Die Engelsmacherin vom Rabenstein - Uwe Goeritz - E-Book

Die Engelsmacherin vom Rabenstein E-Book

Uwe Goeritz

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Beschreibung

Die Engelsmacherin vom Rabenstein Altersempfehlung: ab 16 Jahren Das immer schlechter werdende Klima, mit eisigen Wintern und verregneten Sommern, sowie die bereits seit dem Jahre 1844 europaweit grassierende Kartoffelfäule dezimieren auch in Sachsen die Nahrungsmittelvorräte, erhöhen die Preise und bringen große Hungersnöte. Gleichzeitig führt der industrielle Aufschwung dazu, dass auch die häusliche Arbeit der Bauern sich nicht mehr lohnt und viele der Verlockung der Städte nicht mehr widerstehen können. Auch der sechzehnjährigen Gisela kommt das Leben in der nahen Stadt Chemnitz wie eine Verheißung vor und demzufolge zieht sie von ihrem Dorf am Fuße des Rabensteines in die Großstadt, doch schnell wird ihr dort klar, welche Abgründe sich hinter der scheinbar goldenen Fassade verbergen. Trotz eigener Not will sie den Ärmsten und Hilflosesten helfen, den Frauen und Kindern in den Arbeitervierteln, aber mit der Zeit setzt sich bei ihr dabei die Erkenntnis durch, dass es für viele Kinder besser wäre, nicht geboren zu werden, allerdings droht für eine Abtreibung im schlimmsten Falle der Galgen! In einer Epoche, in der es für einige wenige Menschen nach ganz oben, für viele aber in den Abgrund geht, muss Gisela ihren Platz in einer Gesellschaft finden, die sie am liebsten ins Gefängnis werfen würde.

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Inhaltsverzeichnis

Die Engelsmacherin vom Rabenstein

Eine von uns muss gehen!

Eine schwere Entscheidung

Ein kurzer Weg?

Freundinnen

Unter Frauen

Neue Aufgaben

Aller Anfang ist schwer

Von unten betrachtet

Unverdienter Dank der Mühe

Die Qual der Gefühle

Verbotene Blicke, verbotene Gedanken

Die Blumenfee!

Riskante Erkenntnisse

Sommerregen auf der Haut

Mit anderen Augen

Freundschaft, oder mehr?

Der Wert einer Vase

Wer im Glashaus sitzt ...

Auf dünnem Eis

Der zerbrochene Krug

Glück und Leid

Nichts mehr zu verlieren?

Stärker als die Angst

Geteiltes Leid, geteilte Freud

Ein Morgen der Hoffnungen

Verschlungene Wege des Schicksals

Oben und unten

Der letzte Tag im Paradies?

Die logische Konsequenz

Floras grüner Daumen

Der Beginn von etwas Neuem

Dem Glück so nah

Barbara sei Dank!

Wintertage und -nächte

Das Fest der Liebe

Ein Silberstreif am Horizont

Ein schlechtes Zeichen?

An glücklichen Tagen ...

Am Ende?

Doppeltes Leid, oder zweifaches Glück

Abermals gerettet?

Noch ein neuer Morgen

Mit dickem Fell

In den Händen einer Mörderin!

Ein Meer der Tränen

Gute und schlechte Taten?

Rosalies aberwitzige Idee

Zwischen Zweifel und Wahrheit

Im Zweifel für die Freundschaft

Eifersucht und Leidenschaft

Die Suche nach der Wahrheit

Warnschuss vor den Bug

Eine Spur des Zeugen

Im Schicksal alleine!

Ungerechtigkeiten

Der Sinn des Lebens

Anne

Ein Wink der Vorsehung?

Die Rückkehr eines Engels

Zwei unterschiedliche Engelsmacherinnen

Eine göttliche Fügung

Engelsgleich

Verbotene Wege zurück

Garten der Kinder

Tage im Elysium

Die Stärke einer Frau

Unverhofft und doch hochwillkommen!

Fegefeuer der Versuchung

Im Schoß der Familie

Glück mal zwei!

Ein guter Tag!

Der Fluss des Lebens

Zeitliche Einordnung der Handlung:

Die Engelsmacherin vom Rabenstein

D as immer schlechter werdende Klima, mit eisigen Wintern und verregneten Sommern, sowie die bereits seit dem Jahre 1844 europaweit grassierende Kartoffelfäule dezimieren auch in Sachsen die Nahrungsmittelvorräte, erhöhen die Preise und bringen große Hungersnöte.

Gleichzeitig führt der industrielle Aufschwung dazu, dass auch die häusliche Arbeit der Bauern sich nicht mehr lohnt und viele der Verlockung der Städte nicht mehr widerstehen können.

Auch der sechzehnjährigen Gisela kommt das Leben in der nahen Stadt Chemnitz wie eine Verheißung vor und demzufolge zieht sie von ihrem Dorf am Fuße des Rabensteines in die Großstadt, doch schnell wird ihr dort klar, welche Abgründe sich hinter der scheinbar goldenen Fassade verbergen.

Trotz eigener Not will sie den Ärmsten und Hilflosesten helfen, den Frauen und Kindern in den Arbeitervierteln, aber mit der Zeit setzt sich bei ihr dabei die Erkenntnis durch, dass es für viele Kinder besser wäre, nicht geboren zu werden, allerdings droht für eine Abtreibung im schlimmsten Falle der Galgen!

In einer Epoche, in der es für einige wenige Menschen nach ganz oben, für viele aber in den Abgrund geht, muss Gisela ihren Platz in einer Gesellschaft finden, die sie am liebsten ins Gefängnis werfen würde.

Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.

1. Kapitel

Eine von uns muss gehen!

D unkelgraue und niedrig hängende Wolken zogen beinahe im Schritttempo über die hügelige Landschaft dahin. Nicht weit entfernt im Süden begann der Höhenzug des Erzgebirges. Für die erste Juniwoche war es viel zu kalt und sorgenvoll ging der Blick der Menschen hinauf, auf das, was sich da über ihnen zusammenschob.

Wie eine düstere Last legte sich diese Wolkendecke auf die Schultern der Menschen und ein jeder schien dabei den Kopf einzuziehen. Manches Stoßgebet flog hinauf, doch keines davon wurde erhört, denn wie um die Menschen zu verheeren, öffneten sich die Schleusen des Himmels!

Hedwig eilte zu ihrer Kate, die nicht weit von ihr entfernt stand und dennoch reichten diese kaum hundert Schritte völlig aus, dass sie bis auf die Haut durchnässt war, als sie das Vordach über der Hüttentür erreichte.

Fassungslos starrte sie auf das Wasser, das gerade ihr Feld regelrecht überflutete. Der neben ihr stehende Eimer füllte sich in einer unglaublichen Geschwindigkeit mit Regenwasser und lief bereits über, als sie bis zehn gezählt hatte.

„Gott! Warum nur?“, schrie sie nach oben, aber sie erhielt keine Antwort.

Alle Kräfte der Natur schienen sich gegen die Menschen verschworen zu haben.

Es war das Jahr 1871. Bereits im letzten Sommer war es so nass und kalt gewesen, dass die Kartoffeln auf den Feldern verfault waren.

Ihre Gedanken flogen zu einem anderen Jahr zurück, das sie als Kind erlebt hatte und bei dieser Erinnerung stellten sich ihr noch immer die Nackenhaare hoch. Damals, 1845, war es schon einmal so gekommen. Der Winter hatte zu jener Zeit mit grimmiger Kälte und Unmengen von Schnee bis Mitte März gedauert und die danach einsetzende Hitze hatte an der Elbe zu Überschwemmungen sowie Verwüstungen geführt und sie aus ihrer alten Heimat bei Meißen hierher vertrieben.

