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Die Möglichkeiten, eine Nacht zu erleben, sind nahezu unbegrenzt. In diesem Buch finden sich anschaulich gemachte schönste und schlimmste Ereignisse vom Mittelalter bis heute. Nacht ist nicht nur Dunkelheit, um sich zu verstecken, Schlimmstes zu verbergen oder zu ertragen, wie den Mord an Andersgläubigen oder den Bombenhagel im Krieg. Sie ist auch die Chance, Schönstes zu erleben, mit allen Sinnen zu genießen. Still für sich der eine, Matthias Claudius im Kopf : »Der Mond ist aufgegangen.« Andere ausgelassen feiernd: »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da.« Musik in der Nacht, Liebe … lebendig wie die Nacht im Kopf eines Blinden. Fünfundzwanzig Nächte sehr anderer Art können die Leser miterleben, als wären sie dabei. Das zeitgenössische Umfeld jedes Essays, jedes Berichts mit Menschen und ihren politischen Rahmenbedingungen sind authentisch.
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Seitenzahl: 182
Otto W. Bringer
Copyright: © 2018 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag u. Fotobearbeitung: Otto W. Bringer
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7469-5322-9 (Paperback)
978-3-7469-5323-6 (Hardcover)
978-3-7469-5324-3 (e-Book)
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„Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da – die Nacht ist da, dass was gescheh’ – ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da – es muss hinaus, hinaus auf hohe See – Berauscht euch Freunde, trinkt und liebt und lacht – und lebt den schönsten Augenblick – die Nacht, die man im Rausch verbracht – bedeutet Seligkeit und Glück.“
Der Song aus dem ersten Musical der deutschen Filmgeschichte wurde über Nacht berühmt, Ohrwurm, ein Gassenhauer. Unvergleichlich Gustav Gründgens, der ihn sang. Ein Star auf der Bühne und im Film. In Goethes «Faust» ein Mephisto wie man ihn bisher nicht kannte. Abgründig, faszinierend. Modulationsfähig seine Stimme, messerscharf und streichelweich. Provozierte Wahrheiten. Hinterließ Zweifel. Heute so wichtig für den Erfolg wie damals. Halb gesprochen, halb gesungen. Ausgedrückt, was jeder dachte, fühlte. Wünsche weckte, Sehnsüchte, die jeder hatte. Nur nicht äußern konnte oder durfte. Eingängige Melodie und Rhythmus rissen die Zuschauer von den Sitzen. Verfolgten sie in den Alltag: „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da.“ Männer fantasieren, dachten an Sex. Frauen an ein paar Stunden ohne Kind und Kegel.
Thema des Films ist das Paris der 1830er Jahre. Das Adelsgeschlecht der Bourbonen wieder an der Macht. Die Mehrheit mit der reaktionären Politik Karl X. nicht einverstanden. Sah sich als König von Gottes Gnaden.
Schanzte Jesuiten und Ultramontanen immer mehr Macht zu. Löste per Dekret die Bürgerarmee auf. Militär und Volk protestierten. Als Juli-Revolution in die Geschichte eingegangen. Alle in Aufbruchsstimmung.
Weg mit den Bourbonen, lange genug geherrscht. Weg mit Kirche und ihrem Moralkodex: Das darf man, das darf man nicht. Frei wollten sie sein. Die 1789 teuer errungene «Liberté» endlich im eigenen Leben spüren. Nicht nur auf der Straße, auch in Gaststätten, Salons.
Paris, die Metropole des Nachtlebens. So stellten es sich Texteschreiber Hans Otto Hesse und Komponist Theo Mackeben vor. In den Köpfen vieler Männer auch heute noch. «Moulin Rouge» das Sündenbabel der Neuzeit. Der letzte Bourbonische König Karl X. dankte 1830 ab, nachdem er sich vom Rest seiner Truppen getrennt hatte. Floh ins Habsburgische Görz in Slowenien. Starb sechs Jahre später 1836 an Cholera.
