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Seit der Umwandlung von Annetts Café in ein Katzencafé läuft alles bestens. Ihre Gäste und auch die Katzen fühlen sich wohl bei ihr.
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Seitenzahl: 214
Zufrieden sah sich Annett in ihrem kleinen Reich um. Wie anders hatte es hier noch vor einem Jahr ausgesehen. Damals hatte sie in dem kleinen Hinterzimmer ihres Cafés gesessen und um himmlischen Beistand gebeten, weil sie glaubte, sie könne ihren Traum von der Selbstständigkeit nicht mehr lange aufrecht erhalten. Dann hatte sie Michael kennengelernt, und mit ihm war alles anders geworden. Er hatte nicht nur sehr viele kreative Ideen gehabt, sondern ihr auch in jeder Hinsicht geholfen sie entsprechend umzusetzen. Ihm hatte sie es letztlich zu verdanken, dass sie den Mut gefunden hatte, ihr kleines Café umzugestalten und in ein Katzencafé verwandeln.
Lächelnd erinnerte sie sich auch daran, als sie dann eines Abends mit Michael zusammen Pünktchen gefunden hatte. Die kleine Katze hatte ganz verängstigt und fast verhungert am Straßenrand gesessen, als Annett sie aufgelesen und mitgenommen hatte. Inzwischen war aus Pünktchen eine durchaus resolute Katzendame geworden, die ganz genau wusste was sie wollte. Aber, weil sie ihren Willen auf eine sehr charmante Art durchzusetzen wusste, mochten sie alle Besucher des Cafés gern. Ebenso wie die anderen beiden Katzen, den schwarzen Kater Vincent und die nach wie vor meistens sehr zurückhaltende Lady Lavinia. Fast alle ihrer alten Stammkunden hatten die Umwandlung des kleinen Cafés in ein Katzencafé sofort und ohne Probleme akzeptiert, ja etliche fanden die Idee sogar wunderbar. Lediglich mit einem männlichen Gast hatte es anfangs etwas Ärger gegeben. Dieser Herr hatte schon bei der Ankündigung, dass Annett ihr Café in ein Katzencafé umwandeln wollte, gleich mächtig auf den Putz gehauen und angekündigt, dass sie in dem Fall auf ihn als Gast nicht mehr zählen konnte. Während des Umbaus hatte er sich auch nicht blicken lassen, war aber einige Zeit danach doch noch einmal gekommen, um sich ein Stück Kuchen zu kaufen.
„Ihre Himbeertorte ist so gut, darauf kann ich einfach nicht verzichten!“, hatte er ein wenig verschämt bekannt, nachdem Annett ihn freundlich begrüßt und ihm gesagt hatte, wie sehr sie sich freue ihn wiederzusehen.
„Wollen Sie meine kleinen Lieblinge nicht wenigstens einmal kennenlernen?“, hatte Annett ihn dann gefragt.
„Nein, besser nicht, ich mag wirklich keine Katzen!“, betonte er.
Daraufhin hatte sie es aufgegeben, aber seitdem kam er wieder regelmäßig, nahm seinen Kuchen aber jedes Mal mit, anstatt ihn hier im Café zu verzehren.
Die anderen Gäste allerdings waren sofort begeistert gewesen von der Idee. So wie die nette Frau Sieveking und ihre Freundin Frau Hachmeister. Sie kamen pünktlich an jedem Donnerstag gemeinsam her, um hier zu frühstücken. Heute allerdings trat Frau Sieveking allein durch die Tür und steuerte gleich den für sie reservierten Tisch an und setzte sich, im Gegensatz zu sonst, etwas schwerfällig hin.
„Hallo, guten Morgen, Frau Sieveking!
Kommt Frau Hachmeister heute etwas später?“, erkundigte sich Annett.
„Nein, das ist es ja. Sie kann gar nicht kommen. Wir mussten sie gestern ins Krankenhaus bringen“, schluchzte Frau Sieveking.
