Stefan - Jenseits der Kindheit - Walter Kaufmann - E-Book

Stefan - Jenseits der Kindheit E-Book

Walter Kaufmann

4,8

Beschreibung

Stefan – das ist Walter Kaufmann, der als Kind jüdischer Adoptiveltern mit viel Glück vor den Nazis aus Deutschland fliehen konnte, zunächst nach England, dann nach Australien. Aus der Sicht des jüdischen Jungen Stefan erfahren wir vom Alltag in Deutschland und den wachsenden Schikanen gegenüber den Juden, aber auch von Solidarität, von der Flucht nach England und von seiner Deportation nach Australien: „Sie erreichten das Lager lange nachdem sie von weit her die Wachtürme gesichtet hatten, und als sich hinter ihnen die drei Stacheldrahttore schlossen, empfanden sie die massiven Holzbaracken des Lagers wie eine Zuflucht vor der Wüste.“ Dort, in der australischen Wüste gehen Kindheit und Jugend von Stefan zu Ende. INHALT: DIE EINFACHEN DINGE NEUGIER IM HERBST DIE TASCHENUHR BONBONS DIE EIDECHSE MENSCHENJAGD GERANIEN UND ROSEN SPINAT DIE PAPAGEIENKRANKHEIT DREIUNDSIEBZIG MUTPROBE SCHWESTER JÜLCHEN DIE MUSIKSTUNDE INQUISITION DER UNFALL HELDEN X, YPSILON UND DIE WOHLTÄTIGE DER ARIER HASS MIRIAM FLUCHT DAS GEMÄLDE DER SCHREI DER KRÜCKEN ABREISE DREI TAGE IM JANUAR JENE STUNDEN IM INTERNAT WHITELADIES DIE GUERNSEY-LEKTION PARIAS VERBANNUNG

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Impressum

Walter Kaufmann

Stefan – Jenseits der Kindheit

ISBN 978-3-86394-560-2 (E-Book)

Die deutsche Druckausgabe erschien erstmals 1966 unter dem Titel "Stefan – Mosaik einer Kindheit" bei Der Kinderbuchverlag Berlin, Edition Holz.

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik, Originaltitel: Beyond The Green World of Childhood.

Ergänzt um drei weitere Erzählungen erschien das Buch 1985 unter dem Titel "Jenseits der Kindheit" bei Der Kinderbuchverlag Berlin, Edition Holz.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Für Rebekka, meine Tochter

DIE EINFACHEN DINGE

1

Georg ist noch immer mein Freund. Das mag seltsam klingen, denn Georg ist nirgends, wo ich ihm die Hand reichen könnte. Ein halbes Leben trennt uns voneinander. Vielleicht ist er schon lange tot. Er ist noch immer mein Freund - in einem symbolischen Sinn. Ich erinnere mich noch genau: Ich war elf Jahre alt, und Georg wartete stets am Ende unserer Straße auf mich. Er wollte nicht zu mir nach Hause kommen. Hielt sein Stolz ihn zurück, oder war es nur Schüchternheit, oder fürchtete er sich gar, in eine ihm fremde Welt einzudringen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich draußen mit Georg traf und dies hinter mir ließ:

Unser Haus, das man über eine steinerne Treppe erreichte; an der Eingangstür eine elektrische Klingel, deren Läuten hell durch den Vorraum tönte. Auf ihren Ruf hin eilte Käte, das Dienstmädchen, herbei; Teppiche dämpften ihre Schritte; hinter ihr schwangen Glastüren zurück, mit einem Geräusch, als würde Luft aus einem Schacht gesogen. Sie öffnete die Haustür und ließ die Besucher ein in die zurückhaltende Ruhe des Hauses - führte sie ins Arbeitszimmer oder in Vaters große Bibliothek, die seinen Ernst und seinen Ordnungssinn erkennen ließ, oder, falls der Gast zur Mutter wollte, in das lichte, luftige Frühstückszimmer mit den Landschaftsaquarellen in schlichten Rahmen, den Vitrinen mit Mutters Porzellansammlung, zerbrechlichen gelben Stühlen und Tischen und breiten, zum Garten hinausgehenden Fenstern, durch die die Morgensonne hereinflutete. Ich schlug die Haustür hinter mir zu, dass es durch den Flur hallte, sprang die Steintreppe hinunter und rannte die Straße entlang, bis ich - atemlos - an der Ecke auf Georg stieß.

