Tod in Fremantle - Walter Kaufmann - E-Book

Tod in Fremantle E-Book

Walter Kaufmann

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Beschreibung

Hätte ich mir nicht auf dem Weg zum Trilby Crocker Hostel so eine Art Safarihut gekauft, ein breitkrempiges Ding aus grünem Denim, ich wäre womöglich auf der Strecke geblieben. Unbarmherzig brannte die Sonne, und das Hemd klebte mir zwischen den Schulterblättern und unter den Armen wie eine zweite Haut, ehe ich ans Ziel gelangte - ein verfallenes Holzhaus am Rand der Stadt, auf dessen Treppe im Schatten des vorstehenden Wellblechdachs ein alter Mann hockte, ein Schwarzer, zerlumpt, runzlig und dürr, der mich wie eine Erscheinung bestaunte. Am Ende war es einer, der nichts mehr zu verlieren hatte und, innerlich zerrüttet, nur noch auf Rache sann, ein zu lebenslanger Haft verurteilter Strafgefangener namens Mahoney, der die Wahrheit auspackte, die furchtbare Wahrheit - es war Mord und kein Unfall! Der Handlungsbogen unserer Chronik erstreckt sich über zwanzig Jahre, von 1964 bis 1984, und über die halbe Welt - von Karl-Marx-Stadt bis zum Hafen von Fremantle an Australiens Westküste, wo die Hintergründe des Mordes an einem jungen Mann aufgeklärt werden, der, wie alle Aborigines, in seinem Land gebrandmarkt und auf der Flucht war.

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Seitenzahl: 148

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Impressum

Walter Kaufmann

Tod in Fremantle

Chronik einer Nachforschung

ISBN 978-3-96521-282-4 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

Das Buch erschien erstmals 1987 in: Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig.

Für Judith McLean

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

www.edition-digital.de

1.

Neun Jahre nach meiner Rückkehr aus australischer Emigration, im Sommer 64, erreichte mich in Berlin ein Brief aus Belgrad, der ein Aufschrei war, ein Hilferuf.

Zwischen einem höflich-formellen „Dear Sir“ und dem schlichten „Yours truly“ hatte eine Lehrerin aus Perth, eine mir Unbekannte namens Joan O’Leary, in eindringlichen Worten geschildert, wie sie eines Findlings wegen, des Kindes einer schwarzen Frau, in Schwierigkeiten geraten war. Das nur wenige Wochen alte Wesen war früh morgens auf den Stufen der Schule ausgesetzt worden, und sie, die Lehrerin, hatte es dort vor Beginn des Unterrichts entdeckt. Da sie ahnte, wem das Kind gehörte, hatte sie es bereitwillig zu sich genommen – auf Zeit, wie sie anfangs glaubte. Doch die Mutter blieb verschollen und tauchte weder in der Schule, wo sie zuweilen beim Saubermachen geholfen hatte, noch bei der Pastorenfamilie wieder auf, bei der sie wohnte und in Stellung war. So wuchs das Pflegekind Joan O’Leary allmählich ans Herz, und als der Schuldirektor, auf die Gesetze des Landes pochend, darauf bestand, es in die staatliche Obhut eines Heims zu geben, widersetzte sie sich. Schließlich reichte sie sogar ihre Kündigung ein. Da sie nun schon nicht mehr an die Rückkehr der Mutter glaubte, verzog sie nach Melbourne – so weit wie möglich fort von jeglichen Behörden, die ihr das Kind streitig machen konnten. Erleichtert aber war sie erst, als sie dort die Nachricht erreichte, die Mutter habe sich gemeldet und dankbar gezeigt, ihren Jungen in guter Obhut zu wissen. Wie aber, hatte sich Joan O’Leary fragen müssen, sollte sie auf die Dauer für das Kind sorgen, wenn es ihr nicht gelang, eine neue Stellung zu finden. Es schien, als hinge ihr die Kündigung des Schuldienstes über alle Bundesgrenzen hinweg an.