Mit kaum etwas, außer dem nackten Leben waren sie damals entkommen und soeben war die Angst wieder zurück, denn der herab prasselnde Regen überschwemmte momentan das Feld bei ihrer Hütte!

Zwei Monate hatten sie die Kartoffelsetzlinge aufgezogen, die sie mit dem letzten Geld gekauft hatten.

Zwei Wochen lang hatten sie nach den Eisheiligen von Sonnenaufgang bis oft tief in die Nacht im Schweiße ihres Angesichts die jungen Triebe in den knochentrockenen Boden gebracht, nur um jetzt, keine Woche später, zusehen zu müssen, wie sich der Acker in einen Sumpf verwandelte!

Die Schweine in ihrem Koben nebenan liebten es sichtbar, dass sich ihr Gatter in einen knietiefen Morast verwandelte, aber die kleinen grünen Spitzen der so mühsam aufgezogenen und sich vom Munde abgesparten Sprosse verschwanden gerade im Wasser.

Das da drüben war einmal der beste Acker des Dorfes gewesen, aber soeben spülte ein Sturzbach die fruchtbare Krume hinunter zum bereits angeschwollenen Unritzbach.

Zu dieser Jahreszeit hätte man normalerweise mit einem Sprung das andere Ufer des Gewässers erreicht, aber augenblicklich überflutete das Gewässer das Feld ihres Nachbarn! Der sonst an manchen Stellen nicht mal einen halben Klafter1 breite Bach war auf das sicherlich Zehnfache dessen angeschwollen!

„Was noch, Gott!“, schrie Hedwig wütend nach oben, doch als Antwort darauf öffnete der Himmel seine Schleusen nur noch weiter.

Keine Armlänge vor ihr bildete das herabfallende Wasser eine Wand aus Tropfen, aus der ihr Mann Cohen schimpfend auftauchte und beinahe mit ihr zusammenprallte.

„Geh doch rein, du holst dir hier noch den Tod!“, erklärte er und drängte sie zur Tür zurück.

Sie stellte die jetzt unnütze Gartenhacke, mit der sie nur Minuten zuvor noch den Ackerboden gelockert hatte, neben der Tür ab und trat in die Kate.

In der Küche angekommen wrang sie das Tuch aus, das bis gerade eben noch um ihren Schultern lag.

Gisela, ihre zweitälteste Tochter, kam auf sie zu und nahm ihr das feuchte Kleidungsstück ab, um es an den Ofen zu hängen.

Drei ihrer sechs Kinder standen am Küchenfenster und schauten verzweifelt hinaus. Die kleineren Töchter verstanden es noch nicht, aber Maria, Sebastian und Elisabeth hatten offenbar ebenfalls den Ernst der Lage erkannt. Das sagte zumindest deren angespannter Gesichtsausdruck.

„Was wird werden?“, fragte Gisela besorgt und reichte ihr ein Tuch, bevor sie auch eines für ihren Vater holte.

Schnell warf Hedwig den Rest der Kleidung ab und zog sich eiligst an.

Wenige Augenblicke später stand sie am Herd, wärmte sich die Hände und seufzte nur.

Was sollte sie der Tochter sagen?

Sie wusste es ja selbst nicht! Nur eines war jetzt schon klar: Die Ernte in diesem Jahr würde sicherlich genauso ins Wasser fallen, wie die des letzten.

Und zwar buchstäblich!

Für neue Setzlinge hatten sie kein Geld oder sie würde zwei der kostbaren Schweine dafür opfern müssen, aber wozu? Um danach wieder zusehen zu müssen, wie das Feld im Morast verschwand?

Unablässig prasselte der Regen auf das Dach der Hütte und im selben Moment trat ihr ungeborenes Kind sie schmerzhaft in den Magen.

Es würde eine Entscheidung nötig werden!

Grübelnd rieb sie sich den Bauch und dachte daran, dass nur der kalte Wind und der äußert leckere Brombeerschnaps des letzten Herbstes sie kurz vor Weihnachten hatten unvorsichtig werden lassen.

Zu schön war es mit Cohen im gemeinsamen Bett unter der Daunendecke gewesen und sie hatten beide nicht aufgepasst! Das Resultat dieses Ausrutschers war jetzt, dass sie unbedingt eine Entscheidung treffen mussten.

Einer von ihnen würde gehen müssen, denn der Spruch ihres Mannes, wo acht Mäuler satt werden, da werden auch neun satt, hatte sich gerade erübrigt!

Langsam blickte sie von einem zum anderen und wägte vorsichtig ab. Maria war die älteste und siebzehn, aber der Sohn des Bauern, dessen Gehöft neben der Pelzmühle lag, hatte ein Auge auf sie geworfen und es war nur noch eine Frage von Tagen, bis er um ihre Hand anhalten würde.

Sebastian war ihr einziger Sohn und fünfzehn, aber er würde irgendwann mal diesen Hof übernehmen und Elisabeth war gerade dreizehn geworden.

Von den kleineren Geschwistern kam selbstverständlich auch keines infrage und damit blieb eigentlich nur noch Gisela übrig.

Erneut seufzte sie, denn die Sechzehnjährige war der Liebling ihres Vaters und die tüchtigste Hand im Hause. Es wäre schwer, sie zu ersetzen, aber vermutlich unumgänglich!

Gisela würde gehen müssen, oder sie alle würden verhungern!

„Mutter! Es hört auf!“, rief Maria vom Fenster aus.

Kurz schöpfte Hedwig wieder Mut, bis sie zur Tochter trat und über deren Schulter auf das Feld hinaussah!

Sie hätte über den Anblick fluchen können, der sich ihr bot und vermutlich hätte es wohl auch kaum noch geschadet, es einfach nur zu tun.

Keine Stunde hatte der Regenschauer gedauert und er hatte das Werk der letzten drei Monate vernichtet!

Einzig der Gemüsegarten war wohl noch zu retten, denn er lag ein kleines Stück höher, als das Feld!

Mit den letzten Tropfen stürzte sie aus der Kate und besah sich den Schaden im Garten. Den verwüsteten Acker behielt sie dabei allerdings in ihrem Rücken, denn diesen wollte sie vorerst lieber nicht mehr sehen!

1 Klafter - altes Längenmaß von 6 Fuß, also etwa 1,80 m.

2. Kapitel

Eine schwere Entscheidung

D er Abend war über das Dorf gekommen, die Kinder lagen endlich im Bett und Cohen saß mit seiner Frau in der Küche am Herd. Er sah in ihren Augen, dass sie wohl eine Entscheidung getroffen hatte, aber momentan wusste er noch nicht, was sie bedeuten würde.

Hedwig war die schlauste Frau, die er kannte und er vertraute ihr fast blind. Mit den Kindern in der Nähe hatte sie ihm bisher kein Wort verraten und daher war wohl anzunehmen, dass ihre Überlegung mit den Kindern zu tun haben würde.

Gisela erschien im Nachthemd in der Küche, trat auf sie zu und sagte: „Die Kleinen schlafen jetzt auch. Ich wünsche euch eine gute Nacht!“

Sie beide gaben der Tochter den Gruß zurück, sie ging und Hedwig hing auch Minuten später noch mit ihrem Blick auf der jetzt bereits wieder geschlossenen Tür.

Schließlich seufzte sie, wandte sich ihm zu und erläuterte ihm ihre Überlegungen: „Wir bringen nicht mehr alle durch den nächsten Winter. Elisabeth hat den letzten gerade so geschafft!“

Cohen erinnerte sich wieder an die Fieberschübe der Tochter und nickte seufzend, denn dem war wohl so! Seine Schwester hatte im letzten Winter zwei ihrer kleinen Kinder an den Hunger verloren und sein nächstes, jetzt noch ungeborenes, Kind würde ihnen zwangsläufig folgen müssen, wenn sie keine Lösung fanden.