Jetzt erst fiel Annett auf, wie blass und angegriffen die alte Dame aussah. Das musste für Frau Sieveking ein schwerer Schlag gewesen sein, denn soweit sie wusste, waren beide Frauen verwitwet und seither so gut wie unzertrennlich. Betroffen schaute sie ihre Kundin an und sagte schließlich etwas unsicher: „Das tut mir wirklich sehr leid! Ich denke, ich bringe Ihnen am besten erst einmal eine Tasse Kaffee und dann erzählen Sie mir was los ist, nicht wahr?“
Schon ein wenig getröstet nickte Frau Sieveking dankbar, und Annett eilte in die Küche, um für sie Kaffee zu holen. Zum Glück war es so früh am Morgen noch nicht sehr voll im Café. Ihre Aushilfe Christine würde die Arbeit sicher eine Weile allein bewältigen. Nur einen Augenblick später saß sie mit Frau Sieveking am Tisch und ermunterte sie ihr alles zu berichten. Etwas umständlich putzte ihre Kundin zunächst einmal ihre Brille, bedankte sich für den Kaffee und meinte: „Essen möchte ich heute Morgen nichts, das werden Sie verstehen, Kindchen!“
„Natürlich“, nickte Annett.
Sogar Kater Vincent konnte in solchen Augenblicken viel ungeahnte Empathie entwickeln, wie sie erstaunt feststellte. Denn er hatte sich vor Frau Sieveking aufgebaut und schaute sie unverwandt an. Die beugte sich zu ihm hinunter, streichelte ihn und sagte dann: „Wie gut, dass Du da bist!“, was wiederum von Vincent mit lautem Schnurren quittiert wurde. Dann hatte sich Frau Sieveking wieder gefasst und berichtete, dass sie gestern „auf einen Sprung“, wie sie es nannte, bei ihrer Freundin vorbeigeschaut hatte. Zum Glück, denn kaum hatte ihr Frau Hachmeister die Tür geöffnet, war sie plötzlich ohnmächtig geworden.
„So ganz ohne Vorwarnung“, erzählte Frau Sieveking.
Sie hatte sofort zum Telefon gegriffen und den Notarzt gerufen. Zum Glück war der auch sehr schnell zur Stelle gewesen. Das war für die alte Dame sicher ein furchtbarer Schreck gewesen, aber sie hatte trotzdem sehr gut reagiert, fand Annett und das sagte sie Frau Sieveking auch.
„Ja, meinen Verstand habe ich Gott sei Dank noch einigermaßen beieinander“, bestätigte ihr Frau Sieveking.
„Und wie ging es dann weiter? Ich nehme an, der Notarzt hat Ihre Freundin ins Krankenhaus eingewiesen oder?“, fragte Annett.
„Ja natürlich. Aber als dann die Rettungssanitäter da waren, wachte Alma wieder auf und wollte sich nicht mitnehmen lassen. Sie behauptete, das sei doch nur ein kleiner Schwächeanfall gewesen. Nur mit äußerster Mühe konnten wir sie dazu überreden, sich im Krankhaus einmal durchchecken zu lassen“, erzählte Frau Sieveking.
Dann nahm sie einen Schluck Kaffee und sagte: „Es tut so gut, Ihnen das erzählen zu können! Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen.“
„Aber ich bitte Sie, das tue ich doch gern“, beruhigte Annett sie.
Sie wusste, einen Teil des Erfolges ihres Cafés war ganz sicher auch darauf zurückzuführen, dass sie immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Gäste hatte. Das war für sie zwar selbstverständlich, aber die meisten Leute wussten das trotzdem sehr zu schätzen.
„Was meinen Sie denn, wie lange wird Frau Hachmeister in der Klinik bleiben müssen?“, fragte sie dann.
„Ich weiß es nicht, aber ich denke, einige Tage werden es schon sein. Auf jeden Fall sicher bis zum Wochenende, außerdem ist sie zuhause ja allein. Sie sollte erst stabil sein, bevor sie entlassen wird, hat mir der Notarzt gestern schon gesagt. Ich werde mir gleich ein Taxi rufen, damit ich ins Krankenhaus fahren und nach ihr schauen kann.“
„Das ist sicher ein guter Gedanke“, stimmte Annett ihr zu. „Aber wollen Sie nicht doch vorher wenigstens etwas essen? Vielleicht ein kleines Brötchen?
