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"Willkommen zu Hause, Amy" ist eine wundervolle Familiengeschichte, die von Zuversicht, Mut, Liebe und dem Glauben an die eigene Kraft handelt. Seit Amy denken kann, lebt sie im Heim. Ihre Mutter hat sie weggegeben, weil das Mädchen wegen einer Muskelschwäche körperbehindert ist. Im Heim hat Amy aufgrund ihres Handicaps kein leichtes Leben. Sie wird von den Kindern gehänselt und drangsaliert. Ihr einziger Freund ist Mischlingshund Max, der sie auf Schritt und Tritt begleitet. Erst nach Jahren erfährt Amy Mitgefühl, denn Mary, eine Freundin der Heimleiterin, holt sie zu sich auf die Farm. Eigentlich könnte sie glücklich sein, jetzt, wo ihr Traum von einer liebevollen Familie doch noch in Erfüllung geht. Aber dem steht ein großes Hindernis im Weg: Sie kann einfach nicht vertrauen! Doch schon bald stellt sich heraus, dass sie auf der Farm nicht die Einzige ist, die ihr Vertrauen verloren hat ... Das Buch ist illustriert von der Künstlerin Karina Pfolz, sodass der Leser noch mehr in Amys Welt eintauchen kann.
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Seitenzahl: 248
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Teil 1: Wie alles begann
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Teil 2: Weitere Abenteuer mit Amy
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Mein Name ist Amy. Ich bin eine junge Frau, gerade mal neunzehn Jahre alt, und kenne nicht viel vom Leben. Seit ich mich erinnern kann, habe ich in einem Heim gelebt. Meine leibliche Mutter hat mich mit drei Jahren weggegeben, weil sie damit nicht klarkam, dass ich behindert war: Die Ärzte hatten bei mir eine Muskelschwäche in den Beinen festgestellt.
Um es vorwegzunehmen: Es ist eine Krankheit, die mich heute größtenteils an den Rollstuhl fesselt. Einige Schritte kann ich zwar ohne Rollstuhl laufen, aber das nur mit Hilfe, das heißt, jemand muss mich festhalten und stützen. Die Aussicht auf ein Leben mit einem behinderten Kind war für sie unerträglich, und so gab sie mich fort.
Das Einzige, was mich an sie erinnerte, war eine Kette mit einem Anhänger in Form eines Kreuzes, das mit Steinen besetzt war. Seit ich denken konnte, trug ich diese Kette. Allerdings bedeutete mir der Anhänger nicht sehr viel; ich fand ihn einfach schön – eine Verbindung zu meiner Mutter spürte ich dadurch nicht.
Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, ist das Leben in einem Heim nicht gerade leicht, vor allem, wenn man noch durch eine Behinderung eingeschränkt ist. Die anderen Kinder hackten auf mir herum und ließen es sich nicht nehmen, mich zu ärgern und zu quälen. Warum sie das taten, weiß ich nicht; vermutlich machte es ihnen einfach Spaß, weil ich mich wegen meiner körperlichen Einschränkung nicht wehren konnte. Und sie machten sich über meine Behinderung lustig. Ich war wohl ein gefundenes Fressen für sie; endlich hatten sie jemanden, an dem sie all ihre Wut und ihren Schmerz darüber, dass sie keine Eltern hatten, auslassen konnten. Glücklich war ja keiner hier, und so suchte sich jeder einen noch Unglücklicheren, an dem er seine Ängste austoben konnte – und da kam ich gerade recht.
Die Schwestern waren mit der Situation überfordert und hielten sich aus der Sache heraus. Sie ignorierten es einfach, dass einem ihrer Schützlinge Leid zugefügt wurde. Ich fragte mich immer, wie sie in einen Spiegel schauen konnten, ohne sich schlecht zu fühlen.
Selbst nachts kam ich nicht zur Ruhe, denn es war inzwischen ein Riesenspaß für die anderen, mich zu dieser Zeit in meinem Zimmer zu besuchen. Und ich kann euch sagen: Eine Meute von Menschen, die nur Hass im Herzen hat, kommt auf die tollsten Ideen. So kam es, dass ich von den nächtlichen Besuchen der anderen regelmäßig Verletzungen davontrug. Es interessierte niemanden, wenn ich mit blauen Flecken oder kleineren Platzwunden am Kopf zum Frühstück kam, sie schauten einfach darüber hinweg. Vor lauter Angst ließ ich nachts das Licht an. Ich hoffte, dass man mich in Ruhe ließ, wenn sie glaubten, ich sei noch wach. Erst klappte das auch, aber mit der Zeit bekamen sie heraus, dass es eben nur ein Trick war, und alles ging weiter wie bisher.