„Ich werde zwei der Schweine auf den Markt treiben!“, erklärte er.

„Das wird nicht reichen“, entgegnete Hedwig und starrte in das Herdfeuer hinab.

„Ich habe alles ein paar Mal hin und her überlegt!“, setzte sie fort und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Hedwig hob den Blick, schaute ihm in die Augen und verkündete: „Gisela muss in die Stadt und dort eine Anstellung als Magd übernehmen. Nur dann, und mit ihrer Hilfe von dort aus, können wir es schaffen!“

„Bitte nicht sie!“, erwiderte er, aber er wusste nur zu gut, dass Hedwig sich das sicherlich schon stundenlang überlegt hatte, denn sie sagte nichts ohne Grund!

„Es muss sein!“, flüsterte sie und legte ihm die Hand auf den Arm.

Er wusste, dass sie damit wohl recht haben würde, doch er wartete noch auf die weiteren Erklärungen seiner Frau.

„Maria steht kurz vor der Hochzeit, Elisabeth ist noch zu jung und deinen einzigen Sohn willst du doch sicherlich nicht vor die Tür setzen müssen. Oder?“

„Wohl wahr, aber was soll Gisela machen?“, entgegnete er.

„Am Sonntag hat mir meine Base Sieglinde im Gottesdienst davon erzählt, dass Minna, die Tochter ihrer Schwägerin, ihr davon berichtet hat, dass bei der reichen Familie, wo sie in Chemnitz in Anstellung ist, in der letzten Woche eine Magd an der Schwindsucht gestorben ist. Noch suchen sie einen Ersatz und ich bin mir sicher, dass Gisela tüchtig genug ist, diese Stelle zu bekommen. Sie muss nur schnell genug sein!“, erläuterte sie ihre Gedankengänge.

Seufzend blickte Hedwig jetzt zum Fenster und setzte hinzu: „Und nach diesem Regen ist das jetzt fast wie eine Aufforderung Gottes, dass sie sich schleunigst dorthin auf den Weg machen soll, denn noch solch eine Gelegenheit bietet sich ihr sicherlich nicht so schnell!“

„Da wirst du wohl recht haben“, pflichtete er ihr notgedrungen bei.

Eine Anstellung bei einer reichen Kaufmannsfamilie in Chemnitz war so schlimm nicht und wer wusste schon, wann es wieder solch ein gutes Angebot gab, aber ausgerechnet Gisela?

„Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber es muss sein!“, sagte Hedwig jetzt und strich ihm beruhigend über den Arm.

Stumm blickte Cohen vor sich hin, wog alles noch einmal ab und überlegte dieselben Gedankengänge, die offenbar auch seine Frau schon zu dieser Entscheidung gedrängt hatten.

Alles war klar, zwingend und in sich schlüssig. Sicherlich hätte es Hedwig ihm sonst auch nicht vorgeschlagen.

„Wir sollten eine Nacht darüber schlafen und morgen früh einen Entschluss treffen!“, legte Hedwig fest, stemmte sich vom Stuhl hoch, drückte ihren Rücken durch und rieb sich den Bauch.

„Gibt es denn wirklich keine andere Lösung?“, fragte Cohen, obwohl er es wusste.

Seufzend schüttelte die Frau den Kopf und schlurfte zur Tür der Kammer hinüber.

Er blickte ihr nach und ihr Gang sagte mehr darüber aus, wie schwer ihr diese Entscheidung gefallen war, als es wohl jedes weitere Wort vermocht hätte.

Cohen blieb am Ofen sitzen und sah in die Glut.

Selbstverständlich war Gisela diejenige, auf die Hedwigs Wahl fallen musste, allerdings war sie im Haushalt auch die rechte Hand seiner Frau.

Natürlich halfen auch die anderen Kinder mit, aber Gisela war eben am Morgen die erste in der Küche und am Abend die letzte, die ins Bett fiel.

Außer heute wohl!

Im Scheine der letzten Glut dachte er an all die Momente zurück, die er mit der Tochter erlebt hatte und es war wohl schon so eine Art von Abschied.

Der Spruch seiner Frau mit der Entscheidung am nächsten Tag sollte ihn eventuell nur trösten und ins Bett bringen, denn Hedwig hatte diese bereits getroffen.

Und es war richtig!

Gisela würde es in Chemnitz sicherlich besser haben, als hier in ihrer Hütte, aber der unausweichliche Abschied fiel ihn viel zu schwer.

Als er sehr viel später in die Kammer ging, hörte er das leise Schluchzen seiner Frau. Er legte sich zu ihr, zog sie tröstend in den Arm und strich ihr übers Haar.

3. Kapitel

Ein kurzer Weg?

A ach dem Frühstück war Gisela aufgebrochen und ging jetzt in nördlicher Richtung, bevor sie dann später nach der Burg Rabenstein auf die Straße nach Osten abschwenken würde.

Es war ein wundervoller Morgen und nichts erinnerte mehr an die sintflutartigen Regenfälle des Tages zuvor.

Zumindest hier auf dem Weg, denn das Feld, an dem sie zuvor vorbeigekommen war, verdiente wohl kaum noch diesen Namen! Es war völlig verwüstet.

Zügig schritt sie aus und bei ihrem derzeitigen Tempo würde sie für die Strecke nicht viel länger als zwei Stunden benötigen. Sie kannte den Pfad gut, denn sie hatte ihn schon ein paar Male mit dem Vater zurückgelegt, als sie zusammen auf den Markt nach Chemnitz gegangen waren.

Der Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten tanzte auf ihrem Rücken herum. Sie besaß nicht viel, ihr wertvollster Besitz war ein wunderschöner hölzerner Kamm, den ihr der Vater erst im Jahr zuvor geschenkt hatte, als sie zusammen mit ihm und ihrer Schwester Maria drei Schweine auf dem Markt mit einem guten Gewinn verkaufen konnten und der Dank des Vaters war dieser Kamm aus Kirschbaumholz.

Die Mutter hatte ihr eine Mahlzeit als Wegzehrung und eine Flasche Wasser mitgegeben. Die Adresse stand auf dem Zettel in ihrem Beutel.

Sie kannte Minna, zu der sie jetzt auf dem Weg war, denn vor zwei Jahren hatte diese noch hier in Unterrabenstein gewohnt und sie hatten oft zusammen gespielt, bevor Minna dann in die nahegelegene Stadt gezogen war.

Gisela hatte das Kopftuch abgenommen und ließ den Wind durch ihre lange strohblonde Mähne wehen. Nur sie hatte diese wundervolle Haarfarbe von der Mutter geerbt. Alle ihre Geschwister hatten dagegen das braune Haar des Vaters. Er hatte ihr oft gesagt, sie sähe wie eine jüngere Ausführung ihrer Mutter aus und vielleicht war sie deshalb mitunter von ihm ihren Geschwistern etwas vorgezogen worden.

Wie zum Beispiel bei diesem Kamm. Maria hatte am Verkauf der Schweine einen ebenso großen Anteil gehabt, doch sie hatte vom Vater nur ein Tuch dafür bekommen, das die Schwester im letzten Winter, mit Mutters Hilfe, reich bestickt hatte.

Maria war geschickt mit der Nadel, bei ihr selbst waren die handwerklichen Fähigkeiten etwas verkümmert, denn sie hatte oft an Vaters Seite die schweren Arbeiten verrichtet.