Sie haben doch sicher noch gar nichts im Magen“, schlug sie vor.
„Vielleicht haben Sie recht, dann hätte ich gern noch eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit Käse belegt, wenn das möglich ist“, bat Frau Sieveking.
„Natürlich, das veranlasse ich sofort.
Und bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie soweit sind, dann rufe ich Ihnen ein Taxi“, bot Annett ihr an.
„Vielen Dank, das wäre nett!“
„Gar kein Problem, das bekommen wir schon hin“, sagte Annett.
Wie gut, dass Frau Sieveking ihr Herz bei ihr ausgeschüttet hatte, ihr schien es schon etwas besser zu gehen, als sie sich erneut zu Vincent hinunter beugte, um ihn zu streicheln. Dadurch ermutigt, sprang er sogar auf die gepolsterte Sitzbank neben ihr, genau auf den Platz, den Frau Hachmeister sonst einnahm.
Gerade so, als wolle er sie vertreten. Da musste sogar Frau Sieveking lächeln.
„Du bist ein wahrer Schatz“, lobte sie ihn, und Vincent schnurrte verstehend.
Als Annett mit dem frischen Kaffee und einem Käsebrötchen, das appetitlich auf einem weißen Teller mit einer kleinen Gemüsegarnitur angerichtet war, zurück kam, sah sie erleichtert, dass die Blässe im Gesicht von Frau Sieveking einem rosigen Schimmer gewichen war.
„Der Vincent ist ein ganz lieber Kerl, wirklich. Er kann mich ganz wunderbar aufmuntern“, meinte sie ein wenig verlegen.
„Ja, das kann er“, bestätigte ihr Annett.
„Lassen Sie sich bitte Ihr Frühstück schmecken, und dann rufe ich Ihnen ein Taxi. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm wie es im Moment aussieht“, ermutigte sie Frau Sieveking noch einmal, bevor sie sich dem nächsten Tisch zuwandte, an dem neue Gäste Platz genommen hatten.
„Vielen Dank!“, meinte Frau Sieveking und biss in ihr Brötchen.
„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“, fragte Annett die neuen Gäste.
Es war ein Ehepaar mittleren Alters, das sie bisher noch nicht im Café gesehen hatte.
„Wir möchten gern frühstücken. Sie haben doch sicher einige verschiedene Varianten anzubieten oder?“, fragte der Herr.
„Aber gewiss“, bestätigte ihm Annett freundlich und reichte ihm eine Karte vom Nachbartisch, schlug sie auf und zeigte ihm das Frühstücksangebot.
„Ah ja, vielen Dank.“
„Schauen Sie sich in aller Ruhe die Karte an, ich komme gleich wieder“, versprach Annett und ging noch einmal in die Küche, um dort nach dem Rechten zu sehen. Christine war gerade dabei, die Spülmaschine zu füllen.
Inzwischen war das kleine Café schon ziemlich voll geworden.
„Die Herrschaften vom Tisch 8 haben viermal je ein großes Bauernfrühstück bestellt“, informierte sie ihre Chefin.
„Kannst Du Dich bitte um die Eier kümmern?“
„Natürlich, sofort.“
Bei allem Verständnis für den Kummer von Frau Sieveking, der normale Cafébetrieb musste schließlich weiter gehen. Also stellte Annett sich an den Herd, nahm die Eier aus dem Kühlschrank und machte sich an die Zubereitung. Sie wusste, gerade die Frühstücksgäste schätzten es, wenn sie nicht allzu lange auf ihre Bestellung warten mussten. Nachdem sie den Herrschaften ihr bestelltes Frühstück serviert hatte, sah sie noch einmal nach Frau Sievers. Die hatte inzwischen ihren Kaffee ausgetrunken und auch ihr Brötchen aufgegessen. Vincent lag noch immer schnurrend neben ihr.