Ich zog mich immer mehr in meine eigene Welt zurück und ließ nichts und niemanden mehr an mich heran. Ich baute eine hohe Mauer um mich und stumpfte in der Einsamkeit immer mehr ab. Gefühle ließ ich nicht mehr zu. Ich wurde kalt wie ein Stein und ließ die Demütigungen einfach an mir abprallen.
Ich wuchs zu einer jungen Frau heran, der inzwischen alles egal war, was um sie herum geschah. Mein Leben war nur noch ein Albtraum, von dem ich nicht wusste, wie lange ich ihn weiterhin aushalten konnte. Ich hatte keine Freunde, keiner war für mich da. Es gab keinen Menschen, dem ich meine Probleme erzählen konnte, und so stumpfte ich immer mehr ab.
Mein Verhalten änderte sich auch nicht, als die alte Heimleiterin durch eine neue ersetzt wurde. Die war ganz anders. Sie ging dazwischen, wenn ich wieder einmal gequält wurde. Sie redete mit mir und versuchte zu helfen. Auch verbrachte sie viel Zeit mit mir, fuhr mich regelmäßig nachmittags mit meinem Rollstuhl nach draußen, und wir machten ausgedehnte Spaziergänge. Aber ich ignorierte sie. Die Mauer um mich herum war inzwischen so hoch, dass überhaupt nichts mehr an mich herankam. Sie ließ nicht locker, aber alle ihre Bemühungen waren vergebens; sie konnte mich nicht erreichen.
Auf einem unserer Spaziergänge erzählte sie mir von ihrer Freundin Mary, die mit ihrer Familie und vielen Tieren auf einer Farm lebte. Mary hatte eine Tochter, die im Rollstuhl saß. Sie war durch einen Reitunfall gelähmt. Die Familie hatte die ganze Farm rollstuhlgerecht umgebaut und ihrer Tochter damit ermöglicht, weiterhin auf der Farm leben zu können.
Ich wusste nicht, warum sie mir diese Geschichte erzählte. Vielleicht wollte sie mir Mut damit machen, dass es draußen noch Leute gab, denen andere Menschen mit Einschränkungen nicht egal waren, aber was sollte das schon an meinem Leben ändern? Ich war mir sicher, dass hier sicherlich keine Person kam, um eine Behinderte zu adoptieren. Es gab genügend andere, da suchte man sich bestimmt keinen Menschen mit einem körperlichen Handicap aus.
Wieder einmal waren wir unterwegs, als wir plötzlich ein seltsames Geräusch hörten. Wir folgten ihm und erblickten einen Sack, der hinter einem Gebüsch abgelegt worden war. Von dort kamen diese Töne, ein durchdringendes, schmerzerfülltes Wimmern. Ich bat die Heimleiterin, den Beutel aufzumachen. Sie zögerte; offensichtlich traute sie sich nicht.
»Bitte!« Ich sah sie flehend an, denn ich konnte das Winseln einfach nicht mehr ertragen. Vorsichtig öffneten wir ihn. Uns schauten zwei schwarze Augen an, und ich sah, dass das Wesen, dem sie gehörten, genauso viel Angst hatte wie wir.
In dem Sack steckte ein Hund. Vorsichtig befreiten wir ihn und sahen dann, warum er so jammerte: Seine Beine waren mit einem Strick zusammengebunden. Das Seil war so eng geschnürt, dass es ihm ins Fleisch schnitt. Man konnte blutige Stellen erkennen, und er zitterte am ganzen Körper.
Kurz entschlossen schnitt ich den Strang durch. Gut, dass ich mein Taschenmesser dabei hatte! Wir hoben den Hund auf meinen Schoß, und ich streichelte ihn. Er war schon ausgewachsen. Ich war mir sicher, dass seine Besitzer ihn nicht mehr haben wollten. Gut, dass wir ihn gefunden hatten! Ohne uns hätte er sicher nicht mehr lange überlebt.
