Unter der Knute Stalins - Ernst-Ulrich Hahmann - E-Book

Unter der Knute Stalins E-Book

Hahmann Ernst-Ulrich

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Beschreibung

Auf Einladung der deutschstämmigen Zarin Katharina II. zogen viele deutsche Einwanderer im 18.Jahrhundert in das Steppengebiet an der Wolga. Das vorliegende Buch handelt von einem Wolgadeutschen geb. 1931, der seine Kindheit an der Wolga verbrachte. Erlebte die Zeit als die Deutschen an der Wolga mit dem Überfall deutscher Truppen auf die Sowjetunion als "innerer Feind" betrachtet wurden. Unter menschenunwürdigen Bedingungen erfolgte die Deportation nach Sibieren bzw. Mittelasien. Die Verbannung nicht nur der Wogadeutschen, sondern aller Deutsch-Russen dauerte auch nach dem Krieg weiter an. Erst 1964 wurden die Wolgadeutschen offiziell vom Vorwurf der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland befreit. Heute leben in der Bundesrepublik ca. 2,5 Millionen Bürger, die als Aussiedler, Spätaussiedler oder deren Angehörige aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Das persönliche Erleben der Hauptperson dieses Buches von seiner Geburt bis zur Übersiedlung in die Bundesrepublik spiegelt anschaulich die damalige Zeit wieder.

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Durch die deutschstämmige Zarin Katharina II. kam es im 18. Jahrhundert verstärkt zu einer planmäßigen Ansiedlung von bäuerlichen Kolonisten in den neu eroberten und noch unerschlossenen Gebieten im Süden des russischen Reiches.

Bild 1: Zarin Katharina II

Da aber ca. 75 % der russischen Bauern als Leibeigene an ihren Herren gebunden waren, kamen für diese Aufgaben nur sogenannte „Staatsbauer“ oder aber ausländische Kolonisten infrage.

So folgten viele deutsche Einwanderer, die überwiegend aus Bayern, Baden, Isenburg in Hessen, der Pfalz und dem Rheinland kamen, 1763 bis 1767 der Einladung ihrer Landsmännin, der Zarin Katharina II., der Tochter des Fürsten August von Anhalt-Zerbst, in das Steppengebiet an der unteren Wolga.

Für eine sich ständig vermehrende ländliche Bevölkerung in Deutschland bot die Auswanderung die Möglichkeit, dem sozialen Abstieg oder dem Wechsel in eine andere Sozialschicht zu entgehen, denn nichterbberechtigte Bauernsöhne bzw. landarme Bauern konnten auf diese Weise zu einem eigenen Hof kommen. Städtische Schichten, wie Handwerker die in eine missliche Lage geraten waren, zogen das Angebot der russischen Zarin vor und verließen Deutschland.

Bild 2: Besonders Hessen wurde von den Folgeerscheinungen des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) im starken Maße in Mitleidenschaft gezogen.

Die Auswanderung Tausender aus Deutschland lief vor dem Hintergrund, der konkreten politischen Wirrnissen jener Zeit ab, die der Siebenjährige Krieg als Folgeerscheinungen hinterlassen hatte. Ihnen kamen die Bestimmungen des Manifestes Katharinas II. gerade Recht, die die persönliche Freiheit, die Niederlassung an einem beliebigen Ort und den Genuss der Religionsfreiheit versprachen.

Die Überfahrt nach Russland erfolgte mit dem Schiff von Lübeck nach Kronstadt, der Festung im Finnischen Meerbusen vor St. Petersburg. Weiter ging es auf dem Land- oder Wasserweg.

Die Kolonistentrecks wurden unter die Führung von Offizieren und Wachmannschaften gestellt, die für die Ordnung auf dem Transport zu sorgen hatten.

Bild 3: Deutsche Ansiedlung an der Wolga.

Gegründete Ortschaften der deutschen Siedler in Russland erhielten zunächst keinen Namen, sondern bekamen Ordnungsnummern. Dazu erhielten die aus Petersburg abreisenden Kolonisten 1764/65 einen Lageplan und die entsprechende Nummer für ihr Grundstück. Die Bebauungspläne für die Kolonien wurden in Saratow erstellt. Voraussetzungen für die Bebauung waren das Vorhandensein von Flüssen oder Quellen für die Wasserversorgung.