Sie war damit stark geworden und mitunter hatte sie ihren ein Jahr jüngeren Bruder Sebastian beim Raufen niederringen können, was der Mutter natürlich nicht gefallen hatte, denn ein Mädchen raufte sich nun mal nicht!

Jetzt eilten ihre Gedanken voraus und sie fragte sich, was sie in Chemnitz wohl machen würde. Minna hatte ihr nicht viel von dem Hause berichtet, aber von Mutters Base wusste sie, wie prunkvoll das Anwesen des Kaufmannes wohl sein sollte. Allerdings hatte Sieglinde manchmal so einen Hang zur maßlosen Übertreibung.

In ein paar Stunden würde sie sich selbst darüber ein Bild machen können. Vorausgesetzt, die Stelle war noch frei.

Doch was, wenn dem nicht mehr so war?

Aber darüber würde sie sich dann später Gedanken machen.

Gisela passierte die Reste der kleinen Burg, schwenkte danach nach Osten ab und hatte damit auch die Rauchfahnen der Stadt als Wegmarkierung vor sich. Die stammten aus den Schornsteinen der Gießereien und Tuchmachereien. Zumindest hatte das Sieglinde gesagt, aber ob das stimmte, war ebenfalls unklar.

Mit großen Schritten ging sie ihrem Ziel entgegen und gelegentlich kamen ihr Ochsenkarren entgegen oder Reiter überholten sie. Die qualmende Wegmarkierung am Horizont war allerdings auch weiterhin deutlich zu erblicken.

Es war nur ein kurzer Weg aus dem Dorfe in die Stadt, zumindest räumlich gesehen, doch wenn nur ein Teil dessen stimmte, was Mutters Base immer so erzählt hatte, dann lagen da goldene Zeiten vor ihr und die Neugier darauf zog sie vorwärts.

Der altbekannte Hohlweg nahm ihre Aufmerksamkeit nicht in Beschlag, denn zu oft war sie ihn bereits gegangen, doch dieses Mal sollte er ein Pfad ohne Wiederkehr sein!

Zwar hatte der Vater ihr beim Abschied auch die Rückkehr freigestellt, falls es mit der Stelle nicht klappen würde, doch er hätte sie sicherlich nicht auf diesen Weg geschickt, wenn es eine Alternative dazu gegeben hätte.

Vor dem Ziel würde sie an dem kleinen Fluss Chemnitz an der vor ihr liegenden Bierbrücke die Gelegenheit nutzen, sich noch einmal kurz zu erfrischen, das Haar zu kämmen und zu verschnaufen, um einen möglichst guten Eindruck bei der neuen Herrschaft zu vermitteln.

Kurz bevor die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreichte, war auch Gisela an dem beabsichtigen Rastplatz angekommen. Sie setzte sich an das steile Ufer des Flusses, wusch sich Gesicht, Arme und Beine, kämmte sich die Haare und band sich das Kopftuch wieder um.

Nachdem sie sich auch noch ausgiebig gestärkt hatte, ging sie langsamer über die Brücke und von dort zum Markt.

Im mittäglichen Gewimmel auf dem Marktplatz suchte sie nach der markanten Kleidung einer Magd, befragte die Frau nach der Adresse und erhielt die korrekte Beschreibung der jetzt noch vor ihr liegenden Wegstrecke, aber es war nicht mehr sehr weit.

Abermals überquerte sie die Brücke und näherte sich danach langsam dem Haus, klopfte sich noch einmal den Straßenstaub vom Kleid und prüfte ihre Anzugsordnung, bevor sie vor das Anwesen trat.

Sieglinde hatte nicht übertrieben oder gelogen, denn dieses dreistöckige Gebäude glich von außen wahrhaftig einem Schloss! An der Fassade befand sich exklusiver Stuck, von oben schauten steinerne Engel auf sie herab und um das Gebäude herum befanden sich kleine Grünflächen.

Staunend stand Gisela davor, als von der Seite jemand nach ihr rief. Sie wandte sich dorthin und bemerkte Minna, die mit einem Besen den Gehweg gesäubert hatte.

Sie eilten aufeinander zu, umarmten sich und danach brachte die Freundin sie zum Seiteneingang, der etwas weniger aufwendig verziert war und offenbar dem Personal vorbehalten blieb.

Mit ganz viel Glück würde sie dann auch schon bald dazu gehören, aber jetzt war sie erst einmal darauf gespannt, ob sich der Prunk im Inneren des Bauwerkes fortsetzen würde.

An Minnas Seite betrat sie das Gebäude und für ein Stück des Weges war es einfach nur ein schlichter Durchgang, dann stand sie im Empfangssaal und es verschlug ihr abermals förmlich den Atem.

Das sollte das Haus eines Kaufmannes sein? So ähnlich hatte sie sich immer das Schloss eines Königs vorgestellt, wenn ihr die Mutter früher Märchen erzählt hatte, aber das hier war keine Erfindung, das war echt!

Minna ordnete schnell ihre schwarzen Haare und gab ihr damit das Zeichen, dies ebenfalls zu machen, dann trat eine vornehm gekleidete Frau auf sie zu.

„Das ist Sybille, die Mamsell!“, flüsterte die Freundin ihr zu und machte einen Knicks.

Auch dem schloss sie sich an.

Jetzt galt es!

4. Kapitel

Freundinnen

A ebeneinander standen sie im Eingangsbereich des Hauses und warteten auf die Mamsell. Gisela neben ihr war ziemlich aufgeregt, aber das war auch nur zu verständlich.

Sie selbst konnte sich noch gut an ihren ersten Tag hier erinnern. Das war jetzt fast zwei Jahre her und nur ein paar Tage vor der Hochzeit des Herrn mit seiner Frau gewesen und auch sie war damals von diesem Prunk einfach überwältigt gewesen.

Minna blickte zur Seite, sie waren beide gleich groß, hatten fast denselben Körperbau und glichen sich auch sonst äußerlich, einzig die Haarfarbe unterschied sie. Und die Länge der Haare, denn Giselas strohblonde Mähne war schon vor Jahren kaum zu bändigen gewesen.

Sie selbst hatte sich einen Zopf geflochten, der perfekt unter der Haube verschwand.

Und noch etwas unterschied sie, denn Gisela war eindeutig die stärkere von ihnen.

Eigentlich war sie völlig furchtlos, aber gerade war da so ein fast ängstlicher Zug um ihre Augen zu bemerken. Oder war es mehr Respekt? Vermutlich wohl das, denn Gisela fürchtete sich vor kaum etwas.

Die Mamsell kam die Treppe herab, Minna flüsterte Gisela ins Ohr: „Das ist Sybille, die Mamsell!“, danach machte sie einen Knicks.

Obwohl auch Sybille nur zu den Hausangestellten und nicht zur Herrschaft gehörte, unterstand ihr das Dienstpersonal und ein Fingerzeig von ihr konnte entscheiden, ob man diese durchaus lukrative Stelle erhielt oder verlor und daher war es immer von Vorteil, sich gut mit ihr zu stellen.

„Das ist Gisela. Sie stammt aus meinem Dorfe und hätte gern die freie Stelle. Sie ist eine gute Arbeiterin“, erklärte sie, noch im Knicks verharrend.

„Erhebt euch“, begann die Mamsell und fragte Gisela: „Du willst also die Anstellung haben? Was kannst du denn?“

„Ich kann putzen, kochen, Gartenarbeit und alles, was so im Haushalt anfällt“, erklärte Gisela.

„Zeig mal deine Hände!“

Gisela streckt der Mamsell die Hände entgegen und die betrachtete aufmerksam die Finger und Handinnenseiten.

