Äskulaps starke Töchter - Uwe Goeritz - E-Book

Äskulaps starke Töchter E-Book

Uwe Goeritz

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Beschreibung

"Äskulaps starke Töchter" Altersempfehlung: ab 16 Jahren Ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Kindheit führt bei Fanny zu dem Entschluss, Ärztin zu werden. Allerdings ist das nicht ganz so einfach für die junge farbige Frau im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zusammen mit ihrer Freundin Katharina wagt sie dennoch das schwierige Unterfangen. Wenngleich Frauen bereits seit der Mitte des Jahrhunderts studieren durften, legt man ihnen dennoch viele Steine in den Weg. Zusätzlich tritt die Liebe in ihr Leben und macht es damit nur noch viel komplizierter. Oder einfacher? In einer Zeit, in welcher die Frauenbewegung damit beginnt, sich gegen die Dominanz der Männer aufzulehnen, für Gleichheit und das Wahlrecht kämpft, versuchen die beiden jungen Frauen ebenfalls eine Möglichkeit zu finden, ihren Weg durch ihr Leben selbst zu bestimmen. Die weiteren Bücher in dieser Reihe, erschienen im Verlag BoD, finden Sie unter www.buch.goeritz-netz.de

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Inhaltsverzeichnis

Äskulaps starke Töchter

Der Beginn eines TraumesEine neue IdeeAuf dem WegFast erwachsen!Zwei unter tausenden!Das stählerne PferdZiege vor Frau!New York, New York!Ein Zimmer unterm DachMädchen unter sichAm Ziel, oder erst am Anfang?Gegen den Wind!Ein Tag am MeerDie Kraft der WellenDie Rufe der TotenEin gefährlicher WegMit dem Rücken an der WandErstes BlutFamiliengedankenAngst und HoffnungDas Grauen am AbendGedanken in der NachtLügen und GedankenEin Kätzchen namens PollyAuf in den Kampf!Dem stummen Ruf gefolgtEin Freund aus KindertagenEine PferdestadtHenry!NWSA!Von einem Herz zum anderenDie Folgen einer unbedachten NachtMänner und FrauenIm letzten AugenblickFreundschaft oder mehr?Schuld und ZweifelVerbrecher und UnschuldslämmerMein ist die Rache!Wut, Macht oder Liebe?Weihnachten fernab der FamilieIm Strudel der GefühleEin unbewusster MomentSchande oder Liebe?Dafür oder dagegen?Hals über Kopf!Was ist geschehen?Eine einfache Geste, oder mehr?Gegen jede Moral?Prinzessin oder Hure?Andere Zeiten …Rosen im WinterDienen und Ehren?In Liebe versunkenIm Netz der Konventionen gefangenWorte im NachtwindMit der Hilfe einer FreundinAuf Gedeih und Verderb ausgeliefertEin kleines GlückDer Wert einer HureAmanda und JulieGeben und Nehmen!Nur eine Frau?!Zwischen den Gangs von New York!Die Stärke einer Frau!Freunde helfen sichDrei Männer in einem!Zwei Leben!Plötzlich und unerwartetFanny M.D.Der Sonne entgegenGottes Licht und LiebeFolge deiner Berufung!

Zeitliche Einordnung der Handlung

Äskulaps starke Töchter

Ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Kindheit führt bei Fanny zu dem Entschluss, Ärztin zu werden. Allerdings ist das nicht ganz so einfach für die junge farbige Frau im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zusammen mit ihrer Freundin Katharina wagt sie dennoch das schwierige Unterfangen.

Wenngleich Frauen bereits seit der Mitte des Jahrhunderts studieren durften, legt man ihnen dennoch viele Steine in den Weg. Zusätzlich tritt die Liebe in ihr Leben und macht es damit nur noch viel komplizierter. Oder einfacher?

In einer Zeit, in welcher die Frauenbewegung damit beginnt, sich gegen die Dominanz der Männer aufzulehnen, für Gleichheit und das Wahlrecht kämpft, versuchen die beiden jungen Frauen ebenfalls eine Möglichkeit zu finden, ihren Weg durch ihr Leben selbst zu bestimmen.

Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.

1. Kapitel

Der Beginn eines Traumes

Es war ein wundervoller Mai am Cannon River und der erste nach dem Bürgerkrieg. Offenbar wollte auch die Natur den Frieden feiern, denn es waren unwahrscheinlich viele Blumen auf den Wiesen am Flussufer zu sehen. Die warmen Strahlen der Sonne heizten die Luft so richtig schön auf.

Die vierzehnjährige Fanny lief händchenhaltend mit ihrer ein Jahr älteren Freundin Katharina am Fluss entlang. Irgendwo hinter ihnen waren ihre Mutter Rose und Katharinas Mutter Maria wohl auch gerade Hand in Hand unterwegs.

Nach dem langen Winter hier im Norden von Minnesota war Katharinas Haut so blass, wie die frisch gekalkte Häuserwand ihrer Hütte. Ihre eigene Haut zeigte diesen wundervollen dunklen Braunton, den sie von ihrer Mutter Rose hatte. Nur ihre fast nicht zu bändigende Mähne war eine Spur dunkler, als das braune lange Haar der Mutter.

„Lauft nicht zu weit fort!“, rief ihnen Clara zu, die sich gerade auf einen großen Stein auf der Wiese setzte.

Clara war ihre Lehrerin und die klügste Person, die Fanny kannte. Vielleicht sollte sie später auch mal Lehrerin werden, aber noch hatte sie sich nicht entschieden, dennoch verschlang sie regelrecht jedes Buch, das Clara ihr gab. Es war auch nicht so schlecht, dass Clara mit in ihrem Haus wohnte und sie damit quasi zwei Mütter hatte.

Schnell drehte sich Fanny zu ihrer Mutter um, aber die war mit ihrem kleinen Bruder Akosi und Maria viel zu weit zurückgeblieben.

Mit eiligen Schritten und fliegendem Rock rannte Fanny zum Ufer hinab und warf von dort aus flache Steine in das Wasser. Katharina machte es ihr nach und augenblicklich versuchten sie beide, die Steine so oft wie möglich auf dem ruhigen Wasser einer kleinen Bucht aufsetzen zu lassen.

Katharina war gut, aber sie war eindeutig besser.

„Du schummelst doch!“, stieß Katharina nach unzähligen Versuchen missmutig aus.

„Physik ist kein Schummeln!“, entgegnete Fanny und lachte.

Mittlerweile waren ihre Mütter bei Clara eingetroffen und jetzt rannten die beiden Mädchen zurück, denn vielleicht erzählte Clara wieder mal eine spannende Geschichte.

Unweit des Steines schlängelte sich die Straße in Richtung Osten dahin. Clara saß mit dem Rücken zu dieser Landstraße und mit dem Blick zum Fluss.

Fanny setzte sich vor sie in das Gras und lauschte auf die Erzählung. Diesmal ging es um Raupen und Schmetterlinge, denn Clara ließ gerade eine Raupe über ihren Finger kriechen. Dann wechselte die Schmetterlingsraupe auf Katharinas Hand.

Fanny hob den Blick und sah eine Kutsche aus dem Wald kommen, doch diese war viel zu schnell! Fanny sah, dass niemand mehr auf dem Bock saß. Sie zeigte dorthin, schrie auf und Clara fuhr herum.

„Maria komm!“, rief Clara, sprang auf und lief zur Straße.

Rose hielt Fanny am Arm zurück, als diese den beiden Frauen folgen wollte. Im selben Moment brach ein Wagenrad, die Postkutsche kippte und das Geschrei der Fahrgäste war überlaut zu hören.

Fanny blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als der Wagen zur Seite rollte und die Pferde sich davon losrissen.

Maria schleuderte Clara zur Seite und sprang ihr hinterher, weil die Pferde auf sie zuhielten. Die Karosse überschlug sich noch ein paar Mal, bevor sie auf einer Seite liegen blieb.

Behände sprang Clara, ungeachtet des sie behindernden Kleides, auf den Kutschkasten hinauf und riss mit Kraft die Tür auf. Maria eilte zu ihr und auch Katharina lief jetzt hinüber.

