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3 Bücher in einem: HAMBURG, FRÜHJAHR 1979. Uwe Reuss, als Chef einer Nordsee-Bohrinsel kürzlich entlassen, nimmt die Suche nach der Tochter seines besten Freundes auf: Gina Dahlmann ist mit einem verheirateten Grundstücksmakler angeblich nach Übersee geflogen und dort verschollen. Amateurdetektiv Reuss folgt der verwirrenden Spur; doch was treibt ihn an? Auf bizarren Umwegen endlich am Ziel, merkt Reuss, dass ihn, den Jäger, von den Gejagten wenig trennt. In der Weite des Ozeans und im Wagnis der Freiheit fühlt er sich den anderen - und dem Sinn seines In seinem Fluchtgepäck, zufällig auf dem Flugplatz vertauscht, findet er statt der letzten jämmerlichen Habe einen Berg Bahama-Dollars? Den Koffer zurückgeben oder ihn als gerechten Ausgleich, als Geschenk des Schicksals nehmen? Er riskiert es in einer Schatzsuche, um aus dem kleinen Fund den großen Wurf zu machen, den Volltreffer seines Lebens? Liegt da nicht an einem verlassenen Ort im Pazifik von alters her Piratengold? Und der Kirchenschatz von Lima, anno 1822 beim Rückzug der Spanier aus Peru versteckt? Dazu noch das Beutegut eines deutschen Hilfskreuzers, der hier im April 1916 nach erbitterter Gegenwehr sank? Ist die Karte von Isla del Coco authentisch, die das Versteck des Prisenguts nennt? Schwungvoll beginnt Uwe Reuss mit Linda, seiner nächsten Partnerin, ein neues Leben. Sie fassen Fuß auf Navassa und betreiben dort ein Feriendorf. Bis es ihnen dämmert, dass dies nur fremde Interessen deckt: US-Rauschgift-Bekämpfer, internationale Drogenhändler, übermächtige Finanzjongleure oder Waffenschieber? Da bleibt nur rascher Rückzug auf die friedliche Insel Grand Turk. Doch dem Spiel der Gewalten hält auch diese Ausweich-Existenz am Ende nicht stand. Wieder zieht die tragische Gestalt des Kubaners Sergio Figueras das Paar in den Strudel bitterer Ereignisse.
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Seitenzahl: 1729
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Wolfgang Schreyer
Alle Abenteuer des Uwe Reuss
ISBN 978-3-96521-449-1 (E-Book)
Das E-Book enthält die Bücher:
Die Suche oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, erschienen 1981 beim Verlag Das Neue Berlin
Der Fund oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, erschienen 1987 beim Verlag Das Neue Berlin
Der Verlust oder Die Abenteuer des Uwe Reuss, erschienen 2001 im BS-Verlag Rostock.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2021 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Für Susanne und Robert
Wo Geld ist, da ist der Teufe. Aber wo kein Geld ist, da ist er zweimal.
Georg Weerth
Wir wissen längst nicht alles, was wir wollen.
La Rochefoucauld
Dieser Traum! Es war Reuss, als habe er den schon mal geträumt. Der überschwemmte Auenwald, den kannte er doch, eine versunkene Welt… Bei dem Versuch, sich zu erinnern, zerfiel die Szene, noch aber stand ihm dies vor Augen: durch umspültes Buschwerk war er gerauscht, im Zweierfaltboot, und Stämmen ausgewichen, um die gurgelnd Wasser schoss. Dann der Ruck, man saß fest, in grauem Gehölz, verkrustet von Treibgut, bärtig, ohne Laub – Frühlingshochwasser, das schon fiel. Die Strömung im Rücken, unfähig, mit dem Paddel freizukommen. Der Partner hinter ihm rief, er solle aussteigen, das Boot abstoßen. Reuss wusste auch im Traum ganz gut, dies wär Sache dessen gewesen, der das verlangte und den er nicht recht sah. Schließlich saß der am Ruder, hatte es verpatzt. Trotzdem wand Reuss sich heraus, und während er, auf das schwankende Boot gestützt, bis zum Hals einsank, hörte er eine Melodie, grell, gequetscht, tremolierend, ein Trompetensignal, dem er einfach folgen musste. Er stieß sich ab, das Wasser umfing ihn, trug ihn aus dem Gestrüpp ans Licht.
Aus. Kein Schluss. Das Boot war weg gewesen. Die Tonfolge konnte er nicht wiedergeben, obwohl sie ihm bekannt erschien. Der Partner, das konnte Dahlmann sein. Zwar war er mit dem nur gesegelt, seine Paddlerzeit lag weit zurück. Doch Träume durfte man nicht wörtlich nehmen, dieser hier bedeutete vielleicht: Dahlmann verpfuschte etwas an Bord, Reuss bog es wieder hin. Nur an Bord. An Land verpfuschte Dahlmann so leicht nichts, da war er clever und beherrscht, ihm durchaus überlegen.
Keine Post, nur Prospekte und die Zeitung – Anflug von Ärger, schon abstumpfende Enttäuschung. Mobil und Odeco ließen sich reichlich Zeit mit seinen Bewerbungen. Gut, sollten sie, Reuss eilte es ja auch nicht, mit dem fortzufahren, was er seit so vielen Jahren tat. Aber zu irgendeiner Antwort müssten sie doch fähig sein?
Beim Kaffee erfreuten ihn die Sonnenkringel an der Wand. Zum Fenster wehte Flussgeruch herein, das Summen und Tuten der Schlepper draußen auf der Fahrrinne. Das Radio versprach milde Tage nach dem Jahrhundertwinter: zwischen einem Tief bei Irland und einem Hoch über Finnland wird mäßig warme Luft herangeführt, Südostwind vier bis fünf, Segelwetter; und noch kaum ein Sportboot im Wasser… Druckfrisch duftendes Papier. Die Folgen des Reaktorunfalls in Harrisburg. Der Bundeskanzler in Brasilia, der Schah auf den Bahamas. Kampala genommen, Idi Amin auf der Flucht. Aufständische in Nicaragua besetzen die Stadt Esteli. Graf Lambsdorff nach Oslo gereist, ein Deminex-Direktor aus seiner Begleitung sagt vor der Presse: Um mit den Norwegern richtig ins Ölgeschäft zu kommen, müssen wir hier eine runde Milliarde investieren.
Das war neu. Deminex, eine Tochtergesellschaft der Veba. Reuss sah genauer hin. Nach dem Ausfall des Öls aus dem Iran, hieß es, hoffe Bonn auf Norwegen, auf dessen Lagerstätten unterm Meeresgrund. Künftig könne Norwegen ein Fünftel des westdeutschen Bedarfs decken, falls es nur an die Bundesrepublik verkaufe. Allerdings wünsche Oslo Investitionen, nur gegen neu zu schaffende Arbeitsplätze tausche es Bohr- und Förderrechte in seinem Sektor der Nordsee. Derzeit pokerten 47 Erdölfirmen um 15 Konzessionsgebiete; gut im Rennen läge Deutschlands Deminex – offenbar dabei, Schürfrechte an sechs Blöcken des norwegischen Sockels zu erwerben.
Reuss schob das Geschirr zusammen. Endlich wachten die Burschen auf. Der Schah hatte gehen müssen, damit sie munter wurden und aufhörten, vor der eigenen Küste herumzustochern, im nassen Dreieck, in dem schon Kaiser Wilhelms Kriegsflotte gescheitert war. Jetzt also stieg man ein, die Veba wollte in Norwegen Autoteile produzieren, Siemens technisches Porzellan, Hüls Kunststoffe, BMW versprach Stoßstangen, Porsche Radfelgen zu beziehen, selbst die deutsche Meeresforschung war dabei… Da hatte der Wirtschaftsminister aber Dampf gemacht.
Das Telefon, die Universitätsklinik. Man verband Reuss mit dem Professor Dahlmann. Nach ein paar Scherzen sagte der, er müsse Reuss noch heute sehen, ja, um vier sei er fertig und hole ihn ab auf dem Weg zum Club. Es klang unaufschiebbar, vermutlich wollte Dahlmann seine Jacht flottmachen lassen, weiter nichts. Was er auch tat, er tat es entschieden, stets war es dringlich, und es gelang ihm, dieses Gefühl auf andere zu übertragen. Eine Gottesgabe. Wer es schaffte, sich ständig derart ernst zu nehmen, der hatte das Zeug zum Erfolgstyp.
Dahlmanns Gehabe hatte Reuss verstimmt. Es ließ ihn seine Unzulänglichkeiten spüren. Er konnte das ja nicht so gut, wurde von solchen Männern – auch wenn das seine Freunde waren – leicht eingewickelt, überfahren. Er hatte nun keine Lust mehr, den Traum Dahlmann zu erzählen. Es war sowieso klar, was der sagen würde, falls er überhaupt zuhörte. Träume, würde er erklären, seien der Ausdruck geheimer Wünsche, für den Laien undurchsichtig, weil verschlüsselt durch Selbstzensur und eine archaisch-infantile Bildersprache, die nur dem Fachmann etwas sage, also ihm… Die glatte Sicherheit der Vorlesungsstimme, Reuss hatte sie im Ohr.
Nach Dahlmanns Meinung waren die meisten Traumbilder einfach Sexualsymbole. In diesem Fall standen Wald und Gebüsch natürlich für die Genitalbehaarung, während das Faltboot… Ja, ein Faltboot konnte wohl beides sein, männliches Glied der Form wegen, es bohrte sich auch ein, oder weibliches Organ, denn es öffnete sich dem Sportler. Doppeldeutiges beflügelte nur Dahlmanns Analyse. Kam Wasser ins Spiel, war der Geburtsakt nicht fern. Entweder man fiel hinein oder man stieg heraus; man zog wen aus dem Wasser oder wurde selbst geborgen, was eine Mutterbindung ergab. Und so weiter. War Dahlmann erst in Schwung, stoppte ihn keiner.
Reuss suchte nach der Kopie seines Lebenslaufs, ihm kam die Idee, der Deminex zu schreiben. Er wusste nicht, ob deutsche Firmen noch immer Wert legten auf handgeschriebene Bewerbungen. Graphologie bei der Auswahl auch des unteren Leitungspersonals, das hing denen wohl an wie ein Zopf, ein Rest schwarzer Magie in der Ära des Computers. Wenigstens wollte er den Text benutzen, den er für die Mobil Oil und die Ocean Drilling & Exploration Company verzapft hatte, wär' der nur zur Hand gewesen. Es war nie ganz leicht, bei ihm etwas zu finden.