Der Film «Tanz auf dem Vulkan» wurde am 30. November 1938 uraufgeführt. Drei Wochen nach der sogenannten Reichskristallnacht. In der die Nazi-Maschinerie 400 Juden ermordete. Und alle bekamen es mit, direkt oder indirekt: 1400 Synagogen brannten, jüdische Friedhöfe zerstört. 30000 Juden ins KZ geschleppt. Drei Jahre vor dem Holocaust. Der Film von Hanns Steinhoff inszeniert, das letzte künstlerische Aufbegehren vor dem Gleichschritt auch im Film. In einer Zeit, die mehr als früher Ablenkung brauchte, um in Kino und Theater den Nazis für wenige Stunden zu entgehen. Ob man ihnen wirklich entgangen war, wusste niemand.
Vielleicht ist der neben ihm sitzt ein Gestapo-Agent? In Zivil, völlig unauffällig. Einer, der ihn beobachtet, wenn er klatscht an bestimmten Stellen. Besonders laut und lange. Verdächtigt, den Aufstand der Pariser gegen ihren König als einen Aufstand der Berliner gegen Hitler zu bejubeln. Einer, der laufend in ein Notizbüchlein notiert, als schrieb er die Texte der Lieder auf, sie nicht zu vergessen. In Wahrheit aber ein oder zwei Merkmale des Sitznachbarn. Ihn nach der Vorstellung festnehmen zu lassen. Unter dem Vorwand, er oder sie hätte an der falschen Stelle geklatscht.
Ebenso gut könnte sich die Geheime Staatspolizei, «Gestapo», von allen gefürchtetes Drohwort, Zugang in eine Wohnung verschaffen. Während der Mieter vergnügt im Kino sitzt. Alles auf den Kopf stellen, durchsuchen, zu finden, was verdächtig ist. In diesen Jahren ist jeder verdächtig, der keine braune Uniform trug. Regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst besucht. Einen Freund hat, der Mitglied einer verbotenen Gruppierung ist. Die Kinder laufend entschuldigt, weil sie erkältet seien. Am wöchentlichen Treffen der NS-Jugendgruppen nicht teilnehmen könnten.
Selbst der Besuch eines Theaterstückes oder eines Films war Grund genug, jemanden festzunehmen und zu verhören. Solange in die Mangel zu nehmen, bis ihm ein Nein an der falschen Stelle unterlief. Einsatz im Todeskommando an der Front war fällig. Oder Kerkerhaft.
Shakespeares «Hamlet» im Berliner Staatstheater, inszeniert und gespielt von Gustav Gründgens ein Beispiel. Den Satz „Die Zeit ist aus den Fugen“ betonte er so, dass jeder es auf Deutschland bezog. Obwohl das Stück in Dänemark spielt. „Dänemark ist ein Gefängnis.“ Die Nazi-Presse schrieb: „Tendenziös, tendenziös!“ Gründgens floh in die Schweiz. Ministerpräsident Göring rief ihn zurück und sicherte ihm freie künstlerische Tätigkeit zu. Schützte ihn sogar vor seinem Kontrahenten, Reichspropaganda-Minister Josef Goebbels. Der ehemalige Jesuitenschüler das offizielle Sprachrohr der Partei. Ein Satan in Person. Hitler war sein Gott. Wer nicht an ihn glaubte, sein Feind. Und Feinde müssen ausgerottet werden.
Später warf man Gründgens vor, ein Günstling der Nazis gewesen zu sein. Man darf ihm unterstellen, dass seine künstlerischen Ambitionen stärker waren als sein Problembewusstsein.
Nicht verwunderlich, dass «Tanz auf dem Vulkan» in dieser Zeit so erfolgreich war. Den späten Abend bis in die Nacht zu genießen. Zu schauen, zu singen, in die Bar gehen danach. Und feiern, den Nazis entronnen für eine Nacht. Die Stunden dehnen, trinken, erzählen, was sein könnte, wenn … Am liebsten weit weg von hier. In Paris ein Wochenende wäre wunderbar. Trinken und träumen von einem schöneren Leben. Weit, weit weg von ihrem Alltag, der kommen wird. Früh genug mit der ersten Straßenbahn. Zu früh.