"Hallo", begrüßte ich ihn. "Ich wusste, dass du da sein würdest."

"Ja", sagte Georg. "Magst du Kastanien?" Er griff in die Taschen und holte große braune Kastanien heraus, die er von einer Hand in die andere warf.

"Fein!", rief ich. "Wir wollen sie rösten."

"Gut", stimmte er zu.

Dann zogen wir los; Georg schob die Hände in die Taschen, damit die Kastanien nicht herausfielen. Sein dunkles Haar war vom Wind zerzaust, das Hemd über der Brust geöffnet. Seite an Seite trabten wir durch die Straßen dem Walde zu.

*

Wenn ich heute an Georg denke und mir jene fernen Tage meiner Kindheit ins Gedächtnis zurückrufe, formen sich vor meinen Augen aus vielen bunten Erinnerungen feste Bilder. Und diese Bilder zeigen unsere Freundschaft, die jetzt für mich eine neue Bedeutung gewinnt.

*

Wir beide hockten vor einem kleinen Feuer, das wir auf einer Lichtung im Wald angezündet hatten, schwiegen eine ganze Weile und sahen zu, wie die Kastanien rösteten und dunkler wurden, die Schalen knackten in der Hitze.

Rings um uns waren Bäume, Eichen und Ulmen und Birken, durch die Wipfel schimmerten Flecken vom klaren Himmel, die Sonnenstrahlen stachen durch die leise zitternden Blätter. Georg unterhielt das Feuer mit trockenen Zweigen, und ich wendete die Kastanien in den Flammen um.

Schließlich brach Georg das Schweigen. "Vater erlaubt mir nicht, in die Hitlerjugend einzutreten, ganz gleich, was geschieht."

"Willst du denn eintreten?", fragte ich. "Du weißt ja, mich würden sie nicht nehmen."

"Das ist was anderes. Du bist ein Jude."

"Auch wenn ich kein Jude wäre, würde ich nicht eintreten, denn ich lasse mich nicht herumkommandieren."

"Ich auch nicht."

"Warum redest du dann überhaupt davon?"

"In der Schule hacken sie auf dir herum, wenn du nicht dabei bist."

"Na und, Georg?", fragte ich.

"Verdammt, Stefan, du bist schwer von Begriff!"

Er angelte sich eine Kastanie aus dem Feuer, schälte sie und biss ein Stück ab.

"Warum hassen eigentlich die Nazis die Juden?", fragte er plötzlich, als ob er die ganze Zeit darüber nachgedacht hätte.

Die Frage traf mich wie ein Schlag. Ich wusste, die Nazis hassten uns, aber niemand hatte mir je erklärt, aus welchem Grunde sie uns hassten. Jetzt, da ich Georgs Frage nicht beantworten konnte, verwirrte mich meine Unwissenheit.

"Ich weiß nicht", sagte ich ratlos. "Ich weiß es wirklich nicht."

Einen Augenblick lang sah mich Georg prüfend an. Dann schob er mir eine Kastanie zu und sagte: "Denk nicht mehr daran, denk einfach nicht daran. Wenn sie dich hassen, will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Wir sind doch Freunde, nicht wahr?" Und dann mit Nachdruck: "Oder nicht?"

2

Jetzt, da ich dies niederschreibe, liegen eine Welt und die Hälfte meines Lebens zwischen mir und Georg, zwischen mir und dem vom Krieg zerrütteten Deutschland. Ist es bereits zu spät, so zu schreiben? Ich weiß es nicht. Oder sage ich gerade zur rechten Zeit aufrichtig, wie ich es fühle: Georg ist noch immer mein Freund, und auch die Menschen, die Georg großgezogen haben, sind meine Freunde. Es gibt Dinge, die man lernt, wenn man klein ist, und die in einem bleiben und mit den Jahren wachsen. Und es sind stets die einfachen Dinge. Sie wiederholen sich, sie verbinden sich und werden bedeutungsvoll - sie bilden eine Kette, die von der Kindheit bis in die Mannesjahre reicht.

*

"Mutter, das ist Stefan."

"Guten Tag", sagte ich, vor Georgs Mutter stehend, die Arme steif an den Seiten, und verbeugte mich höflich.

