgrauer Anzug mit Nadelstreifen und ein Hemd aus reiner Seide. Das Hemd war zerrissen und sah nicht mehr sehr elegant aus. Die Schnürsenkelkrawatte aus weinrotem Samt wirkte auf dem zerrissenen Hemd beinahe lächerlich, wenn der Mann nicht tot gewesen wäre, und über Tote lacht man nicht.

Ein Stück abseits lag sein Hut. Er war genauso teuer wie der Anzug. Feiner, hellgrauer Filz, ein Stetson der Sonderklasse, mit einem Hutband aus Hermelin. Neben dem Hut lag die Tasche des Mannes. Sie war unversehrt. Ich bückte mich und öffnete sie. Sie enthielt nicht viel. Etwas Wäsche, alles in einer Qualität, wie ich sie höchstens in den Schaufenstern von St. Louis gesehen hatte. Dazwischen aber lag ein Päckchen aus grobem Wild­leder, das eine primitive, schlichte indianische Stickerei trug.

Ich nahm es heraus. Es war überraschend schwer. Ich löste den Knoten, der es verschnürte, und schlug das Leder zurück. Unwillkürlich schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich das Päckchen noch immer in der Hand und sah unregelmäßig geformte, aber durchweg ziemlich Fingerkuppen große Goldnuggets vor mir. Gewiss drei Dutzend.

Ich verschloss das Päckchen wieder, legte es in die Tasche zurück, schloss die Tasche und hob sie auf, um sie zu meinem Pferd zu tragen.

Shita kläffte in diesem Moment. Seine Nackenhaare hatten sich gesträubt. Er starrte mit hochgezogenen Lefzen zu den Hügeln im Süden hinüber.

Ich wandte mich um und sah die beiden Indianer.

Obwohl sie gut hundert Yards entfernt waren, war ich sicher, dass es sich um Apachen handelte. Aber es waren keine Indianer vom Rio Doro. Ich war sicher, dass ich Krieger von Stämmen vor mir hatte, die jenseits des Rio Grande in Mexiko lebten.

Sie saßen auf kleinen, gescheckten Ponys. Einer trug Bogen und Köcher über der Schulter, der andere hatte vor sich im Sattel eine Militärmuskete liegen. Sie trugen ausgeblichene Kalikokleidung. Der Wind zauste in ihren langen Haaren.

Ich suchte mit Blicken die übrigen Höhen ringsum ab, aber die beiden Indianer schienen allein zu sein. Mit der Tasche in der Hand ging ich zu meinem Pferd und hängte sie ans Sattelhorn. Dann kehrte ich noch einmal zur Kutsche zurück und öffnete nach einigen Mühen den Kasten unter dem Bock. Es befand sich ein kleiner Leinenbeutel mit Post darin. Ich nahm ihn ebenfalls mit und stieg dann wieder in den Sattel.

Shita beobachtete noch immer die beiden Krieger, und die beiden Krieger beobachteten mich. Ich zog so, dass sie es deutlich erkennen mussten, meinen Spencer-­Karabiner aus dem Scabbard und behielt ihn vor mir im Sattel. Dann pfiff ich nach Shita.

In der Ferne hörte ich ein dumpfes Grollen. Die Sonne war hinter einer dichten Wolkenwand verschwunden. Schwer und kalt fielen die Regentropfen. Ich zog den Hut tiefer in die Stirn. Hinter dem Sattel hatte ich zusammengerollt eine Wildlederjacke festgezurrt. Ich löste sie und streifte sie über. Es war nötig. Der Regen wurde rasch dichter.

Hinter den Kriegern sah ich es blitzen. Unmittelbar danach folgte ein dröhnender Donnerschlag. Die beiden Apachen nahmen ihre Pferde herum und verschwanden hinter der Hügelkette. Ich wusste, ich musste auf der Hut sein.

Ich trieb den Hengst an und ritt ostwärts, während der Regen auf meine Hutkrempe klatschte, auf meinen Rücken und meine Schultern pladderte und kalt über mein Gesicht rann. Shita hielt sich dicht bei mir. Er hasste Gewitter, ich wusste das. Er hasste es noch mehr, wenn wir während eines Gewitters unterwegs waren. Aber jetzt ging es nicht anders.

Binnen kurzer Frist bildeten sich riesige Wasserlachen, die den Wagenweg nahezu vollständig unter sich bedeckten. Der Regen weichte die Erde durch und verwandelte sie in Morast.

Es verging keine Viertelstunde, und ich war völlig durchnässt. Ich spürte den Regen nicht mehr. Das Sattelleder unter mir knarrte vor Feuchtigkeit bei jeder Bewegung.

Das Gewitter holte mich langsam ein. Um mich herum blitzte und donnerte es pausenlos. Facettenhaft zuckten die Blitze durch die Regenschleier. Spinnennetze aus Feuer schienen den Himmel für Sekundenbruchteile zu überziehen. Mit Urgewalt dröhnten die Donnerschläge, ließen den Boden erzittern und den Himmel erbeben.

Ich konnte die Straße längst nicht mehr erkennen und richtete mich nur noch nach meinem Instinkt. Das Land um mich her versank hinter grauen Vorhängen, die die Sicht auf höchstens fünf Yards beschränkten. Ich ritt im leichten Trab. Ich wäre gern schneller geritten, wollte aber vermeiden, dass sich der Hengst überanstrengte oder auf dem glitschigen Boden ausglitt und sich verletzte.

Ab und zu fühlte ich zum Sattelhorn nach der schweren Reisetasche. Je öfter ich daran dachte, umso weniger begriff ich das alles.