„Wenn die Bürger schlafen gehen – in der Zipfelmütze – und zu ihrem König flehn – dass er sie beschütze – ziehn wir festlich angetan – hin zu den Tavernen – Schlendrian, Schlendrian – unter den Laternen.
Wenn im Glase perlt der Sekt – unter roten Ampeln – und die Mädchen süß erschreckt – auf dem Schoß uns strampeln – küssen wir die Prüderie – von den roten Mündern – Amnestie, Amnestie – allen braven Sündern.“
Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da – die Nacht ist da, dass was gescheh’ – ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da – es muss hinaus, hinaus auf hohe See – Berauscht euch Freunde, trinkt und liebt und lacht – und lebt den schönsten Augenblick – die Nacht, die man im Rausch verbracht – bedeutet Seligkeit und Glück.“
Eine Nacht lang im Rausch das Schlimmste vergessen. Hitler, ein erfolgloser Kunstmaler, kleiner Gefreiter im ersten Weltkrieg fühlte sich berufen, ein Großer zu sein. Verstand es, die Massen zu begeistern. Sieben Millionen ohne Arbeit und keine Aussicht auf Besserung. Der 1. Weltkrieg noch in den Prothesen zahlloser, die ihn überlebten. Hunger in leeren Mägen. Verzweiflung in den Köpfen. Das Geld nichts mehr wert. Ein Brot kostete heute eine Milliarde Mark. Morgen zwei. Inflation. Demokratie noch in den Kinderschuhen. Da musste nur ein starker Mann kommen, versprechen, ich werde alles besser machen. Mit den Fäusten drohen und ins Mikrophon schreien, dass alle glaubten, er ist unser Retter. Seine braunen Garden durch die Straßen marschieren lassen: „SA marschiert und wir marschiern im Geiste mit.“ Den Sieg schon in der Tasche.
Kaum war Hitler Kanzler, organisierte er alles, was sich organisieren ließ. Arbeit, Soziales, Militär, Wirtschaft, Kunst und Kultur. Um die Jugend zu gewinnen, HJ und BDM gegründet. Gehorchen lernen ohne zu murren: „Führer befiehl, wie folgen dir.“ Unter flatternden roten Fahnen, im weißen Kreis schwarz die germanische Siegrune ging es Deutschland besser. Alle fanden Arbeit in Hitlers Großdeutschem Reich. Autobahnen gebaut, Sportstadien, die ersten Bunker im Westen. Insgeheim wieder Soldaten ausgebildet, Waffen produziert trotz Verbots der Siegermächte. Aus billigen Volksradios schwadronierte unentwegt Goebbels Propagandaministerium für das NS-System. Begleitet von Fanfaren: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen.“ In den Ohren nur noch Fanfaren, Blasmusik und die stets hasserfüllte Stimme des Führers. Und anderer, die sich größer fühlten als der Durchschnitt. Führer gab es mehr als einen. Und alle brüllten. Heinrich Mann fällt einem ein. 1918 erschien sein Buch: «Der Untertan». Eine deutsche Mentalität?
Kritische Gemüter abgelenkt mit Volksmusik, Chören, Operetten. Wagners «Ring der Nibelungen».
Filmen wie «Kleiner Mann was nun?», «Heimkehr ins Glück», «Quacks der Bruchpilot». Kreuzfahrten auf den Meeren dank Robert Lay, dem Minister für Arbeit und Soziales. Ablenkung großen Stils. Österreich heimgeholt ins Reich. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ das Motto. Dass es auch kritische Stimmen gab, kann man nur vermuten.