Ich wurde am 1. Juni 1938 in S. geboren, schrieb er, auf dem Gebiet der späteren DDR, als Sohn von… Als Sohn – mit dieser Floskel begann das Läppische der Selbstdarstellung. Wie viele Lebensläufe hatte er schon verfasst? Zeugnisse der Anpassung, des Konformismus, beflissen gab man Auskunft über sich, sachlich scheinbar und doch unterwürfig. Das war es, was ihm gegen den Strich ging, deshalb schob er so was vor sich her. Soziale Herkunft, früher ein Hauptpunkt. Ihm, dem unehelichen Kind, wurde da ein Ausgleich gewährt, drüben war er Arbeiterklasse gewesen, obwohl seine Mutter eine Tischlerei mit zwei Gesellen und Sarglager geerbt hatte. Einmal hatte er seine Herkunft so fixiert: väterlicherseits Lumpenproletariat (Handwerksbursche oder Landstreicher), mütterlicherseits verarmter polnischer Adel. Das war in Zwickau gewesen, auf der Ingenieursschule, und man hatte ihn zur Ordnung gerufen. Dies möge ja Fakt sein, hieß es, aber man schreibe das nicht, provokatorisch zugespitzt, leichtfertig in Dokumente… Institutionen wollten eben, dass man ihre Maßstäbe ernst nahm, sie nicht etwa komisch fand.
Trotz guter Noten Schulabgang mit der 8. Klasse, um Geld zu verdienen. Der Konzern würde nicht entzückt sein, dieses Motiv ließ er wohl bloß bei sich selber gelten. Konzerne schmückten sich gern mit Akademikern, kriegten davon nie genug. Nach Lehre im Eisenerzbergbau und einem Jahr als Junghäuer vom Betrieb zur Ing.-Schule geschickt, Fachrichtung Bergmaschinen. Im Praktikum auf Bohranlage (Kupferschiefer, Sangerhäuser Mulde). Studium 1958 beendet, vor Abschlussprüfung auf Drängen – oder unter Druck? – der Schulleitung freiwillig zur Nationalen Volksarmee gemeldet: Seestreitkräfte, drei Jahre… Amerikanische oder französische Firmen ließ das kalt, für die war man Ausländer sowieso, hier mochte der Personalchef das Gesicht verziehen. Als Maat im Herbst 1961 in Ehren entlassen, Eheschließung in Stralsund. Bewarb mich bei dem im Aufbau befindlichen Erdöl- und Erdgas-Erkundungsbetrieb im Norden der DDR, der Jungingenieuren Entwicklungschancen bot, da erste Erfolge optimistisch stimmten.
Erste Erfolge, die dramatisch verherrlicht worden waren. Reuss besann sich nicht mehr auf den Namen des Dichters, vielleicht hatte er ihn vergessen wollen, wie auch der Titel des Stücks ihm entfallen war. Das Rostocker Volkstheater hatte es damals den stumm staunenden Kumpels vorgeführt. Dem folgte ein Publikumsgespräch, vom Fernsehen aufgezeichnet, in quälendem Licht und festlicher Beklemmung. Das reizte Reuss; obwohl ihm die Schauspieler leid taten (wie mühsam, solche Reime auswendig zu lernen), griff er die Handlung an, die Sprache, bis einem Darsteller namens Rasch der Kragen platzte. Die Menschen im Stück, rief der, sind keine platten Abziehbilder, sind nie genauso wie im Leben! Die müssen doch anders sein als ihr, damit ihr euch mal neu, von innen seht – kapiert? Bis dahin hatte Reuss Schauspieler belächelt: eitle Burschen, die sich aufspielen, ausleben wollten auf der Bühne, tiefe Empfindungen und die Eleganz ihres Auftretens vorführen. Doch sie schienen ja denkende Wesen, wie er und die anderen Ingenieure… An jenem Abend war Manfred Rasch sein Freund geworden, und zwar weil sie sich beide – trotz Fernsehkameras und Vorgesetzten – nicht gescheut hatten, aus der Rolle zu fallen.
Ich fing als Schichtführer an; nach einem Jahr Bohrmeister. Meine Ehe, kinderlos, wurde 1963 geschieden. Als Leiter einer Bohranlage mehrfach ausgezeichnet, war ich ab 1964 Gebietsingenieur, d. h. verantwortlich für die Anleitung und Kontrolle mehrerer Bohranlagen. Mir wurden Risikofreude und Durchsetzungskraft bescheinigt… Das Eigenlob ersetzte Zeugnisse, die man ihm ja nicht nachgereicht hatte. Mitte Zwanzig war er gewesen, ehrgeizig, robust und ziemlich beliebt, oben wie unten, wegen seines nahezu kapitalistischen Leitungsstils; da stimmten immer die Kohlen bei der Mannschaft. Die Vorgesetzten drückten ein Auge zu, das andere Auge starrte auf die Planerfüllung, Kritik kam selten auf, und wenn, aus läppischem Anlass. Der Parteisekretär hielt ihm einmal vor, sein Faltboot heiße „Deutschland“, was das solle. Reuss erbot sich, es „Neues Deutschland“ zu nennen, worauf man ihm riet, sich nicht dumm zu stellen und den Unfug zu lassen.
Das war fast alles. Wirklich gebremst hatten sie ihn nie, bis er dann auf die Nase fiel. Bei einer Wettbewerbskampagne wollte und sollte er Spitze sein, tatsächlich erreichte seine Bohrung die Rekordmarke von 2500 Metern in 30 Tagen; abweichend vom Projekt ließ er Kontrollmessungen aus, zugunsten des forcierten Bohrregimes. So fuhr er, mit Riesenabweichung von der Senkrechten, in die Havarie, in den Millionenschaden, die Bohrung musste aufgegeben werden. Schon vor der Havariekommission und in den ersten Vernehmungen durch Staatssicherheit und Staatsanwalt sah er, was anlag. Ein einziger Sündenbock musste her – nämlich er; obwohl auch seine Chefs die Pflichten verletzt und ihn da erst hineingejagt hatten! Schwer, das nach zwölf Jahren in Sätze zu fassen.
Im Oktober 1967 setzte ich mich zusammen mit einem Freund per Faltboot in die Bundesrepublik ab. Freund Rasch hatte seltsamerweise schon vorher versucht, ihn zur Flucht zu bewegen. Der Bühnenheld, Verkörperung des Ideals vom neuen Menschen, war zu Reuss' Verblüffung bereit, sein Publikum zu enttäuschen. Den applausgewohnten Rasch ließ man halt nicht hochkommen in Rostock, der Intendant stellte ihn nicht für Filmrollen frei, die er hätte spielen können. Und als er vor einem Gastspiel in Köln Manfred Rasch von der Besetzungsliste strich, wegen eines Witzes in der Kantine, der ihm hinterbracht worden war, da hatte es dem gereicht: „Ei was, wir gehen nach Bremen“, hatte er mit einer Figur aus Grimms Märchen gesagt (er trat in dem Stück als Esel auf), „etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ Bei ganz leichtem Wellenschlag, eben genug, das Radar zu stören, trieben sie die „Deutschland“ von Deutschland nach Deutschland, wie eine Zeitung dann witzig, aber unzutreffend schrieb, denn man war bei Gedser in Dänemark gelandet.
Wie mühsam, mit jedem Satz etwas wegzulassen, auf das es eigentlich ankam. Reuss' Denken irrte ab, zu der Pizza, die er sich backen wollte. Seine Rückzugslinie schon früher, während des Studiums. Kam die Arbeit nicht voran, bot die Küche Trost. Und Trost war nötig, seit zehn Wochen saß er hier herum… Damit kannst du leben, hatte Dahlmann in dem Zusammenhang gesagt, so leben doch viele, und du bist nicht der Typ, Uwe, der seinen Melancholien tragisches Gewicht gibt. Du setzt ja dein Talent dagegen, deine Lust, etwas anzupacken, es pfiffig zu verändern – auf leeres Papier eine Skizze zu werfen oder ein blutiges Stück Fleisch essbar zu machen. Was dir beruflich fehlt, die Chance, kreativ zu sein – oder überhaupt tätig –, das hast du doch als Skipper oder Koch. Da kannst du frei navigieren und gleich das Produkt genießen, wo gibt's so was noch? Weißt du, ich beneide dich.
Möglich; der Spaß fing sogar schon beim Einkauf der Zutaten an. Also gut, seine Pizza, ein kreativer Akt. Die Masse aus Quark, Milch, Mehl und Öl ging im Handumdrehen auf – keine Zeit heute für Hefeteig. Zum Füllen nahm er Tomaten, Schinkenwürfel, Paprikaschoten und jenen Käse, der besonders duftend schmolz. Ein Produkt aus Erfahrung und Phantasie, wie die Werbeleute sagten; es gibt viel zu tun, packen wir es an. Dies in die vorgewärmte Backröhre, nun die Beigabe, Reuss' Apfel-Sellerie-Ingwer-Salat mit Sahne und Zitrone… Brauchte er eine Frau? Nicht dazu. Er hatte es mehrfach probiert, aber das Chaos, das dann entstand, minderte die Vorzüge des Zusammenseins. Und der Arbeitsrhythmus – drei Wochen Freizeit, vier auf See – zerschlug ihm den Rest. Für das Management freilich sollte man mit vierzig gebunden sein. Ein Mann ohne Anhang war disponibel, doch so ganz trauten sie keinem, der abgeneigt schien, sich auch da ins Bild zu fügen.
Anfangs als Brunnenbauer bei Lüneburg tätig, was nur eine Notlösung war. Dass die Tochter des Eigentümers ihn hatte heiraten wollen, gehörte natürlich nicht hierher. Brunnenbau reizte keinen Tiefbohrer, selbst in den Chefetagen würden sie das wissen. So folgte ich dem Angebot der französischen Firma Forex Neptune nach Nigeria, ging als Schichtmeister vor die Küste, auf eine Bohrplattform „Belle Isle“. Tags unter der ewigen Sonne, nachts im Dröhnen der Transportmaschinen, die noch Waffen einflogen, als hinter den Mangrovensümpfen der Provinz Biafra längst der Vorhang fiel. Kein Wort von dem Gemetzel, nur bunte Ansichtskarten an die Kumpel in der DDR, damit sie auch mal was von Afrika sahen. Ab 1969 Leiter dieser Station, versetzte mich Forex Neptune Ende 1972 in das norwegische Ölfeld Ekofisk, auf eine der ersten Bohrinseln. 1975 übernahm ich im gleichen Revier den finnischen Typ „Pentagone 84“ mit 74 Mann Besatzung. Mein letztes Gehalt betrug 4650 Dollar pro Monat. Im Februar d. J. schied ich nach einem Arbeitskonflikt auf eigenen Wunsch aus.
Zwecklos, etwas zu vertuschen. Sie würden diskret anfragen und hören, was passiert war: Der Chef des Teams hatte herumgebrüllt, den Direktor beleidigt und, wie es hieß, sogar tätlich bedroht. Statt fristloser Entlassung auf eigenen Wunsch nur dank der Kulanz der Firmenspitze, die elfjährige Treue zugute hielt. Trotzdem, es stimmte, er hatte genug gehabt, einfach die Schnauze voll. Fünf Wochen auf See, weil die Ablösung nicht klappte, der Nachschub ausblieb; die Schiffe mussten abdrehen. Dieser Winter, inmitten der tiefen, sturmgepeitschten Nordsee, als alles vereiste und die Förderleistung sank; Druck von oben, Reibungen im Team, Krankheit, Pannen, Alkohol. Und mit dem ersten Hubschrauber, der aufzusetzen wagte, dieser Besserwisser aus dem Büro, der gepflegte Typ, aus dem Ei gepellt, in einen gelben Overall verkleidet, um zu befehlen, erst schulterklopfend, dann nassforsch militärisch – ein kurzes, befreiendes Kräftemessen.
