1,99 €
Morgen ist noch sehr weit weg
Ein berührendes Leseerlebnis für alle, die sich wünschen, manchmal etwas mutiger zu sein
Von Nina Gregor
Als Gilla aus der gnädigen, schmerzlosen Dunkelheit erwacht, tastet sie mit der Hand, die nicht an Schläuche angeschlossen ist, vorsichtig zu ihrer rechten Brust - und beginnt zu weinen. Die Hoffnung, dass die Ärzte vielleicht doch nur eine Gewebeprobe entnommen haben - zerstört.
Für Gilla kommt diese Erkenntnis einem Todesurteil gleich. Von heute an ist sie keine »richtige« Frau mehr. Je mehr sie über ihre Zukunft nachdenkt, desto größer wird die Verzweiflung. Und in ihrer Angst kapselt sie sich immer weiter ab und flüchtet sich in eine Scheinwelt, zu der niemand Zugang hat ...
Dieser Roman berührt die Seele! Er macht demütig und bringt gleichzeitig das Herz zum Beben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 109
Cover
Impressum
Morgen ist noch sehr weit weg
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Jasmina007 / iStockphoto
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 9-783-7325-7884-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Morgen ist noch sehr weit weg
Ein berührendes Leseerlebnis für alle, die sich wünschen, manchmal etwas mutiger zu sein
Von Nina Gregor
Als Gilla aus der gnädigen, schmerzlosen Dunkelheit erwacht, tastet sie mit der Hand, die nicht an Schläuche angeschlossen ist, vorsichtig zu ihrer rechten Brust – und beginnt zu weinen. Die Hoffnung, dass die Ärzte vielleicht doch nur eine Gewebeprobe entnommen haben – zerstört.
Für Gilla kommt diese Erkenntnis einem Todesurteil gleich. Von heute an ist sie keine »richtige« Frau mehr. Je mehr sie über ihre Zukunft nachdenkt, desto größer wird die Verzweiflung. Und in ihrer Angst kapselt sie sich immer weiter ab und flüchtet sich in eine Scheinwelt, zu der niemand Zugang hat …
Das Ferienhaus lag traumhaft schön auf einer Klippe über dem türkisschimmernden Meer. Eine in den Felsen gehauene Treppe führte hinunter zur Badebucht. Doch auch im Garten gab es einen großzügigen Pool, dessen sauberes Wasser verführerisch in der Nachmittagssonne glitzerte.
„Boah! Das ist ja super!“, begeisterte sich die zwölfjährige Lina und ließ die Reisetasche fallen, die sie gerade ins Haus hatte tragen wollen. „Ich gehe gleich schwimmen!“
„Megakrass!“, stimmte Oliver, ihr siebenjähriger Bruder, mit blitzenden Augen zu. „Warte, ich komme mit!“
„Halt, stopp!“, rief Alexander Beewers. Er erwischte seine Sprösslinge gerade noch an den Ärmeln. „Jetzt wird erst mal das Gepäck ins Haus gebracht, dann helfen wir Mami beim Auspacken. Und danach gehen wir gemeinsam schwimmen.“
„Och nö! Bis dahin ist es längst dunkel“, murrte Lina enttäuscht. Und Oliver fügte mit hängenden Schultern hinzu: „Spielverderber.“
Gilla kam lächelnd aus dem Haus und hängte sich bei ihrem Mann ein.
„Lass es gut sein, Alex“, bat sie und küsste ihn auf die Wange. „Es macht mir nichts aus, die Koffer allein auszupacken. Außerdem haben die Kinder recht. Bis wir fertig sind, ist es womöglich wirklich dunkel. Geh du ruhig mit ihnen an den Strand. Ich kümmere mich um unsere Sachen.“
„Du hast auch Urlaub, Liebes“, erinnerte Alexander sie.
Gilla strich ihm über die Wange. „Den lasse ich mir von ein paar unausgepackten Koffern bestimmt nicht verderben. Also los, nehmt euer Badezeug und verschwindet. Es ist in der Strandtasche da drüben.“
Sie hatte es wohlweislich zu Hause so verpackt, dass man es sofort nach der Ankunft finden konnte. Denn auch in den vergangenen Jahren war es nicht anders gewesen: Immer hatten die Kinder sofort schwimmen gehen wollen.