Wir fuhren zurück. Ich spürte, dass Max, so hatte ich ihn getauft, immer weniger zitterte. Ich streichelte ihn auf dem ganzen Weg und hatte das Gefühl, dass er sich bei mir sicher und geborgen fühlte.
Zu meiner großen Überraschung durfte ich ihn behalten. Ich pflegte ihn gesund, und mein Leben wurde von nun an entspannter. Niemand traute sich mehr, mir etwas zu tun, denn Max war immer in meiner Nähe, und sie hatten Angst vor ihm. Jedes Mal, wenn mir jemand zu nahekam, der in seinen Augen nicht gut für mich war, verbellte er ihn. Er knurrte laut und zeigte seine Zähne, und das war schon ein gewaltiger Anblick, denn Max war nicht der kleinste Hund, und seine Zähne sahen entsprechend gefährlich aus. Ich brauchte von nun an auch nachts keine Angst mehr zu haben, dass sich irgendjemand in mein Zimmer schlich, denn mein Hund war auch zu dieser Zeit bei mir. Trotzdem ließ ich immer noch aus alter Gewohnheit das Licht an.
Wir zwei wurden zu einer Einheit. Man traf uns immer zusammen an, und ob ihr es glaubt oder nicht, die Mauer um mich herum fing an zu bröckeln. Ich ließ Gefühle zu und konnte sogar wieder lachen. Zwar war ich nach wie vor misstrauisch anderen Menschen gegenüber, aber bei Weitem nicht mehr so stark wie vorher. Als mich die Heimleiterin einmal in den Arm nahm, ließ ich es zu und genoss die Umarmung sogar. Früher hätte ich jeden weggestoßen, der das versucht hätte. Es war für mich eine völlig neue Erfahrung, die Wärme eines anderen Menschen zu spüren, und ich fühlte mich gut dabei. Sie war auch der einzige Mensch, der sich mir nähern konnte, ohne dass Max ihn verbellte. Er spürte eben, dass sie es gut mit mir meinte.
Eines Tages wurden wir ins Büro gerufen. Als wir eintraten, saß dort eine fremde Frau. Sie sah sehr nett aus, aber mehr nahm ich von ihr nicht wahr. Die Heimleiterin stellte sie mir als ihre Freundin Mary vor.
Ich erinnerte mich dunkel, dass sie mir einmal von ihr erzählt hatte, konnte aber nicht verstehen, warum das für mich wichtig sein sollte. Sie erzählte mir, dass Marys Tochter an einer Lungenentzündung verstorben sei und sie sich nun auf ihrer Farm, nur von Männern umgeben, sehr einsam fühle. Ihr Mann Ben und ihr Sohn Andy waren zwar immer für sie da, aber ihr fehlte eine weibliche Person in ihrer Nähe. Der Tod ihres Mädchens war schon eine gewisse Zeit her. Obwohl sie immer noch sehr um ihr Kind trauerte, war Mary nun bereit, sich auf einen neuen Menschen einzulassen.
Mir kam das alles sehr komisch vor. Wusste sie nicht, dass ich, abgesehen von meiner Behinderung, ein Problemfall war? Ganz bestimmt war ich keine Unterstützung, wie sie eine suchte. Immerhin war die Mauer um mich herum nach wie vor vorhanden und das Misstrauen gegenüber Fremden auch nicht wesentlich geringer geworden. Umso mehr wunderte es mich, dass Max sie freudig begrüßte und sich sogar von ihr streicheln ließ. Bisher war die Heimleiterin die einzige Person, der er das erlaubte.
Ich parkte meinen Rollstuhl direkt neben ihrem Stuhl und brachte ein leises ›Hallo‹ heraus. Freundlich reichte sie mir die Hand und erwiderte meine Begrüßung.
Zu meiner Überraschung wurde ich gefragt, ob ich mit zu ihr auf die Farm wolle, um dort ein neues Leben zu beginnen. Verwundert über dieses Angebot schaute ich sie ungläubig an. Sie versicherte mir, dass dies kein Scherz sei. Sie redete auf mich ein, und nach langem Hin und Her stimmte ich zu. Allerdings war die Bedingung, dass Max mich begleiten durfte. Ohne ihn wollte ich nicht gehen, denn schließlich war er der einzige Freund, den ich hatte.