Sie kniete in einem Gemüsebeet und jätete Unkraut. Jetzt unterbrach sie ihre Arbeit und musterte mich von unten her, zuerst prüfend, doch sehr bald nahmen ihre Augen einen freundlichen und ermunternden Ausdruck an. "Ah, guten Tag", erwiderte sie lächelnd. "Du bist also Georgs Freund. Er hat oft von dir gesprochen."

Mit dem Rücken ihrer arbeitsrauen Hand schob sie sich eine Strähne ergrauenden Haares aus dem Gesicht und streckte müde die Schultern. "Geh schon mit Stefan hinein", sagte sie zu Georg und deutete auf die Tür einer Holzlaube. "Und setz Wasser auf! Ich komme gleich zu euch." Dann wandte sie sich wieder dem Unkraut zu und rutschte beim Jäten auf den Knien vorwärts - eine hagere Frau im verblichenen Kattunkleid, die jetzt jünger wirkte, da die herabfallende Haarsträhne ihr abgehärmtes Gesicht verdeckte.

Und dies ist in mir lebendig geblieben, mir selbst unbewusst, bis heute, da ich es erzähle und mein Gedächtnis auf den Augenblick der Begegnung konzentriere: Die ruhige Sicherheit von Georgs Mutter, ihr Stolz, der auch in Georg war, der prüfende Blick, mit dem sie mich ansah, die Vorbehaltlosigkeit, mit der sie mich dann aufnahm als einen der ihren, der an allem, was sie besaßen, teilhaben durfte. Hier zählten weder mein gesellschaftlicher Stand noch meine Religion. Von Anfang an wusste ich, dass hier nur der Freund etwas galt, Georgs Freund, sonst nichts. Das war ein gutes Gefühl.

3

November neunzehnhundertachtunddreißig, Stadt D. im Rheinland:

Unser Haus mit der steinernen Treppe vor der Eingangstür - das Schloss gesprengt, die Tür eingeschlagen, sie hängt lose in den Angeln; neben der Tür die elektrische Klingel - aus der Wand gerissen, an zwei Drähten baumelnd. Käte ist nicht mehr bei uns - das Gesetz verbot uns eine Hausangestellte. Die schwingenden Glastüren im Flur - in Scherben, die Glassplitter auf den Teppichen knirschen unter den Füßen. Vaters Arbeitszimmer und die Bibliothek -ein wüstes Durcheinander von zerstörten Möbeln; die Bücherregale mit den Glasscheiben umgekippt, juristische Werke und Romane auf den Boden geworfen. "Der Zauberberg", "Krieg und Frieden", die "Deutsche Justiz" mit zerrissenen Einbänden in die Ecke geschleudert. Mutters Frühstückszimmer - überall das gleiche Bild:

alles in Trümmern, die Porzellansammlung ein Scherbenhaufen, die Landschaftsaquarelle mit Messern zerschnitten.

Unten im Garten, in einem Blumenbeet lag der Flügel, wie eine riesengroße, hilflose Schildkröte auf dem Rücken. Die breiten Fenster waren eingeschlagen, die Rahmen mit herausgerissen.

Ich schreibe dies nieder wie einen bösen Traum, doch ohne Erregung jetzt, ich berichte von den Schrecken, die über uns kamen, plötzlich, auf Befehl, durch nichts provoziert, und mit einer so blinden Wut, dass es die ganze Zeit unwirklich schien. Viel Hass war in jenen Jahren gesät worden, sehr viel Hass, der an diesem Tage ungehindert tobte. Und dennoch habe ich Hoffnung.

Sturmabteilungen brechen mit Gewalt in ein Haus ein, trampeln alles nieder, demolieren alles, was ihnen in den Weg kommt, schlagen alles in Stücke, verhaften - das war eine "Ordnung", die wir zerstören. Ja, wir zerstören sie: in unserem Herzen, in unserem Geist, jeder einzelne von uns, zerstören sie durch unsere Art zu leben, zu denken und zu handeln. Vielleicht wurde meine Hoffnung an diesem Tag geboren, an diesem Novembertag in jenem Jahr. Ich habe diese Hoffnung genährt, und sie ist größer geworden.

Es war ein langer Tag. Es war ein furchtbarer, ein grausamer Tag. Unser Volk, das jüdische Volk, blutete, wurde verwundet, geschlagen und auseinander gerissen.