„Du bist die aller-allerbeste Mami auf der ganzen Welt!“, versicherte Lina und drückte ihrer Mutter ein Küsschen auf die Wange. Dann schnappte sie sich die Basttasche und lief zu den Klippen. Natürlich folgte ihr Oliver dicht auf den Fersen.
Alexander sah ihnen seufzend hinterher.
„Da haben sie also wieder mal ihren Kopf durchgesetzt, wie in jedem Jahr. Und diesmal wollte ich hart bleiben!“
„Nun sei doch nicht so, Schatz.“ Gilla küsste ihn übermütig auf den Mund, und auch er musste lachen.
„Na, dann, mein Herz, ich will mich mal darum kümmern, dass unser Nachwuchs nicht untergeht.“
Auch er verschwand über die steinerne Treppe Richtung Strand.
Gilla schnappte sich die beiden nächsten Koffer und brachte sie nach drinnen. Geduldig packte sie alles aus und verteilte die Sachen in den Schränken.
Draußen begann es bereits zu dämmern, als sie endlich auf die Terrasse hinaustrat und tief die frische Abendluft einsog. Drei endlos lange Urlaubswochen lagen vor ihr. Konnte es etwas Herrlicheres geben?
In der Ferne glitzerten die Lichter des kleinen Dorfes, das beim Durchfahren den Eindruck gemacht hatte, als sei die Zeit stehen geblieben.
Entspannt lehnte sich Gilla in der Hollywoodschaukel zurück und schloss die Augen. Die Gedanken liefen ihr davon, und ohne dass sie es merkte, musste sie wohl eingeschlafen sein.
Denn sie schrak erst hoch, als fröhliche Kinderstimmen sie umschwirrten und sie einen zärtlichen Kuss auf der Stirn fühlte.
Zögernd öffnete sie die Augen und hatte ein wenig Schwierigkeiten, in die Gegenwart zurückzufinden. Ein schöner Traum hielt sie noch immer gefangen.
Doch da redeten Lina und Oliver schon aufgeregt durcheinander. Alexander schlug vor, zur Feier des Tages unten im Dorf essen zu gehen.
„Da gab es ein ganz ansehnliches Lokal, das ich im Vorüberfahren entdeckt habe. Was meinst du?“
Gilla reckte sich genießerisch und sprang dann unternehmungslustig auf die Füße. Mit einem Mal war alle Müdigkeit von ihr abgefallen.
„Das ist ein fabelhafter Gedanke“, fand sie. „Stimmt‘s, Kinder?“
Während Alexander und die Kinder schon nach draußen zum Wagen gingen, schlüpfte Gilla im Schlafzimmer in ein schmal geschnittenes, weißes Kleid und bürstete das lange dunkle Haar gründlich durch. Noch etwas Lippenstift, einen Hauch Rouge – und sie war ausgehfertig.
„Du siehst gut aus“, bestätigte Lina. „Richtig flott und jung.“
Lächelnd sah Gilla aus dem Seitenfenster aufs Meer, als sie zum Dorf fuhren.
Ja, eigentlich konnte sie für ihr Alter mit ihrem Aussehen und ihrer Figur noch zufrieden sein. Wenn sie andere Frauen betrachtete, die auf die Vierzig zugingen …
Zu dem gemütlichen Lokal gehörte ein weinüberwucherter Innenhof, in dem nur wenige Tische besetzt waren.
Freundlich rückte der Wirt zwei kleinere Tische zusammen, damit sie sich beim Essen richtig ausbreiten konnten.
Es gab verschiedene Pasta-Variationen als Vorspeise. Dann frische Meeresfrüchte, so köstlich, wie Gilla selten welche gegessen hatte, dazu Weißbrot und Salat. Als Dessert einen farbenfrohen Obstsalat, der schon vom Anblick her Lust aufs Essen machte.
Die Kinder tranken ihre geliebte Limo, während sich Gilla und Alexander mit spritzigem Weißwein zuprosteten.
„Ich denke, ich habe wirklich nicht zu viel versprochen“, meinte Alexander zufrieden, als alle das letzte Stückchen Obst verputzt hatten.
„Das Essen war sagenhaft. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal so gut gegessen haben.“
Nicht nur Gilla, sondern auch die Kinder stimmten ihm zu.
Der Wirt, Adriano, freute sich über das Lob der vier, die ihm versicherten, bald wiederzukommen.
Gutgelaunt kehrten alle zum Ferienhaus zurück und saßen noch eine Weile auf der Terrasse.