Also machten wir uns einen Tag später auf den Weg. Alles, was ich besaß, wurde in ein Auto gepackt. Da es nicht viel war, dauerte es auch nicht sehr lange. Die Heimleiterin nahm mich noch einmal in den Arm und wünschte mir alles Gute. Sie versprach, dass von nun an alles besser würde und dass ich mich auf mein neues Leben freuen sollte. Schließlich bekam ich nun endlich die Familie, die ich mir immer gewünscht hatte. Ich war mir aber gar nicht mehr sicher, ob ich das noch wollte.
Ich hatte Angst vor der Zukunft. Aber es war gut, dass Max bei mir war: Er gab mir etwas Sicherheit.
Mary redete und redete während der ganzen Fahrt. Sie erzählte mir von ihrer Familie, von ihrer verstorbenen Tochter, von den vielen Tieren auf der Farm und von allem, was ihr so einfiel. Sie sprach, ohne Luft zu holen, und so langsam ging sie mir damit auf die Nerven. Sie berichtete, dass sie das komplette Haus und alles drum herum rollstuhlgerecht umgebaut hatten, seitdem ihre Tochter durch den Reitunfall an den Rollstuhl gefesselt gewesen war, dass ich mir also keine Sorgen zu machen brauchte, wie ich mich dort mit meinem fahrbaren Untersatz bewegen konnte. Überall gäbe es befestigte Wege und Rampen, sodass ich dort auch alleine gut klarkommen würde. Wenn ich ehrlich bin, bekam ich nur die Hälfte von dem mit, was sie mir erzählte, ließ es mir aber nicht anmerken. Es war einfach alles zu viel für mich, was da auf mich einströmte, und ich zog mich wieder in mein Schneckenhaus zurück.
Mary bemerkte das, schaltete das Radio an und hörte mit dem Reden auf. Ich war ihr sehr dankbar dafür. Die Fahrt dauerte etwa drei Stunden, bis wir zu der Farm kamen.
»Da sind wir«, sagte sie mit freudiger Stimme. Wir fuhren die Auffahrt entlang und gelangten nach nur kurzer Fahrzeit zu einem großen Haus. Ich schaute aus dem Fenster und konnte viele Weiden und Felder erkennen. So weit ich blicken konnte, waren dort unzählige Rinder. Etwas weiter entfernt stand eine große Scheune. Auch ein Reitplatz war zu sehen.
Auf der Veranda des Hauses erwarteten uns zwei Personen. Ein älterer Mann, wahrscheinlich Marys Ehemann Ben, und ein hochgewachsener, muskulöser, gut aussehender junger Mann mit blondem Haar. Dies musste dann wohl Andy sein, der Sohn der Familie. So viel hatte ich von dem Gespräch noch behalten. Beide winkten mir zu.
Als das Auto am Haus anhielt, kamen sie auf uns zu. Mary schob mir den Rollstuhl an die Autotür, und ich setzte mich hinein. Noch bevor ich etwas sagen konnte, stand Ben vor mir und nahm mich in den Arm. Er drückte mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. Andy stieß ihn zur Seite und gab mir die Hand. Er lachte mich an und stellte sich vor. Als ich seine freundlichen Augen sah, wusste ich sofort, dass wir uns gut verstehen würden. Max sprang um uns herum und bellte freudig.
Andy übernahm meinen fahrbaren Untersatz und schob mich eine Rampe hinauf auf die Veranda. Nun konnte ich erkennen, dass es wirklich überall befestigte Wege gab und ich alles ohne Probleme erreichen konnte. Er erklärte mir, dass das heute nur eine Ausnahme mit dem Schieben sei, und er lachte herzlich dabei. Ich stimmte in sein Lachen ein und wunderte mich, dass ich mich diesem fremden Menschen gegenüber so schnell öffnete, aber seine ganze Art war so herzlich, dass ich gar nicht anders konnte.
Er brachte mich zu einem Tisch und stellte mich dort ab. Mary verschwand im Haus und kam nach nur kurzer Zeit mit einem großen Teller belegter Brote wieder heraus. Alle setzten sich und griffen zu. Hatte ich einen Hunger! Als ich eins vom Teller nahm, berührte ich versehentlich ihre, die auch gerade danach griff. Verlegen schaute ich sie an und zog meine Hand schnell wieder zurück. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass auch sie diese freundlichen Augen wie ihr Sohn hatte. Zu meiner eigenen Überraschung verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Sie grinste herzlich zurück, und das Eis war fürs Erste gebrochen.