„Wie sieht es aus? Haben Sie sich etwas gestärkt?“, fragte Annett und Frau Sieveking nickte.
„Ja, danke. Ich glaube, jetzt könnten Sie mir ein Taxi rufen, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, bat sie.
„Natürlich nicht“, antwortete Annett und zückte gleich ihr Handy. Die Nummer eines Taxiunternehmens in der Innenstadt hatte sie im Kopf. Man versprach ihr, dass sofort ein Kollege losfahren würde.
„Aber melden Sie sich bitte im Café, damit Frau Sieveking nicht auf der Straße auf Sie warten muss“, sagte sie.
Und auch das wurde ihr zugesichert.
„Vielen Dank, Sie sind immer so fürsorglich“, meinte Frau Sieveking.
Dann wollte sie bezahlen und gab Annett bei der Gelegenheit ein ganz besonders großzügiges Trinkgeld.
„Aber Frau Sieveking, das ist doch nicht nötig“, bedankte sich Annett, doch die alte Dame schüttelte den Kopf.
„Nein, nein, das ist heute durchaus in Ordnung“, versicherte sie. „Sie haben mir wirklich sehr geholfen und mir Mut gemacht. Ich hoffe nur, im Krankenhaus erwartet mich nun keine allzu böse Überraschung!“
„Aber nein, Das glaube ich nicht“, antwortete Annett und trug ihr auf, Frau Hachmeister herzlich von ihr zu grüßen und ihr gute Besserung zu wünschen.
„Natürlich, das mache ich gern. Ich hoffe sehr, wir beide sitzen demnächst wieder gemeinsam hier und lassen uns Ihr Frühstück schmecken“, versicherte ihr die alte Dame. Dann erhob sie sich und ging langsam zur Tür.
„Das Taxi ist sicher gleich da“, meinte sie. „Ich möchte doch lieber draußen warten, es regnet ja nicht.“
„Ganz wie Sie möchten“, antwortete Annett, bevor sie den Tisch abräumte, denn gerade hatte ein junges Paar den Raum betreten und sah sich suchend nach einem freien Platz um. Die beiden sahen, dass soeben ein Tisch am Fenster frei geworden war, und gingen gleich darauf zu. Sie freuten sich, auf Anhieb einen so schönen Platz bekommen zu haben. Der Rest dieses Vormittags verlief zum Glück ohne weitere Aufregungen. Da das Café gut besucht war, hatte Annett zwischendurch kaum Gelegenheit gefunden sich für einen Moment hinzusetzen und sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Erst, als auch die letzten Frühstücksgäste sich verabschiedet hatten, und schon die ersten Leute gekommen waren, um sich eine warme Mahlzeit zu gönnen, kam sie dazu sich in der Küche einen kurzen Augenblick hinzusetzen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief Michael an, um ihm zu sagen, dass sie es heute leider nicht mehr schaffen würde, die getroffene Verabredung mit ihm einzuhalten. Sie wusste, Ihre monatlichen Abrechnungen warteten auf sie, und eine Einkaufsliste musste sie auch noch erstellen, bevor sie am nächsten Morgen zum Großmarkt fuhr. Zum Glück hatte sie inzwischen einige Damen, die regelmäßig für sie Kuchen und Torten backen konnten. Früher hatte sie das alles fast allein gestemmt. Klar, zu den Zeiten war das Café meistens noch nicht so gut besucht gewesen, aber dennoch fragte sie sich inzwischen, wie sie das alles, nur mit der Hilfe ihrer Mutter, geschafft hatte. Natürlich war Michael enttäuscht, als sie ihm sagte, dass sie ihr Treffen gern verschieben wollte.
„Wie sieht es denn morgen aus? Hast Du Lust, morgen mit mir mal wieder zu unserem Italiener zu gehen?“, hatte er gefragt.
„Mal sehen, wenn ich am Ende des Tages nicht zu kaputt bin, dann gern“, antwortete sie ihm wahrheitsgemäß.