So war sie schließlich zu dem Entschluss gelangt, Australien zu verlassen und es im Ausland zu versuchen. Wie sie mit ihrem Schützling, der ihr ja amtlich nie zugesprochen worden war, selbst von der Mutter gab es nichts Schriftliches, ungehindert hatte aysreisen können, schrieb sie nicht und setzte erst wieder an dem Punkt ein, der mich unmittelbar betraf.

In Belgrad nämlich, wohin sie über Italien gelangt war, hatte sie bei der DDR-Botschaft um Asyl ersucht, damit ihr Ricki, so ihre Worte, in einem Land aufwachsen könne, wo er gleichberechtigt sei. Ich möge ihr nachsehen, dass sie mich dabei als Referenz benannt habe. Zwar seien wir uns nie begegnet, und doch glaube sie, mich durch meine in Australien veröffentlichten Bücher zu kennen, die ihr begreiflich gemacht hätten, warum ich in ein Land zurückgekehrt war, aus dem ich einst hatte flüchten müssen. Rassenvorurteile könne es demnach dort nicht geben – was wohl das Land zu einem wirklichen Zufluchtsort für ein Kind wie Ricki mache und darum auch für sie. Sie endete mit der Frage, ob sie mit meiner Unterstützung rechnen dürfe, und empfahl sich mit verbindlichem Dank im voraus.

Meist nur sehr indirekt erfährt ein Schriftsteller von den Auswirkungen seiner Arbeit. Darum wird es nicht verwundern, dass mir der Brief keine Ruhe ließ, bis ich mich an eine mir nahestehende Ratsvorsitzende in Berlin-Mitte gewandt hatte, eine beherzte Frau, die sofort Hilfe versprach. Mein Eilbrief aber, den ich daraufhin nach Belgrad schickte, blieb ohne Antwort, und vier Jahre sollten vergehen, ehe ich den Grund erfuhr – Zeit, in der ich nicht nur mit der Niederschrift einer Reportage beschäftigt, sondern auch oft im Ausland war, so dass ich die Frau und ihr Anliegen allmählich vergaß. Nie war mir auch nur der Gedanke gekommen, sie könnte mit dem Jungen ohne mein Wissen zu uns gelangt sein, geschweige denn, dass ich eines Tages seinetwegen die aufwendigsten Nachforschungen betreiben sollte, die mich bis ans andere Ende der Welt führten …

Deus ex Machina – da werde ich an jenem Wintertag des Jahres achtundsechzig in meinem Auto einen jungen Studenten aus Namibia mitnehmen, der von Berlin auf Trampfahrt nach dem Süden der Republik ist. Kaum hat er erfahren, wie ich zu meinen Englischkenntnissen gekommen bin, gibt er ein Erlebnis zum Besten, das mich aufhorchen lässt. Vor ein paar Wochen sei ihm beim Eintritt in ein Restaurant von Karl-Marx-Stadt ein robustes Kerlchen von etwa fünf Jahren mit dem Aufschrei „Papa, Papa!“ entgegengestürzt und habe seine Beine so fest umklammert, dass er Mühe hatte, sich zu befreien. Um das Kind nicht zu kränken, das offensichtlich den Vater in ihm suchte, habe er den Ansturm über sich ergehen lassen, den Jungen am Ende sogar hochgehoben und ein bisschen gedrückt. Schließlich habe er auch die Mutter kennengelernt, vielmehr die Pflegemutter, die sich als Australierin erwies.

„Joan O’Leary“, werfe ich ein, „und der Junge müsste Ricki heißen.“

So sehr ihn das erstaunt, noch mehr erstaunt uns beide der Zufall, dass gerade ich am Schönefelder Kreuz für ihn angehalten hatte.

„Richtig, bei Gott – so heißen sie!“

Sollte er auf dem Weg zu ihnen sein, brächte ich ihn bis vor die Tür, bot ich ihm an, worauf er mit hellem Lachen die Hände zusammenschlägt.