Nachdem wir alles verspeist hatten, zeigte Andy mir die Farm. Wir fuhren zu den Weiden, auf denen die Rinder standen. Max begleitete uns natürlich. Ich hatte das Gefühl, dass es ihm hier richtig gut gefiel. Er jagte bellend und schwanzwedelnd hinter einem Bullen her. Ich musste lachen, denn noch nie hatte ich ihn so ausgelassen gesehen, und das freute mich. Dann ging es zu der großen Scheune.
Ich konnte sehen, dass hier vier Pferde untergebracht waren. Andy schob mich zu der ersten Box, in der ein großer Brauner mit einem weißen Fleck auf der Stirn untergebracht war und erzählte mir, dass dies seins sei. Freudig und neugierig streckte es seinen Kopf zu mir herunter. Ich berührte sein Fell und merkte, wie weich es war. In einer anderen waren zwei weiße Pferde zusammen. Er erklärte mir, dass dies die Tiere seiner Eltern seien, aber dass seine Mutter seit dem Reitunfall seiner Schwester nie wieder auf ihrem Schimmel gesessen habe. Also kümmerte sich Andy darum.
In der letzten stand das vierte Pferd. Zu ihm hielt er einen gewissen Abstand, worüber ich mich wunderte. Es war braunweiß gescheckt und wunderschön. Es gefiel mir besser als die anderen. Ich wollte zu ihm hinüberfahren, aber Andy hielt mich zurück. Ich schaute ihn verwundert an, und er erklärte mir, dass dies Amigo war, das Pferd seiner verunglückten Schwester. Allerdings verhielt er sich seit ihrem Tod nicht mehr wie früher. Er sei aggressiv geworden und lasse keinen Menschen mehr an sich heran.
Er hatte ihr schon als Fohlen gehört. Eines Tages waren die beiden auf einem Ausritt gestürzt. Aber auch der Rollstuhl hatte Andys Schwester nicht davon abgehalten, sich weiterhin um ihren Liebling zu kümmern. Sie brachte ihm sogar bei, dass er sich auf Kommando hinlegte, sodass sie mit Andys Hilfe trotz ihrer Lähmung auf seinen Rücken gelangen konnte. So schaffte sie es sogar, ihn noch kurze Strecken zu reiten.
Dies beeindruckte mich sehr. Aber ich konnte nicht glauben, dass Amigo, der alles vorher für seinen Menschen getan hatte, auf einmal böse geworden sein sollte. Trotz Andys Warnung rollte ich vorsichtig zu ihm hinüber. Ich kann euch nicht sagen, warum, aber ich war mir sicher, dass er mir nichts tun würde. Ich glaubte, dass er einfach nur trauerte und sich einsam fühlte. Und wie sich Einsamkeit anfühlt, wusste ich genau. Ich konnte ihn gut verstehen.
Und es kam so, wie ich vermutet hatte. Amigo blickte unsicher zu mir herunter, aber er zeigte keinerlei Aggression. Langsam streckte ich meine Hand nach ihm aus. Er wich zurück. Beruhigend sprach ich mit ihm und streckte sie erneut aus. Ich merkte, dass er Angst hatte und nicht wusste, was er tun sollte. Ich redete weiter mit ruhiger Stimme auf ihn ein, und er näherte sich wieder. Erneut streckte ich meine Hand nach ihm aus. Und diesmal wich er nicht zurück. Vorsichtig berührte ich seine Nüstern. Sie fühlten sich warm und weich an.
Andy konnte es nicht glauben und kam langsam auf uns zu. Doch als Amigo sah, dass er sich uns näherte, drehte er sich um und drückte sich in die äußerste Ecke seines Stalls. Andy klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Er freute sich so sehr darüber, dass ich es geschafft hatte, wieder einen Kontakt zu ihm aufzubauen! Allerdings riet er mir, seiner Mutter nichts davon zu erzählen. Sie hatte wegen des Unfalls ein Problem mit ihm, obwohl ihn an dem Unfall überhaupt keine Schuld traf, wie Andy mir versicherte. Ich versprach ihm, nichts zu sagen. Nun gab es etwas, von dem nur wir zwei wussten, und mein Vertrauen zu Andy wurde noch größer.