Das war der Anlass, der ließ sich ausklammern, so was gab's überall einmal. Sosehr Extremlagen und Krisen einen nervten, wirklich deprimierend war der Alltag im Öl, die lähmende Üblichkeit. Das Ritual der Verrichtungen, jeder Handgriff genormt, programmierte Entscheidungen, kein Spielraum mehr und Jahr für Jahr dasselbe… „Pentagone 84“, technisch der letzte Schrei, war auch sein Endpunkt, weiter ging es eben nicht. Teamchef, mehr konnte und wollte er nicht werden. Zwischen Blattpflanzen und Stahlmöbeln à la Knoll International, im verstellbaren Ledersessel (aktive Beckenstütze, Gasdruck-Sitzfederung und Fünfstern-Chromfuß auf lastabhängig gebremsten Doppelrollen) wär' es aus mit ihm gewesen; darüber war er sich klar.
Er hatte es satt. Eine Sackgasse. Trotzdem lief er neu hinein, bewarb sich wieder, sogar bei der Odeco, die ihn vielleicht auf eine rostige Plattform im Golf von Mexico schob. Was eigentlich war mit ihm los? Er war ratlos, vermied es sonst, sich den Kopf zu zerbrechen. Doch die Dinge umstellten ihn, drangen listig in seine Gedankenwelt ein, folgten ihm bis in den Schlaf! Er suchte sich des Traums zu erinnern, aber da war nicht mehr viel, nur das Boot noch, die Stimme hinter ihm, das Lied der Trompete, vager Lockruf über dem Wasser… Er hatte den Rest schon vergessen.
Sanft wie ein alter Herr fuhr Dahlmann durch das Marschland, wortkarg, abwesend – sonst den Mund voller Witze. Es lag wohl ein harter Tag hinter ihm. Schließlich sagte er: „Du wirst viel Geduld brauchen. Deminex, eine Art Staatsbetrieb? Mit Beteiligung des Bundes. Vermutlich gelten im ganzen Energiebereich die neuen Sicherheitsrichtlinien… Sieh mal, du bist doch von drüben gekommen, wie all die Sekretärinnen in Bonn, die jetzt enttarnt worden sind. Nach Paragraph sechsundzwanzig werden drei Kontrollstufen eingeführt: einfache Überprüfung, erweiterte Überprüfung und erweiterte Überprüfung mit Sicherheitsermittlungen; Ü eins, Ü zwei, Ü drei.“
„Mach mich nicht nervös.“
„Nimm das ernst, Uwe. Du musst damit rechnen. Wer aus dem Osten ist, kommt extra unter die Lupe. Der Erlass sagt, Zuwanderer sind Personen, die nach dem Mai neunzehnhundertneunundvierzig ihren im kommunistischen Machtbereich liegenden Wohnsitz in die Bundesrepublik verlegt haben und dabei das sechzehnte Lebensjahr vollendet hatten. Die rutschen gleich in Ü zwei oder Ü drei, die einfache Anfrage an Nadis genügt da nicht.“
„Nadis?“
„Ein Datenspeicher unserer Geheimdienste. Der spuckt aus, ob du bei denen jemals aufgefallen bist. Das geht ja noch, aber ab Ü zwei kommt von dir praktisch alles hoch; charakterliche Risiken wie Geschwätzigkeit, Trunksucht, Schuldenmachen, Bestechlichkeit, abnormes Sexualverhalten…“
„Mir kommt's auch hoch“, sagte Reuss. Beklemmend: der Anspruch des Staates, selber das höchste Gut zu sein. Und die Bereitschaft der meisten, sich diesem Anspruch zu fügen – ihre Unterwürfigkeit. Auch Dahlmann fügte sich, seine kritische Distanz verbarg das nicht, sie schien ein Teil seiner Anpassungskunst. Wie glatt ihm der Vorbehalt von den Lippen kam, das Gleichheitsprinzip werde ja verletzt, wenn man Zuwanderer anders behandele; der Bildungsminister habe Einspruch erhoben, für den Hochschulsektor, die Energiewirtschaft aber… Es konnte einem davon übel werden.
Schneereste in den Gräben, kurz vor Ostern. Die Sonne hing blass-silbern im Dunst. Wie abgeschnitten wanderte ein Schornstein über den grünen Deich, den Horizont. Weiß lag der Happy Sailing Club an dem Flüsschen, es roch ein bisschen nach Phenol und war doch voller Fische. Zwei Dutzend Autos auf dem Parkplatz, andere hatten dieselbe Idee gehabt. Beim Aussteigen fragte Reuss: „War es das, was du mir sagen wolltest?“
Dahlmann schüttelte den Kopf, er lächelte abgespannt und verbindlich. Je unangenehmer ein Fall, desto verbindlicher seine Behandlung. Dahlmann hatte eindrucksvolle Reserven an Takt, Kultur und Freundlichkeit. Wie üblich grüßte man ihn, als Vorstandsmitglied und Eigner des schnellsten Boots, er winkte höflich zurück. Die Rangordnung hier richtete sich nach der Segelerfahrung, den Regattasiegen, während der normale gesellschaftliche Status unberücksichtigt blieb. Als medizinisches As auch im Sport zu glänzen, das genoss er, es baute ihn tüchtig auf.
Sie folgten ihrem Brauch: zuerst auf den Landungssteg, dann zu den Booten. Vom Steg der Blick zur Unterelbe, zu den Schleusen, die den Club vom offenen Wasser trennten. Es krochen immer Jungs durch den Zaun, um am Steg zu angeln. Fische zappelten im Eimer, und ihr Transistorradio sagte gerade, viele Menschen hätten vom Schah gelebt, auch hier, ohne es zu ahnen. Und die Großen der Welt, von Carter bis Hua, hätten in dem einen potenten Partner verloren. Macht und Geld sei eben doch nicht alles. Kein Herrscher könne die Menschen mit Panzern und Geheimpolizei auf Dauer steuern. Dem Schah bleibe noch, dies zu erkennen und im Exil weise zu werden. Ferner bleibe ihm sein Schatz, an die dreißig Milliarden Dollar, für Fluchtkapital ein Rekord.
Im Bootshaus sagte Dahlmann: „Na, keine Angst, wir sind auch noch da. An deiner Stelle würde ich denen was husten, mich selbständig machen. Die Segelschule, du weißt, mein Angebot steht, in punkto Finanzierung wär' ich dabei; und sicher auch noch andere aus dem Club.“ Es sollte munter klingen, hörte sich aber an, als werde keine Antwort erwartet. Der Professor strich über die Flanke seiner Jacht, der weißblauen „Amrum“, auf der Suche nach Rostspuren unter dem Lack. Auch das fahrig, er schien nicht ganz da zu sein.
Reuss' Boot war anderthalb Meter kürzer als die „Amrum“, hatte zwölf Quadratmeter Segelfläche weniger und hieß „Deutschland II“. Der billigste Kreuzer mit dem stolzesten Namen, das hatte befremdet. Und obschon es für Reuss nicht in Frage kam, ein Boot umzutaufen, war er friedlich geblieben, hatte Lösungen offeriert wie „Armes Deutschland“ oder „Unteilbares Deutschland“, bis die Clubleitung es aufgab mit ihm. Meist lohnte es sich, defensiv zu bleiben, Verteidigung war die stärkere Form.
„Gib Laut, wenn ich bei denen vorfühlen soll.“
Reuss brummte etwas. Es lockte ihn nicht, von Clubfreunden abhängig zu sein, mit all ihren Titeln, dem Benehmen und dem Geld. Seine Mitgliedschaft in diesem Kreis war einzig Dahlmanns Werk, Folge überbordender Dankbarkeit für den Beistand in der Elbmündung, wo der sein Boot auf Grund gesetzt und um ein Haar verloren hatte. Sein förderndes Wohlwollen war manchmal schier erdrückend, über Jahre hinweg blieb er hilfsbereit. Ein wahrhaft rastloser Mann, für den es nur eins gab: Leistung. Der brachte es fertig, um die halbe Welt zu fliegen, zu einem Kongress, und dort in den Vorträgen einzuschlafen. Die „Amrum“ hielt die Helgoland-Bestzeit des Clubs – mit Reuss am Ruder. Spät erst war ihm aufgegangen, dass Dahlmann vor sich selber floh. Den machte Ruhe depressiv, Familie, Natur oder Kunst zählten bei ihm wenig, und seltsam dünn wirkten seine Bindungen, obgleich er so viel von der menschlichen Seele verstand.
Draußen fragte Reuss: „Schon Nachricht von Gina?“
Kopfschütteln; Dahlmann schirmte sich wieder ab. Ob man den Punkt nun berührte oder umging, es störte ihn in jedem Fall. Verständlich – wenn das einzige Kind sein Studium schmiss, um mit einem Mann durchzubrennen, der doppelt so alt war; und gleich bis in die Karibik. Zu Weihnachten hatten sie sich noch gesehen, unterm Tannenbaum ein bisschen beschenkt, und Gina hatte Reuss gestanden, für sie seien dies immer „die Tage des absoluten Schreckens“… Es war passiert, bevor er von der Bohrinsel flog. Familiendrama, Nichteinmischung, kein Kommentar; na gut.
Zu seiner Überraschung sagte Dahlmann: „Jutta macht sich langsam Sorgen.“
„Du nicht?“
„Ach, weniger. Ich glaub' nämlich nicht mehr, dass die da drüben sind. Da wär' sie längst zurück! Anfang Februar zieht sie ab, heute ist der zwölfte April, Gründonnerstag; zehn Wochen.“
„Sie hat euch doch von Martinique geschrieben.“
„Was beweist das? So was kannst du fingieren. Das Briefpapier hat der Kerl gehabt, ein Rest von früheren Reisen, den Brief dann zum Abstempeln hingeschickt. Leute, die das tun, hat so ein Mensch überall. Es gibt sogar Firmen, die das erledigen.“
„Und wozu das?“
„Damit keiner nach ihr sucht. Man ist schnell mal in Düsseldorf oder auf Korsika, aber wer fliegt schon über den Ozean, um eine Jacht zu suchen, die da irgendwo kreuzt?“
„Wie kommst du auf Korsika?“
„Da hat der Kerl ein Ferienhaus, das hab' ich festgestellt. Ich hatte immer Zweifel und bin nun sicher, da sind die beiden hin.“
Reuss schwieg im Vorgefühl einer Wendung, die das Gespräch zu nehmen schien. Er hatte davon angefangen, trotzdem war ihm, als habe Dahlmann es herbeigeführt, als sei gerade dies der Gegenstand, um den es ihm ging.