„Bist Du denn heute zuhause oder bleibst Du im Café, um Dich um den Schriftkram zu kümmern?“, wollte Michael zum Schluss des Gespräches noch wissen.
„Nein, das mache ich von zuhause aus“, erklärte Annett ihm, bevor sie sich von ihm verabschiedete. Lieber Michael, dachte sie. Er war immer geduldig und verständnisvoll, wenn sie vor lauter Arbeit keine Zeit hatte, sich auch noch um ihn zu kümmern. Pünktchen schien ebenfalls zu spüren, wie sehr Annett unter Stress stand, denn sie strich ihrer Katzenmama um die Beine und miaute leise.
„Ach meine Süße, auch für Euch habe ich leider längst nicht so viel Zeit wie ich gern möchte“, sagte Annett und streichelte die kleine Katze. Pünktchen schien das tatsächlich verstanden zu haben, denn sie schnurrte laut, zog sich dann aber zurück.
„Sicher hast Du inzwischen auch etwas Appetit. Ich habe heute noch nicht gesehen, dass Du etwas gegessen hat“, stellte Christine fest.
„Nein, da hast Du recht. Kannst Du mir eventuell einen Teller Kürbissuppe in die Mikrowelle schieben?“
„Klar, ist schon so gut wie passiert“, gab Christine zurück.
Und wenig später hatte Annett einen gut gefüllten Teller vor sich stehen. Hm, wie gut die Suppe duftete. Christine hatte fürsorglich ein paar Scheiben Baguette dazu gelegt und wünschte ihr fröhlich guten Appetit. Schnell tauchte Annett ihren Löffel in die Suppe und aß. Sie war nun tatsächlich sehr hungrig. Nachdem sie sich auf diese Weise gestärkt hatte, fühlte sie sich gleich viel weniger erschöpft. Sie wusste, ihr Tag war noch lang.
Etwa zwei Stunden später stürmte ihre Mutter in den Gastraum. Annett stutzte, ihre Mutter hatte ihr noch im letzten Jahr fast täglich ausgeholfen, aber inzwischen kam sie regelmäßig nur noch dienstags und freitags zu ihrer Unterstützung. Außerdem machte ihr die Arbeit im Café viel Freude, wie sie Annett schon häufig versichert hatte.
„Dann komme ich mal raus und treffe nette Leute“, hatte sie noch einige Tage zuvor gesagt. Aber nun schien sie regelrecht aufgelöst zu sein. Was konnte da nur passiert sein, fragte Annett sich besorgt.
Schnell ging sie auf ihre Mutter zu und platzierte sie an einen ruhigen kleinen Tisch. Auf einem der Stühle lag Lady Lavinia. Diese Katze war von Anfang an der erklärte Liebling ihrer Mutter.
Erstaunlicherweise schenkte ihre Mutter Lavinia derzeit aber kaum einen Blick.
Da stimmte etwas nicht, das spürte Annett sofort, ließ sich aber zunächst einmal nichts anmerken.
„Hallo Mama, das ist ja eine schöne Überraschung“, sagte sie betont munter.
Aber ihre Mutter ließ sich nicht täuschen, sondern sagte sofort: „Kind, ich muss mal in Ruhe mit Dir reden. Hast Du ein paar Minuten Zeit oder soll ich lieber später wieder herkommen?“
Schon an ihrem Tonfall hatte Annett gemerkt, dass dies eher eine rhetorische Frage gewesen war.
„Nein, nein, das geht schon in Ordnung.
Erzähl, was ist los?“, fragte sie nun ohne Umschweife. „Magst Du einen Tee und ein Stück Kuchen? Die Schokotorte hat Marlies mir erst heute Morgen ganz frisch gebracht.“
Aber ihre Mutter winkte ab.
„Nein, vielen Dank, aber ich bekomme momentan sicher absolut nichts runter.
Vielleicht später, wenn ich Dir erzählt habe, warum ich hergekommen bin!“
„In Ordnung. Na dann schieß mal los“, ermunterte ihre Tochter sie.