„Ich sehe, du bist schwere Arbeiten gewohnt. Wir werden es mal mit dir probieren. Du wirst zwei Wochen zeigen müssen, was du kannst und ich befrage dann noch die Herrin, ob du bleiben darfst. Minna zeigt dir jetzt erst einmal das Haus und wo du schlafen kannst!“

„Danke schön. Ich werde euch nicht enttäuschen“, entgegnete Gisela mit einem erneuten Knicks.

Sybille stieg wieder hinauf und Minna begann weisungsgemäß der Freundin das Haus zu zeigen.

„Hier unten findest du die Empfangshalle, einige Räume fürs Personal und die Küche“, begann sie und zeigte mit der Hand auf die Türen der jeweiligen Zimmer.

Danach gingen sie zur Küche, wo sie fortsetzte: „Neben der Küche ist unser Esszimmer und das ist Bettina, sie ist unsere Köchin!“

Bettina trat auf sie zu, wischte sich die Hände an der Schürze ab und begrüßte Gisela mit einem kräftigen Handschlag, wie sie es immer machte, aber auch Gisela drückte ordentlich zu und das schien Bettina sichtbar zu gefallen.

Weiter ging die Führung.

„Im ersten Stock sind die Bibliothek, der Speisesaal der Herrschaften, der große Saal, die Wohnzimmer der Herrschaft, deren Badezimmer und ein paar Gästezimmer!“, erklärte sie weiter und stieg an Giselas Seite die Treppe hinauf.

„Und ganz oben wohnen wir!“, setzte sie noch hinzu, als sie im Obergeschoss angekommen waren.

„Wie viele Leute wohnen denn hier?“, fragte die Freundin.

Sie begann an den Fingern abzuzählen: „Der Herr und die Herrin, zwei Knechte, Peter und Gustav, sechs Mägde, mit dir, und dann noch Sybille!“

Sie schob die Mägdekammer auf und erzählte weiter: „Hier schlafen Bettina, ich, du, Magda, die Zofe der Herrin, Claudia, die Küchenhilfe und auch Flora, die den Garten betreut!“

Dabei zeigte sie auf die jeweiligen Betten der Mägde, die nebeneinander unter der Dachschräge von Wand zu Wand standen.

„Das da ist also mein Bett?“, fragte Gisela und trat an ihr zukünftiges Lager.

„Eines für mich alleine? Daran muss ich mich sicherlich erst noch gewöhnen und wie weich das ist!“, entfuhr es der Freundin.

Gerade fiel Minna ein, dass Gisela ja im Gegensatz zu ihr mit vielen Geschwistern aufgewachsen war. Sie selbst war ein Einzelkind gewesen und fast etwas Exotisches, aber damit zeit ihres Lebens gewohnt, ein eigenes Bett zu haben.

Gisela setzte sich auf ihr Lager und fragte: „Und was wird jetzt hier meine Aufgabe sein? Oder hätte ich das die Mamsell fragen müssen?“

„Deine Vorgängerin war hier die Putzmagd und du wirst dann wohl ihre Obliegenheiten übernehmen. Damit wird dann Flora wieder für die Gartenarbeit freigestellt werden, denn bisher hat sie den Garten wegen der Arbeit im Hause ein paar Tage vernachlässigt!“, entgegnete sie und setzte sich zu ihrer Freundin.

„Das ganze Haus putzen? Jeden Tag?“, fragte Gisela und zog die Stirn in Falten.

„Rede einfach mit Flora, sie wird dir helfen und ich am Anfang auch. Später hat dann jeder seine Aufgabe hier. Es ist nicht einfach, aber das Essen und die Bezahlung sind klasse!“, erzählte sie der Freundin.

Die Tür öffnete sich, die Mamsell trat in die Kammer und sie beide sprangen vom Bett.

„Gisela! Die Herrin möchte dich heute nach dem Abendessen sehen und wenn du ihr gefällst, dann wirst du zwei Wochen für freie Kost und Logis arbeiten und wenn du das gut machst, darfst du bleiben und erhältst auch Lohn!“

„Danke, gnädige Frau!“, sagte Gisela schnell und machte einen Knicks.

Die Mamsell nickte freundlich und ging.

„Was bekommst du hier eigentlich in der Woche als Gehalt?“, fragte die Freundin sie.

„Fünf Groschen!“

„So viel? Jede Woche?“, entfuhr es Gisela überrascht.

„Und das Essen sowie die Unterkunft gibt es da noch gratis obendrauf“, erklärte sie noch für die Freundin.

Gisela blieb der Mund offen stehen.

„Ich gebe dir mal noch deine Kleidung!“, setzte Minna fort und ging zu der Kiste, in der sich die Bekleidung von Giselas Vorgängerin befand.

„Du hast ihre Statur und sie konnte es nicht dorthin mitnehmen, wo sie jetzt ist!“, erklärte sie und gab Gisela die Sachen.

Schnell zog sich die Freundin an und das Gewand passte wirklich perfekt.

„Ich muss mich wieder an meine Arbeit machen, aber ich schicke dir Flora vorbei!“, sagte sie und eilte aus dem Raum.

Die eigene Arbeit war viel zu lange liegen geblieben und jetzt musste sie sich sputen, um bis zum Abend ihr versäumtes Pensum wieder aufzuholen.

5. Kapitel

Unter Frauen

U nschlüssig stand Gisela in dem Raum. Soeben war entschieden worden, dass sie erst mal eine Weile hier arbeiten durfte, zumindest wenn die Herrin dem zustimmte, doch was sollte sie jetzt tun? Warten? Oder sich irgendwie nützlich machen, um nicht schon am ersten Tag ein ungutes Bild abzugeben? Nur wo?

Hätte sie nicht einfach Minna befragen sollen, ob sie der Freundin helfen konnte, die durch ihr Eintreffen versäumte Zeit wieder aufzuholen?

Sie strich sich das Kleid glatt und wollte zur Tür gehen, als diese aufgerissen wurde und eine Frau in den Raum eilte.

„Bist du die neue Magd?“, erkundigte sich die Frau, was wohl eine ziemlich seltsame Frage war, denn sie beide kannten sich ja noch nicht.

Gisela nickte.

„Ich bin Flora, du bist meine Ablösung“, erklärte sie danach.

Die Frau war eigentlich ganz hübsch und lange rote Locken rahmten ein wunderschönes Gesicht ein, das aber etwas entstellt war, weil die Nase der Frau offensichtlich schon vor Jahren gebrochen und nicht wieder richtig zusammengewachsen war. Eine Narbe zog sich oberhalb ihres linken Auges schräg über ihre Stirn.

Flora mochte noch keine 25 Jahre alt sein und kam auf sie zu.

„Ich möchte dir erklären, was du ab morgen zu tun hast“, sagte sie und wenig später wirbelten sie zu zweit durch das Gebäude.

Flora zeigte ihr alle Stellen, die einer besonderen Reinigung bedurften und sie kamen dabei leise ins Gespräch.

„Ich helfe dir morgen noch mal, dann kümmere ich mich wieder um meinen Garten“, erklärte Flora.

„Du bist die Gärtnerin?“, fragte Gisela.

„Eigentlich nicht. Es gibt hier nicht so viel zu tun, um einen Gärtner zu haben, aber die junge Herrin feiert jeden Samstag und manchen Sonntag mit ihren Freundinnen und sie will immer frische Blumen im Hause haben. Daher haben wir ein Glashaus hinter der Villa stehen, wo immer die schönsten Blumen dafür blühen. Den Garten mache ich aber nur zu einem Teil, sonst bin ich auch noch für die Wäsche zuständig. Wenn du also mal was auszubessern hast, dann gib es mir.“

„Wie ist hier eigentlich die Arbeitseinteilung im Hause?“

„Du bist für die Reinigung hier drin zuständig und mit Bettina eigentlich die einzige von uns, die nur einen Bereich hat, aber das Haus ist riesig! Das Erdgeschoss musst du täglich putzen, die Etage der Herrschaft alle zwei Tage und unsere einmal in der Woche. Teile es dir einfach so ein, wie du es möchtest. Am Sonntag haben wir dann nach dem Gottesdienst meist frei“, erklärte Flora ihr.