Fanny wollte sich der Freundin anschließen, aber ihre Mutter packte sie schmerzhaft bei der Schulter. Momentan musste sie aus etwa vierzig Schritten Entfernung zusehen, wie die beiden Frauen mit Katharina eine Person nach der anderen aus dem Wrack der Concord Postkutsche zogen.

„Fanny!“, schrie Clara, auf dem Verdeck stehend, und erst jetzt löste Rose den Klammergriff. Sofort jagte Fanny los.

„Laufe zum Doktor und bringe ihn her. Wir haben zehn Verletzte. Hole Wagen und Männer! Beeile dich!“, rief Clara von oben.

Fanny sauste los, als wäre ein Pfeil von der Sehne geschnellt, doch die Häuser der Stadt kamen nur langsam näher. Mit wehendem Haar hetzte sie den Pferden hinterher, die soeben am Rande der Ortschaft angekommen waren.

Endlich hatte auch sie den Ortsrand erreicht und bremste ab, weil sie um Hilfe rufen musste, doch die Pferde der Kutsche hatten die Bevölkerung schon in Aufruhr versetzt.

„Wir brauchen Hilfe!“, schrie sie, so laut sie konnte.

Der Doktor kam ihr schon entgegen.

„Clara, ich meine Miss Stone, schickt mich. Sie hat zehn Verletzte aus der Kutsche gezogen!“, berichtete Fanny, als der Doktor sie erreicht hatte.

Geschwind waren vier Wagen angespannt und Fanny saß auf dem Bock des ersten davon, neben dem Doktor und dem Kutscher.

Jetzt jagte das Gespann zurück.

Schon vom weiten sahen sie den Wagen und die Frauen daneben.

Als sie hielten, sprang der Doktor neben der umgestürzten Kutsche zu Boden.

„Neun Verletzte. Einer hat sich das Genick gebrochen. Wir haben schon mit der Triage begonnen!“, entgegnete Clara und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, denn ihre Mütze hatte sie irgendwo verloren.

Der Doktor nickte und Maria rief von der anderen Seite: „Zwei Kopfverletzungen und einige Knochenbrüche!“

Fanny sah von oben zu, wie souverän Maria und Clara die Lage im Griff hatten. Augenblicklich übernahm der Doktor und die Helfer verluden die ersten Verletzten. Eine Frau hatte einen dicken blutigen Verband um den Kopf.

Zunächst begann der Doktor zusammen mit Clara die ersten Verletzungen zu behandeln und Fanny hatte von ihrer erhöhten Position den besten Überblick.

Bei der Beobachtung dieses Geschehens reifte ein neuer Entschluss in ihr heran: Sie wollte keine Lehrerin werden, sondern Ärztin. Das konnte man auch als Frau werden und Clara hatte erst vor ein paar Tagen davon erzählt.

Das würde von jetzt an ihr Traum sein und dafür würde sie künftig leben. Sie wusste jetzt, dass sie Menschen helfen und Verletzte versorgen wollte. Von jetzt an musste sie noch intensiver lernen und alles Wissen darüber in sich sammeln.

Die ersten beiden Wagen fuhren zurück und Rose trat zu ihr.

„Komm bitte herunter!“, sagte die Mutter zu ihr.

Schnell kletterte Fanny hinab und auch dieses Gespann wurde mit zwei Verletzten beladen.

Nachdem auch das letzte Fuhrwerk aufgebrochen war, erinnerte nur noch die auf der Seite liegende Postkutsche an den Unfall.

Clara stand neben dem Kasten und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Bewundernd blickte Fanny sie an. Ein Traum war geboren!

2. Kapitel

Eine neue Idee

Beinahe eine Woche lag ihr Fanny jetzt schon mit dieser Idee in den Ohren. Die Freundin wollte unbedingt Ärztin werden, doch noch wusste Katharina nicht, was sie davon halten sollte.

Am Montag, dem 7. Mai waren sie, wie jeden siebenten Tag im Mai, alle zusammen unten am Fluss gewesen. Zumindest fast alle. Ihr ein Jahr jüngerer Bruder Friedrich war mit ihrer kleinen Schwester Regina und ihrem jüngsten Bruder Ben Junior im Hause des Stiefvaters geblieben.

Ihre Mutter Maria und sie hatten einen ganz besonderen Bezug zu diesem Tag, denn vor vielen Jahren an jenem Tag im Mai war Katharinas Vater in Dresden gestorben. Sie hatten wieder mal eine Rose in den Cannon River geworfen und an Fritz gedacht, den sie niemals kennenlernen würde.

Siebzehn Jahre war es jetzt her, dass die Kugel eines preußischen Soldaten das Leben des Vaters ausgelöscht hatte. Fritz wusste damals noch nicht einmal, dass sie auf dem Weg war.

Katharina kannte ihn nur aus den Erzählungen der Mutter und aus denen von Tante Clara.

Gegenwärtig war es also Sonntag und abermals war Fanny bei ihr. Durch die enge Freundschaft von Tante Clara zu ihrer Mutter lebten sie eigentlich wie Schwestern, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Das folgte wohl auch daraus, dass sie sich vor einiger Zeit noch dasselbe Bett geteilt hatten, nachdem sie vor fast vier Jahren mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von den Dakota aus der Reservation hierher geflohen waren.

Schon seit Stunden saßen sie abermals am Tisch und nervten die Anwesenden damit, dass sie sich in Latein unterhielten.

Nach Clara war Fanny der klügste Mensch, den Katharina jemals kennengelernt hatte. Die dunkelhäutige Freundin beherrschte sieben Sprachen! Bei ihr reichte es nur für fünf.

„Hatten wir nicht vor, dass du Lehrerin wirst und ich Hebamme?“, fragte Katharina die schon wieder überschäumende Freundin.

„Ja, aber Ärztin ist viel besser!“, sprudelte es begeistert aus Fanny heraus.

Und damit begann erneut ein Vortrag über Mary Edwards Walker1 und Elizabeth Blackwell2, die beide Ärztinnen geworden waren. Ihr Einwand, wie schwer es beide gehabt hatten, wurde von Fanny einfach mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt.

Bisher hatte Katharina an der Idee gehangen, Hebamme zu werden, denn sie hatte der Mutter bei der Geburt von Regina und auch bei der von Ben Junior geholfen.

Und auch der Einwurf, dass Fanny doch auch alleine studieren konnte, zog nicht, denn alleine traute sich die Freundin dann doch wohl nicht.

Selbstverständlich war Fannys Einfall sehr verlockend, denn eine Ärztin konnte so vieles mehr, als eine Krankenschwester oder Hebamme es vermochte.

„Da müssen wir aber noch viel lernen“, seufzte Katharina.

Die Ausbildung zur Hebamme hätte sie schon in diesem Jahr beginnen können, da sie bereits sechzehn war, doch um zu einem Studium zugelassen zu werden, mussten sie viel mehr wissen und auch wesentlich älter sein.

Und gerade mischte sich auch noch Tante Clara in ihre Unterhaltung mit ein. In Latein erklärte sie, wie sie zusammen mit Fannys Mutter Rose im Bürgerkrieg an der Front Verwundete versorgt hatten. Vermutlich so ähnlich, wie Mary Edwards Walker, die für ihren heldenhaften Einsatz sogar mit der Tapferkeitsmedaille geehrt worden war. Im letzten November hatte sie die Ehrenmedaille des Kongresses erhalten und war damit natürlich zu einem leuchtenden Vorbild für alle Frauen geworden, aber so weit waren sie beide noch lange nicht.

Katharina war gerade 16 geworden und in einem Monat würde Fanny fünfzehn!

„Willst du dir das wirklich antun? Die nächsten vier oder fünf Jahre lernen, bis du so viel weißt, dass man dich zum Studium zulässt?“, erkundigte sich Katharina zweifelnd.

„Große Dinge verlangen einen großen Einsatz!“, erwiderte Fanny und strahlte sie dabei regelrecht an.

Katharina seufzte abermals. Die Freundin hatte gut reden, denn ihr flog das Wissen nur so zu. Fanny brauchte ein Buch nur zu lesen, um den Inhalt zu kennen.