So kamen von 1763 bis 1772 insgesamt 30.623 Personen nach Russland und siedelten überwiegend an der Wolga bei Saratow an. Sie gründeten zahlreiche Siedlungen unter anderem mit den Namen wie Katharinenstadt, Mühlberg, Rosenheim, Warenburg, Zürich und Philippsfeld. Über 100 Dörfer entstanden.

Die Anwerbung der Kolonisten erfolgte mit dem Hintergedanken, die Steppengebiete an der Wolga zu kultivieren und die Attacken der Reitervölker aus den Nachbargebieten einzudämmen.

Bild 4: Deutsche Aussiedler an der Wolga.

Die deutschen Siedler fanden im russischen Reich günstige Bedingungen vor, u. a. erhielten diese einen politischen Sonderstatus, der das Recht auf Beibehaltung der deutschen Sprache als Verwaltungssprache, auf Selbstverwaltung sowie Befreiung vom Militärdienst umfasste. Die deutschen Ansiedler entwickelten in ihren Gebieten eine blühende Agrarwirtschaft mit Exporten in andere Regionen Russlands.

Es gab deutsche Schulen und Kirchen.

Die Deutschen in Russland galten als fleißig und waren wohlhabender als die Russen. Sie waren sich stets ihrer deutschen Herkunft bewusst und lebten die alten Gebräuche in der Ferne fort. Diese Tatsache brachte ihnen in Russland Neid und Hass ein.

Diese Selbstbestimmungsrechte wurden durch Zar Alexander II. eingeschränkt, der das neue Deutsche Reich von 1871 und die Wolgadeutschen als Bedrohung ansah, obwohl diese deutschen Erdenbürger zum Zeitpunkt der Auswanderung kein „deutsches Reich“ kannten. Dem Zaren waren die Privilegien der Deutschen auf seinem Territorium ein Dorn im Auge. Es setzte eine allgemeine staatliche Russifizierung und damit eine antideutsche Kampagne ein.

Obwohl die wolgadeutschen Männer die „freundliche Haltung“ zur russischen Armee bewiesen, indem etwa 50.000 den Mobilmachungsbefehlen des Zaren Folge leisteten und die Uniform anzogen, kam es im Ersten Weltkrieg zu offenen antideutschen Übergriffen gegen die Russland-Deutschen.

„Liquidationsgesetze“ der zaristischen Regierung zielten auf die Aufhebung des Landbesitzes, der Lebensgrundlage der Mehrheit der deutschen Kolonisten. Es wuchs die Gefahr, Opfer des staatlich organisierten großrussischen Nationalismus zu werden.

Kein Wunder, das verständlicherweise die deutschen Kolonisten an der Wolga auf die Kunde vom Sturz des Zarenregimes mit großer Erleichterung reagierten. Denn unter Lenin wandte sich das Blatt wieder zu ihren Gunsten. 1918 bildete die Sowjetregierung die „Autonome Arbeiterkommune“ der Wolgadeutschen und 1924 die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“.

Die zum Wehrdienst eingezogenen Wolgadeutschen wurden von den russischen Soldaten und Offizieren als „noch minderwertiger als die niedrigsten Kulaken“ angesehen und entsprechend drangsaliert. Auch die Privilegien von Deutsch als Verwaltungssprache und die freie Religionsausübung wurden abgeschafft. Dies führte zu einer Auswanderung in die USA, Kanada sowie Süd Amerika. Weitere Einschränkungen und Repressalien erfolgten bereits kurz nach Gründung der Sowjetunion. Stalin, dessen Großmutter mütterlicherseits Wolgadeutsche war, nahm den Wolgadeutschen die gesamte Getreideernte und verkaufte diese in das Ausland. Tausende von Wolgadeutschen starben aufgrund der dadurch auftretenden Hungersnot. Die aussichtslose Lage und der drohende Hungertod trieben die Massen der verzweifelten deutschen Bauern in diesem Gebiet 1921 zu gewaltsamen Protestaktionen.