Es dauerte lange, bis der Abend kam. Bei uns zu Haus gab es keine Tränen. Wir waren wie versteinert, vielleicht waren wir auch zu stolz, um Tränen zu vergießen. Unsere Gedanken weilten beim Vater, der am Morgen verhaftet worden war, und wir beteten für ihn.

Dann, in der Nacht, kam ein Mann in unser Haus. Er ging durch die verwüsteten Räume, und er sah alles, und er war eine lange Zeit still.

Er legte einen Arm um meine Schultern und sagte: "Hab keine Angst. Du und ich, wir werden alles wieder in Ordnung bringen. Stück für Stück werden wir alles reparieren."

Er war Tischler von Beruf.

Zu Mutter sagte er: "Ich finde keine Worte. Ich schäme mich."

Er nahm einen beschädigten Tisch und einen Stuhl, trug beides hinaus und lud es auf einen Handwagen, mit dem er die Straße entlangzog, ins Dunkel der Nacht.

Der Mann war Georgs Vater.

NEUGIER

Der Briefkasten an der Straßenbahnhaltestelle erregte Stefans Neugier, und er wollte von seinem Vater wissen, was darin sei. Dr. Hermann, von Beruf Rechtsanwalt, neigte dazu, sich in Einzelheiten zu verlieren, und so beantwortete er die Frage ausführlicher, als ein kaum Dreijähriger zu fassen vermag. Bevor er noch geendet hatte, war Stefans Interesse bereits von der Litfasssäule gefesselt - was für eine riesengroße runde Schachtel, und noch dazu in so schönes buntes Papier eingewickelt!

"Das ist keine Schachtel", belehrte ihn der Vater, "sondern eine massive Säule aus einem harten Material, das man Beton nennt."

Stefan dachte einen Augenblick lang über diese Erklärung nach, dann gab er es auf und hielt Ausschau nach etwas Neuem. Auf diese Weise entdeckte er in einer kurzen halben Stunde, dass der rote Feuerlöscher im Bus mit einer Flüssigkeit gefüllt war, dass die Bremskästen in der Straßenbahn Sand enthielten und dass man in die kleinen, glänzenden Apparate, die die Schaffner umgehängt trugen, Geldstücke hineinstecken konnte.

Auch zu Hause fand er stets etwas zu untersuchen. Allein in der Küche standen zahllose Behälter, die ihm keine Ruhe ließen. Sein Wissensdurst war unstillbar. Er plagte seine Mutter mit Fragen und verschonte auch Käte, die Hausgehilfin, nicht, er forschte die Männer von der Müllabfuhr aus, den Wäschereiangestellten, Hausierer, Bettler und Handwerker, jeden, der an der Wohnungstür schellte. Mit der Zeit richtete sich seine Neugier vor allem auf technische Dinge. Ein leidenschaftliches Interesse für die Ursachen von Geräuschen erwachte in ihm. Was ließ die Türklingel läuten, wie kommt die Musik ins Radio, ins Klavier, ins Grammophon? Er begann alles, was klingelte, quietschte, pfiff oder knarrte, eingehend zu untersuchen und auseinander zu nehmen, und bald war nichts mehr vor ihm sicher. Die kleine Glocke aus der Porzellansammlung seiner Mutter schlug er entzwei, die Kaffeemühle, die Kuckucksuhr, die Pfeife am Wasserkessel, eins nach dem anderen zerlegte er in seine Bestandteile. Er wurde bestraft, jedes Mal auf andere Weise, aber sowie er einen Gegenstand entdeckte, der einen Laut von sich gab, trieb ihn wieder die Neugier, und er zerriss, verbog, zerschnitt oder zerbrach ihn, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Es musste doch etwas Lebendiges darin verborgen sein, ein winzigkleiner Zwerg, der brummte oder eine Glocke läutete, auf einem Kamm oder einer Pfeife blies! Sein Suchen endete immer mit einer Enttäuschung, trotzdem hörte er nicht auf, an diesen geheimnisvollen Zwerg zu glauben; seine Phantasie war stärker als seine Vernunft. Eine Kindergeige, eine Trommel, ein kleines Akkordeon und viele andere Spielsachen fielen seinem Forschungsdrang zum Opfer, weil sie ihm den Zwerg vorenthielten, den er unbedingt finden wollte. Er wurde getadelt, ermahnt, man drohte ihm, redete ihm gut zu. - Stefan versprach, es gewiss nicht wieder zu tun, doch er brach dieses Versprechen so oft, dass er an seinem dritten Geburtstag nichts zum Spielen bekam, nur Obst und Kleidungsstücke, und das waren für ihn überhaupt keine Geschenke. Wem konnte er von dem Geräusche machenden kleinen Zwerg erzählen, den er eines Tages ganz bestimmt entdecken würde? Wer konnte ihn verstehen, wer würde ihm wohl glauben?