„Kann ich am Sonntag mal dein Blumenhaus sehen?“, fragte Gisela.

„Gern!“, antwortete Flora und setzte mit ihrer Aufzählung fort: „Also Minna macht draußen sauber und putzt auch die Fenster. Magda, die Zofe der Herrin, muss abends noch bedienen und Claudia, die junge Küchenhilfe, kauft auch noch ein! Das waren die Mägde, aber wir haben auch noch zwei Knechte. Peter ist der Stalljunge und Gustav ist der Diener des Herren und gleichzeitig auch der Kutscher! Du siehst sie alle heute Abend beim Essen!“

Über schwatzen und arbeiten verging die Zeit wie im Fluge und dann saß sie mit den anderen Mägden und den beiden Knechten im Raum neben der Küche.

Bettina hatte eine wohlschmeckende Suppe gemacht und dazu gab es noch frisch gebackenes Brot.

Beim Essen ließ Gisela ihren Blick in der Runde schweifen. Bis auf sie, Flora und Minna hatten alle Anwesenden dunkelblonde Haare. Die Küchenhilfe war sicher noch keine dreizehn Jahre alt und alle anderen Frauen waren schon in Floras Alter. Gustav hatte bereits schütteres graues Haar, aber Peter war sicherlich noch keine dreißig. Floras Bezeichnung Stalljunge meinte wohl nur seine Funktion, denn ein Junge war er schon lange nicht mehr! Wenn man so wollte, so war er ein Bild von einem Mann. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und seine Unterarme waren ziemlich muskulös.

Gerade fragte sie sich, was die Mägde wohl in der Nacht machten, wenn Peter im Nebenzimmer schlief.

Verstohlen beobachtete sie den Mann und bemerkte dabei auch, wie Minna ihn gelegentlich von der Seite aus regelrecht anschmachtete. Allerdings schien Peter davon keine Notiz zu nehmen. Er löffelte seine Suppe mit einer stoischen Ruhe aus.

Irgendwann stand Magda auf und trat zu Bettina, um das Essen für die Herrschaft in Empfang zu nehmen.

„Komm mit!“, sagte Magda dann zu ihr.

Gisela erhob sich und eilte hinter der Zofe her.

Jetzt kam wohl der Moment, wo sie der Herrin vorgestellt werden sollte. Im Gang strich sie noch einmal schnell die Kleidung glatt, fuhr mit der Hand über ihre Haare und trat dann hinter Magda in einen wirklich prachtvoll ausgestatteten Raum.

Neben der Tür blieb sie stehen und machte einen Knicks. Die Herrin trug ein herrliches nachtblaues Gewand mit einem Spitzenkragen und hatte lange hellblonde Haare, welche die Farbe von reifem Getreide hatten. Sie war sicherlich noch keine fünfundzwanzig und ihr gegenüber saß der Herr.

Er war eine wirklich stattliche Erscheinung in einem eleganten Anzug, mit dunklen Haaren und nur einige Jahre älter, als Peter.

Geduldig wartete Gisela auf ihrer Position, bis sie nach dem Essen mit einer Handbewegung der Herrin zum Tisch gebeten wurde.

Während Magda mit dem benutzten Geschirr nach draußen eilte, blieb Gisela in ihrem Knicks vor der Herrin.

Der Herr räusperte sich und ging.

Jetzt war sie mit der Herrin alleine in dem Raum.

„Du bist recht hübsch“, begann die Herrin und legte ihr die Hand unters Kinn, um ihr den Kopf hin und her zu drehen und sie damit von beiden Seiten zu betrachten. „Ich möchte, dass du ab sofort zusammen mit Minna und Magda bei meinen Empfängen die Gäste bedienst. Du kannst das doch? Oder?“, fragte die Herrin.

Sie hatte so etwas zwar noch nie gemacht, aber sie würde sich bei Minna darüber informieren, was dabei wichtig wäre und daher log sie einfach: „Ja, gnädige Herrin!“

„Fein! Dann werde ich es mal mit dir auf einen Versuch ankommen lassen! Ich hoffe, du bist so fleißig, wie deine Vorgängerin!“

Die Herrin nickte huldvoll, erhob sich und ging ebenfalls.

Gisela blickte ihr noch einen Moment nach, bevor sie wieder in die Küche eilte und dort brachen alle gerade auf, um in ihr Zimmer zu steigen.

Oben in der obersten Etage angekommen schloss die Mamsell die beiden Männer in ihrer Kammer ein, bevor sie den Schlüssel an sich nahm und damit in ihren Raum ging. Damit waren die Schlafplätze der Männer schon mal geklärt und gesichert!

Und wo die Katze nicht zum Kater kam, da konnte auch sonst nicht viel passieren.

Minnas verlangender Blick galt jetzt der verschlossenen Tür, bevor Gisela die Freundin am Arm packte und in den Raum zog.

6. Kapitel

Neue Aufgaben

A m Abend war Gisela in ihr Bett gefallen. Die zuvor erlebte und dann von ihr abfallende Aufregung und der doch beschwerliche Weg hatten schnell ihre Augen geschlossen und sie hatte wie ein Stein geschlafen.

Im ersten Licht des neuen Tages, das sich durch ein Dachfenster zu ihrer Kammer hereinkämpfte, hatte Flora sie geweckt und nach einer kurzen Wäsche waren sie zusammen nach unten geeilt, um den Vorraum zu säubern.

Flora sagte Vestibül dazu, das klang sehr vornehm und dieser Raum war wohl der prachtvollste des ganzen Hauses!

Flugs kniete sie neben der anderen Frau und säuberte die Fliesen auf dem Boden. Diese waren handbemalt und äußerst empfindlich gegen jede Art von Schmutz.

Flora hatte ihr am Tage zuvor erklärt, dass dieser Raum das Aushängeschild des ganzen Gebäudes war und daher auch einer entsprechenden Pflege bedurfte. Er hatte jederzeit blitzblank und perfekt zu sein, denn alle Besucher mussten hier hinein und wurden hier von der Hausherrin oder dem Hausherrn empfangen.

Gelegentlich mussten die Gäste hier auch einen Moment Platz nehmen und dafür befand sich an der Seite eine Sitzgruppe aus bequemen Sesseln und einem niedrigen Tisch.

Dieser Bereich hier hätte wohl auch in einem prunkvollen Palast nicht schöner aussehen können und bei der Arbeit konnte Gisela diesen Raum bewundern.

Er war in etwa zwanzig Schritte breit sowie dreißig lang und das Zentrum des ganzen Gebäudes. Am vorderen Ende gab es eine große Eingangstür und zwei Fenster, die sich jeweils neben dieser befanden. Diese Fenster waren wirklich riesengroß und ließen das Licht in den Raum fluten.

An der anderen Seite führte zuerst eine breite Treppe auf die halbe Höhe, wo zwei kleinere Treppen zu den Flanken abzweigten und auf eine umlaufende Balustrade führten, von der dann alle Zimmer der Herrschaft abzweigten.

Und nur von dort aus war das Bild der Fliesen richtig zu erfassen. Beim Hinuntergehen hatte sie eine Jagdszene darin erkannt, mit Bäumen, Hunden, Hirschen und Jägern.