Ihre Mutter holte tief Luft, und dann sagte sie: „Es geht um Deinen Vater!
Ich bin mir sicher, er betrügt mich.“
„Wie kommst Du denn darauf?“, fragte Annett verblüfft.
Sie kannte ihren Vater nur als einen ruhigen, sehr ausgeglichenen Mann, dem die Familie sehr viel bedeutete.
Eine Affäre passte so gar nicht zu ihm.
„Bist Du Dir da wirklich sicher?“, hakte sie noch einmal nach.
„Ja, ziemlich!“
„Und wieso glaubst Du das?“
Daraufhin wurde ihre Mutter sehr still.
Schließlich sagte sie: „Er ist doch sonst nie aus dem Haus gegangen, aber nun geht er regelmäßig einmal in der Woche aus und will mir nicht sagen wohin. Er sprach nur von einer Überraschung, aber das glaube ich ihm nicht. Wenn er zurückkommt, dann ist er regelrecht aufgekratzt. Du kannst mir sagen was Du willst, ich denke, da steckt eine andere Frau dahinter!“, schloss sie messerscharf.
„Soll ich vielleicht mal mit ihm reden?“, erbot sich Annett.
„Nein, besser nicht“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
„Aber was kann ich denn sonst tun?“, fragte Annett ratlos.
Daraufhin druckste ihre Mutter ein wenig herum, bis sie schließlich mit der Frage herausrückte. „Könnte ich eventuell einige Tage bei Dir wohnen?“
„Ja klar kannst Du das“, stimmte Annett ihr sofort zu.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater etwas mit einer anderen Frau angefangen hatte, schließlich standen ihre Eltern schon kurz vor ihrer Silberhochzeit. Und plötzlich dämmerte es ihr. Bestimmt hatte ihr Vater sich für seine Frau zu diesem Anlass etwas ganz Besonderes ausgedacht, womit er sie überraschen wollte. Leider hatte er es offenbar etwas ungeschickt angestellt, wie es schien.
Daher sagte sie vorsichtig: „Könnte es sein, dass es mit der Silberhochzeit zu tun hat?“
„Nein, das glaube ich nicht, die ist doch erst im nächsten Frühling“, widersprach ihre Mutter.
„Das stimmt, aber manche Dinge brauchen eine längere Vorlaufzeit.“
Daraufhin überlegte ihre Mutter einen Moment, bevor sie antwortete: „Meinst Du das wirklich? Er war doch sonst nie ein Geheimniskrämer. Wenn das stimmt, dann hätte er doch wenigstens etwas in dieser Richtung andeuten können.“
„Ach Mama, dann wäre es ja keine wirkliche Überraschung mehr.“
„Vielleicht hast Du recht...“, stimmte ihre Mutter Annett schließlich ein wenig verunsichert zu.
„Bestimmt habe ich recht! Komm setzt Dich erst einmal, trink eine Tasse Tee mit mir und iss ein Stück Kuchen. Dann sehen wir weiter. Wir haben heute auch frischen Hefekranz, den magst Du doch so gern. Soll ich Dir davon ein Stück bringen? Sobald ich Zeit habe, setze ich mich wieder zu Dir“, versprach Annett, denn das Café hatte sich inzwischen wieder gefüllt. Ihre Mutter nickte und begann dann Lady Lavinia zu streicheln. Sogar die Katze schien zu spüren, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie erhob sich von ihrem weichen Kissen, reckte und streckte sich erst einmal, und sprang Annetts Mutter auf den Schoß. Das tat sie nur sehr selten, daher huschte sogleich ein Lächeln über deren Gesicht.
„Ach Lavinia, wie lieb von Dir mich zu trösten“, sagte sie dabei gedankenverloren. Aber als Annett mit einer Tasse Tee und dem Kuchen an den Tisch trat, sprang sie sofort wieder auf und verschwand.
„Schade“, seufzte Annetts Mutter.
„So, nun lass Dir erst mal Deinen Hefekranz schmecken“, forderte Annett sie auf.
„Danke“, kam es etwas kläglich zurück.