Geheime Widerständler damals unbekannt. Man munkelte nur, es könnte den eigenen Kopf kosten, rutschte ein falsches Wort heraus. Also mitspielen. Ganz Deutschland schien auf der vorgegebenen Spur. Das Gewissen ausgeschaltet. Nacht war, im Nachhinein betrachtet. Finsterste Nacht. Und die braunen Täter fanden ihre Opfer in dieser langen Nacht. Feinde des Vaterlandes sagten sie. Insgeheim zuerst, dann öffentlich. Juden die ersten. Kriegsgefangene später. Und ungezählte Verdächtige. Alle schienen damit einverstanden. Brüllten Heil Hitler, wenige schwiegen. Aus den Fenstern wehten Hakenkreuzfahnen.
Genauso einverstanden mit dem Krieg, den Hitler vom Zaun brach. Die Welt zu erobern. Hitlers hybride Vorstellung: wir sind die Unbesiegbarkeit per se. Überfallen ist besser als verhandeln. Seine Armeen eroberten nach dem Blitzkrieg in Polen Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Später Dänemark und Norwegen. Niemand wagte dagegen zu sein. Und wenn, dann blieb es ohne Folgen. Regierungschefs der freien Welt protestierten vergeblich. Schlossen ein Bündnis gegen Nazi-Deutschland und erklärten ihm den Krieg.
Der zweite Weltkrieg war das dunkelste Kapitel dieser Nacht. Und dennoch jubelte das deutsche Volk: Sieg Heil! Siegen ist schöner als untergehen. Das «Eiserne Kreuz» auf der Brust zeichnete den Helden aus. Helden hatte diese Nacht mehr als je zuvor. Die letzten kapitulierten in Stalingrad. Das riesige Russland war nicht zu besiegen. Schon Napoleon musste es erfahren. Über 6 Millionen deutsche Soldaten und Zivilisten starben im Krieg. Rechnet man die ermordeten Zivilisten dazu sind es mehr als 12 Millionen Opfer. Unschuldige Opfer einer Nacht, die nicht enden wollte. Opfer einer Zeit, die heute man heute als Helden feiert.
Man versteht, dass alle Worte verstummten in diesen zwölf Jahren Nationalsozialismus. Der Selbsterhaltungstrieb ist immer schon stärker als alle moralischen Regeln und Usancen. Die Kirchen versuchten, die Nacht zu erhellen mit christlichem Trost. Nur einzelne Geistliche wagten offen zu widersprechen. Mir biblischen Gleichnissen, die zwar jeder verstand. Aber kaum jemanden mitriss, zu Taten motivierte. Wie Graf Staufenberg und seine Mitstreiter. Sie alle wurden nach dem Attentatsversuch an Hitler gehängt. Andere in Gefängnissen schrieben Protestbriefe. Herausgeschmuggelt zu Familie und Freunden. Ihr Gewissen zu wecken. Kardinal Clemens August von Galen in Münster riskierte mehr als einmal ein offenes Wort. Von der Kanzel oder in Schreiben an seine Gemeinden, sogenannten Hirtenbriefen:
„Der physischen Übermacht der Geheimen Staatspolizei steht jeder deutsche Staatsbürger völlig schutz- und wehrlos gegenüber. Keiner von uns ist sicher, dass er nicht eines Tages aus seiner Wohnung geholt, seiner Freiheit beraubt, in den Kellern und Konzentrationslagern der Geheimen Staatspolizei eingesperrt wird.“
„Gerechtigkeit ist die Grundlage jeder Herrschaft. In weitesten Kreisen unserer Bevölkerung hat ein Gefühl der Rechtlosigkeit, ja feiger Ängstlichkeit Platz gegriffen. Als deutscher Mann, als Vertreter der christlichen Religion, als katholischer Bischof rufe ich auf: Wir fordern Gerechtigkeit.“
Besonders unbeliebt machte er sich bei den Nazis durch seinen Protest gegen die Vernichtung «lebensunwerten Lebens». Erbkranke Säuglinge den Eltern weggenommen, um sie als medizinische Versuchskaninchen zu missbrauchen. Ärzte machten mit und Helferinnen. Nicht nur in solchen Kliniken, auch in den KZs. Bischof von Galen blieb trotz unaufhörlicher Proteste unbehelligt. Er war zu beliebt beim Volk. Nicht nur in seiner Diözese Münster. Ein Volksaufstand könnte Folgen haben in Westfalen und darüber hinaus. Christen könnten ihrem Bischof folgen. Nicht auszudenken, was dann …?