„Weißt du, Uwe, um es kurz zu machen: Wir suchen einen guten Freund, der hinfliegt, ihr mal ins Gewissen redet und sie umstimmt; sie möglichst gleich mitbringt nach Hause, denn da gehört sie hin. Jutta traut sich das nicht zu, und ich bin leider ja unabkömmlich, mitten im Semester. Würdest du das vielleicht übernehmen können? Bitte, überleg es dir – tu es für uns! Dich hat Regina immer gern gehabt, das meint Jutta auch.“
Reuss begriff, dies war kein Wunsch, es wurde von ihm erwartet. Die Dahlmanns rechneten mit ihm. Aber wenn er nachgab, in was für eine Lage kam er da? In keine angenehme. Gina war zwanzig, erwachsen, wer gab ihm das Recht, in ihr Leben einzudringen? Es war eine Zumutung, das von ihm zu verlangen: Gina dort wegzuholen, sie zu drängen, ein Liebesverhältnis zu beenden, und zwar sofort… „Nach Korsika, sagst du?“, hörte er sich fragen. „Unsinn, da ist's genauso kalt gewesen, und diese Bungalows haben allenfalls einen Kamin.“ Er fand seinen Einwand fadenscheinig. Es fiel nicht leicht, Jürgen Dahlmann etwas abzuschlagen. Die Peinlichkeit, der er entgehen wollte, war schon da.
„Nun, sie sind dort. Die Adresse hab' ich; so ein Fischernest an der Ostküste.“
Dahlmann sprach gedämpft, in dem suggestiven Ton, der ihm meist zu dem verhalf, was er haben wollte. Dahinter aber spürte Reuss doch eine tiefe Bedrängnis; tatsächlich war dies ein Hilferuf. Gina zurückzuholen, das versuchte Dahlmann selber nicht, weil er fürchtete zu scheitern. Und keineswegs grundlos. Eigentlich hatte er einen Sohn haben wollen und dann Gina so behandelt, das Band zwischen ihnen war schwach gewesen, durch Überforderung gespannt. Im vorletzten Jahr hatte sie höchst widerstrebend begonnen, Medizin zu studieren anstatt Kunstgeschichte. Bestimmt war ihr Weggang ein Stück Protest; in zehn Wochen ein Brief, den sie hauptsächlich der Mutter wegen schrieb, das zeigte es. Und Dahlmann, der immer so gut verstand, was in anderen vorging, täuschte sich darüber kaum; er bemäntelte es bloß.
„Danke, Uwe! Vielen Dank. Ich dachte es mir, du lässt uns nicht im Stich…“ Als schäme er sich seines Gefühlsausbruchs, zog Dahlmann sogleich Papiere hervor. Er war wie üblich gerüstet, darauf aus, ein Thema zu versachlichen. Ein paar Angaben zur Person desjenigen, der Gina den Kopf verdreht hatte. Die habe ihm eine Detektei beschafft, allerdings, wie er glaube, weniger durch eigene Recherchen als durch Anzapfen der polizeilichen Datenbank. Agenturen, die für die Wirtschaft Personalauskünfte einholten, sei das ohne weiteres möglich.
Der Mann hieß Walter Lersch, Jahrgang 1935, in Düsseldorf verheiratet. Ein erfolgreicher Grundstücksmakler, wie es hieß, wenn auch schon mal in einen Konkurs verwickelt gewesen – und so in den Speicher der Polizei gelangt. Neigung zum Glücksspiel und seine Wettleidenschaft, ständiger Gast bei Pferderennen, ließen die Möglichkeit offen, dass er sich auch geschäftlich übernehme. Soweit man feststellen könne, führe er eine scheinbar intakte Ehe, trotz häufiger Liebschaften. Es sei kaum denkbar, dass seine Frau nicht Kenntnis davon habe. Lersch wechselte die Gefährtinnen jeweils nach einem halben Jahr, ein Mangel an Beständigkeit, der in das Bild charakterlicher Labilität passe.
Reuss fand, dieser Rhythmus verrate eher kühle Planung, doch hütete er sich, dies zu äußern. Als er die Fotos sah, wunderte ihn gar nichts mehr. Lersch glich von ferne Dahlmann, wie etwa ein Bruder; Größe, Statur und Kopfform stimmten überein. Anderes nicht, der volle Mund, das Lächeln, die frechen Augen wichen vom Vorbild ab – nicht zum Nachteil des Mannes. Haltung und Kleidung wirkten salopp, das Haar fiel buschig über die Ohren, nein, weit ging die Ähnlichkeit gerade nicht; für Gina aber hatte sie genügt. Tritt sportlich auf, stand da, dazu als Kunstsammler – was ihr natürlich entgegenkam. Sie hatte Lersch am Ende der Saison zufällig am Zielort eines Segeltörns kennen gelernt und in ihm wohl eine Art Vater gesehen, jedenfalls zunächst.
Die Sache war ziemlich banal, das bewiesen Lerschs Briefe aus dem Herbst und Winter, von Frau Dahlmann in Reginas Zimmer aufgespürt. Farblos nette Briefe ohne Leidenschaft, ohne Hauch von Romantik, die dennoch eine Neigung geweckt oder genährt hatten. Da Reuss sie nicht an sich nehmen wollte, nur den Absender notierte, verlas Dahlmann ein paar Passagen. Flottes Geplauder, Erinnerungen an die Begegnung auf Helgoland, unaufdringliche Schmeicheleien. Der Stil war burschikos, manchmal ein bisschen wirr, verstiegen, mit intellektuellem Anspruch und prahlerischem Unterton. Ein Spieler eben. Auf sämtlichen Fotos dasselbe Gesicht, Verschmitztheit hinter der Fassade, sein Pokerface. Das stärkste schien Lerschs Bekundung, dass er inmitten des Trubels einsam sei. Garniert mit Scherzen, schlug er Gina einen Ski-Urlaub in Garmisch vor, wo ihm ein Haus zur Verfügung stehe… Falls es noch mehr solcher Immobilien gab, würde schon die Suche zeitraubend sein. Wintersport war auch jetzt noch möglich.
„Fahren wir zu dir“, sagte Reuss im Auto. „Mich interessiert, was Jutta meint.“
Aber Dahlmann winkte ab. Die arme Jutta, pessimistisch, fertig mit den Nerven, breche schon in Tränen aus, wenn Ginas Name falle. Besser, ihr dies zu ersparen. Immer sehe sie das Schlimmste voraus, in diffuser Unheilserwartung sei alles ihr ein schlechtes Zeichen.
„Sie ist zu furchtsam, um mit mir zu sprechen?“
„Zu ängstlich; das trifft's besser. Ich will kein Rechthaber sein, aber wenn Worte genau sind, kommt das Denken der Sache näher.“
„Was ist an 'furchtsam' ungenau?“
„Nun, du fürchtest stets etwas Bestimmtes – ein Tier, ein Ereignis, deinen Chef oder Gott. Furcht ist an ein Objekt geknüpft, Angst nicht, die spart den Anlass aus, meint nur den eigenen Zustand. Und Schreck… Als Schreck wirkt eine Gefahr, die dich im Moment der Sorglosigkeit überrascht. Du kannst also sagen, man schützt sich durch die Angst vor dem Schreck. Eben das gilt für Jutta; es ist bei ihr jetzt ein Dauerzustand.“
Wie Dahlmann wieder mal mit seinem Scharfsinn prunkte; er ließ wirklich keinen Anlass aus. Und es folgte, unvermeidlich, ein Vortrag über den Ursprung der menschlichen Angst. Dieser Affekt wiederhole, meinte er, den Schock der eigenen Geburt. Ja, der Geburtsakt sei die Quelle jeder Angstempfindung. Der Stress des Embryos, seine Beengung, die Unterbrechung der Bluterneuerung, also der inneren Beatmung – kurz, die körperliche Trennung von der Mutter. Die hinterlasse unbewusst, doch unauslöschlich den Eindruck von Lebensgefahr. Und diese Urangst steige aus tiefen Seelenschichten hoch, sooft später eine gewisse Reizschwelle überschritten werde.
Reuss sagte nichts. Von mystischen Ängsten wurde mancher geplagt, er selbst fühlte sich vor einem Hochspannungsmast manchmal unbehaglich, als bedrohe ihn das Stahlskelett. Jutta Dahlmann aber hatte reale Gründe, bei ihr musste man so weit nicht zurückgehen. Die Panik auf der „Amrum“ damals in der Elbmündung reichte schon zur Erklärung aus. Dahlmann hatte die Gezeitenströmung und den Stand der Ebbe unterschätzt, beim Auflaufen auf den Neufelder Sand war ihnen der Kiel abgerissen… Seitdem waren Boote Jutta unheimlich, Wasser bedeutete Gefahr. Und während Reuss unter Bohrtürmen seine Scheu vor haushohem Gestänge losgeworden war, verlor Jutta ihre Angst nie mehr. Seit dem Vorfall hatte sie keine Decksplanke mehr betreten. Die Vorstellung, ihr einziges Kind überquere in solch einem Boot den Atlantik, konnte sie schon krank machen. Vielleicht hatte Dahlmann deshalb ihr und sich selber eingeredet, Gina sei auf Korsika.
Dahlmanns Hand lag jetzt auf seiner Schulter. „Dass du uns hilfst, Uwe, wird ihr gut tun; es ist das, was sie braucht. Du, das vergessen wir dir nie!“ Es klang, als ginge es mehr um Jutta als um Gina, um Beruhigung statt um Hilfeleistung. Dahlmann konnte nicht mehr anders, der führte alles auf den seelischen Kern zurück – Ausgangspunkt von Erkenntnis und Behandlung. Das war seine Art, die Welt zu sehen, und beruflich fuhr er ganz gut damit.
Später, als Reuss seine Reisetasche packte, fragte er sich, ob man ihn nicht doch bloß wieder eingewickelt habe. Möglich; es konnte sein. Er hatte auch kaum Widerstand geleistet. In einem Punkt fand er sich Dahlmann doch recht ähnlich: Auch er war rastlos, brauchte etwas, das ihn schützte vor der Langeweile, dem Warten auf die Antwortbriefe, vor der Selbstwahrnehmung, der Frage nach dem Sinn. Jeder untätig verbrachte Tag gab ihm zwischen Morgenkaffee und abendlichem Zähneputzen das Gefühl, er existiere gar nicht mehr. Ob er nun wieder auf eine Plattform stieg oder mal nach Korsika flog, alles war besser, als stillzusitzen, während das Leben sich verflüchtigte. Gina zu suchen war gewiss nicht das, was er eigentlich wollte – aber was genau wollte er?