„Geh nur, ich sehe doch, Du wirst gebraucht, ich komme schon allein zurecht.“
„Bestimmt?“, fragte Annett besorgt.
Ihre Mutter war im Grunde eine patente Frau, so ein Verhalten passte ganz und gar nicht zu ihr, deshalb war sie ernsthaft besorgt um sie. In der nächsten Stunde hatte Annett sehr viel zu tun, warf aber ab und zu doch einen Blick zu dem Tisch hinüber, an dem ihre Mutter saß. Die hatte ihren Tee längst ausgetrunken und langsam auch den Kuchen verzehrt, saß aber immer noch an ihrem Tisch und rührte sich nicht. Dann stand sie unvermittelt auf, und sagte zu Annett: „Vielleicht hast Du recht, ich gehe jetzt lieber. Danke für den Tee. Auch der Kuchen hat mir geschmeckt.“
„Aber Mama, willst Du nicht noch einen Augenblick bleiben? Und was ist nun mit meinem Wohnungsschlüssel?“,
fragte Annett sie vorsichtshalber.
Ihre Mutter winkte nur ab. „Nein, lass nur, das war ohnehin keine so gute Idee glaube ich. Am besten gehe ich jetzt nach Hause. Wir sehen uns am Freitag, das ist ja schon übermorgen.“
„Na gut, wie Du meinst, aber ich kümmere mich gern darum“, versprach Annett.
Aber darauf antwortete ihre Mutter schon nicht mehr. Ratlos schaute Annett ihr nach. Bevor sie in dieser Angelegenheit etwas unternahm, wollte sie unbedingt zuerst mit Michael darüber sprechen. Der kannte ihren Vater zwar noch nicht so gut, aber die beiden Männer hatten sich von Anfang an bestens verstanden. Morgen, dachte sie, morgen sehen wir uns ja, dann werde ich ihn fragen was er von der Sache hält. Aber zuerst musste dieser Tag bewältigt werden. In der letzten Stunde bevor das Café geschlossen wurde, fand Annett die Zeit sich um ihre Einkaufsliste zu kümmern, denn bevor sie am nächsten Morgen wieder hierherfuhr, wollte sie in den Großmarkt fahren. Nachdem auch der letzte Gast gegangen, die Tagesabrechnung gemacht und von Christine und ihr die Küche wieder aufgeräumt worden war, hatte sie endlich Feierabend. Aber sie konnte und wollte nicht gehen, bevor sie sich wenigstens noch kurz Zeit genommen hatte, sich mit ihren geliebten Katzen zu beschäftigen.
„Wie gut, dass ich Euch habe!“, sagte sie, während sie die drei Futternäpfe randvoll lud. Außerdem bekamen die drei jeweils noch ein Leckerli von ihr, bevor sie sich endgültig von ihnen verabschiedete, um nach Hause zu fahren.
Als sie später an ihrem PC saß, um sich der ungeliebten Büroarbeit zu widmen, ließen ihr die Befürchtungen ihrer Mutter keine Ruhe, und sie konnte sich kaum konzentrieren. Schließlich klappte sie den Laptop zu und rief Michael an.
„Entschuldige, dass ich Dich so spät noch störe“, begann sie, wurde aber gleich von ihm unterbrochen.
„Du störst nie, das weißt Du doch. Was gibt es denn?“, fragte er mitfühlend.
„Hattest Du etwa mit einem Gast Ärger?
Dann zeig ihn mir und ich werde ihn mir vorknöpfen!“, versprach er.
„Nein, nein“, antworte Annett.
Dabei musste sie schon fast wieder lachen. Michael verstand es großartig sie immer wieder aufzuheitern, wenn es notwendig war.
„Aber Du hörst Dich besorgt an, was ist los?“, erkundigte er sich noch einmal.
Annett holte tief Luft und begann dann zu erzählen.
„Also, wenn ich alles glaube, aber das sicher nicht, niemals!“, war Michaels Kommentar.