Irgendwann fielen den Kindern dann doch die Augen zu, und sie verschwanden freiwillig in ihren Zimmern.
Alexander lehnte an der Terrassenbrüstung und betrachtete Gilla lächelnd, die so gelöst und heiter war wie selten.
„Und was machen wir beiden ‚Alten‘ jetzt?“
Gilla erhob sich und schlang ihre Arme um seinen Hals.
„Wie wäre es mit einem Strandspaziergang? Nur wir beide. Stelle ich mir sehr romantisch vor, meinst du nicht auch?“
Als Antwort küsste er sie, und wenig später liefen sie barfuß durch den kühlen Sand, Hand in Hand und unbeschwert wie Kinder.
Unterwegs verharrten sie, um sich zu umarmen. Dann schauten sie aufs silbern schimmernde Meer hinaus, dessen Wellen leise an den Strand rollten.
„Wann habe ich dir eigentlich zuletzt gesagt, dass ich dich liebe?“, raunte Alexander an ihrem Ohr.
Gilla sah lächelnd zu ihm auf. „Hm, das ist schon eine Weile her. Aber du kannst es gern jetzt tun.“
Seine Hände umfassten zärtlich ihr Gesicht, ihre Blicke blieben ineinander hängen.
„Ich liebe dich, Gilla“, flüsterte er weich. „Und ich finde, wir haben allen Grund, glücklich zu sein. Nicht nur über unsere beiden wunderbaren Kinder, sondern auch darüber, dass wir uns nach all den Jahren noch so gut verstehen.“
Sie kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben. Denn er verschloss ihr jetzt den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss – und dann sanken sie in den Sand …
Später, im Bett, lag sie entspannt in Alexanders Armen. Durch die geöffneten Fenster wehte ein frischer Nachtwind herein, und eine hohe, schlanke Zypresse wiegte sich sacht hin und her.
♥♥♥
Es wurden wunderschöne Ferien. Sie schwammen im kristallklaren Meer, fuhren mit dem Boot hinaus, erkundeten die Küste und das Hinterland. Alle waren in bester Stimmung, manchmal sogar richtig ausgelassen, so wie gestern, als Alexander versucht hatte, Gilla das Surfen beizubringen.
Abends stand sie dann aber schon sicher auf dem Brett.
„Bis wir nach Hause zurückfahren, lerne ich es schon noch“, meinte sie beim Abendessen zuversichtlich. Wie so oft saßen in „ihrem“ kleinen Lokal bei Adriano.
Auch in dieser Nacht lag Gilla in Alexanders Armen. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen und Wochen neu in ihren Mann verliebt. Manchmal war es kaum zu glauben.
„Wir sollten versuchen, etwas von dieser Stimmung mit in unseren Alltag hinüberzuretten“, raunte Alexander an ihrem Ohr und beugte sich über sie, um sie zu küssen.
„Ja, das sollten wir“, stimmte Gilla ihm zu und umschlang seinen Nacken. Sie war sich sicher, dass sie es schaffen würden.
♥♥♥
Am nächsten Morgen tastete Gilla routinemäßig, wie sie das alle paar Tage tat, ihre Brust ab und fühlte einen winzigen Knoten.
Ihr wurde vor Schreck ganz heiß. Vorsichtig berührte sie die Stelle erneut. Erst behutsam, dann gründlicher, zuletzt stellte sie sich sogar mit erhobenen Armen vor den Spiegel, um festzustellen, ob sie etwas sehen konnte.
Es war keine Veränderung zu sehen, nur spüren konnte sie diese.
Gilla wurde übel vor Angst, und sie hockte sich auf den Wannenrand.
Sicher ist alles ganz harmlos, versuchte sie sich zu trösten. Eine Drüsenverhärtung, wie sie schon einmal eine gespürt und irrtümlich für einen Knoten gehalten hatte. Ihr Frauenarzt hatte sie danach beruhigen können.
Und wenn nicht?, spann sie den Faden weiter. Wenn es nicht harmlos ist, sondern …?
Hier wollte sie einfach nicht weiterdenken, das Schreckgespenst nicht mal in Gedanken beim Namen nennen.
„Mami, brauchst du noch lange?“, riss Linas helle Stimme sie ungeduldig aus ihren Ängsten. „Du bist schon über eine halbe Stunde im Bad. Andere sind auch noch da!“
„Ich bin gleich so weit, Schatz.“
Klang ihre Stimme anders? Hörte man ihr an, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war, ihr Mund wie ausgedörrt?