Durch das Einsetzen ausländischer Hilfe konnte die Lage etwas entspannt werden und das Leben Hunderttausenden vor dem Hungertod gerettet werden.

Ab dem Jahre 1920 wurde die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ benutzt, um die angebliche Toleranz der Sowjetmacht zu demonstrieren. Kulturelle und wirtschaftliche Bedingungen zur Weimarer Republik wurden sogar begünstigt.

Sicherlich lag in der Zarenzeit vieles im Argen. Manches war entsetzlich, das allermeiste nicht gut. Aber mit der Machtergreifung der Kommunisten sollte vieles noch schlimmer werden. Die sowjetische Führung mit Stalin an der Spitze schlug den Kurs einer radikalen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft ein. Damit endete 1928 auch die Schönwetterperiode in der Wolgaregion. Es folgte die Eingliederung der Wolgarepublik in die Region „Untere Wolga“ und verlor damit ihren autonomen Status.

Die Bauern wurden durch Niedrigpreise und überhöhte Steuern zur Kollektivierung gezwungen. So verwandelte sich der selbstständige Bauer in einen besitzlosen Lohnarbeiter, der vollständig vom Staat abhängig war, sei es durch die Mitgliedschaft in einer Sowchose oder solch einer pseudogenossenschaftlichen Organisation wie die Kolchose.

In den Städten verschwand ebenfalls jegliche Spur einer selbstständigen Tätigkeit. Kleinunternehmer, Freiberufler, private Verleger u.ä.m. verschwanden von der Bildfläche.

Das Verhältnis zu den Deutschen in Russland sollte sich mit der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 weiter verschärfen. Ein zuweilen verstecktes, aber immer häufiger offenes Mistrauen, dem der Verdacht zugrunde lag, die Wolgadeutschen könnten Kollaborateure der Faschisten sein entwickelte sich. Viele Einwohner der Republik unterlagen jetzt den Repressalien der sowjetischen Regierung und die Einschränkungen des Deutschtums kennzeichneten den Tagesablauf. Sie gerieten in die Mühlen der Gesetzlosigkeit und Repressalien des menschenverachtenden stalinistischen administrativen Kommandosystems. Alle Deutschen in der Sowjetunion wurden 1934 zum „inneren Feind“ erklärt und von der Öffentlichkeit unbemerkt in Listen erfasst. Die Grundlage bildete hierfür, der bereist 1937, zu Beginn der stalinistischen Säuberung verabschiedeten Befehl Nr. 00349 durch Jeschow, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes NKWD.

Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages im September 1939 schien es zu einer mindestens scheinbaren Wende zu kommen. Die äußerst geringe Autonomie wurde nicht weiter eingeschränkt und für das Jahr 1940 war angeblich ein Besuch Hitlers geplant. Der Besuch kam nie zustande, aber die für den Besuch bereits genähten Hakenkreuzfahnen sollten für die Bolschewiken ihren Zweck noch erfüllen.

Viele Deutsche wollten zu dieser Zeit, das politische Klima zur Rückwanderung nach Deutschland nutzen. Für die kommunistischen Behörden in der Sowjetunion war die Rückwanderer Bewegung jedoch ein Dorn in den Augen: Die Remigranten konnten zu viel über die Lebensbedingungen im „ersten sozialistischen Staat“ berichten und das war nicht nur Positives.

Die Wolgadeutsche Republik hatte etwa 600.000 Einwohner, wovon etwa zwei Drittel deutscher Abstammung waren. Nach dem Überfall des „Dritten Reiches“ auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wurden die etwa 400.000 verbliebenen Wolgadeutschen der kollektiven Kollaboration beschuldigt.

Obwohl die deutsche Bevölkerung Russlands durch zahlreiche Maßnahmen die Loyalität der Deutschen zur UdSSR bezeugte, wurden diese der Verbindung zum nationalsozialistischen System verdächtigt. Und nicht nur dass, vor dem Beginn der geplanten Deportation organisierte der NKWD einige Provokationen. In SS-Uniformen gekleidete sowjetische Truppen landeten an Fallschirmen per Luftlandung, die die Rolle einer deutschen Vorhut vorspielen sollten. Etliche Dörfer wurden vernichtet und dabei, die für den Fall des Hitler Besuches durch die Behörden verteilten Hakenkreuzfahnen gefunden. Alle Bewohner der Häuser, wo man die Fahnen fand, wurden umgebracht.