„Das ist es ja eben, ich kann auch nicht glauben, dass ausgerechnet mein Vater so plötzlich sein Herz für eine andere Frau entdeckt.“
Eine Weile überlegten sie noch hin und her, bevor Michael meinte: „Ich weiß, Deine Mutter möchte es nicht, aber ich finde, Du solltest ihm doch einmal vorsichtig auf den Zahn fühlen.“
„Ich fürchte, Du hast recht, eine andere Möglichkeit sehe ich auch nicht“, gab Annett ihm niedergeschlagen recht. Ihr graute vor diesem Gespräch.
„Lass uns morgen beim Abendessen noch einmal darüber reden, vielleicht ist mir bis dahin doch noch etwas anderes eingefallen“, meinte Michael. „Wann soll ich Dich vom Café abholen? Gegen sieben wie immer?“
„Ja, ich denke, bis dahin kann ich es schaffen“, erwiderte Annett.
Dann beendeten sie das Telefonat und wünschten sich gegenseitig liebevoll noch eine gute Nacht.
Aber das Problem sollte sich schon am nächsten Tag auf eine ganz andere Weise lösen. Kurz vor dem Mittag betrat auch Annett´s Vater das Café.
Pünktchen, die ihn sofort erspäht hatte, lief schnurstracks auf ihn zu und strich ihm um die Beine.
„Hallo meine Kleine. Wie schön, Dich mal wieder zu sehen“, begrüßte er sie und beugte sich zu ihr hinunter, um sie ausgiebig zu streicheln. Auch Vincent kam angeschlendert und musste begrüßt werden. Nur Lady Lavinia blickte ihm gelangweilt entgegen und blieb auf ihrem Platz liegen ohne sich zu rühren. Annett´s Vater, der seit Pünktchen´s Einzug in ihr Leben schnell ein großer Katzenliebhaber geworden war, nahm es nicht übel, sondern ging zu ihr, um sie ebenfalls leise anzusprechen und vorsichtig zu streicheln. Er mochte diese äußerst zurückhaltende Katze ebenso gern wie die beiden anderen.
„Papa, wie schön, dass Du mich mal besuchst. Was führt Dich her?“, fragte Annett, die gerade in dem Augenblick aus der Küche kam, um einer Dame Kaffee und den bestellten Kuchen zu bringen. „Setz Dich doch bitte, ich komme sofort zu Dir“, versprach sie, bevor sie weitereilte.
„Nur keine Hektik“, meinte ihr Vater.
Wenig später saßen sich Annett und ihr Vater gegenüber, und Annett fragte noch einmal nach dem Grund dieses unverhofften Besuches, denn ihr Vater ließ sich nur selten ohne Grund im Café blicken. Wenn er sich außer der Reihe hierher bemühte, dann musste er wirklich etwas auf dem Herzen haben, vermutete Annett.
„Deine Mutter ist böse auf mich“, platzte ihr Vater heraus. „Ich fürchte, sie hat etwas ganz und gar missverstanden.
Weißt Du, ich möchte sie zu unserer Silberhochzeit gern überraschen. Wir haben doch seinerzeit unsere Hochzeitsreise nach Paris gemacht, und ich möchte noch einmal mit ihr dorthin fahren. Allerdings sind wir seitdem nie wieder in Frankreich gewesen und meine Sprachkenntnisse sind dementsprechend sehr eingerostet. Um die aufzufrischen habe ich jetzt einen neuen Französisch-Kurs an der Volkshochschule belegt. Deshalb war ich in den letzten Wochen öfter unterwegs, aber ich konnte Deiner Mutter doch nicht sagen um was es ging.“
„Hättest Du Mama nicht einfach fragen können, ob sie nicht eventuell Lust gehabt hätte mitzukommen?“, fragte Annett.
„Vielleicht hast Du recht, aber dann wäre meine Überraschung doch verpufft, meinst Du nicht?“
„Nein, wieso denn? Du hättest ihr doch einfach sagen können, dass Du Deine Sprachkenntnisse für einen Urlaub im nächsten Sommer wieder aufleben lassen möchtest. In vielen Ländern spricht man Französisch.“