Die Ferne hatte Reuss schon immer gelockt. Soweit er zurückdenken konnte, zog es ihn an den Rand der Zivilisation. Bis zum Äquator war er auch gekommen. Früher, über all den Reiseberichten und Abenteuerromanen, hatte er gehofft, es möchte etwas von dem, das er selber unternahm, abenteuerlich verlaufen. Die Lust am Segeln, auch seine Nichtanpassung, die hingen damit wohl zusammen. Das große Fernweh! Der Ursprung blieb dunkel. Dahlmann stellte es als Teil des Nationalcharakters hin, wurzelnd in der Völkerwanderung. Heimatliebe und Wandertrieb, Ordnungssinn und Maßlosigkeit, Schwärmerei und Staatsräson des Deutschen – er liebte solche Gegensätze. Reuss aber hatten, noch ehe er lesen konnte, bunte Bilderfolgen begeistert: Seeräuber im Gelben Meer, ihre Beute, funkelnd im Licht der Sturmlaterne vor dem schwarz heraufziehenden Taifun; Goldsuche in den Anden, Überfall auf die Postkutsche, Strandung bei Kap Hoorn. Später der Trapper Lederstrumpf, Kara Ben Nemsi und der Musketier d'Artagnan.
Diese Geschichten waren ihm gefolgt; vielleicht brach er jetzt auf in das Reich seiner Tagträume? Jedenfalls, er musste sich zügeln. Gefragt war kein Detektiv, der losfuhr und zuschlug und Spesen machte auf Teufel komm 'raus, sondern ein fleißiger Schnüffler und Rechner. Eine balancierte Persönlichkeit, wie es in seiner Branche hieß, mit Gaben, die sich auf ausgewogene Art widersprachen. Als Teamchef nämlich sollte man sesshaft und mobil, zupackend und taktvoll, einfallsreich und nüchtern sein. So wollte auch Dahlmann ihn haben – kein Platz für die rauen Burschen von einst.
Am besten fing er in Düsseldorf an, dem einzigen Fixpunkt der Suche; doch seine Reisetechnik schien verstaubt, durch das Pendeln zur Bohrinsel angerostet. Er scheute den Osterandrang auf der Bahn, zu spät für eine Platzkarte, das Auto also… Nur gingen Regenschauer nieder, verschmierten den Asphalt, vor seiner Stammtankstelle staute sich das Blech unter trommelnden Güssen. Bei der nächsten gab es kein Superbenzin, ein Tankwagen hatte irrtümlich Dieselkraftstoff in den Tank gepumpt. Die dritte war geschlossen, Beginn kalifornischer Zustände von Benzinmangel?
Es zog ihn zum Flugplatz, einfach weil er zur Arbeit immer flog. In der Maschine nach Düsseldorf sei noch etwas frei, hieß es am Telefon, falls er sich beeile. Beim Aussteigen in Fuhlsbüttel verdreckten ihm die Schuhe, unschön im Hinblick auf Frau Lersch. Nirgends in Hamburg war das Parken teurer, dabei schafften sie's nicht, den Platz zu asphaltieren. Der Flughafen gab an mit seiner Citynähe und den vier Millionen Passagieren jährlich, um sie durch den Schmutz zu ziehen. Von Autos bespritzt, lief Reuss über die Straße, dann abseits des Zickzackwegs querbeet zur Abfertigung, auf dem schlammigen Trampelpfad.
Das Ticket lag bereit. Die Atempause an Bord reichte gerade für den Kaffee, einen Blick ins Notizbuch mit den drei Adressen und die Zeitung in der Sesseltasche: Iran, die Todesurteile. China, Ende der weichen Welle. Jimmy Carters Spar-Appell an die Nation, Energiefrage zum moralischen Äquivalent eines Krieges erhoben. Ölmultis warnen vor Staatseingriffen, Zwangslenkung stört Ölversorgung, entblößt die Nervenenden unserer Gesellschaft (das Land war gemeint, nicht Mobil oder Exxon).
Kaum stopfte Reuss das Blatt weg, da stieg die Maschine schon durch den Smog des Ruhrgebiets ab. Die Sonne schien, es war warm, der Flughafen ein Labyrinth. Reuss zog überschaubare Orte vor, wie den Flugplatz in Norwegen oder Port Harcourt in Nigeria, wo er nie eine Durchsage verstanden und sich, bis er heimisch wurde, den Leuten zugesellt hatte, denen dieselbe Bordkarte aus der Brusttasche sah. Sogar die Piste im Busch, beim Untergang Biafras, war menschlicher gewesen – mit ihren Leuchtkäfern, dem dürftigen Landelicht, das bis zum letzten Moment abgeschaltet blieb; in der klebrigen Schwüle, die Schuhe und Papiere schimmeln ließ, die Iroko-Bäume vor dem Nachthimmel Afrikas, der DC-4-Transporter mit hustenden Motoren, und über den Wolken das Pfeifen eines Abfangjägers der Regierung… Mehr Leben als in diesen Menschenströmen, gelenkt von Pfeilen und den internationalen Symbolen des Analphabetismus.
Die Telefone waren nicht schlechter versteckt als die Toiletten. Reuss hatte gestern schon angerufen und von einer Hausangestellten gehört, Frau Lersch werde daheim sein; jetzt aber meldete sich keiner. Vielleicht saß sie im Garten, zu weit weg vom Apparat? Er nahm ein Taxi, es brachte ihn nach Vogelsang, der Stadtrand im Dunst, nette graugrüne Gegend. Er ließ den Fahrer warten.
Das niedrige Haus mit der Rauputzfassade und dem geschnitzten Schild LERSCH am Jägerzaun enttäuschte Reuss: zu schlicht für einen Millionär, ein paar Nummern zu klein. Ein Mann im Grundstücksgeschäft mit kostspieligen Neigungen, Hochseejacht und Feriensitz im In- und Ausland begnügte sich mit einem Bungalow auf 600 Quadratmetern? Das Teuerste daran schienen die geschmiedeten Fenstergitter, sie schützten wohl Lerschs Kunstsammlung, falls es eine gab. Und wenn nicht – gerade als Spieler, als Lebemann hätte der nobler wohnen müssen. Dies passte nicht in das Bild, das Dahlmann da geliefert hatte.
Niemand öffnete. Beim zweiten Klingeln lugte jemand durch blühende Forsythien, ein Gesicht, das Neugier und Schwatzlust verriet. Der Nachbar teilte mit, Frau Lersch sei vorhin weggefahren, mit dem Sohn. Wohin? Entweder ins Grüne oder zu den Middendorfs. Reuss dankte, er stieg wieder ein. Der Name stand in seinen Notizen: ein Zahnarzt-Ehepaar, das ursprünglich mit von der Partie sein wollte, wie Dahlmanns Detektei erfahren hatte. Also zu den Middendorfs – über Vennhausen, irgendwo zwischen Ellerforst und Unterbacher See.
Sehr weit dahin, das andere Ende der Stadt. Hoffentlich platzte er nicht schon ins Essen. Am Thyssen-Hochhaus wies der Fahrer ihn auf den Goldfinger-Brunnen hin, ein Bildwerk aus Messing, und Reuss fragte, ob es zu Ehren von James Bond dort stehe, aber der Mann kannte Bond gar nicht; eine neue Generation. Auf den langen Afrikaflügen hatte Reuss die Bond-Romane gelesen, und zwar im Original, um sein Englisch zu verbessern. Goldfinger hieß der Strolch, der für den sowjetischen Geheimdienst das US-Gold aus Fort Knox rauben sollte, trotz des enormen Gewichts. Bonds Beute, die übliche Blondine, hieß Pussy Goodnight, falls Reuss nichts verwechselte. Ihm fiel der Satz ein: „Als Frau wollte er mit ihr schlafen, aber erst wenn seine Arbeit getan war.“ Das Credo des Helden, seine Moral, bloß schlampig ausgedrückt.
Nun ja, Klarheit oder Kunstgenuss hatte Reuss in diesen Büchern nicht gesucht, er las sie als Fortsetzung der Comics seiner Kindheit. Die erotischen Schilderungen gingen über das Körperliche nie hinaus, lief aber eine Reise ab, wurde der Text frisch und knusprig, die Freude des Autors an Expresszügen, schnellen Autos und fernen Ländern teilte sich dem Leser mit. Als Bond mal auf ein Motorrad stieg, ergriff ihn die Lust des Dahinsausens derart, dass er den Mörder im Rückspiegel fast vergaß. Er hatte den Reiz des Ortswechsels neu entdeckt, den fliegenden Teppich heute, da Reisen einem schon lästig wurde.
Die Villa der Middendorfs, unter Hainbuchen und Bergahorn, sah so aus, wie Reuss sich Lerschs Haus gedacht hatte. Sie waren bereit, ihn einzulassen; Frau Lersch allerdings sei nicht anwesend. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Zahnarzt, als er merkte, dass kein Patient, sondern ein Sportskamerad vor ihm stand. Reuss sagte es, während Dr. Middendorf ihn in den Garten führte – ein kräftiger Mann, der zum Dickwerden neigte, Ende Dreißig, mit einer Glatze, die ihn zu wurmen schien; er zog den Scheitel gleich überm Ohr und benahm sich auch sonst wie jemand, der Mängel schwungvoll verdeckt.
„Sie, Herr Doktor, sind ein Bekannter des Hauses Lersch, ich bin ein Freund der Dahlmanns“, schloss Reuss so kultiviert wie die Umgebung, in die es ihn verschlagen hatte. „Wir könnten folglich etwas besprechen, das zwischen den beiden Familien weniger leicht zu erörtern ist.“
„Verstanden; es geht um Fräulein Dahlmann.“
„Sie kennen sie?“
„Nicht persönlich, aber ich weiß Bescheid.“
„Wissen Sie auch, wo Regina jetzt ist?“
„Na, ich hoffe doch, bei ihm.“ Korbsessel standen in der milden Sonne, Middendorf lud zum Sitzen ein, er tat diplomatisch, halbwegs eingeweiht, wohlwollend neutral. „Nur, wo steckt Lersch selber? Keiner weiß es. Er wollte ja längst zurück sein, Ende März spätestens. Seine Familie hier ist ebenso beunruhigt wie Ihr Freund in Hamburg.“
„Ursprünglich wollten Sie Herrn Lersch begleiten?“
„Ja, mit meiner Frau, und zwar als Partner. Wir hatten uns nicht nur für die Überfahrt, sondern auch für die Jacht entschieden – für den gemeinsamen Erwerb. Ein feines Schiff, bis auf den Namen. 'Pirate's Lady', das klang uns zu, zu…“
„Unseriös?“
„Ach, so steif sind wir gar nicht. Etwas zu deftig, würde ich sagen, greller US-Humor. Der Vorbesitzer lebt in Florida, er hatte Lersch alles Mögliche angeboten, sogar ein Grundstück, das bei Flut unter Wasser liegt, stellen Sie sich das vor. Genommen hat Lersch nur das Boot.“ Middendorf blickte verschmitzt drein, wie um anzudeuten, Lersch wisse schon, sich in acht zu nehmen.
Reuss streckte die Beine aus, in der Luft lag Übereinkunft, das gewisse Lächeln von Mann zu Mann. Dies war der Ton vom Happy Sailing Club, das augenzwinkernde Einvernehmen, wenn Ehefrauen fehlten. Hier hieß der Club, wohl durchaus programmatisch, Fair Play. In so zwangloser Runde hatte man ihm neulich geraten, die Segelschule „Live and Let Die“ zu nennen, Leben und Sterben lassen… „Weshalb sind Sie denn zurückgetreten?“
„Na, es hat nicht geklappt mit der Urlaubsvertretung. Die Vertretung meiner Frau ist krank geworden, andernfalls…“
„Andernfalls würde jetzt nach uns gesucht“, sagte Frau Dr. Middendorf. Sie kam mit drei Cocktailgläsern, in denen Eis klirrte.