An einem strahlenden Sonntagmorgen im Frühling - seine Eltern hatten am Abend zuvor Gäste gehabt, lautes Lachen und Gläserklingen war aus dem Wohnzimmer bis zu ihm gedrungen - wachte er zeitig auf und wollte seinen Augen nicht trauen. Neben seinem Bett stand ein Spielzeugelefant, beinahe so groß wie er selbst. Er war grau, hatte einen langen Rüssel und richtige Stoßzähne, und er stand auf Messingrädern, die sich so leicht bewegten, dass das Tier beim geringsten Anstoß bis in die andere Ecke rollte. Stefan konnte es kaum fassen. Er sprang aus dem Bett und lief dem Elefanten nach, umarmte ihn voller Entzücken, streichelte ihn zärtlich, packte ihn am Schwanz, an den Ohren, am Rüssel und schob ihn an den Möbeln vorbei kreuz und quer durchs Zimmer. Ein Elefant, sein Elefant! Wer hatte ihm dieses prächtige Spielzeug geschenkt? Warum waren nicht alle wach und bewunderten es?

Ganz leise öffnete er die Tür und schlich auf Zehenspitzen über den Flur. In der Küche roch es schal nach Essen und Alkohol, Berge von schmutzigem Geschirr füllten das Abwaschbecken. Die Uhr an der Wand tickte hartnäckig, aber niemand rührte sich. Es kam Stefan vor, als hätte ein böser Zauberer alle, seine Eltern, das Hausmädchen Käte und auch die Gäste, die vielleicht über Nacht hiergeblieben waren, in einen tiefen Schlaf versenkt. Wenn er wenigstens an die Uhr heran könnte! Er kletterte auf einen Stuhl, aber die Uhr blieb unerreichbar. Enttäuscht stieg er wieder hinunter und verließ die Küche. Ich hab' einen Elefanten, dachte er, aber wen kümmert das! Vor dem Schlafzimmer seiner Eltern blieb er stehen, hielt ein Ohr gegen die Tür, spähte erfolglos durchs Schlüsselloch und kehrte schließlich in sein Zimmer zurück. Sein Herz pochte. War das anstrengend, sich still zu verhalten!

Grau und groß und majestätisch stand der Elefant im Licht der Morgensonne am Fenster. Stefan schwang sich auf seinen Rücken, als wäre er ein Pony, und presste die Schenkel fest gegen seinen Leib. Da quiekte er laut und durchdringend. Stefan drückte die Beine noch einmal an und ritt auf ihm vom Fenster zum Bett. Wieder quiekte der Elefant. Das Geräusch machte Stefan nachdenklich. Er glitt hinab und hockte sich neben das Spielzeugtier auf den Fußboden, betrachtete es von allen Seiten, versetzte ihm einen leichten Stoß, aber es gab keinen Laut von sich. Erst als er wieder aufstieg und ihm die Schenkel gegen den Bauch drückte, quiekte der Elefant von neuem, einmal, zweimal, dreimal...

Als seine Mutter ihn eine Stunde später wecken wollte, fand sie Stefan ganz verkrümmt im Bett, halb erstickt unter der Decke, die er sich über den Kopf gezogen hatte. Er schluchzte. Überall auf dem Fußboden lagen Sägespäne verstreut; auf dem Fensterbrett blitzte das scharfe Küchenmesser in der Sonne. Die leere Stoffhaut des Elefanten war über den Messingrädern in sich zusammengefallen.

Sie zog die Bettdecke weg und rüttelte den Jungen an der Schulter. Er grub das Gesicht noch tiefer ins Kissen und weinte. In der rechten Hand hielt er einen Gegenstand umklammert, den er erst losließ, als seine Mutter die Faust gewaltsam öffnete. Eine kleine Gummiblase fiel auf das zerknitterte Laken.