Mühsam raffte Gilla sich hoch, schlüpfte in Jeans und Top, band das noch feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz, der sie sonst immer so jung aussehen ließ. Heute leider nicht. Zwei scharfe Falten hatten sich um ihre Mundwinkel eingegraben.
Sie versuchte zu lächeln, doch es wurde nur eine Grimasse. Und unter der frischen, knackigen Urlaubsbräune war sie ganz blass geworden.
Reiß dich zusammen, Gilla!, beschwor sie sich. Oder willst du allen die Laune und den Urlaub verderben?
Niemand merkte etwas, als sie sich auf der Terrasse an den Frühstückstisch setzte. Alexander lächelte ihr verliebt zu, die Kinder plapperten fröhlich durcheinander. Nur Gilla beteiligte sich nicht an den Plänen für diesen Tag. Und die Sonne hatte für sie viel von ihrem Glanz verloren …
Erst als sie auch für den Rest des Tages recht schweigsam blieb, fiel das Alexander auf.
„Was ist los mit dir, Liebling?“, wollte er wissen. „Du hörst mir gar nicht zu …“
Erschrocken zuckte sie zusammen. Das wäre der Moment gewesen, ihm von ihrer Entdeckung zu erzählen. Doch in sein lächelndes Gesicht hinein konnte sie es nicht.
„Ich habe wohl gestern etwas zu viel Wein getrunken“, versicherte sie hastig. „Davon bekommt man leider Kopfschmerzen. Daran hätte ich denken sollen.“
Alexander gab sich mit dieser Antwort zufrieden, und Gilla bemühte sich um mehr Aufmerksamkeit.
Die günstige Gelegenheit war vertan.
Auch in den restlichen Urlaubstagen wagte sie nicht, mit ihrem Mann über ihre Vermutung zu sprechen.
Dann galt es, für die Heimreise zu packen.
Insgeheim atmete Gilla erleichtert auf, als sie das Haus verschlossen und der Wagen über den steinigen Pfad zur Straße rollte. Daheim würde es ihr leichter fallen, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Die stundenlange Fahrt strengte sie an.
Ist das etwa schon ein Vorbote meiner Krankheit?, fragte sie sich erschrocken. Sonst hatte ihr die Fahrt nie etwas ausgemacht. Jetzt aber fühlte sie sich erschöpft und wie aus dem Wasser gezogen, als Alexander in das Grundstück einbog, das die schöne alte Backsteinvilla umgab. Sie hatte das Haus von ihrer Großmutter geerbt und gemeinsam mit Alexander ausgebaut, zu einem kuscheligen Zuhause für sie beide und ihre Kinder gemacht.
Diesmal schleppte Gilla nicht die schweren Koffer hinein. Das überließ sie Alexander und den Kindern.
Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.
„Hallo, Gilla-Schatz, ich bin es, Mama“, klang die gutgelaunte Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. „Dachte ich mir doch, dass ihr schon zu Hause seid. Ich habe italienisch gekocht und könnte mir vorstellen, dass es ein guter Abschluss für euren Urlaub wäre, nachher zu uns zum Essen zu kommen. Habt ihr Lust?“
Gilla zögerte. „Das ist wirklich lieb von dir Mama, aber ich bin müde.“
Alexander blieb vor ihr stehen und sah sie fragend an.
Sie hielt den Hörer zu. „Mama fragt, ob wir heute Abend bei ihnen italienisch essen wollen?“
Auch Lina und Oliver tauchten auf, hatten ihre Worte gehört und stimmten begeistert zu.
„Sag zu, Liebes“, bat Alexander lächelnd. „Dann werden wir gleich unsere Urlaubserlebnisse los. Außerdem müsstest du ja sonst selber kochen. Lieb von Mutter, uns einzuladen.“
Was blieb Gilla anderes übrig, als zuzustimmen?
Dabei fürchtete sie schon jetzt die Röntgenaugen ihrer Mutter, denen normalerweise nichts entging.
Sie machte sich also sorgfältiger zurecht, und Alexanders bewundernder Blick zeigte ihr, dass es ihr gelungen war. Nur ihr Lächeln wirkte immer noch gekünstelt und verkrampft.
Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten war groß.
Für ein paar Minuten vergaß Gilla sogar ihre Ängste. Doch dann stürmten sie umso heftiger auf sie ein.