Auf dem Weg zurück zum Haus erzählte er mir, dass die Pferde nicht immer in der Scheune untergebracht waren, sondern dass sie regelmäßig auf die Weide kamen und dass ich diese vom Haus sehen könnte. Offenbar hatte er bemerkt, dass sie mir besonders gut gefielen. Dann bat ich ihn, mir mit Amigo zu helfen. Ich war mir sicher, dass ich sein Vertrauen gewinnen konnte. Es brauchte nur etwas Zeit. Andy versprach mir zu helfen, und ich freute mich zum ersten Mal in meinem Leben auf den nächsten Tag. Ich hatte nun eine neue Aufgabe, und der wollte ich mich voll und ganz hingeben.
Als wir zurückkamen, saßen Andys Eltern immer noch am Tisch. Sie lächelten mich an und fragten, wie mir mein Ausflug gefallen habe. Verlegen grinste ich zurück und erklärte ihnen, dass ich ihn sehr schön gefunden hätte. Ihnen gegenüber war ich immer noch sehr verkrampft, obwohl sie sich alle Mühe gaben, aber mit ihnen konnte ich einfach nicht so locker umgehen wie mit Andy. Es tat mir sehr leid, aber ich konnte einfach meine Unsicherheit ihnen gegenüber nicht überwinden.
Nun übernahm Mary die Führung des Rollstuhls und schob mich den Flur entlang zu einer Tür. Die Männer blieben draußen sitzen. Sie fuhr mich in ein großes Zimmer und erklärte mir, dass dies von nun an meins sei. Ich schaute mich um. Es war freundlich eingerichtet. Ein großes Bett stand im Raum und neben der Tür ein Sessel. An den Wänden waren überall Griffe zum Festhalten angebracht. Auf dem Tisch an der anderen Seite waren liebevoll Blumen in einer Vase arrangiert. Eine Tür führte direkt in das angrenzende Badezimmer. Es war so groß, dass ich ohne Probleme hineinfahren konnte. Auch hier waren überall Befestigungen an der Wand montiert. Mary erklärte mir, dass dieses Zimmer damals extra für ihre Tochter umgebaut worden war. Sie hatte Tränen in den Augen, und zum ersten Mal bemerkte ich, wie sehr ihr ihr Kind fehlte.
Sie ging hinaus, wünschte mir eine gute Nacht und schloss die Tür. Nun saß ich hier mitten im Raum in einer völlig fremden Umgebung und wusste nicht so genau, was ich machen sollte. Max sprang an mir hoch und legte seine Vorderbeine auf meine Oberschenkel. Er schaute mich an, und ich drückte ihn fest an mich. Meine Sachen waren bereits in den Kleiderschrank geräumt, und da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, machte ich mich zum Schlafengehen fertig.
Mit Hilfe der Halterung, die am Bett befestigt war, konnte ich mich mühelos vom Rollstuhl hinauf ziehen und machte es mir bequem, nachdem ich meine Beine mit den Händen in die richtige Richtung gebracht hatte. Mein Hund saß davor und schaute mich an. Er war sich nicht sicher, ob er hineinspringen sollte. Eigentlich schlief er nachts immer am Fußende. Ich klopfte auf das Bettlaken und ermunterte ihn. Mit einem Satz landete er auf der Bettdecke und machte es sich wie gewohnt bequem.
Ich deckte mich zu und schaute zur Decke. Ich ließ den Tag in meinem Kopf Revue passieren und konnte die vielen neuen Eindrücke gar nicht verarbeiten. Keiner aus meiner neuen Familie ließ sich heute noch blicken, und ich war froh darüber. Ich schloss die Augen und schlief ein.
Am nächsten Tag wurde ich sehr früh wach. Draußen war es noch nicht richtig hell. Max schaute mich verschlafen an. So, wie es aussah, war auch er gerade aufgewacht. Man hörte nichts im Haus. Entweder schliefen sie alle noch oder waren schon draußen bei der Arbeit, denn so viele Tiere wollten schließlich versorgt werden.