Solche Helden erhellten punktuell die finstere Nazinacht. Und ungezählte unbekannte Bürger, die Juden versteckten. Aus Lagern geflüchtete Kriegsgefangene in Sicherheit brachten. Durchfütterten bis zum Ende des Krieges. Solche, die ungezählte Witwen und Waisen trösteten. Kriegsschäden notdürftig reparierten, Wohnungen wieder bewohnbar zu machen. Bauern meldeten nicht jede Schlachtung den Behörden. Heimlich versorgten sie hungernde Frauen und ihre Kinder mit Brot, Wurst, Fleisch, Obst und Gemüse. Wenn sie an ihre Türe klopften. Bezugscheine reglementierten den Konsum auf niedrigstem Niveau.
Per Saldo passierte in dieser langen Nacht also das unvorstellbar Schlimmste. Blieb im Gedächtnis der Wachsamen in dieser Welt. Auf dass es sich nicht wiederhole. Das Schönste in derselben Nacht unvergessen von denen, die hin und wieder Spaß hatten trotz aller Finsternis. Abgelenkt und glücklich dann und wann. Für einen winzigen Augenblick.
Der Zug hatte achtzehn Minuten Verspätung. Der nach Wien war lange abgefahren. Es ist 21:10 Uhr. Was nun? Der nächste fährt erst in gut vier Stunden. Wie leer Bahnhöfe sind um diese Zeit. Kaum ein Mensch zu sehen. Einer mit roter Mütze schon gar nicht. Nur vor der Tür mit dem Roten Kreuz eine Bank, auf der ein Betrunkener mehr liegt als sitzt. Ganz weit höre ich krakeelende Jugendliche. Was mach ich jetzt bloß? Die Neonröhren leuchten, als ginge es sie nichts an. Von trösten keine Rede. Licht ist nicht immer angenehm. Hier ist es so grell, dass man ihm entgehen möchte, wäre es möglich. Taucht alles in Trostlosigkeit.
Alle Läden geschlossen. Hätte mir ein Buch gekauft. Ein schmales Bändchen mit Kurzgeschichten, was zum Lachen. Mich in ein Café gesetzt, heißen Cappuccino getrunken. Ganz langsam einen Schluck pro Seite. Gelesen und geschluckt, damit die Zeit keine Zeit mehr ist. Nur noch ein Cappuccino schlürfendes Leseabenteuer. Hätten nicht alle Läden ihren Rollladen heruntergelassen. Schluss, aus, Ende der Welt. So kommt es mir vor. Ausgeschlossen vom Leben. Der Koffer ist schwer. Schwerer als ich ihn in Erinnerung habe. Oder sind meine Arme müde? Vom Ziehen der Zeit, die sich zieht und dehnt und nicht kürzer wird.
Schau auf die Uhr. Die altmodische runde Uhr durch eine viereckige ersetzt. Schwarz gerahmt, der Sekundenzeiger ruckt, ruckt, ruckt. Und trotzdem habe ich das Gefühl er kommt nicht weiter. Der Kleine Zeigen zeigt immer noch auf 21:00 Uhr. Der große auf 21:34 Uhr. Zwanzig Minuten erst. Mein Gott, die Zeit ist eine Schnecke. Wäre ich eine Schnecke, wäre ich glücklich weiterzukommen. Weil ich aber keine Schnecke bin, ärgere ich mich. Über was eigentlich? Über die Langsamkeit? Oder über mich selber?
War noch nie ein geduldiger Mensch. Es musste immeralles schnell gehen. Bleibe stehen. Schaue mich um. Da eine Leuchtschrift: Wartesaal. Wieso habe ich bisher nicht an Wartesaal gedacht? Alle Bahnhöfe haben einen Wartesaal. Und wenn es nur zwei kleine Bänke sind, irgendwo Platz ist. Aber das Schild sagt: Wartesaal. Erleichtert setze ich mich mit meinem Koffer wieder in Bewegung. Vor mir läuft ein Pärchen, als wollte es den Zug nicht verpassen. Nein, sie eilen in den Wartesaal. Einen Platz zu ergattern?