"Stefan, was hast du getan?", rief sie zornig.

"Sei nicht böse, bitte, sei mir nicht böse", flehte er mit kaum hörbarer Stimme. "Ich verspreche dir..."

"Was?", fragte sie.

"Ich verspreche dir", wiederholte er und wandte ihr das tränenüberströmte Gesicht zu, "dass ich niemals mehr nach dem kleinen Zwerg suchen werde."

IM HERBST

Die Stangen des Balkongitters standen ziemlich dicht beieinander, und er rieb sich jedes Mal die Ohren wund, wenn er den Kopf durchsteckte. Schließlich versuchte er das gar nicht mehr, sondern streckte nur noch die kleine Faust aus. Er wusste ohnehin, was geschehen würde, wenn er das eine Ende der violetten Papierschlange losließ, die er seit dem letzten Karneval den ganzen Frühling und den Sommer über aufgehoben hatte; er brauchte nicht mehr nach unten zu sehen, denn es wiederholte sich regelmäßig an jedem sonnigen Nachmittag. Einen Augenblick lang flatterte die Papierschlange im Wind über den Geranien auf dem Balkon unter ihm, dann spürte er einen leichten Ruck, so, als hätte ein Fisch nach dem Köder geschnappt, und wusste, dass die wachsbleiche Hand von Herrn Opitz das wehende Ende gefasst hatte.

"Haben Sie's erwischt, Herr Opitz?", erkundigte er sich nun. Und sobald er von unten her die asthmatische Stimme "ja, mein Junge" antworten hörte, ließ er das andere Ende fallen und wartete. Er stellte sich vor, wie Herr Opitz, der gut zugedeckt in einem Korbsessel ruhte, die Papierschlange sorgfältig Zentimeter um Zentimeter wieder zusammenrollte. Das dauerte immer eine ganze Weile, viel länger, als er selbst dazu gebraucht hätte, und gewöhnlich vertrieb er sich die Zeit damit, dem Leben auf dem Marienplatz zuzuschauen: Da zogen schwere Gäule gemächlich ihre Fuhrwerke, Autos und Radfahrer überholten sie, alte Frauen stiegen die steinernen Stufen zu St. Marien hinauf.

Das Läuten der Türklingel schreckte ihn jedes Mal auf. Er hörte gespannt zu, wie die Pflegerin von Herrn Opitz zu Käte sagte: "Hier ist die Papierschlange für den jungen Herrn mit den besten Empfehlungen vom Herrn Geheimrat." Und täglich glühte er von neuem vor Stolz, dass man ihn "junger Herr" nannte, obwohl er doch erst in anderthalb Jahren zur Schule gehen würde.

Nun musste er noch "vielen Dank, Herr Opitz!" durchs Balkongitter rufen, und wenn von unten her die matte Stimme "schon gut, mein Junge" erwiderte, war das Spiel zu Ende.

Doch an einem strahlenden, ungewöhnlich warmen Herbstnachmittag - es war fast wie im Hochsommer, nur verloren die Bäume bereits ihre gelbbraunen Blätter - wartete er vergebens auf eine Antwort. Dabei hatte er eben ganz verzweifelt gerufen: "Herr Opitz, Herr Opitz, sie ist weg! Unsere Papierschlange ist weggeflogen!" - Ein Windstoß hatte sie ihm aus der Hand gerissen und zu einem der Bäume vor dem Haus getragen, wo sie unerreichbar an einem kahlen Ast flatterte.

Ohne an die Folgen zu denken, zwängte er den Kopf zwischen den Eisenstangen hindurch und stellte fest, dass der Korbsessel auf dem unteren Balkon leer war. "Wo sind Sie, Herr Opitz?"