Sie selbst musste da um ein Vielfaches mehr Mühe aufbringen, um den Stoff zu behalten. Allerdings konnte sie sich auch nicht vorstellen, wie das Leben ohne Fanny an ihrer Seite sein würde. Zusammen wohnen, Seite an Seite studieren und vielleicht dann nach dem Studium eine gemeinschaftliche Praxis haben, das konnte sie sich allerdings sehr gut vorstellen.

„Jetzt müssen wir es nur noch meiner Mutter Maria beibringen!“, erklärte Katharina auf Latein.

Die Mutter schaute aber nach der Nennung ihres Namens bereits zu ihnen herüber.

Katharina erhob sich vom Stuhl und trat zu ihrer Mutter. Grübelnd suchte sie nach den richtigen Worten. Konnte ihre Mutter ihr überhaupt ein Studium bezahlen? Sie war die Frau des Postmeisters und nicht Lehrerin, wie Tante Clara. Sollte sie sich eigentlich nicht erst einmal erkundigen, was solch eine Ausbildung überhaupt kosten würde, bevor sie die Mutter danach fragte, ob sie studieren durfte?

Zweifelnd blickte Katharina zu Fanny zurück, die momentan aufgeregt mit ihrer Ziehmutter Clara redete. Soeben waren die beiden ins Französische gewechselt.

„Ähm, Mama, Fanny möchte Ärztin werden“, begann Katharina.

Maria zog erwartungsvoll die Augenbraue hoch. Das sollte wohl so etwas heißen, wie: „Was geht mich das an?“ Danach zog eine Erkenntnis über Mutters Gesicht und sie seufzte.

„Du auch?“, fragte sie.

Katharina nickte und blickte sie erwartungsvoll an.

Gerade suchten die Augen der Mutter den Blick von Tante Clara. Stumm verständigten sich die zwei Frauen auf eine gemeinsame Lösung, die Maria allerdings erneut mit einem Seufzer einleitete.

„Ich werde mal sehen, was ich tun kann!“, sagte sie schließlich und Katharina fiel der Mutter erleichtert um den Hals.

„Da müssten wir doch auf das College?“, erkundigte sich soeben Fanny.

„Ich könnte bis dahin eure Privatlehrerin sein“, entgegnete Clara vom Tisch aus und erhob sich von ihrem Stuhl.

„Wenn das ginge? Das macht es etwas preiswerter“, bemerkte Maria.

„Und wo wollt ihr eigentlich studieren? Habt ihr euch darüber schon Gedanken gemacht?“, setzte die Mutter noch hinzu.

„In New York!“, platzte es aus Fanny heraus.

„New York?“, sagten Katharina, Maria und Clara wie aus einem Mund.

Vor einigen Jahren hatte ihre Mutter mal etwas von New York erzählt. Katharina selbst war da geboren, hatte dort aber noch nicht mal ein halbes Jahr gelebt.

„Warum gerade da?“, fragte Katharina.

„Weil es dort die besten Unis gibt!“, erwiderte Fanny.

„Und die teuersten“, setzte Maria stöhnend hinzu.

Das würde noch ein schönes Stück Arbeit werden, bevor das Medizinstudium dort für sie beide beginnen konnte.

Viel Lernen und noch viel mehr Überzeugungsarbeit bahnten sich da gerade an.

1 Mary Edwards Walker, (26. November 1832 - 21. Februar 1919), war eine amerikanische Ärztin und Frauenrechtlerin

2 Elizabeth Blackwell, (3. Februar 1821 - 31. Mai 1910), war eine der ersten Ärztinnen mit Hochschulabschluss in Amerika

3. Kapitel

Auf dem Weg

Fast auf den Tag genau sechs Jahre nach jenem Unfall mit der Postkutsche, der sie auf die Idee zum Studium gebracht hatte, wollte Fanny mit ihrer Freundin jetzt ebenfalls die Concord besteigen.

In den letzten Nächten hatte sie keinen Augenblick mehr schlafen können, so aufgeregt war sie gewesen und der kleine Koffer, der alle ihre Sachen enthielt, hatte auch schon seit zwei Tagen gepackt in ihrem Zimmer gestanden.

Noch nie war sie so weit und praktisch alleine, zumindest ohne die Eltern, von Faribault entfernt gewesen.

New York! Das klang gewaltig!

Ihre Ziehmutter Clara hatte im letzten Winter immer wieder von dieser Stadt erzählt und somit war es natürlich auch keine Frage, dass sie auch Katharina mit ihrer Neugier auf dieses Abenteuer angesteckt hatte.

Mit dem Köfferchen in der Hand stand Fanny soeben vor der Poststation und wurde von allen umarmt. So manche Träne floss, aber die Aufregung auf diese Fahrt ließ diese ganz schnell wieder versiegen.

Katharina stieg zuerst in den Wagen, sicherte ihnen die besten Plätze und als das Horn die baldige Abfahrt verkündete, sprang Fanny in das Gefährt, der Kutscher schloss die Tür und klappte den Tritt hoch.

Während Fanny und Katharina winkten, setzte sich das Fahrzeug langsam in Bewegung. Die vier großen Pferde mussten erst wieder Tritt fassen, doch schon nach dem Ende der Stadt beschleunigte der Wagen in einer Art, dass es Fanny, mit der Erinnerung an jenen schrecklichen Unfall, Himmelangst wurde.

Um sich von dieser Furcht abzulenken, flogen ihre Gedanken voraus. Die Concord würde sie bis Chicago bringen, wo sie eine Nacht bleiben würden, um danach den Zug nach New York zu besteigen.

Katharinas Stiefvater Benjamin hatte alles in der Zeitung gesammelt, was es zu dieser neuen Verbindung gab. Mit dem Blick nach vorn ging sie die Route im Kopf noch einmal Schritt für Schritt durch. Auf der eigentlich sehr kurzen Strecke bis Chicago würden sie zwei Tage in dieser Kutsche bleiben, das sehr viel längere Stück des Weges danach war in einem Tag zu schaffen.

Clara hatte ihr erzählt, dass sie vor über zwanzig Jahren fast eine Woche in der Postkutsche unterwegs gewesen war. Das waren noch andere Zeiten gewesen. Doch der moderne Fortschritt war wohl kaum noch aufzuhalten und auch darauf war Fanny gespannt, denn bisher hatte sie von Lokomotiven nur Bilder in der Zeitung gesehen.

Katharinas Mutter hatte ihr von ihrer ersten Fahrt mit der Eisenbahn berichtet. Damals in jenem Mai, 1849, auf der Flucht von Dresden nach Magdeburg.

Gegenwärtig blieben die Vergangenheit und damit die Heimat ihrer Kindheit hinter Fanny zurück.

Mit dem Blick in die weitläufige Gegend träumte sie von all dem, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen würde. Das Abenteuer ging schon mal mit einer langen Kutschfahrt los.

Katharina kramte ihr gegenüber in ihrer Tasche herum und suchte irgendetwas.

Jetzt zog es Fannys Aufmerksamkeit in das Innere des Gefährtes. Zwölf andere Fahrgäste saßen mit ihnen zusammen auf den Bänken der Concord. Jeder Platz war belegt und irgendwo gackerte auch ein Huhn. Vier Frauen befanden sich mit im Wagen, allerdings waren alle schon sehr viel älter, als sie beide.

Eine grauhaarige Frau saß direkt neben ihr und hatte einen Korb unter sich stehen. Daraus kam vermutlich das Geräusch des Huhnes.

„Was suchst du denn?“, fragte Fanny ihre Freundin, als deren Kramerei ihr langsam auf die Nerven ging.

„Den Zettel, welchen mir Benjamin gegeben hat“, antwortete Katharina verzweifelt, denn darauf war ihr gesamter Reiseweg vermerkt.

„Zum Glück hat mir deine Mutter eine Kopie davon mitgegeben“, entgegnete Fanny verschmitzt und zog das säuberlich gefaltete Stück Papier aus ihrer Rocktasche.

Sichtbar erleichtert nahm Katharina das Blatt entgegen.

„Den ersten Punkt auf der Liste können wir schon mal streichen, denn wir sitzen ja schon in der Kutsche!“, erklärte die Freundin und wühlte daraufhin in ihrer Tasche nach dem Bleistift.