Zwei Monate nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ordnete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ an.

Die Kampf- und Sondereinheiten der Armee und des NKWD, die auf die Orte der Wolgarepublik aufgeteilt wurden, taten ab dem 30. August 1941 das übrige. Es folgte die Beschlagnahmung der Wohnhäuser, die Konfiszierung des Viehs und des Inventars. Die Bevölkerung wurde unter Mitnahme von geringen Lebensmittel- und Kleidungsvorräten an Bahnhöfen und Schiffsanlegestellen gesammelt und anschließend nach Innerasien in Sondergebiete vertrieben. Kurz nach der Vertreibung erfolgte die Umwandlung der deutschen Ortsnamen, außer Engels und Marks, in zu meist erfundene russische Namen und die Aufteilung der Wolgarepublik zwischen den Gebieten Saratow und Stalingrad.

Bild 5: Besonders zu leiden hatten die Deutschen unter Stalins Sowjetdiktatur.

Gleichzeitig mit den etwa 450.000 Wolgadeutschen wurden etwa 80.000 Deutsche aus anderen Gebieten des europäischen Teils sowie rund 25.000 aus Georgien und Aserbaidschan unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Dort in Arbeitslager gezwungen, starben Tausende.

Die Verschleppung erfolgte in Viehwaggons oder auf Schiffen, manchmal sogar in Trecks.

Bis Ende 1941 wurden nach amtlichen Unterlagen 799.459 Personen mit 344 Zügen deportiert. In den Jahren 1942 bis 1944 folgten diesen weitere etwa 50.000 Deutsche aus Leningrad und aus kleinen Siedlungsgebieten.

Die Deutschen in der Sowjetunion mussten für die Sünden büßen, die die Reichsdeutschen begangen hatten.

Die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“, die seit dem 19. Oktober 1918 bestand, beidseitig an der unteren Wolga, ca. 150 bis 300 km nördlich dem früheren Zarizyn (später Stalingrad heut Wolgograd genannt) lag, hatte am 28. August 1941 aufgehört zu existieren.

Bild 6: Hunderttausende Russland-Deutsche wurden ermordet, deportiert oder in Lager (Gulags) gesteckt, wo diese als Sklaven arbeiten mussten.

Die Deportierten unterstanden in den Verbannungsorten der Aufsicht von Kommandanten des Innenkommissariats. Die Umgesiedelten durften ihre Aufenthaltsorte ohne Sondergenehmigung nicht verlassen und mussten sich regelmäßig beim zuständigen Kommandanten melden. Andererseits kam der Staat keiner einzigen Verpflichtung nach, die in den Direktiven über die Deportation standen.

Die arbeitsfähige deutsche männliche Bevölkerung wurde aus den Verbannungsorten ab Oktober 1941 durch die Kreiswehrersatzämter beim Bau von Industrieanlagen, Bahnlinien, Straßen und Kanälen sowie im Bergbau eingesetzt. Allein zum Bau eines Rüstungsbetriebes in Solikamsk kamen 12.000 Deutsche zum Einsatz. Ab 1942 befanden sich auch kinderlose Frauen und später auch Frauen, die keine Säuglinge hatten unter den Einsatzkräften. Rund 300.000 Russlanddeutsche starben damals an Hunger, Kälte und Schwerstarbeit.

Die Verbannung nicht nur der Wolgadeutschen, sondern aller Deutsch-Russen dauerte auch noch nach dem Krieg an und wurde 1948 gesetzlich auf Dauer festgeschrieben. Barackenartige Unterkünfte und menschunwürdige Zustände blieben bestehen. Die arbeitsfähige männliche Bevölkerung, Männer zwischen 15 und 60 Jahren kamen in die „Trudarmee“.