„Gibt das eine Überraschung!“

Was das Kind anging, so hatte er sich geirrt. Ricki, ein überaus lebhafter, gut gewachsener, gut anzusehender Junge mit dunklen Augen, dunklem seidigem Haar, dabei weit hellhäutiger als der Mann, in dem er den Vater sah, würdigte mich nach kürzester, in unverfälschtem Sächsisch hervorgebrachter Begrüßung keines weiteren Blickes. Bereitwillig überließ er mich seiner Pflegemutter, einer resolut wirkenden Frau Mitte Dreißig von etwas herbem, aber gefälligem Äußeren, mit rötlichem Haar und braunen Augen, deren erste Worte schon im Tonfall unverkennbar australisch klangen: „Better late than never!“

Kaum hatte sie uns in die beengte, wenig aufgeräumte Mansardenwohnung eingelassen, erfuhr ich, dass sie mein Antwortschreiben nach Belgrad nicht abgewartet hatte, weil ihr bei einem zweiten Besuch in der DDR-Botschaft mitgeteilt worden war, ich sei schon seit langem als Auslandskorrespondent in den USA – ein verständlicher Irrtum, da zu jener Zeit im „Neuen Deutschland“ eines meiner Amerikabücher in Fortsetzungen erschien. Im Verlauf der Unterredung habe man ihr, inoffiziell, versteht sich, den Rat gegeben, es trotzdem zu versuchen und hinter der westdeutschen Grenze einfach aus dem Zug zu steigen.

„Da stand ich also in Nacht und Kälte mit dem Kind auf dem Arm und ließ den Zug verschwinden.“

Das Aufsehen hätte ich erleben sollen, ein Hin und Her sondergleichen, bis sich endlich ein Offizier fand, der wohl hauptsächlich Rickis wegen ein Einsehen hatte und für ihre Unterbringung sorgte.

„Nur für eine Nacht – am nächsten Tag brachte man uns in dieses Lager in Fürstenwalde, wo wir lange blieben.“ Sie sah mich an. „Zu lange und nirgends auch nur die Spur einer vertrauten Seele!“

Ich konnte ihr nachfühlen, wie ihr zumute war, zumal hinzukam, dass bei allen Versuchen, mich aus dem Lager anzurufen, mein Telefon „tot wie ein hohler Baum“ geblieben sei – auch später, von Karl-Marx-Stadt aus, hätte sie mich nicht erreichen können. Was ich ihr glauben konnte, da ich während der Arbeit meist den Stecker herausziehe, um mich gegen Störungen abzuschirmen. Nachdem sie bei einem Besuch in Berlin vergeblich an meiner Tür geläutet habe, hätte sie mich endgültig aufgegeben – given away as a bad job, wie sie es ausdrückte.

„Nun, es ging auch so“, fuhr sie fort, wobei ihr Tonfall verriet, dass sie mir nichts nachtrug. „Obwohl es Wochen dauerte, bis ich beweisen durfte, dass eine Lehrerin nicht unbedingt zwei linke Hände hat.“ Sie fand Arbeit in einer Werkzeugmaschinenfabrik, besuchte Lehrgänge und brachte es bis zur Kranführerin. „Seitdem geht’s aufwärts – man braucht mich, und das hilft über vieles hinweg.“

Doch als ich sie dem Tee, den sie in der Küche in einer geschwärzten Kanne aufgebrüht hatte, ein getrocknetes Eukalyptusblatt hinzugeben sah, wie die Australier im Busch es tun, und sie geschlossenen Auges den Duft einsog, erkannte ich, wie fremd sie sich noch immer fühlte.

Nur der Junge schien sich eingelebt zu haben – warum auch nicht! Er war in die neue Umgebung hineingewachsen und hatte sich aufs Natürlichste die Sprache, die er täglich vernahm, zur eigenen gemacht. Vom Nebenzimmer her hörten wir ihn mit dem Studenten aus Namibia balgen. Er schien auf ihm zu reiten und ihm die Sporen zu geben, und sein lautes „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp“ klang, wie zuvor die Begrüßung, ausgesprochen sächsisch.