Fanny seufzte und zog einen Stift aus ihrem Beutel.

Gemeinsam sahen sie jetzt auf ihren Wegweiser. Bis ins kleinste Detail hatten die beiden Mütter alles aufgeschrieben. Und auch noch alles im Voraus bezahlt, sogar die Unterkunft für die nächste Zeit.

Ihre gemeinsame Barschaft belief sich auf fünfzig Dollar, mit denen sie dann in New York all das bestreiten mussten, was nicht in diesem Plan vorgesehen war.

„Die Pension in Chicago hat meine Mutter empfohlen. Da hat sie einmal geschlafen“, erklärte Fanny und tippte mit dem Finger auf den nächsten Punkt in der Liste.

„Die soll sich in der Nähe der Poststation befinden und wenn alles geklappt hat, dann liegen dort auch schon die Bahntickets für uns bereit. Die hat Benjamin telegrafisch geordert und auch bereits per Überweisung beglichen!“, erzählte Katharina.

„Unsere Eltern trauen uns so rein gar nicht zu. Oder?“, fragte Fanny.

„Im Moment bin ich ganz froh darüber, dass die alles so akkurat vorbereitet haben. Vielleicht sollten die eine Agentur für Reisende gründen“, antwortete Katharina und musste über ihre Bemerkung lachen.

„Hat deine Mutter dir nicht auch was zu essen eingepackt?“

„Ja! Käsebrote für zwei Tage“, erklärte Katharina und holte das Paket aus der Tasche.

Der Anblick des Brotes und dessen Duft machten Fanny Appetit und so ließen sie es sich beide schmecken.

Gestärkt und satt war Fanny dann wenig später das Rütteln der Kutsche völlig egal.

Die zwei vergangenen Nächte ohne Schlaf holten sich augenblicklich das zurück, was sie ihnen die ganze Zeit vor Aufregung verweigert hatte. An die Wand der Concord gelehnt schlummerte sie und träumte von all dem, was ihr die nächsten Monate bringen würden.

Die letzten sechs Jahre jedenfalls hatte sie wie eine Wilde gelernt und kaum einen Moment ohne ein Buch zugebracht. Mitunter war sie sogar mit einem Folianten in der Hand eingeschlafen.

Ihre Ziehmutter Clara hatte ihr alles beigebracht, was sie selbst einst gelernt hatte, Rose hatte ihr viel medizinisches Wissen weitergegeben und Großmutter Mae hatte ihr erklärt, wie man in Afrika Wunden versorgte und Heilkräuter benutzte.

Im Traum standen gerade die drei Frauen vor ihr und forderten sie auf, all das anzuwenden.

Die Kutsche stoppte und holte Fanny damit aus dem Schlaf zurück.

„Sind wir schon da?“, fragte sie verschlafen und rieb sich die Augen.

„Noch nicht. Die Kutscher wechseln die Pferde und es ist Zeit für die Latrine!“, entgegnete Katharina, die sich gerade von ihrem Platz erhob, die Sachen ordnete und nach draußen stieg, wo sie sich erst einmal ausgiebig streckte und danach über die Schulter zu ihr zurücksah.

„Etwas trinken wäre wohl auch keine schlechte Idee“, erklärte Fanny, erhob sich ebenfalls von ihrem Platz und kletterte über den Tritt zum Boden hinab.

Rund um die Poststation befanden sich nur ein paar Häuser und eines davon war ein Saloon.

4. Kapitel

Fast erwachsen!

Austin war ein ziemlich verschlafenes Nest mit einer Poststation, einem Bahnhof und einem Saloon. Und keine zwanzig Häuser drum herum. Vor nicht allzu langer Zeit war dieser Ort an die Eisenbahnstrecke nach Chicago angeschlossen worden und damit hätten sie beide auch mit dem Zug fahren können, doch die Eltern hatten die Passage mit der Concord für den vollen Weg bereits bezahlt.

Katharina stand neben der Kutsche und hielt die Nase in den Wind. Für einen Tag im Mai war es ziemlich frisch und ihr Mantel war in der Karosse geblieben. Die alte Frau mit ihrem Huhn im Korb ging gerade zur Bahnstation hinüber.

Fanny stieg aus dem Wagenkasten und gähnte laut, wobei sie sich aber vornehm die Hand vor den Mund hielt.

„Wie lange halten wir hier?“, fragte Katharina den Kutscher.

„Etwa eine Stunde. Wir warten auf den Zug aus Saint Paul!“, gab ihr der Mann zurück.

Eigentlich lag auch Saint Paul im Norden, aus dem sie gerade gekommen waren. Vermutlich lief die Zeit der Postkutschen gerade ab und in ein paar Jahren würden wahrscheinlich alle Menschen nur noch mit dem Zug fahren.

„Wenn wir hier auf die Eisenbahn warten, dann könnten wir doch schon mal einen Blick auf eine Lokomotive werfen“, erklärte Fanny und blickte sich um.

„Ich muss erst mal auf die Latrine“, entgegnete sie.

„Und ich habe Durst“, erwiderte Fanny und zeigte auf das Schild mit der Aufschrift »Saloon«.

„Eventuell können wir da beides miteinander verbinden“, erklärte Katharina und zusammen machten sie sich auf den Weg.

„Bisher durfte ich noch nie in einen Saloon!“, offenbarte Fanny leise.

„Ich war schon mal mit Benjamin in dem in Faribault“, antwortete Katharina und schob die Tür auf. Der Schankraum sah fast genauso aus, wie der, den sie aus der Heimatstadt kannte. Eine lange Bar, ein paar Tische und rauchende Männer daran, aber auch einige der Fahrgäste hatten sich dort schon niedergelassen.

Katharina zeigte auf einen freien Tisch.

„Du besorgst die Getränke, ich gehe nach hinten“, setzte sie noch hinzu.

Fanny nickte ihr zu und schlenderte zu einem der freien Stühle.

Sie blickte der Freundin noch einen Moment nach, dann schob sie sich durch einen langen Gang nach hinten hinaus, wo im Hof hinter dem Saloon die Kabine der Latrine nicht sehr verlockend aussah und auch nicht wirklich gut roch, aber was sein musste, das musste eben sein!

Das drängende Gefühl in ihrem Bauch wurde gerade ziemlich stark und irgendwo in eine Ecke des Hofes wollte sie sich auch nicht hinhocken müssen.

Vorsichtig drückte sie die Holztür auf, die sich nach innen öffnete, aber keinen Riegel besaß. Ein Brett mit einer runden Öffnung verschloss die Sickergrube, die auch mal wieder geleert werden sollte.

Das war jetzt ihr erster Ausflug ganz alleine: Sie hockte ziemlich unbequem über dem Loch, hielt sich mit einer Hand die Nase zu, raffte mit der anderen die Röcke hoch und hielt mit einem Bein die Tür zu. Es war mehr Akrobatik, als Erleichterung, in das Loch zu treffen, während sich vor der Tür einer der Besucher des Saloons gerade lautstark übergab und anschließend versuchte, zu ihr in die Toilettenkabine zu gelangen.

Offenbar war der Mann so betrunken, dass er nicht bemerkte, dass sie die Tür von innen verschloss. Er drückte grölend von draußen gegen das Holz und sie presste von innen mit aller Kraft dagegen, denn mit einem Betrunkenen wollte sie hier drin lieber nicht eingeschlossen sein.

„Hau ab!“, brüllte sie und musste dabei die Nase loslassen, was ihr allerdings den Atem verschlug. Jetzt musste sie sich beherrschen, um sich nicht ebenfalls übergeben zu müssen.

Endlich war sie fertig und stürzte aus der Kabine. Der Mann rannte mit glasigen Augen an ihr vorbei und übergab sich darin. Das hätte er auch ein zweites Mal im Hof machen können, doch jetzt würgte der Brechreiz in ihrem Hals.

Sie eilte zurück zur Bar und bestellte sich einen Whiskey. Der Barmann sah sie musternd an.

„Bist du denn schon erwachsen?“, fragte er zweifelnd.