Ich zog mich an und machte mich auf den Weg, das Haus zu erkunden. Viel davon hatte ich am Vortag ja nicht gesehen; das wollte ich nun nachholen. Leise öffnete ich meine Schlafzimmertür und verließ das Zimmer. Max folgte mir. Ich fuhr zur nächsten Tür, die offen stand, und schaute hinein. Hier befand sich die Küche. Auch sie war sehr groß und freundlich eingerichtet. Auf einem Tisch stand ein Korb mit Obst. Ich nahm mir einen Apfel heraus und verließ diesen Raum wieder. Ich sah zwei weitere Türen, die allerdings verschlossen waren, vermutlich Andys Schlafzimmer und das seiner Eltern. Durch einen großen Raum mit Kamin, den ich schon am Vortag kennengelernt hatte, kam ich zur Veranda. Ich öffnete die Tür und war draußen. Max lief sofort los, um die Gegend zu erkunden. Auch für ihn war hier ja alles noch neu.
Ich schaute mich um und konnte niemanden von meiner neuen Familie entdecken. Also machte ich mich auf den Weg zur Scheune, um Amigo zu besuchen. Da ich sehen konnte, dass die Pferde nicht auf der Weide waren, kam ich zu dem Schluss, dass sie nur in der Scheune sein konnten. Und genau so war es auch. Amigo stand in seiner Box und schaute mich mit seinen großen, dunklen Augen an. Sicher hatte er nicht damit gerechnet, dass er so früh Besuch bekam. Zumindest deutete ich seinen Gesichtsausdruck so.
Ich fuhr zu ihm und bemerkte, dass er etwas zurückwich. Leise rief ich seinen Namen. Zögernd kam er zu mir und schaute mich etwas ängstlich an. Ich streckte ihm meine Hand hin, und diesmal beschnupperte er sie. Ich hielt ihm den mitgebrachten Apfel hin. Ohne zu zögern, biss er hinein und fraß ihn auf. Noch einmal streckte ich meine Hand nach ihm aus und konnte ihn am Kopf berühren, ohne dass er zurückwich.
Ich konnte sehen, dass Max am Eingang der Scheune stand. Also war seine Erkundung der Umgebung bereits zu Ende. Er schaute sich alles aus sicherer Entfernung an. Ich hatte schon am Vortag bemerkt, dass er einen Sicherheitsabstand zu den Pferden hielt. Vielleicht waren sie ihm einfach zu groß. Nun, schaden konnte es nicht, dass er auf Distanz blieb; man konnte ja nicht wissen, wie Amigo auf ihn reagieren würde.
Auf dem Weg zurück zum Haus traf ich Andy. Ich erzählte ihm, dass sich Amigo diesmal sofort von mir hatte streicheln lassen und nicht mehr so ängstlich war wie noch am Vortag. Er freute sich sehr darüber und war sehr stolz auf mich. Schließlich hatte ich etwas geschafft, was vorher noch keiner hinbekommen hatte.
Er führte mich auf direktem Weg in die Küche, wo seine Mutter schon den Tisch gedeckt hatte. Auch sein Vater kam mit einem freundlichen ›Guten Morgen‹ herein und setzte sich. Gemeinsam nahmen wir unser erstes Frühstück ein. Seine Eltern fragten mich, ob ich gut geschlafen hätte und was ich heute machen wolle. All diese Fragen wurden mir zu viel, und ich ging wieder auf Distanz. Andy bemerkte mein Verhalten als Erster und machte den Vorschlag, dass ich ihn heute begleiten könnte. Dankbar willigte ich ein. Sie hatten nichts dagegen, und so stand einem schönen Tag mit ihm nichts im Weg.
Ich konnte es kaum erwarten, dass das Frühstück zu Ende war und wir uns auf den Weg machten. Natürlich war Max auch dabei. Wieder einmal hatte er viel Spaß daran, die Rinder zu jagen. Erstaunlicherweise hatte er vor ihnen nicht so einen Respekt wie vor den Pferden, obwohl sie auch nicht gerade klein waren.
Während Andy einige Stellen am Zaun reparierte, versuchte ich, etwas mehr über meine neue Familie zu erfahren. Er erzählte mir, dass die Farm schon seit mehreren Generationen in Familienbesitz war und dass sie hauptsächlich von der Rinderzucht lebten. Die Pferde waren nur zum Vergnügen da. Alle halfen mit, dass es reibungslos lief. Jeder hatte seine festen Aufgaben, um die er sich kümmern musste.