„Wenn Patrice bloß wirklich der Vater wäre, nach dem Ricki sich so sehnt“, sagte Joan O’Leary. „Dabei könnte er dem Alter nach sein Bruder sein – fast sogar mein Sohn.“

Das erklärte mir ihre Beziehung. Joan O’Learys Nachbarinnen aber, das fand ich am nächsten Morgen heraus, machten keinen Hehl aus ihren Vorbehalten gegenüber den Hausbesuchen jenes schwarzen Studenten. In der Erwartung, zumindest ihn noch in der Wohnung vorzufinden, der Kleine würde ja im Kindergarten und Joan O’Leary längst im Betrieb sein, hatte ich gegen elf an der Tür geläutet. Als niemand antwortete, hatte ich es nebenan versucht. Ich wollte Nachricht hinterlassen, warum ich vorzeitig nach Berlin zurückkehren musste und mein Versprechen, sie noch einmal aufzusuchen, nicht halten konnte. Misstrauisch musterte mich die Nachbarin, eine ältliche Frau mit schlohweißem Haar, durch die halbgeöffnete Tür. Kaum hatte sie jedoch mein Anliegen erfahren, war ich auch schon hineingezogen in einen Sumpf von Klatsch – vielleicht drücke ich das zu krass aus. Denn was sie da völlig unaufgefordert verlauten und sich von der inzwischen aus einer anderen Wohnung hinzugekommenen Frau bestätigen ließ, klang so bösartig nicht. Eine gemütliche Mundart ist es schon, dieses Sächsisch!

Eben erst sei dieser Afrikaner auf leisen Sohlen mit dem kleinen Ricki aus dem Haus gegangen, wo er doch hätte wissen müssen, dass der Junge längst in den Kindergarten gehörte – nun ja, er wird müde gewesen sein nach der langen Nacht. Und schon beklagten beide die laute Musik zu später Stunde und dass da viel gesungen und wohl auch getrunken worden war – wobei der Kleine lange nicht zur Ruhe gekommen sei. Was sich danach noch abgespielt haben mochte, wolle man sich gar nicht erst vorstellen. Ein solcher Mann und diese Frau!

Sich gegenseitig ergänzend, zeichneten sie alsdann das Bild einer wenig sittsamen, alles andere als herkömmlichen Ausländerin, die sommers wie winters Hosen trug, in der Öffentlichkeit Zigaretten rauchte und obendrein ein Motorrad fuhr, eins mit so einem Beiwagen eigens für den Kleinen. Und was die Frau sich bei diesen Ausflügen umhänge, spotte jeder Beschreibung. All das Lederzeug und auf dem Kopf eine Lederkappe mit Brille. Wie eine Eule!

Hier unterbrach ich die beiden mit der Bitte, mir den Weg zum Kindergarten zu beschreiben, wo mich der Kleine beim Wiedererkennen fast so stürmisch empfing wie den Studenten am Abend zuvor. Kein Zweifel, Ricki vermisste den Vater, und die liebevolle Fürsorge seiner Betreuerin, einer sanft-rundlichen Person mit braunen Augen und Haardutt, vermochte seine Vatersehnsucht kaum zu lindern. Wohl weil er sich kurz zuvor von seinem Papa-Patrice hatte trennen müssen, hing er jetzt an mir, überschüttete mich mit Fragen und wollte mich nicht gehen lassen. Erst als ihm die Kindergärtnerin seinen Malkasten versprach, beruhigte er sich.

„Wenn nichts hilft, das hilft immer“, sagte die Frau. „Malen tut er für sein Leben gern.“

Der Kleine streckte sich nach der hohen Klinke in der Glastür, schaffte es aber nicht. Flehend sah er die Frau an. Sie öffnete ihm. Er lief zu einem Tischchen und nahm Platz, und bald sah ich ihn, einen Pinsel im Fäustchen, die Zunge zwischen den Zähnen, über ein Blatt Papier gebeugt.