Katharina bestätigte das nickend und erhielt schließlich den Schnaps von ihm.

Mit dem Glas ging sie zum Tisch, wo Fanny ihr ein Glas Limonade hingestellt hatte.

„Geh lieber nicht da hinaus!“, erklärte sie und kippte den Branntwein in einem Zug hinunter.

„So schlimm?“, fragte Fanny und zeigte auf das leere Glas.

„Schlimmer!“, gab sie der Freundin zurück.

„Hocke dich lieber irgendwo ins Gras“, setzte sie noch hinzu und nippte an der Limonade, die wirklich köstlich war, doch der Schnaps sauste augenblicklich durch ihren Leib. Es war der Erste, den sie jemals getrunken hatte und irgendwie wollte der jetzt wohl auch wieder aus ihr heraus!

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, sprang von ihrem Platze auf und rannte nach vorn durch die Tür. Den Bruchteil eines Wimpernschlages später kniete sie draußen neben dem Eingang des Saloons und übergab sich lautstark.

Ein paar ältere Damen gingen kopfschüttelnd an ihr vorbei, während sie das Getränk wieder hervorwürgte.

Als sie sich erhob, stand Fanny vor ihr, hielt ihr ein Tuch hin und sie wischte sich damit den Mund ab.

„Ich bin erst mal von dem Zeug geheilt“, stöhnte Katharina und verstaute das Tuch in ihrer Rocktasche.

„Und wo kann ich?“, fragte Fanny und schaute sich um.

„In der Poststation, im Bahnhof oder hinter einem der Häuser“, entgegnete sie ihr.

Zweifelnd blickte Fanny von einem zum anderen.

„Ich kann in Altgriechisch danach fragen, wo es zur Latrine geht, aber mit nacktem Hintern im Gras hocken?“, äußerte Fanny kopfschüttelnd.

„Du hast doch aber sicherlich eine Unterhose an!“, entgegnete Katharina.

Fanny bestätigte das nickend.

„Also! Wer sollte es sehen?“

„Meinst du wirklich?“, erkundigte sich Fanny zweifelnd bei ihr.

Von der Ferne war schon das Pfeifen der Lokomotive zu hören und damit musste sich die Freundin jetzt beeilen, denn in ein paar Minuten würde sich die Concord wieder in Bewegung setzen.

„Kommst du mit?“, erkundigte sich Fanny bei ihr.

Katharina nickte und zeigte zur Seite.

Gemeinsam eilten sie hinter eines der Häuser, wo sich Fanny schnell hinhockte und sie dabei die Gegend überwachte.

„Fertig!“, äußerte Fanny schließlich und erhob sich.

„Wollen wir uns noch den Zug anschauen?“, fragte Katharina, doch der Kutscher des Wagens ließ bereits sein Horn ertönen.

„Die sehen wir noch in Chicago!“, entgegnete Fanny.

Auf dem Weg zur Kutsche bemerkte Katharina: „Unser erster Tag alleine. So habe ich mir das nicht vorgestellt!“

„Ich auch nicht, aber was mag da noch alles auf uns zukommen?“, antwortete Fanny.

Gemeinsam stiegen sie in den Wagen und setzten sich zurück auf ihre Plätze.

Fanny reichte ihr die Feldflasche herüber.

„Schade um die leckere Limonade“, seufzte Katharina und blickte zu den Reisenden, die gerade vom Bahnhof zum Fuhrwerk eilten.

„Das ist wohl kaum etwas, was wir später mal unseren Enkeln erzählen werden“, entgegnete Fanny ihr und sie beide mussten darüber lachen.

5. Kapitel

Zwei unter tausenden!

Diese Stadt verschlug Fanny den Atem. Noch nie zuvor hatte sie so viele Menschen gesehen, wie derzeitig hier in Chicago auf der Straße umherliefen. Es war Mittag, soeben war sie aus der Kutsche gestiegen und jetzt blickte sie die Straße entlang.

Das mussten Hunderte von Menschen sein, die momentan unterwegs waren. Arbeiter, Krämer mit ihren Handkarren, vornehme Herrschaften und auch Bettler wuselten hier scheinbar ziellos umher. Dazwischen fuhren offene Droschken und von Eseln gezogene Fuhrwerke.

„Die Herberge müsste da drüben sein!“, bemerkte Katharina, die gerade ihren Koffer in Empfang genommen hatte und hinter sie getreten war.

„Meine Mutter hat mir von Chicago erzählt, aber dass das so aussieht, das hätte ich nicht gedacht“, entfuhr es Fanny.

„Benjamin hat mir erzählt, dass hier fast dreihunderttausend Menschen leben“, erklärte Katharina und streckte sich. „Nach zwei Nächten in der Concorde möchte ich jetzt erst mal in mein Bett“, setzte sie noch hinzu.

„Und eine warme Wanne wäre auch nicht zu verachten!“, entgegnete Fanny und griff sich ihren Koffer.

„Wir müssen auch noch den Weg zum Bahnhof erkunden. Morgen soll da unser Zug abfahren“, erklärte sie weiter und schaute über die Köpfe der Menschen hinweg.

„Da kann uns sicher auch eine der Droschken hinbringen“, entgegnete Katharina und gähnte laut. Das sollte wohl ziemlich eindeutig verkünden, dass sie keine Lust hatte, noch einmal das Zimmer zu verlassen, wenn sie es dann erst einmal gefunden hätten.

„Sollen wir heute Abend noch irgendwo essen gehen? Ich kann die Käsebrote deiner Mutter schon nicht mehr sehen?“, erkundigte sich Fanny bei ihrer Freundin.

„Wir haben schon fünf Dollar auf dem Weg bis hierher ausgegeben. Für New York bleiben damit nur noch 45!“, erklärte Katharina.

„Du Spielverderberin!“, antwortete Fanny ihr mürrisch.

Die Käsebrote waren schon ein paar Tage alt!

„Die Unterkunft zuerst!“, sagte Katharina und das ließ zumindest für den Abend hoffen.

Suchend gingen sie die Gasse entlang. Die Pension musste doch irgendwo in der Nähe sein. Nur wo?

„Da ist sie!“, äußerte Katharina triumphierend und zeigte mit dem Finger auf das Schild.

Aus dem lärmenden Gewimmel der unzähligen Menschen betraten sie den Vorraum der Pension. Still war es hier, da sie im Moment noch alleine in dem Raum waren.

Auf dem Tresen stand eine Glocke und Katharina rief damit den Herbergswirt, der ihnen anschließend das Zimmer zeigte.

Der Raum verfügte sogar über ein eigenes Bad, womit die Frage nach dem sich Erfrischen nach der Reise schon mal geklärt war und während Katharina in ihren Sachen in das breite Bett fiel, ließ sich Fanny sofort eine Wanne mit warmen Wasser ein. Einen Schuss Öl gab sie noch aus einer Flasche hinzu.

Sie blickte sich um und es war hier alles ziemlich luxuriös. Bei all den Annehmlichkeiten konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter damals auf ihrer Flucht in den Norden so prunkvoll gewohnt hatte. Vermutlich hatte sich in den Jahren seither einiges in dieser Pension getan.

Als Fanny ihre Kleidung ablegte und auf das Bett warf, schnarchte Katharina bereits.

Jetzt wurde es Zeit, den Straßenstaub vom Körper zu spülen. Im Unterkleid stand sie vor der Badewanne und überlegte, auch dieses letzte Kleidungsstück abzulegen. Zuvor verriegelte sie allerdings die Tür des Badezimmers.

Einen Augenblick später lag sie nackt in dem herrlich duftenden Wasser. Es war eine Wohltat nach all den Tagen der Schüttelei in der Concord!

Wenn das Leben in New York auch so war, dann würde es nichts daran auszusetzen geben, allerdings würden sie dort, nach Mutters Liste, nicht in einem Hotel wohnen, sondern in einem möblierten Zimmer.

Duftender Schaum umschmeichelte ihren Körper und sogar die Seife verbreitete einen Wohlgeruch. Es war einfach traumhaft hier!

Nach einer Stunde im Wasser musste sich Fanny regelrecht dazu durchringen, die Wanne wieder zu verlassen, aber das immer noch wohlriechende Badewasser wurde langsam kalt.