Erst 1964 wurden die Wolgadeutschen offiziell vom Vorwurf der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland befreit, dennoch war diesen jedoch nicht gestattet, in ihre früheren Heimatgebiete zurückzukehren, und sie mussten auf ihr dort zurückgelassenes Vermögen ausdrücklich verzichten. Die Forderung der Wolgadeutschen nach der Wiederherstellung ihrer autonomen Republik legte man als Nationalismus aus, dennoch erhielten sie ihre Bürgerrechte zurück.

Die Veröffentlichung des Wortlautes des Dekrets über die Teilrehabilitierung vom 29. August 1964 erfolgte erst auf Verlangen einer Delegation der Russlanddeutschen.

Ab 1972 konnten formal gesehen Wolgadeutsche in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückkehren.

Seit den 1980er Jahren drängten die Russlanddeutschen auf Wiederherstellung ihrer Autonomen Republik. Die Bundesregierung Deutschland befürwortete 1992 die Wiederansiedlung an der Wolga, die russische Regierung signalisierte zeitweilig Einverständnis. Das Projekt scheiterte jedoch am massiven Widerstand der ortsansässigen nichtdeutschen Bevölkerung.

Bereits seit den 1970er Jahren ermöglichte die Bundesrepublik Deutschland den Russlanddeutschen die Ausreise in die BRD. Allerdings wurden erniedrigende Kriterien für die Einreise dieser Wolgadeutschen, die aufgrund des Verbotes in der Sowjetunion Deutsch zu sprechen, nicht mehr der deutschen Sprache 100 Prozent mächtig waren, angewandt.

Mit der Gestattung der offiziellen Ausreise durch Michael Gorbatschow 1986 nahm die Ausreisebereitschaft der Russlanddeutschen massenhafte Ausmaße an und wurde in Deutschland durch die Einführung einer Obergrenze von maximal 100.000 Menschen pro Jahr geregelt.

Erst nachdem der Oberste Sowjet 1989 der Schlussfolgerung zustimmt, dass die Wiederherstellung der Autonomie der Deutschen erforderlich sei, zogen wieder Russlanddeutsche in die Wolgaregion.

Es hatte einst nur wenige Tage bedurft, um ein ganzes Volk auszusiedeln, aber über 50 Jahre reichten offenbar nicht aus, um die historische Gerechtigkeit der Wolgadeutschen wiederherzustellen.

Von 1990 bis 2000 kamen mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche und deren Angehörige nach Deutschland, seit 1995 allerdings mit stark sinkender Tendenz. In Russland waren sie die Hitler Faschisten, in Deutschland anfänglich bei vielen leider nicht willkommene Russen.

Heute leben in der Bundesrepublik ca. 2,5 Millionen Bürger, die als Aussiedler, Spätaussiedler oder deren Angehörige aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Für viele, dieser vom Schicksal gebeutelten Menschen hat sich der Traum nach Akzeptanz und einem besseren Leben auch in Deutschland nicht verwirklicht.

Die Namen, außer die Namen von historischen Persönlichkeiten wurden im vorliegenden Buch aus datenrechtlichen Gründen und zum Schutz der handelnden Personen geändert.

Dem Saratow Gebiet war, in dem zentralisierten Sowjetstaat nur noch wenig Autonomie geblieben. Nachdem die Wolgadeutschen auf zehn Jahre Sowjetautonomie zurückblickten und das Erreichte sich sehen lassen konnte, wenn man an den Ausgangspunkt dachte, fiel die Landwirtschaft jetzt der Kollektivierung zum Opfer. Ab 1929 durften die deutschen Bauern ihre Ländereien und Vieh nur noch innerhalb der Kolchosen bewirtschaften. Wer nicht freiwillig der staatlich bestimmten Kollektivierung folgte oder sich dieser gar wiedersetzte, den zwang man einfach durch Niedrigpreise und überhöhte Steuern dazu. Gleichzeitig wurde der staatliche Atheismus ausgerufen, der viele deutsche Religionsgemeinschaften ausmerzte.

Bild 7: Blick auf Saratow. Im Hintergrund fließt die Wolga.

In diese Zeit hinein wurde 1931, nennen wir ihn Oskar oder Anatoli Wagner in Krasnyj Kut bei Saratow geboren. Sein Vater war ein Wagner und seine Mutter eine geborene Baumbach, beide ehemalige Deutsche.