Es könnte knapp werden, geht mir durch den Kopf, laufe ihnen nach. Noch sind sie nicht da, wo das Schild Wartesaal leuchtet. Große Bahnhöfe haben viele Bahnsteige. Zu denen man aufsteigen muss, den Koffer hinter sich her schleppen. Ratatatata die Stufen hoch. Atemlos am Ende. Jetzt muss ich an sechs Bahnsteigaufgängen vorbei. Es zieht sich schon wieder. Das Schild im Blick. Die beiden sind verschwunden. Ha, eine breite Glastür schwingt auf, als ich ankomme. Dann eine Barriere: erste Klasse links, zweite Klasse rechts. Habe mir eine Karte erster Klasse geleistet für den Besuch meiner Tante in Wien. Morgen feiert sie ihren hundertsten Geburtstag. „I san pumperlgsund“, sagt sie jedes Mal, wenn ich mit ihr telefoniere.
Also links der Eingang. Wärme schlägt mir entgegen. Sessel mit Bordeauxroten Kunststoffbezügen, Sofas dito. Kleine Tische davor. Selbstbedienungsautomat. Alle Sitzgelegenheiten besetzt. Kein Platz für mich. Heute geht aber auch alles schief. Wohl oder übel also in die zweite Klasse. Gähnende Leere. Bis auf das Pärchen. Es drängt sich aneinander, als frören sie. Schon schüttelt es mich. Sie scheinen hier Heizkosten zu sparen, oder? An der langen Wand zwei flache Heizkörper. Daneben und gegenüber lange Holzbänke ohne Tische. Auch ein Automat, an dem man heiße und kalte Getränke ordern kann.
Schiebe einen Fünfeuroschein hinein, drücke die Taste Kaffee mit Milch und Zucker. Nichts. Da entdecke ich ein kleines Schild: Geben Sie passende Münzen ein. Der Automat kann nicht wechseln. Na, dann eben nicht. Schlucke und merke, meine Kehle ist trocken. Staubtrocken. Dürstet nach Wasser. Schlucke meine Spucke, um das Gefühl zu haben ich trinke. Mensch betrügt sich selber am laufenden Band. Denke ich und bin immer noch durstig. Nach was wohl? Dürsten nach Gerechtigkeit, wie es in der Bibel heißt? Was ist gerecht? Der Zug Verspätung hatte? Ich hier in einem kalten Wartesaal? In dem nichts passiert außer meinem Kopf, der das Denken nicht abschalten kann. Könnte ich es doch. Nur ein paar Stunden. In diesem vermaledeiten Wartesaal.
Still ist es auch hier wie überall. Als hätte sich der Bahnhof zum Schlaf gelegt. Ach, schlafen möchte ich auch. Einfach wegnicken und träumen, ich sei schon in Wien. Die Vorstellung harte Bank hält mich davon ab. Da poltern zwei Kerle durch die Tür. Grölen und umhalsen sich, lassen wieder voneinander, um sich gegenseitig zu ohrfeigen, vor die Brust zu boxen. Bis einer taumelt, stürzt. Der andere hilft ihm aufzustehen, küsst ihn auf die linke Wange, die rechte, die linke wieder. Plötzlich ist alles anders. Die Welt hat mich wieder. Eine Welt, die sich schlägt und wieder versöhnt. Wie im richtigen Leben. Nun reden sie, irgendeinen Dialekt, den ich nicht verstehe. Sind es Russen, Araber? Islamisten?
Sie scheinen unbewaffnet zu sein. Nur eine Cola-Dose in der Hand der eine. Der andere eine Bierflasche, aus der er immer wieder schluckelt. Obwohl sie lange leer sein müsste. Beide lallen ein Lied, das ich nicht kenne. Komisch, denke ich, es interessiert mich. Regt mich nicht auf. Es regt mich an und macht mich mutig. Geh auf sie zu: „Good Evening dear Sirs, from wich country do you come?“ Mein Englisch holpert unsicher. Es ist lange her, als ich es in der Schule lernte.