Neben der Badewanne stehend dachte Fanny daran, dass sie hier zwar ein Handtuch hatte, aber die Wechselwäsche im anderen Zimmer geblieben war.

Nachdem sie sich sorgfältig abgetrocknet hatte, schlang sie das Tuch um ihren Leib und entriegelte die Tür.

Katharina schnarchte noch immer.

Schnell suchte Fanny die Wäsche aus dem Koffer und verzog sich damit erneut ins Bad. Vor dem Spiegel flocht sie zuerst ihr Haar und zog sich danach langsam wieder an.

Dabei fiel ihr ein, dass sie noch nicht nach den Fahrkarten gefragt hatten, aber das konnten sie am Abend auch noch tun. Oder gleich?

Immer noch schlief Katharina und daher beschloss Fanny, nach unten zu gehen, um sich nach den Bahntickets und auch über eine Möglichkeit für das Abendmahl zu erkundigen.

Nachdem sie geklingelt hatte, erschien der Wirt wieder. Der grauhaarige Mann musterte sie ziemlich ungeniert und irgendwie war es ihr momentan sehr unangenehm, ihm alleine gegenüberzustehen. Sein Blick war aufdringlich und ordinär. Als sie zuvor mit Katharina bei ihm gewesen war, hatte er sich ganz normal verhalten.

Schnell wurde sie ihre beiden Fragen los, bekam die Karten und einen Tipp für das Abendessen, doch als sie danach die Treppe wieder nach oben stieg, spürte sie die Augen des Mannes in ihrem Rücken.

Mit einem flinken Blick über die Schulter bemerkte sie, dass sein Augenmerk auf ihrem Hintern lag und nicht auf ihrem Rücken! Schon alleine dieser gierige Blick jagte ihr eine Gänsehaut über den Leib. Diesem Mann wollte sie nicht im Dunklen alleine begegnen müssen!

So komisch hatte sie sich noch nie gefühlt. In Faribault war es ganz normal gewesen, dass sie gelegentlich auch alleine durch die Stadt gegangen war. Hier in Chicago wollte sie das gerade lieber nicht riskieren!

Zurück in ihrem Zimmer verriegelte sie die Tür und legte die beiden Fahrkarten auf den Tisch. Grübelnd setzte sie sich dazu und betrachtete die schlafende Freundin. Rächte sich gerade die Tatsache, dass sie in den letzten Jahren nicht oft unter Menschen gekommen war? Oder war das hier der großen Stadt geschuldet? Am liebsten hätte sie gerade ihre Mutter befragt, was ihre Beobachtung bedeuten konnte. Oder wusste Katharina Bescheid? Zumindest musste sie jetzt darauf warten, dass die Freundin aus ihrem Schlaf erwachen würde.

Es dauerte bis zum Abend, bevor Katharina aus ihren Träumen zurückkam und sich gähnend vom Bett erhob.

Schnell schilderte Fanny der Freundin ihre verstörenden Gedanken.

„Ja! Eine alleine reisende junge farbige Frau“, entgegnete Katharina. Auf Fannys fragenden Blick setzt die Freundin noch hinzu: „Manche Männer halte Frauen für Freiwild!“

Ein paar Minuten später waren sie auf dem Weg zu einer Schänke, die ihnen der Wirt empfohlen hatte. Dabei sah Fanny forschend zu allen Männern, aber in Katharinas Gegenwart war es wohl anders. Da war sie eben nicht alleine!

Das Essen war allerdings köstlich nach den Tagen der Käsebrote.

6. Kapitel

Das stählerne Pferd

Nach einer sehr geruhsamen Nacht und einem ausgezeichneten Frühstück waren sie vor wenigen Minuten mit der Droschke zur LaSalle Street Station aufgebrochen. Katharina lehnte sich zurück und genoss die Sonne in dem offenen Wagen. Von oben konnte man die Menschen noch besser sehen, die entlang der Hauptstraßen ihren jeweiligen Zielen entgegenströmten.

Ihr eigenes Ziel für diesen Tag war zuerst mal der Bahnhof, an dem der Zug nach New York abfuhr.

Fanny strich gerade das Hotel auf der Liste durch und kringelte das Wort »LaSalle« ein. Von da an wären es noch tausend Meilen! Vor zwei Jahrzehnten hätte man dafür eine Woche gebraucht, jetzt sollte das in einem Tag erfolgen können.

Am Abend zuvor hatten sie für das üppige Abendessen knapp fünf Dollar ausgegeben und die Droschke würde sicher auch noch einmal ein Loch in ihr Barvermögen reißen. Die fünfzig Dollar waren mehr als eng bemessen gewesen, aber mit jedem ausgegebenem Geldschein kamen sie dem Ende ihrer Reise ein Stück näher und die Tickets für den Personenzug waren ja bereits bezahlt!

„Wir werden in New York wohl zu Fuß vom Bahnhof zu der Unterkunft gehen müssen“, bemerkte Fanny und seufzte. Die Freundin hatte am Abend das Essen bezahlt und damit befanden sich noch zwanzig Dollar in ihrem Beutel, was genauso viel war, wie das, was Katharina noch an Dollarscheinen ihr Eigen nannte.

Sie ließ ihren Blick über die Häuser schweifen. Vom großen Brand, ein Jahr zuvor, zeugten noch ein paar Lücken in der Bebauung der Innenstadt, aber der Wiederaufbau hatte bereits begonnen.

Die Kutsche stoppte, jede gab dem Kutscher zwei Dollar und schon standen sie vor dem Gebäude. Die Droschke jagte davon und machte dem nächsten Wagen Platz, welcher eine wohlhabende Dame auf den Gehsteig entließ. Der Pelz, den die Frau um die Schultern trug, war beste Qualität und eigentlich für den schon wärmer werdenden Tag in der Stadt viel zu mollig.

Im Norden trug fast jeder im Winter Pelz, hier taten die betuchten Herrschaften das wohl auch im Sommer.

Derzeitig strömten zahllose Menschen in das Bahnhofsgebäude hinein und sie beide folgten einfach der Menge.

„New York Central Railroad“, las Fanny laut vom Zettel ab und zeigte danach auf ein Schild, auf dem dasselbe stand.

Laut Fahrplan hatten sie noch über eine Stunde Zeit, bevor der Zug aufbrechen würde.

Sie gingen an ein paar Verkaufsständen entlang, an denen Händler Lebensmittel an Reisende verkauften, doch sie hatten am Morgen so viel gegessen, dass sie wohl bis zum Tagesende nichts mehr brauchen würden.

„Sollen wir uns noch eine Zeitung oder etwas zu lesen mitnehmen?“, fragte Fanny und zeigte zu einem dieser Stände.

„Hast du nicht ein Buch eingepackt?“, entgegnete Katharina.

„Ja! Die Odyssee von Homer, im altgriechischen Original“, gab Fanny ihr zurück.

„Na bitte!“, antwortete sie, sah aber gleichzeitig, dass Fanny immer noch zu der Auslage mit den Zeitungen schielte.

Für ein paar Cent kauften sie daher dennoch eine Zeitung, allerdings nicht die dort ausliegende New York Tribune, da dessen Herausgeber sich sogar nach dem Krieg noch, für die Konföderierten Staaten eingesetzt hatte, sondern eine lokale Zeitschrift aus Chicago.

Mit der Druckschrift unter dem Arm und den Koffern in der Hand gingen sie zu den Gleisen. Ihr Gepäck zog ihnen dabei allerdings mit jedem Schritt die Arme immer länger. Für ein paar Münzen hätten sie wohl auch einen der Kofferträger damit beauftragen können, aber ihre Barschaft schrumpfte zusehends.

Schließlich betraten sie den Bahnsteig, auf welchem momentan nur einige wenige Reisende standen, denn der Zug war noch nicht vorgefahren. Die Lokomotive wurde jetzt sicherlich erst einmal mit Wasser und Kohle versorgt, denn auch ein stählernes Pferd musste trinken und essen.