Als Oskar sich mit einem ersten lauten Schrei auf dieser von politischen Wirren gebeutelten Erdenkugel zu Wort meldete, war seine Schwester gerade zwei Jahre alt. Hoch stand die Sonne am wolkenlosen Himmel über der unendlichen Weite der Wolgasteppe, als der Knabe das Licht der Welt erblickte.

Krasnyj Kut eine Ortschaft in der 40 Prozent Russen und 60 Prozent Deutsche wohnten lag etwa 120 km südöstlich der Oblasthauptstadt Saratow am Jerusalem einem linken Nebenfluss der Wolga. An der Stadt, dass das Verwaltungszentrum des gleichnamigen Rayons war, führte die Eisenbahnstrecke Saratow - Astrachan vorbei. Stationiert war in Krasnyj Kut ein Kavallerieregiment, in deren Gebäuden später die Ausbildung der Soldaten der Sowjetarmee an den MG‘s des Typs Maxim erfolgte.

Die wuchtige Lafette des MG’s besaß Stahlräder und einen abnehmbaren Schutzschild, der allein schon 8 kg wog. In voller Ausrüstung brachte das MG damit 66 kg auf die Waage. Zum anderen wurden die Maschinengewehre auch auf Pferdegespannen angebracht. Als Fliegerabwehrwaffen wurden jeweils vier MG in einem Rohrgestell gebündelt und auf Pritschen von Lastkraftwagen montiert.

Im Ort gab es deutsche und russische Schulen, in denen die Schüler das Lesen, das Schreiben und das Rechnen beigebracht bekamen. Sie gehörten zu den 370 deutschen Grundschulen und 20 höheren Schulen, wo gleichfalls in deutscher Sprache unterrichtet wurde.

Das Modell für diese Schulen in allen deutschen Kolonien an der Wolga bildete das 1924 in Marxstadt umbenannte Knabengymnasium zur Musterschule.

Es war jedoch verpönt, sich außerhalb der vertrauten Umgebung auf Deutsch zu unterhalten.

Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses an dem Krasnyj Kut lag befand sich das Dorf Norki. In diesem Dorf wohnten nur Deutsche.

Die Jahre 1932/1933 waren die Jahre der zweiten sowjetischen Missernte, als Folge von Zwangskollektivierung und Enteignung. Ungezählte Deutsche an der Wolga und in der Ukraine starben einen fürchterlichen Hungertod.

Die Familie Wagner schlug sich in dieser Zeit recht und schlecht durchs Leben, hatten kaum das Notwendigste um den täglichen Hunger stillen zu können. Oft legte sich der Junge abends mit knurrenden Magen zum Schlafen ins Bett.

Der Knabe bekam ein Brüderchen.

Als Oskar gerade Mal in die erste Klasse ging, starb sein Vater mit 38 Jahren an einem Herzklappenfehler.

Die Mutter, Jahrgang 1914, allein auf sich gestellt war nun verantwortlich für die Ernährung und die Erziehung der drei Kinder. Obwohl die arme Frau an einer Frauenkrankheit litt und damit arbeitsunfähig war, bemühte sie sich redlich den Kindern an nichts fehlen zu lassen.

Und das war nicht immer einfach.

Angst hatten die Wolgadeutschen damals nicht vor den Russen, denn diese waren ja ihre Freunde.

Die Angst kam allerdings dann in der stalinistischen Zeit der großen Säuberung auf, aber nicht nur unter den Wolgadeutschen, sondern unter dem ganzen sowjetischen Volk.

Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 nahm die Skepsis gegenüber den Russlanddeutschen erneut zu. Selbst der Freundschaftsvertrag zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion änderte nichts an diese Lage.

Das Misstrauen blieb, obwohl überhaupt kein Grund für die Wolgadeutschen vorlag.

Ohne vorherige Kriegserklärung überfiel am 22. Juni 1941 Hitlerdeutschland die Sowjetunion. Ab den Morgenstunden dieses Sonntags, wo die deutschen Panzerverbände, bei völliger Luftherrschaft bis 60 Kilometer auf das sowjetische Territorium vorstießen, sollte sich die Lage der Wolgadeutschen weiter rapide ändern.