Reuss stand auf, um ihr behilflich zu sein. „Frau Lersch lässt die Jacht schon suchen?“
„Das Boot ist seit zwei Wochen überfällig. Natürlich tut sie alles – leider ergebnislos, bisher. Ralph, würdest du mal da oben schlichten?“
Aus dem Oberstock drang Kindergeschrei, Middendorf erhob sich ohne Widerspruch.
„Allerdings, es gab noch einen zweiten Grund“, bemerkte Frau Middendorf. „Wir haben Abstand genommen, um keine Affäre zu decken. Schließlich, da ist ja noch Brigitte Lersch… In meinen Augen war das eine unmögliche Sache.“
Sie streifte das Thema ebenso entschieden wie damenhaft, und Reuss ging auf, wer hier das Sagen hatte. Ihr Gesicht, fraulich zart, wirkte bei diesen Worten leicht geniert. Wahrscheinlich hatte sie von Lerschs lockerer Lebensart Ansteckung befürchtet, Anstiftung des eigenen Mannes und Trübung ihres Glücks. Eine Persönlichkeit und auf der Hut. Offenbar kam ihr Wertgefühl nicht bloß aus den reichlichen Einnahmen. Zwei Menschen mit goldener Hand, eine Brücke über vier Zahnlücken kostete soviel wie eine Herzoperation, nach Abzug der Praxiskosten machten die beiden wohl ihre halbe Million im Jahr. Trotzdem hätte Reuss nicht mit Ralph Middendorf getauscht.
„Halten Sie's für denkbar, dass Herr Lersch ganz woanders ist, gnädige Frau? Immerhin, er hatte Gina Dahlmann einen Urlaub in Garmisch vorgeschlagen.“
„Nein. Sein Haus dort hat er nämlich uns verkauft.“
„Oder auf Korsika? Auch davon war die Rede.“
„Da hat er nichts, das Haus gehört Brigitte.“
„Er könnte es trotzdem benutzen.“
„Das würde sie ihm kaum verzeihen.“
Middendorf kam zurück. „Wir können viel verzeihen, bei genauer Kenntnis der Lage. Walter ist halt ein ungewöhnlicher Mensch, ein Außenseiter.“
„Was heißt denn Außenseiter?“
„Einer, der tut, wovon andere bloß träumen.“
Reuss hielt sich zurück. Der Streit um Lersch schien ein Wetzstein dieser Ehe, er zog es vor, nicht mehr daran zu rühren. Jetzt lud man ihn sogar zum Essen ein. Das Hausmädchen trug auf, Frau Middendorf hielt die Kinder in Schach, drei zappelige Jungen zwischen vier und zehn. Ein Hauch von Schicklichkeit und Besitzerstolz lag über dem Ganzen, Philistertum vielleicht. Hier war man auf Harmonie, Gebundensein und Ordnung aus. So fürsorglich wie zu den Kindern mochte Frau Middendorf auch zu ihren Patienten sein, da rettete sie Zähne, erklärte, wie man die richtig pflegt, ohne gleich auf teuren Zahnersatz zu drängen. Und diese selbstlose Haltung – nicht unglaubwürdig, nur etwas zur Schau gestellt – gab ihr Würde.
Erst beim Nachtisch fragte Reuss: „Kann Herr Lersch sich ein so langes Fernbleiben geschäftlich leisten?“
„Da verpasst er nichts“, antwortete Middendorf. „Seine Teilhaberschaft bei der Maklerfirma läuft, Gruner und Co. GmbH KG – eine Rechtsform, die vor vielem schützt.“
„Nur nicht vor der Pleite“, sagte Frau Middendorf.
„Die persönliche Habe auch dann.“
„Hat er für Sie beide denn Ersatz gefunden?“
„Na, er hat doch seinen Klöppel.“ Middendorf zeigte ein Foto, das den Clubvorstand darstellte, und nannte ein paar Namen. Was bürgerlichen Erfolg und deutsche Reputation durch Titel auswies, konnte der Club präsentieren. Am Bildrand stand ein athletisch gebauter Mann mit kantigem Gesicht, an dem eine Stirnnarbe auffiel. „Das ist unser Trainer, der beste Segler von Fair Play, und funken kann er auch.“
„Hat das Boot denn ein Funkgerät?“
„Beim Kauf nicht, aber Walter wollte eins installieren.“
„Ohne Klöppel segelt Walter nicht mal in den Kanal“, sagte Frau Middendorf. „Und drüben wollte er mit dem Boot zwei von der alten Crew übernehmen, zwei Amerikaner.“ Er hatte das von einer Zwischenlandung geschrieben, auf einer Ansichtskarte; leider war sie nicht zur Hand.
Rudi Klöppel, ganz in Weiß. Reuss lieh sich das Foto aus und bat um die Adresse. Nach Middendorfs Worten ein dreißigjähriger Mann, sehr auf sein Äußeres und seine Kondition bedacht. Er sollte bei einer jungen Frau wohnen, einer Krankenschwester: Im Golzheimer Feld, vorm Flughafen, zwischen Sportplätzen und dem Jachthafen am Rhein. „Er spricht nur von seinem Sport“, bemerkte Frau Middendorf. „Wie das jemand aushält, ist mir unbegreiflich.“
„Eben ein Experte“, sagte Middendorf. „Er hat sogar einen Knoten erfunden, zwei brezelförmige Schlaufen, Augen mit halbem Schlag, einfach ineinander gesteckt. Der verbindet Enden jeder Stärke, und zwar fester als ein Schotstek! Abgesehen vom Kreuzknoten, der ja nur bei gleicher Stärke hält.“
„Knoten sind Ralphs stille Liebe.“
„Man hat doch gedacht, alle Knoten sind längst entdeckt – da kommt der damit 'raus! Haben Sie noch viel vor, Herr Reuss? Gleich um die Ecke liegt meine Jolle am See, wir haben ein bisschen Wind, könnten gemeinsam…“
Reuss bedankte sich, nein, er müsse weiter. Er wünschte der Familie frohe Ostern. Welch ein Idyll, die Kinder, der Garten, zum Braten Burgunder und Barockmusik; das linderte die Sorgen des Ehepaars um Walter Lersch. Sie meinten, mit Klöppel sei der jedem Sturm gewachsen, oder sagten sich, dass Unkraut nicht vergeht. Für ihren Rücktritt zwei Erklärungen: nicht gekonnt und nicht gewollt. Middendorf, ein Bruder im Geiste, ein verhinderter Abenteurer. Er spielte mit der Idee, mal tüchtig auszubrechen, doch letztlich blieb das Phantasie. Recht so – wo kämen wir hin, wenn jeder auszog ins Reich seiner Träume? Wo blieben dann die Fließbänder, die Öl- und die Zahnbohrer? Sie blieben stehen, das war klar.
Reuss fuhr zurück ins Zentrum, am Bahnhof telefonierte er, vergebens. Nur das Rufzeichen bei Lersch! Im Golzheimer Feld hob man zwar ab, doch gab die Dame kaum Auskunft: Herr Klöppel wohne nicht bei ihr, der sei schon vor drei Monaten verzogen. Von einem Flug nach Übersee wisse sie nichts, die neue Anschrift sei ihr unbekannt. Auf die Frage, wohin sie ihm die Post nachsende, erwiderte sie spitz, außer Rechnungen bekomme der keine, und die schicke sie nach Monheim, Lerchenweg, an eine Frau Gruss. Schluss. Es klang, als wünsche sie Klöppel zu den Fischen.
Eva-Maria Gruss stand im Telefonbuch, meldete sich jedoch nicht. Monheim lag an die fünfzehn Kilometer weg, in Richtung Köln, die Recherchen wurden lästig, uferten aus. Dieser Klöppel war eine Erschwernis, mit seinem Knoten und den Frauen. Wie bei einer Erbschaft tauchten immer neue Figuren auf, Reuss musste sie alle sprechen, und das hieß, entweder einen Wagen oder ein Zimmer mieten. Fremde Städte strengten ihn an, besonders am Steuer, lieber nahm er da ein Zimmer.
Es war trüb geworden, frühlingshaft schwül. Im Eden, Savoy und Atlantik bedauerte man – zum Fest voll belegt. Erst im Parkhotel am Corneliusplatz, dem unteren Ende der Kö, hatte er Glück. Von der Dusche erfrischt, versuchte er es bei Lerschs Firma, Gruner & Co., und hörte den Anrufbeantworter sagen, er möge seine Nachricht auf Band sprechen. Das brachte ihn gar nicht weiter. Es gab dutzendweise Gruners, ohne Kenntnis des Vornamens war die Privatnummer nicht zu finden. Einen Moment lang stand er untätig, sah hinaus auf die Betonklötze, Grünflächen und Teiche der Stadtmitte, die Straßenbahn unter einer Hochstraße, das Drei-Scheiben-Haus von Thyssen, 26 Stockwerke Metall und Glas. Dann rief er den verblüfften Rasch an, um sich mit ihm zu verabreden. Manfred Rasch hatte spielfrei am Abend, er schlug ein Lokal in der Altstadt vor (er sagte „Downtown“), an einer Fußgängerzone; Reuss könne also kaum überfahren werden, bevor sie einander umarmt hätten.
Es trieb ihn jetzt abwärts in die unbekannte City. Reuss hielt es nie ohne schweifende Bewegung aus, er entdeckte alles gern zu Fuß. Unten verpesteten Autos die Luft. An der Neanderkirche drang er in „Downtown“ ein, auf der Suche nach Fluidum, nach dem Hauch von Verruchtheit, ohne mehr zu finden als kulinarische Verlockung. Außer Warschaus Altstadt, auf die er sich ganz gut besann, schien dies die jüngste Altstadt der Welt. Schmuck wirkte sie, holländisch aufgeräumt. Aus den Ruinen des Luftkrieges war sie neu erstanden, so wie früher, und der Ruß hatte die Mauern gebeizt, bis sie ziemlich echt aussahen. Man nannte sie die längste Theke Europas. Die Lokale, farbenfroh wie auf St. Pauli, hießen Tartufo oder Mizzi; italienische, spanische und japanische Küche wetteiferten mit Balkanrestaurants und argentinischen Steakhäusern (leider war er noch satt). Da gab es Klapperschlangen-Ragout und leckeren Elefantenrüssel zwischen Boutiquen voller Mahagoni, Messing und Leder. Dann wieder Keller, die außer Jazz nur obergäriges Altbier boten. Ein halber Quadratmeter ehrbarer Amüsierbetrieb; keine Prostitution um drei Uhr nachmittags.