Er zog den Kopf zurück und hielt sich die schmerzenden Ohren. So konnte er nicht hören, dass die Glocken von St. Marien anfingen zu läuten. Doch als er durch die Baumkronen hindurch eine Gruppe schwarzgekleideter Menschen aus der Kirche kommen sah, Herren mit Zylinderhüten und verschleierte Damen, vergaß er seinen Kummer und beobachtete mit staunenden Augen, wie vier Männer einen großen eichenen Kasten mit Messingbeschlägen auf den Schultern zu einem Gefährt trugen, das gläserne Seitenwände hatte. Die Pferde davor waren in schwarze Decken gehüllt. Der Kasten wurde in den gläsernen Wagen geschoben, und gleich darauf trabten die Pferde los und zogen den Wagen um den Platz herum, und die Menschen gingen hinterher. Die Kirchenglocken verstummten. Noch einmal rief er nach Herrn Opitz, wieder vergebens. Er schaute zu der violetten Papierschlange hin, die im Sonnenlicht leuchtete. Gerade riss der Wind ein Stück ab und wehte es über den Marienplatz, der jetzt, da der Trauerzug nicht mehr zu sehen war, wieder den vertrauten Anblick bot. Macht nichts, dass die alte Papierschlange weg ist, dachte er ein wenig trotzig. Herr Opitz hat mich sowieso vergessen.

Und er ging ins Zimmer zu seinen Spielsachen.

DIE TASCHENUHR

Wenn die großen Glastüren des Krankenzimmers offen standen, konnte Stefan von seinem Bett aus über die sonnenüberflutete Terrasse hinweg auf einen kleinen See blicken. Es war Spätsommer. Die Kiefern und Silbertannen rochen würzig, ein erfrischender Wind strich über das Wasser. Eigentlich fühlte er sich ganz wohl, wenn er auf dem weißbezogenen Bett lag, das Spiel der Sonnenstrahlen in den Blättern der Bäume beobachtete und dem Gezwitscher der Vögel zuhörte. Morgens stand er manchmal vorsichtig auf und versuchte, auf den Beinen zu bleiben, aber immer wieder verließ ihn die Kraft, er taumelte und musste sich am Bett festhalten, weil alles um ihn sich drehte, langsam erst und dann immer schneller. Er war doch noch sehr krank.

Eines Tages wurde ein zweiter Patient in sein Zimmer gelegt: ein kleiner, erst vierjähriger Junge, zwei Jahre jünger als er. Rainer hatte strahlend blaue Augen, Grübchen im Gesicht und eine flinke Zunge, die selten einmal stillstand und Stefans verträumte Ruhe empfindlich störte. Es war, als rieselte dauernd ein murmelnder Bach durch seine Gedanken. "Ich hab' ein Dreirad, du auch? Und eine Spielzeugeisenbahn hab' ich, und einen großen Ball und eine Matrosenmütze und ein Indianerkostüm! Du auch? Und bald werde ich mit meiner Mutti und meinem Vati in ein neues großes Haus einziehen, und wo wohnst du?"

"Wir ziehen auch in ein neues Haus", antwortete Stefan.

Das ließ Rainer für kurze Zeit verstummen. Aber bald machte sich Stefan gar nicht mehr die Mühe, auf diese Flut von Fragen einzugehen. Er erlernte die Kunst, geduldig und überlegen zu schweigen, und gab sich seinen Betrachtungen immer dann hin, wenn Rainer, sichtlich erschöpft von seinem eigenen Geplapper, den Kopf aufs Kissen sinken ließ und einschlief. Dann konnte Stefan wieder die Vögel singen hören, die Eichhörnchen durch die Bäume huschen sehen und die Sonne bewundern, die sich wie ein großer goldener Ball im See spiegelte. Er sehnte sich nach Struppi, Helmuts Hund, mit dem er manchmal spielen durfte, und freute sich auf den Tag, da sie wieder durch den Wald jagen würden, und er dachte auch an seine Eltern und an Käte. Und manchmal fragte er sich, was die anderen jetzt wohl in der Schule lernen mochten, und ob er jemals nachholen würde, was er in zwei Monaten versäumt hatte.

"Ich hab' geträumt", sagte Rainer plötzlich, setzte sich im Bett auf, blinzelte in der Sonne und rieb sich die Augen. "Von einem Schornsteinfeger habe ich geträumt, der hat mich in einen Schornstein gesteckt, und ich konnte nicht mehr 'raus. Ich hab' Angst vor Schornsteinfegern. Du auch?"

"Nein", behauptete Stefan sehr bestimmt, mit der Würde des Älteren.

"Aber ich hab' große Angst vor Schornsteinfegern", wiederholte Rainer. "Die sind schwarz."

"Sie sind nicht schwarz, bloß rußig", erklärte Stefan.