Da sehen mich beide an, als wäre ich eine der zweiundsiebzig Jungfrauen aus Allahs Himmel. Grinsen, reißen die Augenbrauen hoch und lachen, brüllen rhythmische Laute, dass es widerhallt von den leeren Wänden. Wie Schüsse kommt mir vor. Hinaus durch die Glastür bis in den langen Gang. Ein Polizist erscheint: „Was ist das hier für eine Ballerei? Die Lage ist ernst. Ich muss sie festnehmen.“ Entreißt ihnen die Dose, die Flasche. Sie könnten mit Sprengstoff gefüllt sein.
Setze mich auf die harte Bank, hole mein Smartphon aus der Tasche und beginne, diese Geschichte zu tippen. Mit allen Details. Meinen Gedanken und den Regungen meines Gemüts. Alles notiert, nur eine Viertelstunde noch und mein Zug fährt ab nach Wien. Auf gepolstertem Sessel der ersten Klasse eine Frau, die glücklich ist, ein Nickerchen zu machen.
Einer, dessen Namen hier aus Rücksicht auf seine Mitbrüder verschwiegen wird. Namen sind Schall und Rauch, um Goethes Faust zu zitieren. Als er von Gretchen nach seinem Glauben befragt, sich windet wie ein Wurm:
„Nenn es wie du willst – Nenn s Glück, Herz, Liebe, Gott – ich habe keinen Namen dafür – Name ist Schall und Rauch – umnebelnd Himmelsglut.“
Den vollen Namen des Mönchs wollen wir nicht nennen. Auch aus Rücksicht auf seine Mitbrüder, die sich bescheiden mit dem, was der Orden ihnen vorschreibt. Beten, singen, lesen, hören, trinken und essen, was ihnen vorgesetzt wird. Unser Mönch C.G. ist einer der neugierigen Spezies Mensch, die erkennen will, was die Welt im Innersten zusammenhält. Studierte Elektrotechnik, Philosophie. Zum guten Schluss noch Theologie. Überzeugt, in allem fließt derselbe Strom. Verbindet, leuchtet und erleuchtet den ein oder anderen. Dann und wann. Wenn Mensch sich öffnet. Baute sich ein Teleskop mit großer Brennweite, den Sternenhimmel zu beobachten. Den Blick zu öffnen für das flirrende Dunkel dort oben. Und das, was dahinter sein könnte. Lauter Geheimnisse auf den ersten Blick. Ahnt jedoch, es muss mehr sein.
C.G. also am Fenster, schaut nach oben und denkt. Während die Mitbrüder auf ihren Matratzen von Engeln oder Hochzeitsessen träumen. Zu denen ihr Abt als Spender des heiligen Ehe-Sakramentes eingeladen ist. Während sie zur festgelegten Zeit ihre dünne Suppe schlürfen dürfen. Am trockenen Brötchen knabbern und Wasser trinken. Gottes Willen zu erfüllen, wie sie gelobten bei ihrem Profess. Ohne zu wissen, wie es sich anfühlt. Später, wenn Zweifel kommen. Der Verstand aussetzt. Die Gefühle quälen, dass es schmerzt. Müssen lernen, dass Zweifel die andere Seite des Glaubens ist. Oder die Konsequenzen ziehen.
C.G. sitzt und sinnt. Am nächtlichen Himmel, der dunklen Tiefe des Universums scheinbar flirrendes Durcheinander. Versucht den einen oder anderen Stern zu definieren. Ordnung in seine Vorstellungen zu bringen. Wo ist Pluto? Uranus? Venus? Die Milchstraße gut zu erkennen. Die starke Vergrößerung seines Teleskops erlaubt ihm, das was er sieht zu vergleichen. Mit den Sternbildern in einem neuen Atlas der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Herausvergrößert das ein und andere, in Beziehung gesetzt.
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