Pünktlich schob sich dann dieser eiserne Riese an sie heran. Schnaufend, zischend und eine Wolke aus Qualm hinter sich lassend rollte die Lokomotive auf dem Gleis am Bahnsteig entlang und zog eine schier endlose Reihe von Wagen hinter sich her. Auch Güterwagen waren darunter, in denen eventuell auch das schwerere Gepäck verwahrt werden konnte.

Mit einem ohrenbetäubenden und quietschenden Geräusch kam der Zug vor ihnen zum Stehen, die Türen öffneten sich und Männer in Uniform stiegen aus, setzten kleine Trittböcke vor die Türen auf dem Bahnsteig und gaben dann den Weg für die mitreisenden Fahrgäste frei.

Katharina trat an einen der Personenwagen heran und beobachtete zunächst die anderen Gäste.

Der Kontrolleur, der diesen Wagen betreute, empfing an der Einstiegstür die Billetts von jedem Reisenden, die danach über den Tritt in den Eisenbahnwagen steigen durften. Mit Fanny hinter sich ging Katharina schließlich auch zu dieser Tür.

„Junge Frau, die Wagen für die farbigen Reisenden befinden sich hinten!“, sagte der Mann zu Fanny und verwehrte ihr den Zutritt zu dem Eisenbahnwagen.

Katharina drehte sich zu ihrer Freundin um und sah, dass ihr der Mund offen stand.

„Sie gehört zu mir!“, erklärte Katharina und blickte den Kontrolleur an.

„Trotzdem!“, entgegnete der Mann.

„Können sie nicht mal eine Ausnahme machen?“, bat Katharina ihn.

Fanny war immer noch sprachlos und stand jetzt zweifelnd neben ihr.

„Meinetwegen, aber nur, wenn sich keiner der anderen Fahrgäste darüber beschwert“, lenkte der Kontrolleur schließlich ein, nachdem sie ihn flehend angesehen hatte.

Vier Stufen später waren sie in dem Wagen.

„Ich dachte, wir sind hier im Norden!“, maulte Fanny mürrisch hinter ihr, nachdem sie gerade ihre Stimme wiedergefunden hatte.

Jetzt suchten sie beide einen Platz auf einer freien Bank.

Hinter ihnen hoben zwei Männer eine Ziege, die einer älteren Frau gehörte, in den Eisenbahnwagen.

„Die Ziege darf widerspruchslos mit!“, seufzte Fanny und ließ sich auf der hölzernen Bank nieder. „Der denkt jetzt sicherlich, ich bin deine Dienerin!“, setzte sie noch hinzu.

„Dabei bist du die Tochter einer Gräfin und ich nur die von deren Zofe“, erklärte Katharina.

Fanny verzog das Gesicht.

Ihre Reise ging nicht wirklich gut für die Freundin weiter. In der Kutsche war es egal gewesen, dass Fannys Haut etwas dunkler war, im Zug gab es getrennte Wagen! War das wirklich der Fortschritt, den sie haben wollten?

Die Lok pfiff, die Türen wurden geschlossen und der Personenzug setzte sich langsam in Bewegung.

Der Kontrolleur kam an ihnen vorbei und Katharina fragte: „Wie lange fahren wir?“

„Einen Tag. Die Lok ist ziemlich schnell. Die Gleise wurden extra so angelegt, dass wir an Flüssen und am See im flachen Land fahren können. Mehr als fünfzig Meilen schaffen wir so in der Stunde! Auch am Eriesee fahren wir entlang, nur werden sie davon nicht viel sehen, da es in der Nacht geschehen wird!“, erklärte der Mann nicht ohne Stolz.

Sein Blick auf Fanny sagte aber nicht viel Gutes über ihn aus. Ohne ihren Zuspruch wäre die Freundin wohl sicherlich hinten gelandet!

Der Geißbock jedenfalls erhielt von dem Mann ein paar Streicheleinheiten und einen Platz zwischen zwei Bänken.

7. Kapitel

Ziege vor Frau!

Der hellbraune Ziegenbock meckerte Fanny an und es klang beinahe so, als lachte er sie aus. Ihr selbst war allerdings nicht zum Lachen zumute. Das Fell des Bocks war nicht sehr viel heller, als ihre Hautfarbe und dennoch war er besser dran, als sie!

Bereits zum zweiten Male innerhalb von einem Tag war man ihr gegenüber voreingenommen, weil sie nicht dieselbe käsebleiche Haut wie ihre Freundin besaß.

Der Bürgerkrieg war lange vorbei, alle ehemaligen Sklaven längst befreit und dennoch waren sie Menschen zweiter Klasse geblieben!

In Faribault war ihr das nie zuvor wirklich bewusst gewesen, sie hatte es nur aus den Erzählungen der Großmutter herausgehört, doch hier im Zug galt: zuerst die weißen Männer, danach die hellhäutigen Frauen, anschließend die Ziege und sie zuletzt!

Ziege vor Frau!

Was kam da noch auf sie zu? Bisher hatte sie nur geglaubt, es schwer zu haben, weil sie als Frau studieren wollte. Daher hatte sie so verbissen gelernt. Gerade stand sie mit einem Male auch noch hinter Katharina!

„Wärst du mit nach hinten gekommen, wenn er mich nicht hereingelassen hätte?“, fragte Fanny ihre Freundin.

In Katharinas Augen sah sie den Zweifel und bis zum »Ja« der Freundin dauerte es auch noch schmerzlich lang.

Sie richtete ihren Blick zum Fenster hinaus, damit Katharina die aufsteigenden Tränen nicht wahrnahm.

Die Gegend flog regelrecht dahin, aber sie sah nichts davon, denn sie war in ihren Überlegungen gefangen. Von heute an würde sie noch verbissener lernen, um allen zeigen zu können, was sie konnte.

Es dauerte eine geraume Weile, bevor sich ihr aufgewühltes Gemüt wieder beruhigt hatte, dann schlug sie die Zeitung auf und las die Artikel darin.

Über den Rand der Zeitschrift hinweg fixierte sie dabei den Kontrolleur. Der Mann in der Uniform war wohl noch keine vierzig Jahre alt und Fanny versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was er wohl tun würde, falls sich einer der Fahrgäste darüber beschwerte, dass sie hier in diesem Eisenbahnwagen saß.

Von ihm aus ging danach ihr Blick von einem der Mitreisenden zum nächsten. Keiner sah wirklich gerade zu ihr, zu Katharina schon! Zwei der Männer taxierten die Figur der Freundin ziemlich ungeniert.

Abermals ließ Fanny ihren Blick durch den Wagen gleiten. Hier drin war richtig viel Platz, im Gegensatz zu der eher beengten Postkutsche. Der Wagen fuhr rasend schnell und dennoch spürte man kaum etwas davon. Die Kutsche hatte sie regelmäßig ordentlich durchgeschüttelt.

Sie erinnerte sich daran, dass der Kontrolleur zu Katharina gesagt hatte, dass sie fast fünfzig Meilen in jeder Stunde zurücklegten und damit lag Chicago im Augenblick schon weit hinter ihnen.

Pferde konnten solch eine Geschwindigkeit nur kurz durchhalten und mehr wie hundert Meilen am Tag waren wohl keinem lebendigen Zugtier zuzumuten, dieses stählerne Ross schaffte dagegen das Zehnfache in derselben Zeit!

Im Inneren des Waggons war alles aus Holz, bis auf den kleinen Ofen in der Ecke, auf dem der Kontrolleur soeben Kaffee kochte und wohl auch Speisen warm machen konnte. Sicherlich gab es auch luxuriösere Reisewagen, aber auch dieser hier war ziemlich geräumig.

Hinter ihr, am anderen Ende des Waggons, befand sich ein hölzerner Verschlag, der wohl die Latrine darstellte, demzufolge konnte man hier sogar während der Fahrt austreten gehen. Purer Luxus!

Nach ihrer ausgiebigen Inspektion des Wageninneren vertiefte sie sich wieder in ihre Zeitung und aus dem Augenwinkel nahm sie dabei wahr, wie der Kontrolleur mit einer Tasse auf sie zukam, diese aber dann an Katharina übergab.

Sie beachtete er allerdings gar nicht, sondern ging zu zwei anderen Fahrgästen eine Reihe vor ihr.