„Unser van Goghchen“, rief sie, „wir haben schon eine richtige Sammlung, und alle Bilder sagen etwas über ihn aus – die Traumstraße, Wolkenfee, ein Zauberberg und böse Geister.“

Sie hielt inne, und was sie dann hinzufügte, machte deutlich, dass Ricki nicht wie andere Kinder einfach nur malte, sondern er auch wirklich wusste, was er wollte. Mir schien, als spitze er beim Malen die Ohren und lausche auf jedes Wort.

„Und hören tut er“, sagte sie, „dass es schon kaum zu glauben ist. Aber nur, wenn er will – dieser Wildfang!“

Ich musste lächeln. Als sie ihn zudem noch Sonnenschein und Herzensbrecher nannte, lachte ich sogar. Das schien sie zu freuen. Doch als ich beim Abschied eine Nachricht für Joan O’Leary anzubringen versuchte, sperrte sie sich. Die Frau, meinte sie, sei auf beiden Ohren wie taub, jedenfalls höre sie kaum hin, wenn man ihr etwas mitzuteilen hätte, finge sich nur immer ihren Jungen und verschwände.

„Sind wohl sehr eigen, diese Australierinnen?“

Worauf ich bloß zu erwidern wusste, dass sich Joan O’Leary wohl noch nicht eingelebt habe.

„Nach vier Jahren“, meinte die Kindergärtnerin, „und wo doch ihr Kleiner ganz bei uns zu Hause ist – unser van Goghchen!“

Unterlassungssünden – ich will nicht verschweigen, dass ich mir bis heute vorwerfe, in den folgenden zwei Jahren den Kontakt zu Joan O’Leary verloren zu haben. Wohl war ich auch weiterhin über lange Zeit im Ausland und nach jeder Rückkehr mehr als eingedeckt mit Arbeit. Trotzdem: Es ist schon so eine Sache mit dem Hemd, das einem näher ist als der Rock. Familie, Freundeskreis! Gerade weil ich mir keinen geringen Anteil daran zumessen durfte, dass sich Joan O’Leary gerade für unser Land entschieden hatte, auch Kuba und die Sowjetunion waren erwogen worden, hätte ich sie stärker einbeziehen, sie des Öfteren aufsuchen und ihr auf jeden Fall versichern müssen, dass sie stets mit mir rechnen könne und ihr meine Wohnung jederzeit offenstünde. Vielleicht hätte sie dann Ricki an jenem Tag bei mir gelassen, und es wäre nicht zu diesem Vorfall gekommen, der sie völlig aus der Bahn warf. Was konnte sie denn nach jener Kindesentführung noch in Karl-Marx-Stadt halten?

Kindesentführung – kein anderes Wort ist hier am Platz. Da nämlich die Art, wie Joan O’Leary ihren Schützling über die Grenzen bringen konnte, zu einer Kindesentführung hochgespielt worden war, kann jenen, die sie später in Westberlin des Jungen beraubten und ihn im Handumdrehen nach Tegel in ein Flugzeug und über Frankfurt außer Landes brachten, der gleiche Vorwurf nicht erspart bleiben. Er wäre sogar weitaus berechtigter. Obwohl es auch diesmal keine Entführung im üblichen Sinn war.

Nicht Gangster, keine Erpresser hatten da gegen sämtliche internationalen Gepflogenheiten verstoßen und in Zusammenarbeit mit westdeutschen Stellen gehandelt. Mag ich auch gut beraten sein, es offenzulassen, ob da ausschließlich Regierungsbeamte wirksam gewesen waren – nach allem, was ich später durch Joan O’Leary erfuhr, kann nicht angezweifelt werden, dass die Drähte über die australische Militärmission liefen.