Die Kutsche war überfallen worden. Es war erst die vierte Kutsche, die auf dieser neuen Route verkehrte. Die Passagiere waren alle tot. Sie war von Indianern überfallen worden, von Apachen, die von jenseits der Grenze gekommen waren. Aber sie hatten offenbar nicht das geringste geraubt. Die Kutsche war nicht durchsucht worden, die Reisenden auch nicht. Selbst die Tasche des Mannes, der anscheinend aus der Kutsche geschleudert worden war, war unberührt geblieben, obwohl sie für viele tausend Dollar Gold enthielt. Interessant dabei war, dass es in einer indianischen Lederarbeit verpackt war, aber das war nur ein weiteres Rätsel.

Aus den Regenschleiern tauchten vor mir die Umrisse der Vandam-Station auf. Ich bemerkte Licht hinter den Fenstern.

Als ich auf dem Hof anhielt und aus dem Sattel glitt, wurde die Tür geöffnet.

„Ronco?“ Die Stimme Henry Vandams wurde von einem tosenden Donner übertönt.

Shita stürmte an mir vorbei und lief auf das Haus zu. Er schlüpfte an Henry Vandam vorbei in den Flur und schüttelte sich hier wie ein Wilder. Ich zerrte mein Pferd zum Stall hinüber. Mit der Tasche in der einen und dem Postbeutel in der anderen Hand hastete ich danach über den Hof. Als Henry Vandam, die Tür hinter mir schloss und das Gewitter mit einem Schlag merklich leiser klang, lehnte ich mich schwer atmend gegen die Wand. Zu meinen Füßen bildete sich eine Pfütze.

Elsa Vandam erschien in einer Stubentür. Elton war schon dabei, Shita trockenzureiben.

„Sie sehen ja furchtbar aus“, sagte Mistress Vandam. „Ich koche Ihnen einen heißen Kaffee.“

„Zu liebenswürdig, Ma‘am“, sagte ich. „Wenn ich vielleicht einen Schuss Whisky in den Kaffee haben könnte.“

„Was ist mit der Kutsche?“, fragte Henry Vandam.

„Warten Sie nicht länger auf die Kutsche“, erwiderte ich.

„Wir haben Indianer gesehen“, erklärte Mistress Vandam. „Was ist passiert?“

„Es sind alle tot“, sagte ich. „Wo waren die Indianer?“

„Bevor das Gewitter losging, tauchten sie südlich von der Station auf“, sagte Henry Vandam. „Ein halbes Dutzend. Nach ein paar Minuten waren sie wieder weg.“

„Gewöhnen Sie sich einen leichten Schlaf an“, sagte ich. „Stellen Sie sich ein Gewehr neben das Bett. Keiner von Ihnen sollte sich am Tag außer Sichtweite der Station begeben. Es waren Apachen aus Mexiko. Sie sind nicht unter Kontrolle zu bringen.“

„Warum haben sie die Kutsche überfallen?“

„Das möchte ich auch gern wissen.“ Ich streifte die Wildlederjacke ab und zog fröstelnd die Schultern hoch. Dann setzte ich mich an einen der Tische im Aufenthaltsraum. Mistress Vandam bewegte sich zögernd in die Küche.

„Ist was geraubt worden?“

„Nein.“

„Die Post ist noch da?“

„Ja, und eine Menge Geld.“

„Und alle sind tot?“

„Mausetot.“ Ich streckte die Beine aus und sah zu, wie Elton neben Shita hockte und ihm unermüdlich das Fell abrieb. Shita hatte sich gönnerhaft am Boden ausgestreckt und genoss das alles sichtlich.

„Ich werde mich darum kümmern müssen“, sagte ich. „Fort Calhoun ist für die Sicherheit der Postlinie verantwortlich.“

„Liegen die Toten alle noch da draußen?“

„Zwei in der Kutsche, zwei daneben“, erwiderte ich. „Sowie der Regen vorbei ist, reite ich weiter. Colonel Lester wird ein paar Soldaten schicken, um die Kutsche und die Leichen zu bergen.“ Ich blickte Henry Vandam scharf an und sagte: „Hier kämpft jeder auf seine Art ums Überleben. Der Tod ist hier nichts Besonderes. Sie können für jeden Tag dankbar sein, den Sie in dieser Gegend überleben. Sie sind zu arglos, Mister Vandam. Gewöhnen Sie sich daran, dass wir hier eigene Regeln haben. Und seien Sie vorsichtig. Kein Besucher ist beleidigt, wenn Sie misstrauisch und vorsichtig sind, sofern er die Regeln kennt. Lassen Sie niemanden in Ihr Haus, den Sie sich nicht vorher genau angesehen haben. Es könnte Ihr Mörder sein. Und passen Sie bei Indianern genau auf: Die Krieger vom Rio Doro sind friedlich, aber die Krieger, die jenseits des Rio Grande leben, sind es nicht. Sie sind noch nicht lange genug hier, um sie unterscheiden zu können.“

Elsa Vandam trat aus der Küche und brachte mir den frisch gebrühten Kaffee. Sie stellte eine Flasche Whisky daneben auf den Tisch.

„Danke, Ma‘am“, sagte ich. „Wenn wir klären können, warum die Kutsche überfallen wurde, sind wir weiter.“

Draußen donnerte es. Der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben und rauschte wie ein Wasserfall.

Ungewissheit hatte ich immer als das Schlimmste in kritischen Situationen empfunden. Diesmal aber wusste ich so gut wie nichts. Ich dachte an die Toten, und der Kaffee von Mistress Vandam schmeckte nicht mehr so gut wie sonst. Er schmeckte bitter wie Galle, und ich verbrannte mir die Zunge daran.

3.