Reuss lief bis zum Mannesmann-Hochhaus, wo man den Rhein schon sah und roch, dann an Spees Graben vorbei zur Königsallee. Mädchen, schlank und langbeinig, beim Festtagsbummel. Die sagenhafte Kö glich einer schicken Schönen mit üppigem Po, dem Sitzfleisch von Handel und Industrie. Auf der Ostseite, hinter den Platanen am Graben, wurde sie zur Hochburg der Wirtschaft: Banken, Versicherungsbüros, Fluggesellschaften, Verwaltungssilos. Unten alles zu und über den Firmenzeichen Tristesse. Der brutale Bau einer Sparkasse trieb ihn zurück auf das Westufer, bis vor die Kaufhof-Fassade, wo er sich fragte, was ihm am Jugendstil so gut tat. Auch hier fluteten Passantenströme, floss hektisch buntes Blech, fügten Abgase dem Kaffee und Kuchen dort auf der Kranzler-Terrasse genügend Blei hinzu. Man konnte sich dem brausenden Leben schwer entziehen. Und nur weil Schaufenster ihn langweilten – luxuriöse Mode und hochkarätiger Schmuck –, kam er gut voran. Bloß nicht mit dem Fall, der ihn hergeführt hatte.
Vom Kö-Center aus erreichte Reuss die Frau Gruss. Sie tat abweisend, als Klöppels Name fiel, stimmte aber seinem Besuchswunsch schließlich zu. Mit dem Bus fuhr er südwärts und fand das Haus zwischen zwei Kirchen an der Rückseite eines Hallenbads. Von den Rheinwiesen wehte es schwül herüber, ein Geruch von Fluss, Teer und Gras. Die Frau hinter der hübsch gestutzten Hecke war um die Vierzig, etwas schüchtern, sehr gepflegt – Witwe eines Ministerialbeamten, der Mitglied von Fair Play gewesen war. Kein Wort darüber, ob Klöppel hier wohne, es wies auch nichts darauf hin. Doch die wenigen Papiere, die von seiner Reise handelten, lagen im Wohnzimmer bereit.
„Sind Sie überzeugt, dass er aufgebrochen ist?“
„Von Martinique?“
„Und nach Martinique.“
„Beides steht für mich fest!“ Nach ihrer Erinnerung war Rudi Klöppel am ersten Mittwoch im Februar mit den International Caribbean Airways von Frankfurt nach Barbados geflogen, er hatte sich von dort aus per Luftpost gleich gemeldet. Ohne Einblick in den Text zu geben, ließ sie Umschlag und Briefkopf sehen, das Datum 7. II. 79, auf dem Bogen eines Hotels namens Blue Horizon. Neun Tage später war eine Karte aus Port Castries abgeschickt worden, der Hauptstadt von Saint Lucia, sie zeigte den Flugplatz der Insel vor dem Hintergrund spitzkegliger Vulkane. Noch ein Signal hatte Klöppel von Martinique gegeben, dem Übernahmeort der Jacht: ein Transatlantikgespräch aus Fort-de-France, das nicht vorgetäuscht sein konnte, denn er hatte es auf Kosten von Eva-Maria Gruss geführt, ihre Telefonrechnung bezeugte das.
An diesem Punkt der Unterhaltung kam Verlegenheit auf, und Reuss warf ein, es sei wohl an der Zeit, dass die Angehörigen der Vermissten – jedenfalls Überfälligen – Kontakt aufnähmen, um gemeinsame Schritte zu tun. „Er hat keine Angehörigen, soviel ich weiß“, bemerkte Frau Gruss. Es schien, als füllten sich ihre Augen; sie schob Klöppels Post ein Stück weg, schluckte und gewann die Fassung zurück. Da sie schon soviel gesagt hatte, erwähnte sie nun auch, ihn nach Frankfurt gebracht zu haben, in ihrem Wagen. Flüchtig, vor dem Transitraum, habe sie seine zwei Partner begrüßt: Walter Lersch, den sie natürlich kannte, und dessen recht junge Begleiterin; die beiden seien vorher angekommen, mit dem Flugzeug aus Hamburg. Reuss stellte sich die Begegnung der ungleichen Paare vor – die Männer ungezwungen, unternehmungslustig, Frau Gruss eher geniert, wohl auch traurig, sie blieb ja zurück, während Gina, erwartungsvoll, verliebt… All das im Chaos der Drehscheibe am Main. Wie auch immer, es gab keinen Zweifel mehr, die drei waren wirklich geflogen.
„Warum über Barbados?“, fragte er. „Es gibt doch Direktflüge nach Martinique.“
„Mir ist, als wollten sie auf einer der Nachbarinseln die Ausrüstung ergänzen, irgendein Gerät…“ Klöppel hatte es ihr eben nie richtig erklärt. Er war so einsilbig gewesen, weil sie grundsätzlich dagegen war. Die ganze Sache hatte sie nämlich erschreckt, wer lieferte sich in einer Nussschale dem Weltmeer aus? Reuss stimmte ihr zu. Aus dem, was sie von Klöppel wusste, und dem, was sie übersah oder verschwieg, ergab sich folgendes Bild: ein gutaussehender, dickfelliger, etwas gockelhafter Mann – in seinen prächtigen Körper verliebt. Kein Raucher, wenig Alkohol, der Fitness wurden Opfer gebracht. Nach außen großspurig, schien Klöppel doch mit dem Leben unzufrieden – er hatte mehrfach den Beruf, noch öfter die Partnerin gewechselt, wurde überhaupt nicht sesshaft und entwickelte außerhalb des Sports wenig Energie. Selbst seine Großtat, die Erfindung der Doppelbrezel, hatte ihm Verdruss gebracht. Ein britischer Clubpräsident hatte sich zu Worte gemeldet, der Klöppels Priorität anfocht. Er schrieb das Knüpfwerk einem Landsmann zu (pensionierter Schiffsarzt oder Missionar) und nannte es nach diesem „Hunter's Bend“. Jener Hunter lebe in Südengland, ergänzte Frau Gruss, sein Knoten sei von schrulligen Briten in der „Times“ als Jahrhundertereignis gefeiert worden; all das habe Klöppel deprimiert. Der spreche gar nicht englisch, er sei unabhängig von Hunter vorgegangen, gleichzeitig mit dem, doch man habe ihm drüben den Ruhm missgönnt.
„Knoten lassen sich nicht patentieren“, sagte Reuss. „Die zu erfinden ist ein reiner Spaß, wie Schachspiel oder Kreuzworträtsel.“
„Und es bringt genauso wenig ein.“
„Wissen Sie noch, wann das R-Gespräch stattgefunden hat?“
„Aber sicher, am zwanzigsten Februar. Am nächsten Tag wollten sie auslaufen, das hat er mir ja da gesagt. Es ist das letzte Lebenszeichen gewesen.“
„Das muss gar nichts bedeuten. Vielleicht ist die Crew noch etwas in der stillen Karibik geblieben, um das Boot gründlich kennen zu lernen…“ Reuss suchte nach einem Abgang, mehr war hier nicht zu erfahren. Es reichte ja schon, Frau Gruss hatte sogar in Klöppels Flugticket geblättert, als Lersch es dem vorm Transitraum aushändigte: Frankfurt–Barbados–Martinique, sie entsann sich genau. Zu seiner Überraschung gab sie ihm beim Abschied eine kleine Karte, Format Din A5, offenbar aus einem Seehandbuch getrennt: Nordatlantischer Ozean im Winter. Klöppel hatte ihr, einfach so aus dem Handgelenk, den geplanten Kurs skizziert. Aber natürlich blieb offen, ob auch so gesegelt worden war.
Auf der Rückfahrt vertiefte Reuss sich in die Skizze. Ein zweifach geknickter Strich, mit weichem Bleistift hingeschmiert. Zunächst hatte Klöppel an den nordöstlichen Winden nach Norden laufen wollen, nicht ganz bis zu den Bermudas, durchaus logisch, um aus der Passatzone herauszukommen. Beim 33. Breitengrad, wo schon Westwind vorherrschte, bog die Route in Richtung der Azoren um. Von dort führte sie auf dem 39. Breitengrad direkt nach Portugal, schnurgerade. Bei den Azoren war handschriftlich vermerkt max. 20. Tag, bei Lissabon max. 30. Tag. Man hatte es in gut vier Wochen schaffen und spätestens am 23. März das Ziel erreichen wollen; zehn Tage vorher schon die Azoren.
Dies mochte die Absicht gewesen sein. Da dem Kärtchen der Maßstab fehlte, nahm Reuss ein Streichholz und legte es an den Seitenrand. Es deckte zehn Breitengrade, was 600 Seemeilen entsprach. Wenn er die Route mit dem Streichholz maß, war sie 3 600 Meilen lang – drei Viertel davon bis zu den Azoren, das letzte Viertel von da zum Festland. Sonderbar! Reuss achtete nicht mehr auf seine Umgebung, die Differenz zwischen den Fahrzeiten, verglichen mit den Entfernungen, beschäftigte ihn so, dass er vergaß, rechtzeitig umzusteigen.
Im Hotel, wo sein Taschenrechner lag, zeigte sich ihm, dass Klöppel für die erste Etappe, Martinique–Azoren, eine Durchschnittsgeschwindigkeit von fünfeinhalb Knoten veranschlagt hatte. Für eine Hochseejacht nicht eben viel; er hatte wohl mit Flauten gerechnet, wie sie in der Sargassosee südlich der Bermudas ja auch vorkamen. Auf dem letzten Stück, Azoren–Lissabon, wollte er aber noch langsamer werden: kaum vier Knoten bei dem dort beständig wehenden achterlichen Wind, was entschieden zuwenig war. Dies erschien etwas rätselhaft, der Draufgänger Klöppel als vorsichtiger Mann. Einen Rekord zu brechen – das hätte besser zu ihm gepasst. Es allen mal zeigen, die ihm den Erfolgsknoten neideten! Hatte er etwa drei Ruhetage auf den Azoren eingeplant? Dann wäre das Tempo auf dem letzten Stück das gleiche. Oder hatte er dies überhaupt nur so hingeworfen, um seine Freundin abzuspeisen, die ihm lästig fiel?
Reuss spürte, ein Geheimnis umgab diese Fahrt, schnörkelhaft wie der Hunter's Bend. Er würde schon sehen, von welchem Punkt es sich aufrollen ließ – falls es nicht so verwickelt war wie der Knoten des Königs von Gordion, den im Altertum kein Mensch hatte lösen können.