Lang anhaltendes Läuten hatte mich in jener Nacht aus dem Schlaf gerissen, und ehe ich noch die verstörte Frau aus der Diele in meine Wohnküche führen konnte, war das Schlimmste schon gesagt: „Ricki ist weg!“

So sehr mich das auch erschreckte, mehr, als dass der Junge sich verlaufen hatte und womöglich – so etwas gibt es ja! – von einer vereinsamten Frau aufgenommen worden war, die ihn nicht wieder hergeben wollte, kam mir nicht in den Sinn. Man würde ihn schon finden, er war vielleicht schon längst gefunden, versuchte ich sie zu beruhigen, doch da fiel sie mir ins Wort: „He was kidnapped!“

Unsinn, dachte ich, und erst, als ich erfahren hatte, dass sie auf dem Weg zur australischen Militärmission in Westberlin, wo sie ihren Pass verlängern lassen wollte, Ricki im Kindergarten der Spielzeugabteilung eines großen Warenhauses in Obhut gegeben hatte, und sie sich im gleichen Atemzug mit erregter Stimme bezichtigte, den Australiern ahnungslos preisgegeben zu haben, wo der Junge steckte, wurde ich hellhörig.

„Ich hätte doch voraussehen müssen, wie das enden könnte – wegen meines Passantrags damals in Melbourne.“

Ich sah sie an, und was sie nun bekannte, erklärte vieles. Sie hatte in den schon von einem Friedensrichter beglaubigten Antrag das Kind Ricki nachträglich als ihr eigenes eingetragen und war also nur durch diese Fälschung zum Ziel gelangt.

„Anders hätten sie mir doch nie einen Pass für uns beide ausgestellt“, sagte sie, „wären wir doch nie außer Landes gelangt. Und nun haben sie den Jungen wieder.“

Ich dachte nach. Was, so fragte ich mich und schließlich auch sie, mochte die australischen Behörden bewogen haben, wegen eines Findlings, des Kindes einer schwarzen Frau, einen solchen Aufwand zu treiben.

„Das fragst du“, entgegnete sie, „du fragst das! Wo lebten wir denn seit fünf Jahren, der Junge und ich? In Karl-Marx-Stadt!“ Sie betonte das, als leite sich alles davon ab. „Wenn’s um Politik geht, ist kein Aufwand zu groß – und um nichts anderes wird’s gegangen sein, seit ich anfing, über die Schule in Perth Briefe an Rickis Mutter zu schicken, Fotos vom Kindergarten und Bilder, die Ricki gemalt hatte – James Aloysius Healy!“

So verächtlich stieß sie den Namen des Schuldirektors aus, dass ich mir unschwer vorstellen konnte, wie der Mann Rickis Mutter überredet haben mochte, bei den Behörden vorzusprechen und den Jungen zurückzufordern. Was jedoch noch immer den Aufwand nicht erklärte, der dann um ihn betrieben wurde, diese genau auf den Zeitpunkt abgestimmte Aktion, zu dem Joan O’Leary wegen der Verlängerung ihres Passes in Westberlin auftauchen musste.

„Ach, hätte ich doch geschwiegen und nie zugegeben, dass ich Ricki mitgebracht hatte“, fuhr sie fort. „Aber es ließ sich ja alles so harmlos an. Mal diese Frage, mal jene, und alle so beiläufig gestellt, als handele es sich um Routine. Nichts deutete darauf hin, dass sie von der Fälschung wussten. Die Eingaben von Rickis Mutter und die amtlichen Verfügungen erwähnten sie erst, als sie heraus hatten, wo Ricki zu finden war. Was hatte ich bloß mit meinen Briefen angerichtet – anders, als dass der Schuldirektor sie abgefangen, gelesen und danach auf Rickis Mutter eingewirkt hat, kann’s nicht gewesen sein!“

Sie hielt inne und senkte den Blick, und es dauerte geraume Zeit, bis sie sich zu der Schilderung aufraffte, wie es dann plötzlich um sie herum lebhaft geworden war, Telefone betätigt, Türen auf- und zugeschlagen wurden und sie vom Hof her den Motor eines schweren Wagens aufheulen hörte.

„Spätestens da wusste ich, dass alles vertan war und sie Ricki holen würden.“ Sie atmete tief, und es klang wie ein Seufzer. Als sie dann aber das Gesicht hob und mir zuwandte, hatte sie sich wieder gefasst. „Und so war es dann auch“, sagte sie tonlos. „Bis ich im Warenhaus ankam, war Ricki schon weg.“