Andy fragte mich dann, ob ich ihm nicht bei der Versorgung der Pferde helfen wolle. So könnte ich viel Zeit mit Amigo verbringen, ohne dass seine Eltern Verdacht schöpften. Ich war sehr froh über diesen Vorschlag. Beim Mittagessen wollten wir den beiden von unserem Vorhaben berichten.
Den ganzen Vormittag verbrachte ich mit ihm bei seiner Arbeit. Wir unterhielten uns, lachten viel und hatten einfach nur Spaß. So ausgelassen war ich schon lange nicht mehr und es fühlte sich richtig gut an. Er wuchs mir immer mehr ans Herz. Obwohl ich ihn erst anderthalb Tage kannte, hatte ich das Gefühl, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben kennen. Bei ihm verhielt ich mich völlig normal und verkrampfte nicht so wie bei seinen Eltern. Ich wusste auch nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass wir beide irgendwie seelenverwandt waren.
Der Vormittag verging wie im Flug, und schon wieder saßen wir mittags gemeinsam am Tisch. Ohne lange zu warten, sprach Andy seine Eltern darauf an, dass er glaubte, es sei sehr gut für mich, wenn ich eine Aufgabe hätte. Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, erzählte er ihnen, dass ich Pferde sehr gerne hätte und es deshalb eine gute Idee wäre, wenn ich ihm bei der Versorgung und Pflege der Tiere helfen könnte. Sein Vater war sofort begeistert von der Idee und stimmte zu. Nur seine Mutter machte einen Einwand. Sie reagierte genau so, wie Andy es mir vorausgesagt hatte. Sie fand es zwar gut, dass ich helfen wollte, schärfte ihm aber ein, dass er dafür Sorge zu tragen hätte, dass ich mich nicht in der Nähe von Amigo aufhielte. Er schaute mich an und zwinkerte mir zu, als ob er sagen wollte: Habe ich dir doch gesagt! Wir mussten ihr versprechen, dass wir – und besonders ich – Abstand von dem gefährlichen Tier hielten. Denn das war Amigo in ihren Augen nun mal. Von dieser Meinung ließ sie sich nicht abbringen. Könnte sie doch nur verstehen, dass er einsam war und sich deshalb so verhielt! Wir versicherten es ihr, und da gab sie Ruhe.
Mir kam es so vor, als ob das Mittagessen nicht enden wollte. Ich brannte darauf, den Nachmittag wieder mit Andy zu verbringen und eine Menge Neues zu erfahren. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich aufstand und seinen Eltern verkündete, dass er nun wieder an seine Arbeit gehen wollte. Sie wünschten uns viel Spaß, und schon machten wir uns auf den Weg. Heute Nachmittag stand Lederpflege von Sätteln und Trensen auf dem Programm sowie von allem anderen, was aus Leder bestand. Wir saßen schon eine gewisse Zeit zusammen und unterhielten uns über dies und das, als ich Andy noch einmal nach seiner verstorbenen Schwester fragte. Er erzählte mir, dass er ein Jahr älter war und sie ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt hätten. Aber das sei nichts gegen das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter: Die beiden waren ein Herz und eine Seele gewesen.
Je mehr er darüber sprach, umso bewusster wurde mir, wie sehr Mary unter dem Tod ihrer Tochter leiden musste. Gerade erst hatte sie akzeptieren müssen, dass ihr geliebtes Kind für immer im Rollstuhl sitzen musste, und dann erkrankte sie auch noch an einer Lungenentzündung, an der sie verstarb.
Ich hatte Hemmungen, Näheres über den Reitunfall in Erfahrung zu bringen, aber Andy erzählte von alleine, wie es zu dem Unfall gekommen war, der das Leben der ganzen Familie verändert hatte.
Sie waren alle gemeinsam auf einem Ausritt gewesen. Ein großes Feld lud zum Galoppieren ein. Seine Schwester war eine sehr gute Reiterin, da sie seit Kindesbeinen auf Pferden saß. Sie galoppierten los und ließen ihre Vierbeiner laufen. Doch auf einmal war da ein Loch, das sie nicht sehen konnte. Es ging alles so schnell, Amigo trat dort hinein, verlor das Gleichgewicht und beide stürzten. Er versuchte noch, seiner Reiterin, die bereits auf dem Boden lag, auszuweichen, doch er hatte zu viel Schwung, konnte sich nicht mehr ausbalancieren und fiel auf sie.