Ab sofort mussten jeden Abend in den Häusern die Lichter gelöscht werden, die Straßenbeleuchtung wurde ausgeschaltet und das Gerücht einer Zwangsumsiedlung machte die Runde, dass jedoch keiner rechten Glauben schenken wollte.

Die Verlegung des Kavallerieregimentes an einen anderen Standort erfolgte, dafür zogen die Luftstreitkräfte in die Kaserne ein.

Oskars Interesse weckte die Luftlandeübung eines Fallschirmjägerregimentes über Krasnyj Kut. Mit staunenden Augen verfolgte der Junge, wie eines Tages am Horizont kleine schwarze Pünktchen auftauchten, die schnell größer und größer wurden. Mit anschwellendem Motorengedröhn brausten die Flugzeuge heran. Als die im Sonnenlicht blitzenden Maschinen sich über Krasnyj Kut befanden, lösten sich aus den Fliegern, schwarze Pünktchen, aufgereiht wie auf einer Perlenkette. Dunklen Pilzen gleich hingen diese in der Luft und schwebten langsam der Erde entgegen. Oskar konnte bereits erkennen, dass unter jedem Fallschirm ein Mensch hing, der am Schirm leicht hin und her pendelte. Es waren Luftlandesoldaten in Tarnanzügen und mit Maschinenpistolen bewaffnet.

Nicht nur Oskar, sondern alle Jungens des Ortes freuten sich, wenn die Fallschirmjäger im strammen Gleichschritt vorbeimarschierten, mit einem beschwingten Marschlied auf dem Lippen. Fröhlich sprangen die Kinder neben der marschierenden Kolonne her und machten es den Soldaten nach.

Bild 8: Lesebuch in deutscher Sprache für die Kinder der Wolgadeutschen. Vor dem Zweiten Weltkrieg sind allein in Engel über 3 Millionen Bände herausgebracht worden.

Mit der Einschulung in die 1. Klasse lernte Oskar die deutsche und die russische Sprache zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Ab der 2. Klasse besuchte er dann die deutsche Schule in Rosenbach. Dorfschullehrer bildeten hier die Kinder in ihrer Muttersprache aus.

Sorglos spielte der Knabe mit den anderen Jungen des Ortes, ob es russische oder deutsche waren, das war egal. Sie verstanden sich alle in der Unbekümmertheit ihrer Kindheit.

Dies sollte sich jedoch bald ändern.

Es war Ende August 1941, als das Gerücht der Aussiedlung für die Wolgadeutschen zur bitteren Wahrheit werden sollte. Der Befehl wurde ausgegeben: Alle Deutschen haben sich zur Aussiedlung fertigzumachen!

Nur wohin es gehen sollte, erfuhr keiner.

24 Stunden Zeit wurden ihnen gegeben, um die notwendigste Habe zu packen.

Was wurde in der Fremde gebraucht, was sollte man mitnehmen? Keiner wusste es so richtig und Transportmöglichkeiten gab es nicht.

Ein alter Holzkasten voller Sachen, der Lammfellmantel des Vaters und trockenes Brot für die Wegzehrung wurden bereitgestellt. Alles andere musste die Familie Wagner zurücklassen.

So und ähnlich erging es allen Wolgadeutschen.

Die prächtig herangereifte Ernte blieb auf dem Halm, denn schon vor dem 28. August war den deutschen Kolonisten das Verlassen der Dörfer untersagt worden.

Noch keine 24 Stunden waren verstrichen, da wurden die öffentlichen Einrichtungen von NKWD-Leuten umstellt und in jede Wohnung eines Deutschen stürmten zwei Soldaten. Dort wo die Türen verschlossen waren, wurden diese einfach eingetreten und alles, was zurückblieb, zerschlagen.

Manch Wolgadeutscher, der nicht schnell genug den Anweisungen der sowjetischen Schergen folgte, wandte sich mit brutalen Kolbenhieben blau geschlagen und im eigenen Blute im Staub der Straße.