Während also noch alle im Hause schliefen, rutschten sie zwei bereits durch den Vorraum und polierten die Bodenkacheln auf Hochglanz.

Im Frühjahr und im Herbst, mit dem Matsch draußen, war es sicherlich eine Aufgabe für den ganzen Tag, diesen Boden so sauber zu halten und dabei gab es im Hause noch so viele weitere Zimmer und Räume!

Wie sie das alles nur alleine schaffen sollte, war ihr im Moment noch unklar, aber sowohl Flora als auch ihrer Vorgängerin war es ja gelungen, diese Pracht zu bewahren.

Und noch bevor der Diener die Haustür aufschloss, musste der Raum blitzblank sein.

Daher waren sie beide auch schon so früh hier.

„Am besten lässt du immer die Zimmertüren offen, wenn du in einem Raum putzt. Da kannst du dann hören, ob sich die Haustür öffnet und sofort hier nach unten eilen. Das Geräusch der schweren Tür ist sehr markant und du wirst es schon in einigen Stunden begriffen haben, was du dann immer tun musst. Im besten Falle musst du nur kontrollieren“, erklärte Flora, richtete sich im Knien auf und legte den Lappen zur Seite.

Sie warfen noch einen letzten prüfenden Blick umher, schoben einen der Sessel zurecht und eilten danach nach oben, um sich jetzt gründlicher zu waschen und danach wieder anzuziehen.

Als alle anderen Mägde sich gerade aus ihren Betten erhoben, liefen sie erneut nach unten, um den Speisesaal der Herrschaften zu kontrollieren. Der war nicht ganz so prunkvoll und es gab nicht so viel darin zu machen, aber auch dieser Raum war wichtig und musste täglich gesäubert werden.

Anschließend waren die Küche und der eigene Speisesaal an der Reihe und während Bettina in einem Topf den Kaffee für die Mägde kochte, wische Gisela um die Frau herum.

Flora hatte ihr ja bereits am Tage zuvor erzählt, dass das Erdgeschoss täglich zu reinigen war und das darüber liegende eigentlich aller zwei Tage, doch heute würden sie zusammen alle Etagen säubern müssen, damit sie sich die Abläufe besser einprägen konnte.

Demzufolge war das Frühstück für sie auch nur kurz, bevor sie nach oben eilten, in die Belletage, wie es Flora so vornehm nannte.

Und während die Herrschaften vorn die Treppe herunterkamen, eilten sie beiden hinten über eine versteckte Stiege nach oben, um deren Zimmer schnell zu säubern.

Das ging bei den beiden Schlafzimmern ganz fix und danach war der große Saal dran, zumindest hatte ihn Flora so genannt. Dieser Saal lag im vorderen Bereich des Hauses und damit über dem Eingang. Er reichte über die gesamte Breite des Hauses, hatte fünf große Fenster zur Straße hinaus und besaß eine gewölbte Decke, was wohl der Akustik für das Klavier zugutekommen sollte.

Dieser Raum hatte prachtvolle Bilder an der Wand und eine Seite zierte ein wirklich prunkvoller Kamin. Der Fußboden bestand aus Holz mit wertvollen Einlegearbeiten, die wie Blumen aussahen.

Zum Glück war hier alles in bester Ordnung und so reichte es, nur einmal kurz mit dem Staubwedel die Bilder zu kontrollieren.

Vom Saal ging es zurück zur Balustrade und dort nach rechts.

Das sogenannte chinesische Zimmer lag der Bibliothek genau gegenüber und war das Lieblingszimmer der Herrin. Bunt bemalte Seidentapeten bedeckten die Wände und unzählige kleine Porzellanvasen und Schälchen standen in dem Raum. Es würde wohl Tage dauern, sie alle zu zählen und zu säubern. Und sie sahen so unglaublich filigran und zerbrechlich aus.

Ein Geräusch ließ Flora aufschrecken.

„Das war die Eingangstür!“, bemerkte sie und eilte zur Balustrade zurück.

Von oben blickten sie in den leeren Raum. Offenbar war der Herr gerade ausgegangen.

Weiter ging die Tour durch die Räume.

Sie hatte von klein auf hart gearbeitet, aber das hier würde dennoch ziemlich anstrengend werden, denn solche Art von Tätigkeiten war sie nicht gewohnt.

Bisher waren grobe Hausarbeit, das Feld und der Garten hinter der kleinen Hütte ihre Aufgaben gewesen.

Filigranes Porzellan kannte sie bisher nur aus den Erzählungen und gerade hatte sie einen ganzen Raum voll von diesen zerbrechlichen Kunstwerken gesehen.

Die Bibliothek war ebenfalls beachtlich bestückt, die Regale reichten vom Boden bis zur Decke und es mussten wohl abertausende von Büchern darin stehen.

In ihrer Hütte hatten sie nur eine Bibel und ein zerfleddertes Märchenbuch, welches die Mutter mal irgendwo gefunden hatte.

Was hier wohl für Dinge in den Büchern standen?

Versonnen strich sie über die kostbaren Einbände, dann eilte sie wieder an ihre Pflichten.

7. Kapitel

Aller Anfang ist schwer

O bwohl eigentlich nur Flora Giselas Einweisung in den Ablauf in der Villa bekommen hatte, fühlte sich Minna ebenfalls verpflichtet, der Freundin aus Kindertagen zu helfen, denn Gisela wusste offensichtlich noch nicht, was hier richtig und was falsch war.

Minna dachte dabei aber auch an ihre ersten Tage hier zurück, und wie unwohl sie sich damals gefühlt hatte. Fern von der Familie und praktisch alleine unter vielen völlig fremden Frauen.

Da hatte es Gisela ein wenig besser, denn sie kannten sich, seit sie laufen konnten. Die Hütten der Eltern standen nur einen Steinwurf voneinander entfernt im selben Dorf. Sie waren beide fast gleich alt und es verband Gisela damit wohl mehr mit ihr, als mit ihren jüngeren Geschwistern.

Alles hatten sie zusammen gemacht. Sie waren zusammen im Sommer im Teich baden gewesen, hatten sogar mal auf einer Kirmes miteinander getanzt und natürlich waren sie auch zur selben Schule gegangen. Da blieb es wohl kaum aus, dass man sich irgendwie näher stand, als zu den eigenen quengelnden kleinen Schwestern.

Damit führten sie also Gisela in die täglichen Abläufe hier ein und sie sah auch, dass die Mamsell ihr dafür anerkennend zunickte.

Die tägliche Arbeit von ihr und Gisela überschnitt sich oft, da sie ihre Tätigkeiten in denselben Räumen hatten: Sie putzte die Fenster, Gisela wischte den Boden.

Alles ging wieder seinen gewohnten Weg und die durch das Ausfallen von Giselas Vorgängerin verursachte personelle Zwangslage entspannte sich demzufolge.

Das war auch normal, denn jeder hatte sowieso genug zu tun und daher war es kaum möglich, über längere Zeit auch noch die Arbeit einer anderen mit zu erledigen.

Flora jedenfalls lief jetzt durch das Haus und hetzte nicht mehr umher, wie ein scheues Reh auf der Jagd! Sie lächelte wieder und damit beruhigte sich auch der Rest der Mägde, denn der Druck und die Anspannung wichen etwas, alles ging viel geruhsamer vorwärts.

Und gelegentlich war damit erneut auch etwas Zeit für einen kurzen Schwatz, der weder von der Herrin noch der Mamsell unterbunden wurde, wenn er im Rahmen blieb.

Ein neuer Tag brach an, alle beeilten sich, an ihre Arbeiten zu kommen und schon wenig später hantierten sie zu dritt im Eingangsbereich.