„Was kann passiert sein?“ Manfred Rasch entfaltete die Speisekarte, ein einziges Blatt bräunlich-dicken, altmodischen Papiers. „Wenn diese Jacht verschollen ist, so hat uns das zwar nach sieben Jahren einmal zusammengeführt, es verpflichtet mich aber auch, mein bisschen Grips anzustrengen und dir behilflich zu sein. Was nimmst du übrigens? Falls es Fisch sein soll, im Hinblick auf dein Thema, rate ich dir zu Filets du soles Normande. Dazu ein leichter, trockener Loire-Wein oder Côtes de Provence, das ist ein Rosé… In dieser Stadt bist du mein Gast. Also, was meinst du?“
„Was passiert sein kann? Na, alles Mögliche: Mastbruch im Sturm, zerfetzte Segel, Ruder- und Motorschaden. Geht der Mast über Bord, kannst du nicht mehr funken, die Antenne sitzt am Mast; falls sie überhaupt eine hatten. Schiffbruch ohne Funkgerät, da steigt man dann aus und treibt in der Rettungsinsel, weit ab von den Schifffahrtsrouten. Oder die sind durch Fehlnavigation auf ein Riff gelaufen. Es kommen auch Gasexplosionen vor – Feuer auf dem Schiff. Und es gibt nächtliche Zusammenstöße mit Ozeanriesen, die das gar nicht mal bemerken.“
„Es muss doch krachen.“
„Denk an das Größenverhältnis. Du merkst ja auch nicht, wenn dir eine Hummel vor den Kühler fliegt.“
„Was sind denn das für Menschen, die so etwas riskieren?“
„Menschen wie du und ich“, sagte Reuss. „Wie hieß die Schlagzeile damals vor zwölf Jahren: Mit der 'Deutschland' von Deutschland nach Deutschland.“
„Wir zwei hatten Gründe; du das Gefängnis vor Augen, ich den totalen Bankrott…“ Die Getränke kamen, Hannen Alt und eine Flasche Muscadet de Sèvre-et-Maine, Rasch befeuchtete die Lippen, er ließ den Schluck auf der Zunge zerrinnen und nickte dem Kellner zu. Das noble Benehmen von einst, Reuss fand ihn kaum verändert. Sein Gesicht wirkte schwerer, da waren die Fältchen, die sich um die Augen drängten, sonst aber sah er aus wie auf dem schönen Farbfoto, das er vor Jahren geschickt hatte, mit der Widmung: „Die Reste von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, und der aus Angst vor der Furcht nichts lernte.“ Die Reste waren beachtlich.
Man möge, bemerkte Rasch, sie bitte nicht mit Narren vergleichen, die sich Sportler nannten oder für Pioniere hielten. Sie beide hätten ja keinen Rekord aufstellen oder Neuland finden wollen. Seit alles entdeckt sei auf Erden, gebe es Abenteuer eher in der Welt des Geistes. Selbst ein Astronaut, der in violette Sphären dringe, sei nur Teil einer ferngesteuerten Apparatur, die ihm kaum Spielraum lasse – Opfer, kein Held. Und das Meer, seit Odysseus die Fluchtburg der Verheirateten, Schauplatz einer letzten Kraftprobe mit der Natur? Wenn ein Mann das Meer als Herausforderung empfinde, dann sei der halt gestört; kein Zeichen von Wagemut, sondern von Impotenz.
Von den Middendorfs bis Rasch, man schien gut zu essen hier. Seezungenfilets, in Weißwein gedünstet, mit Krabben, Champignons und Sahne, Rasch schlemmte ebenso, wie hielt der dabei sein Gewicht? „Unglücksursachen gibt's übrigens noch mehr“, hörte Reuss ihn sagen. „Erkrankung mitten im Ozean! Skorbut, die alte Geißel des Seemanns. Es hat sie dahingerafft, das Schiff geistert führerlos… Warte mal. Als Sir Francis Drake mit seiner 'Goldenen Hirschkuh' beuteschwer in Plymouth anlegte, rief er zur Mole: 'Ist die Königin noch am Leben?' – 'Sie lebt', scholl es zurück, 'bleiben Sie trotzdem an Bord, hier ist die Pest…' Ein unheimlich starker Szenenschluss.“
„Die Pest auf den Azoren?“
„Gut, dann sind sie verdurstet in wochenlanger Flaute. Oder ein Strudel hat sie verschlungen, wie Poe ihn beschreibt.“ Rasch machte sich an sein Filetsteak „Madagascar“, mit grünem Pfeffer in Cognac und Rahm. „Gestrandet und von Kariben verzehrt. Das sind dort ursprünglich ja Menschenfresser, Piraten und Sklavenhändler gewesen. Oder ist dir das zu literarisch?“
„Ein bisschen antiquiert.“
„Verzeih, ich bin tief im Mittelalter; wir proben gerade einen Shakespeare. Mir fällt aber noch was ein: Die Crew hat geschmuggelt und sitzt jetzt irgendwo im Knast. Denk auch an die Politik, es gärt auf diesen Inseln, und wo man putscht, wird eingelocht. Wie ist's denn mit dem Bermuda-Dreieck, haben sie das nicht berührt? Mir wär' allerdings folgendes lieber: Nicht die Natur hat zugeschlagen, sondern die Geldgier, der große Versucher. Steuerflucht, eine modische Variante. Dieser Lersch ist der Typ dafür, der hat sich eben abgesetzt.“
„Wohin zum Beispiel?“
„Auf die Cayman-Inseln, zwischen Cuba und Jamaica. Nach unserem TV-Szenarium ein Steuerparadies! Wir wollen im Frühsommer dort drehen, am Originalschauplatz, aus Steuergründen. Für zweihundert Pfund Registriergebühr kannst du auf Grand Cayman jede Art Gesellschaft gründen, mit Steuerfreiheit für die nächsten fünfzig Jahre und dem Recht, Aktien ohne Nennwert auszugeben und die Namen der Aktionäre zu verschweigen. Da kann dein Makler sich so richtig tummeln.“
Reuss begriff, Rasch behandelte dies als dramatischen Stoff; Versuchungen lagen ihm näher als Katastrophen, die auf der Bühne schlecht darstellbar sind. Jetzt fragte er: „Warme Apfeltorte mit Aprikosen, Walderdbeeren, Nusseis mit Pflaumen, Käse, Kaffee? Ich hab' ein Herz für die Arbeitslosen. Übrigens, das kriegst du wieder hin. Mich hatte es auch mal erwischt. Vor fünf Jahren bin ich ziemlich weg gewesen; beinahe sogar ganz.“
Die Stunde der Bekenntnisse. Damals war Rasch in ein Loch gefallen. Keiner wollte ihn mehr, weil er sich in einer Familienserie verschlissen hatte. Wie in Rostock fing er an zu trinken und nahm zehn Kilo zu. Er habe sogar, gestand er, seine Rückkehr in die DDR betrieben; ein Schritt, dem nach der 72er Amnestie nichts mehr im Wege stand. Ein Engagement drüben sei ihm bereits sicher gewesen. Die Absicht war da, er habe seine Wohnung aufgelöst und sich statt des Sportkabrioletts einen Volkswagen gekauft, damit niemand sich provoziert fühle. Aber dann, am Grenzübergang, habe ihn eine Beklemmung erfasst, lähmende Schwermut; das Gefühl lasse sich schwer beschreiben, es habe ihn so nie wieder heimgesucht. Jedenfalls sei er umgekehrt und, um sich zu sammeln, stundenlang durch ein grenznahes Wäldchen gestreift, unfähig, den Schritt zu vollziehen. Nicht sein Verstand, der Instinkt habe rebelliert. Vielleicht sei es der Anblick eines Wachturms gewesen, der ihn irritiert und das Bild einer Endstation heraufbeschworen habe, eines point of no return. Drei Tage später habe er den Versuch wiederholt, mit demselben Ergebnis. Seitdem kenne er die Macht des Unbewussten über sich, habe gelernt, damit zu leben. Und dies gar nicht schlecht, denn heute gelte er als Star des Schauspielhauses, bekomme zwei, drei Fernsehrollen jährlich. Sein Foto werbe für Kreditkarten, Diner's Club und American Express.
„Im Zweifelsfall auf die innere Stimme hören!“ Rasch tupfte sich die Lippen ab. „Morgen kannst du mich sehen, paar hundert Schritte von deinem Quartier, die kurvenreiche Fassade hinterm Thyssenhaus. Kunst im Abendschatten der Industrie. Scotch oder Bourbon? Die haben auch Kirschwasser, Calvados und unseren alten Wodka Wyborowa.“
Sie tranken auf die alten Zeiten. Längst Versunkenes stieg in Reuss hoch, Erinnerungen kamen, er saß still, von Heimweh überschwemmt, und glaubte sich Rasch tief verbunden. Der schien zufrieden, hatte seinen Weg gemacht, ja, Reuss bewunderte ihn. Rasch sprach schneller, dachte schneller, handelte schneller – früher schon, als man so jung, so hoffnungsvoll gewesen war, weil alles noch vor einem lag.
„Ich schick' dir eine Karte ins Hotel“, sagte Rasch. „Den besten Platz, hinterher streiten wir uns wieder, weißt du noch: 'Aber bitte, fühlen wir uns gegenseitig, wenn Sie so wollen, auf den Zahn. Warum, Bohrmeister, machen Sie Husarenritte? Ein Anarchist ist lange noch kein roter Partisan.' Hat euch nicht geschmeckt, wie? War auch unbekömmlich.“
„Zu hoch für uns.“
„Ihr hattet recht! Euer Instinkt…“
Von der Hofterrasse, wo man am Kamin saß, wurde Rasch ein Autogrammwunsch zugetragen. Man hielt ihm die Speisekarte hin, und er unterschrieb sie beiläufig, wie ein Arzt ein Rezept unterschreibt. „Es gibt ein Berggesetz, betreffend Erdölschürfen“, zitierte er; am Nebentisch sah man zu ihm hin. „Was hier geschehen ist, ist einfach nicht erlaubt!“
Reuss sagte: „Das Stück ist gar nicht so schlecht gewesen.“
„Du nimmst es jetzt in Schutz?“
Auf die innere Stimme hören, dachte Reuss. Er sah seinen Betriebsdirektor auf die Bühne steigen, im Nationaltheater von Weimar, und dem Dichter Blumen überreichen, den Dank der Kollegen. Stürmischer, nicht enden wollender Beifall. Sein Urteil verlor an Klarheit, er hatte den Eindruck, es führe zu nichts, jetzt noch das Stück zu loben, nach all den Jahren. Er saß nicht in Weimar, sondern an einem Fenstertisch im Oberstock des „La Camargue“, unter ihm füllte sich die Straße mit Lichtern, mit Bewegung, und die innere Stimme schwieg. Rasch hatte morgen früh Probe, er sah ihn nach dem Ober winken. Beim Zahlen sagte Rasch: „Ça ira, so sangen die Bastillestürmer: Es wird gehen. Die Liebe macht sich auf, das Glück fasst Schritt, zum Marsch, der dem Gewürm den Kopf zertritt. Und do swidanja heißt auf Wiedersehen.“
Sie stützen einander auf der Treppe; die Stufen gaben nach unter Reuss, als habe sich sein Gewicht verdoppelt. Draußen sagte er: „Und es ist doch schön gewesen.“
„Okay. Hirnrissige Texte kriegst du auch hier.“
„Der Nebel auf See! Du hattest das Paddel liegenlassen, also zurück in den Wald, und der Posten kam schon an…“
„Aber das Naturerlebnis.“
„Ohne Kompass wär' auch nichts gelaufen.“