Während Katharina aus der Tasse trank, blickte Fanny ihm ärgerlich nach, denn dass auch sie Durst haben könnte, schien ihn nicht zu interessieren.

Soeben gab er dem Bock nebenan eine Möhre!

Fanny faltete die Zeitung zusammen und Katharina reichte ihr die halbvolle Kaffeetasse.

„Hätte ich Hörner, würde ich auch eine Möhre bekommen!“, sagte sie so laut, dass es der Kontrolleur ebenfalls hören musste, der gerade an ihr vorbei zu seinem Ofen ging.

Sein missbilligender Blick störte sie nicht. Seiner Meinung nach durfte sie wohl schon froh sein, dass sie überhaupt hier sitzen durfte.

Die Freundin legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

Als der Mann mit einer Kanne zurückkam und sich fast auf ihrer Höhe befand, erhob sich Katharina, machte einen tiefen Knicks vor ihr und sagte: „Gräfin, ihr entschuldigt mich!“

Danach schlenderte die Freundin zum Verschlag mit der Latrine. Der Blick des Kontrolleurs war unbezahlbar und Fanny musste sich das Lachen verkneifen, schnell blickte sie daher zum Fenster hinaus.

Ein paar Minuten später kam Katharina zu ihrem Platz zurück.

„Wie war es da drin?“, erkundigte sich Fanny bei ihrer Freundin.

„Viel besser, als in jenem Saloon in Austin!“, entgegnete diese ihr.

„Im Salonwagen ist das bestimmt noch besser“, erklärte Fanny und erhob sich ebenfalls. In dem anderen Wagen hinten gab es vermutlich einen Eimer in der Ecke!

Langsam ging Fanny auf die Holztür zu und musste noch einen Moment davor warten, bis ein Mann die Latrine verließ, danach betrat sie den Verschlag. Dieser abgeteilte Bereich hatte sogar ein Fenster, welches mit einer hübschen Gardine versehen war. Sogar ein kleines Waschbecken befand sich darin und ein Brett mit einem Loch in der Ecke. Durch diese Öffnung konnte man die Gleise darunter sehen.

Nachdem sie sich erleichtert und die Hände gewaschen hatte, schlenderte sie zu Katharina auf ihre Bank zurück.

Der Kontrolleur beachtete sie allerdings auch weiterhin nicht, er prüfte gerade die Lampen an der Wand, die in der Nacht für etwas Licht sorgen würden.

„Können wir uns hier was zu essen leisten?“, fragte Fanny die Freundin.

Katharina erhob sich und ging zum Ofen, an dem der Kontrolleur soeben wieder angekommen war. Sie erkundigte sich bei dem Mann und nickte Fanny danach zu. Zwar hatten sie beide gut gefrühstückt, aber dennoch stellte sich jetzt schon so ein leichtes Hungergefühl bei ihr ein.

Doch würde der Mann ihr überhaupt etwas bringen? Ein neuer Zweifel jagte durch ihren Kopf.

Katharina kam zu ihr zurück und berichtete: „Es gibt dann später Bohnen mit Speck und Brot.“

„Die Verpflegung ist im Fahrpreis schon mit drin“, setzte sie noch hinzu, ließ sich auf ihren Platz fallen und lehnte sich mit der Zeitung zurück.

Stunden später setzte dann die Dämmerung ein, die gasbetriebenen Lampen spendeten etwas Licht in dem Wagen und der Kontrolleur brachte Katharina eine Decke mit einem Kopfkissen für die Nacht.

Fanny erwartete schon, dass sie diesmal ebenfalls wieder leer ausgehen würde, doch nachdem die Ziege ihr Stroh bekommen hatte, erhielt auch sie eine Zudecke und erneut kam das Tier vor ihr.

Schließlich gab es noch einen warmen Kaffee und wenig später schnarchten bereits die ersten Fahrgäste.

„Schlaf schön. Morgen sind wir in New York!“, erzählte Katharina und machte es sich auf ihrer Bank bequem.

„Ja! Ich wünsche dir ebenfalls eine gute Nacht“, entgegnete sie ihr.

Auch sie streckte sich auf der hölzernen Bank aus, aber ihre Gedanken ließen sie lange nicht zur Ruhe kommen.

8. Kapitel

New York, New York!

Nach dem Halt im Bahnhof von Syracuse am Morgen fuhren sie jetzt schon eine geraume Weile in südlicher Richtung. Katharina hatte die Sonne auf ihrer Seite und konnte durch das Fenster die Gegend betrachten.

Ihre Reise näherte sich langsam ihrem Ende. Der Ziegenbock hatte in Syracuse den Waggon verlassen und der Kontrolleur war höflich und zuvorkommend, allerdings nur zu ihr und nicht zu ihrer Freundin Fanny.

Gerade brachte er ihr schon die dritte Tasse Kaffee, die sie dann an Fanny weiter gab. Die Freundin rollte trotzig mit den Augen, aber sie hatte es aufgegeben, etwas darüber zu sagen, so wie auch sie vor dessen Borniertheit kapituliert hatte.

Der Mann war schlechtweg unbelehrbar! Und dabei war sein direkter Vorgesetzter, der Eisenbahnkönig Cornelius Vanderbilt3, im Krieg ein glühender Kämpfer gegen den Süden und die Sklaverei gewesen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dieser diese Art der Behandlung ihrer Freundin durch diesen Kontrolleur gutheißen würde, aber wo es keinen Kläger gab, da gab es auch kein Recht. Und wer würde Fanny schon glauben?

Nach dem Mittagessen rollten sie langsamer und die Häuser der Stadt waren bereits deutlich zu sehen. Gigantische Bauten mit fünf Stockwerken und zum Teil sogar noch mehr waren dort zu erkennen!

„New York! Das ist ja riesengroß!“, flüsterte Fanny sichtlich aufgeregt.

„Hier leben fast anderthalb Millionen Menschen“, erzählte eine ältere Frau, die gerade in der Sitzbank nebenan ihre Tasche packte.

„So viele?“, fragte Katharina zurück.

Die ältere Frau nickte nur.

Ihre Heimatstadt Faribault in Minnesota hatte nicht mal dreitausend Einwohner!

„Und irgendwo da werden wir jetzt die nächsten zwei Jahre wohnen?“, erkundigte sich Fanny.

„Nicht irgendwo, sondern hier!“, entgegnete Katharina und zog den Zettel mit der Adresse heraus.

„Wie finden wir das nur?“, erwiderte Fanny jetzt, die den Zettel zu sich genommen hatte.

Katharina zuckte nur mit den Schultern und blickte ratlos zum Fenster hinaus.

Die Frau schloss soeben ihren Koffer, wandte sich ihnen zu und fragte anschließend: „Was wollt ihr in New York?“

„Studieren!“, gab Fanny ihr zurück.

„Seid ihr dann im City College of New York oder im Hunter College?“, setzte die Frau fragend hinzu.

„In der medizinischen Fakultät der City University of New York“, erklärte Katharina.

„Also im City College! Warum nicht im Hunters? Das ist doch extra im letzten Jahr für Frauen gegründet worden?“, wollte die Frau daraufhin wissen.

„Weil wir Ärztinnen werden wollen und keine Krankenschwestern!“, entgegnete Fanny.

„Aha!“, entfuhr es der älteren Frau. „Ich bin Ruth!“, äußerte sie und gab ihnen die Hand.

„Ruth klingt deutsch“, bemerkte Fanny, nachdem sie der Frau die Hand geschüttelt hatte. Ruth nickte und sofort begann Fanny mit ihr in Deutsch zu reden, doch Ruth stutzte nur kurz und schmunzelte dann.

„Wir müssen da hin!“, erzählte Fanny und hielt Ruth den Zettel mit der Anschrift hin.

Ruth las die Notiz durch und sagte schließlich: „Also bis zum College ist es über eine Stunde zu Fuß durch die Stadt und eure Unterkunft liegt noch weiter im Norden. Die Straße befindet sich in Bronck’s Land und das liegt eigentlich nicht mehr in New York, sondern im Westchester County!“

„Und wie kommen wir jetzt da hin?“, erkundigte sich Fanny neugierig.