Gisela schrubbte den Boden, sie polierte die Fenster der Eingangstür und Flora fertigte ein wundervolles Blumengesteck an.

Die rothaarige Frau kniete vor ihren Blumen und hatte dennoch Gisela fest im Blick, denn sie zeigte ihr während ihrer Arbeit mit der Hand die Stellen in dem weitläufigen Raum, die besonders beachtet werden mussten.

Insgeheim bewunderte Minna die nur ein paar Jahre ältere Frau, mit welcher Souveränität diese ihre Aufgaben erledigte. Die roten Haare und die vielen Sommersprossen im Gesicht gaben ihr etwas kindlich Naives, die krumme Nase und die Narbe über dem Auge etwas Abenteuerliches, besonders wenn sie lächelte, wie jetzt gerade eben.

In der letzten Zeit hatte Flora besonders viele Arbeiten übernommen und diese klaglos absolviert. Andere im Hause hatte mitunter gemurrt, Flora nicht!

Sie war nett, freundlich und aufgeschlossen, obwohl die Narben im Gesicht davon kündeten, dass sie wohl nicht immer nur gute Dinge erlebt hatte, aber Flora war eben der Sonnenschein in ihrem Hause und jeder lauschte, wenn sie etwas von Blumen erzählte, denn davon verstand sie wirklich viel.

Selbst die Herrin hörte gelegentlich auf sie und das machte sie sonst bei keiner.

Die Mamsell kam mit ihren weißen Handschuhen und prüfte die Sauberkeit, dann nickte sie und lobte dieses exklusive Blumengesteck, das Flora gerade in Position brachte.

„Ich muss dann noch runter ins Waschhaus! Habt ihr beide noch was zum Waschen?“, fragte Flora und strich sich eine Locke zur Seite.

„Nein, noch nicht“, erklärte Gisela.

Minna schüttelte den Kopf.

„Bis dann“, erklärte Flora, sprang auf und eilte die Treppe hinauf, um die Wäsche zu holen.

Irgendein innerer Zwang drängte sie jetzt dazu, ihr hinterherzusehen, obwohl sie eigentlich noch viel zu tun hatte.

Flora hüpfte die Stufen wie ein Kind hinauf und Minna musste bei diesem Anblick unwillkürlich lächeln. Das war wohl das faszinierendste an Flora: In ihrer Gegenwart hatte man ganz von selbst gute Laune. Ihr Gesicht mochte schrecklich entstellt sein, doch sie war dennoch sehr attraktiv, denn sie strahlte von innen diese Freundlichkeit und Güte aus.

„Wie macht sie das nur?“, fragte Gisela von der Seite.

Hatte die Freundin ihre Gedanken gelesen?

„Was meinst du?“, entgegnete sie.

„Na das da. Schau“, begann Gisela und zeigte auf das Blumengesteck. „Ich habe neben ihr gearbeitet und sie hatte nichts, außer ein Bündel Gras, Zweige, Blumen, etwas Strick und Draht und schau dir an, was sie in den paar Augenblicken daraus gemacht hat!“, setzte Gisela noch bewundernd hinzu.

„Ja, das ist wirklich schön und morgen macht sie wieder etwas anderes!“, antwortete sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Sie macht das jeden Tag neu? Das kann doch sicherlich auch eine Woche so schön aussehen“, stieß Gisela verwundert aus.

„Ja. Im Sommer gestaltet sie jeden Tag etwas anderes. Ich glaube, Flora träumt in der Nacht von Blumen und beim Aufwachen fertigt sie dann das Gesteck, von dem sie geträumt hat. Manchmal stellt sie es nach diesem Tag hier unten in unseren Schlafraum, oder die Mamsell holt es sich, oder die Herrin lässt es sich in ihren Speisesaal stellen. Aber lass uns schnell weitermachen.“

Sie nickten sich zu und arbeiten geschwind weiter.

Jetzt musste Minna der Freundin bei den Stellen helfen, die ganz besonders wichtig waren, aber in ein paar Tagen würde Gisela das auch von selbst wissen.

Irgendwann hatte ja jeder mal klein angefangen. Jeder, außer Flora vermutlich, denn ihre Blumengestecke waren wirklich faszinierend. Es schien, als ob eine lebendige Göttin dieses Gesteck geschaffen hatte.

Da passte dann wohl auch Floras Namen perfekt dazu und die Blumen standen auch noch neben dieser marmornen Götterstatue, die ebenfalls ein paar Blumen in der Hand hatte und an deren Sockel »Demeter« geschrieben stand.

Vielleicht war Flora die Wiedergeburt einer dieser Göttinnen, von denen die Großmutter ihr mal ein Märchen erzählt hatte.

8. Kapitel

Von unten betrachtet

S eit einigen Tagen arbeitete Gisela bereits in diesem herrschaftlichen Anwesen. Es war ein wahrhafter Palast, wie ihn die Großmutter oft in ihren Märchen und Erzählungen beschrieben hatte, doch sie sah die Pracht eigentlich nur von unten, denn sie rutschte stundenlang auf den Knien durch die Räume.

Sie musste den Boden schrubben und polieren, da konnte sie sich nur erheben, um schnell neues Wasser zu holen.

Die Arbeit war schwer, obwohl sie das eigentlich von Kindesbeinen an gewohnt war, doch dafür waren alle anderen Frauen ihr gegenüber richtig nett.

Besonders Bettina mochte sie offensichtlich und das war ausgesprochen nützlich, denn die pummelige Magd war in der Küche beschäftigt und konnte ihr damit öfters mal eine Kleinigkeit zu Essen zustecken und demzufolge war sie in diesem Hause niemals mehr hungrig.

Minna hatte ihr am ersten Tag erzählt, dass es in den meisten Häusern so eine Art von Hierarchie unter dem Dienstpersonal gab: An der Spitze stand die Mamsell, danach die Zofe und Bettina, die für das direkte Wohl der Herrschaft sorgten, bis zur untersten Magd, der Küchenhilfe, aber Claudia war mit ihren knapp 13 Jahren eigentlich noch ein Kind!

Daher stand sie als Putzmagd mit Minna zusammen ganz unten, wobei Minna den Vorteil hatte, dass sie schon länger hier lebte und sie war auch noch knapp zwei Monate jünger, als die Freundin.

Mittlerweile musste sie alle ihre Tätigkeiten alleine schaffen, denn sowohl Flora als auch Minna, hatten ihre eigenen Aufgaben wieder übernommen.

Zwar war sie noch nicht so schnell, doch das würde mit der Zeit schon noch werden.

Abermals rutschte sie in den nächsten Raum, der ihr der liebste war, und das nicht nur, weil es die Küche war, sondern auch, da sich Bettina oft während der Arbeit mit ihr unterhielt.

Die dralle Küchenmagd sang irgendein lustiges Lied, das Gisela noch nie zuvor gehört hatte. Es hatte einen ziemlich frivolen Text und handelte von Wein und Frauen und war sicherlich in einer Kneipe häufiger zu hören, als in einer herrschaftlichen Küche.

Der Duft aus Bettinas Topf zog ihr um die Nase und es roch verführerisch, aber noch besser duftete der Apfelkuchen, der wohl im Backofen stand.

Der Anziehungskraft des Backens konnte sie schon als Kind kaum widerstehen und sie hatte es geliebt, wenn die Großmutter am Sonntag den Ofen angeheizt hatte.

„Hallo Gisela“, sagte Bettina, als sie an ihr vorbei schrubbte.

Sie blickte nach oben, nickte und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.

„Möchtest du mal kosten?“, fragte Bettina.