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Zwei Federn im Wind Altersempfehlung: ab 16 Jahren Einstmals zogen Millionen von Bisons durch die Prärie Nordamerikas. Ihre Anzahl war so gewaltig, dass das Land unter ihren Hufen erzitterte, doch mit der Kansas Pacific Railway, deren Bau von Kansas City aus in Richtung Westen im September 1863 begann, zog sich ein stählernes Band durch den Lebensraum der großen Steppentiere. Zu Abertausenden wurden die Tiere für die Versorgung der Arbeiter beim Bau der Eisenbahnstrecke, zur Gewinnung von Weideland für Farmen und später auch wegen ihrer Felle abgeschossen. Mit der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke teilten die Gleise die Landschaft in Nord und Süd und damit auch die einstmals gewaltige Herde. Dies ist die Geschichte zweier Menschen, die sich in der Zeit dieses Umbruches zu lieben lernen und deren Schicksal eng mit jenem dieser Steppentiere verknüpft zu seinen scheint. Lizzie und James finden die Liebe und verlieren sie beinahe, als ihr Leben eine jähe Wendung nimmt. Weitere historische Erzählungen finden Sie unter: http://buch.goeritz-netz.de/
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Seitenzahl: 420
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Zwei Federn im Wind
Alte Freunde
Nebeltage im Büffelland
Lauf, so schnell du kannst!
Theorie und Praxis!
Beim Zipfel einer Wurst!
Katzengleiche Fee
Ein Wildunfall mit Folgen
Sternennacht und Mondschein
In der Prärie
Offenes und weites Land
Am Abend mancher Tage
Verlockende Falle
Zwölf Büffel!
Märchenhafte Gewinne?
Der Zauber einer Nacht
Erstes Blut
Leben und Tod!
Tod und Leben?
Zwei Federn
Schmerzen der Seele?
Eine Nacht des Grauens?
Dasselbe Fell
Nordwärts!
Tage und Nächte
Leidenschaft und Fieber!
Zwischen Leben und Tod
In Todesangst und Höllenqual
Hilfloser Helfer
Winterzeit am großen Fluss
Heiß und kalt
Stürmische Mustangs
Frühlingsgefühle
Wilde Büffel
Stampede?
Die Stille des Geiers
Rachels Reue
Getrennte Wege
Hilflos der Bestie ausgeliefert
Zorn und Wut oder Vernunft?
Ein fremder Mann im Ort
Freunde!
Ein Licht in der Finsternis?
Lauf noch mal, so schnell du kannst!
Alles über Tom?
Auf der Flucht
Im Tal der Tränen
Unter Tramps
Unglück und Glück
Mit den Waffen eine Frau
Den Schienen gefolgt
Ein neuer Plan
Fröhliches Landstreicherleben
Am Ziel?
Gegen die Angst
Nächte und Tage
Angekommen?
Weites Land
Prärienächte
Endlich eine Spur!
Ein wilder Ritt!
Staubige Pfade
Hoffnung und Ängste
Ein Weg in die Zukunft?
Vergangenheit und Zukunft
Wie im Traum!
Irrwege in Chicago
Im Gedenken an den Falken
Kutschenpfade ins Nirgendwo?
Herz zu Herz
Zwei Federn, zwei Herzen
Ein neues Abenteuer
Mann, Frau, Kinder und eine Farm
Zeitliche Einordnung der Handlung:
E instmals zogen Millionen von Bisons durch die Prärie Nordamerikas. Ihre Anzahl war so gewaltig, dass das Land unter ihren Hufen erzitterte, doch mit der Kansas Pacific Railway, deren Bau von Kansas City aus in Richtung Westen im September 1863 begann, zog sich ein stählernes Band durch den Lebensraum der großen Steppentiere.
Zu Abertausenden wurden die Tiere für die Versorgung der Arbeiter beim Bau der Eisenbahnstrecke, zur Gewinnung von Weideland für Farmen und später auch wegen ihrer Felle abgeschossen. Mit der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke teilten die Gleise die Landschaft in Nord und Süd und damit auch die einstmals gewaltige Herde.
Dies ist die Geschichte zweier Menschen, die sich in der Zeit dieses Umbruches zu lieben lernen und deren Schicksal eng mit jenem dieser Steppentiere verknüpft zu seinen scheint. Lizzie und James finden die Liebe und verlieren sie beinahe, als ihr Leben eine jähe Wendung nimmt.
Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.
E
s war der letzte Tag des August und damit auch das Ende des Sommers, doch dessen Sonne ließ die Ebene mit ihrer Hitze flirren, bevor dann sicherlich schon bald die Stürme des Herbstes kommen würden.
Wie ein endloses Band aus Eisen zog sich das Gleis durch die flache Gegend und darauf kroch der Zug mit der schnaufenden Lokomotive wie ein stählerner Wurm durch den mittleren Westen des Landes.
Die Anzahl der Wagen brachte die Lokomotive deutlich an die Grenzen der Belastbarkeit und eine Steigung würde sie wohl kaum schaffen, doch das Land war hier eben, wie die Handfläche eines Mannes.
In einem der Waggons saß James und las noch einmal die Zeilen, die ihm sein Freund hatte zukommen lassen. Eine Jagd sollte es werden und die versprach für den Herbst ein paar Dollar zusätzlich, bevor er sich danach im Süden für den Winter einquartieren würde.
Oder auch im Norden, aber noch war James da etwas unentschlossen, allerdings blieb ihm ja auch noch etwas Zeit für eine Entscheidung.
Sam hatte den Namen eines kleinen und ihm bisher völlig unbekannten Fleckens in Kansas als Treffpunkt angegeben, der auch noch so hieß, wie ihre zu erwartende Beute: Buffalo!
Gedankenverloren strich James über das Bronzegehäuse seines Winchester Karabiners und blickte dabei aus dem Fenster. Er liebte diese Waffe, weil es ein sehr gutes Gewehr war und zusätzlich auch noch, da seine Mutter sie ihm vor Jahren geschenkt hatte.
James blickte herab und dachte an den Moment zurück, als er den Karabiner das erste Mal in den Händen gehabt hatte. Es mochte wohl seltsam vorkommen, dass seine Mutter ihm das Schießen damit beigebracht hatte, aber in seiner Familie war vieles anders, als in anderen und dazu kam dann eben auch noch, dass er sogar zwei Mütter hatte: Gundel, seine leibliche und Maria, bei der er aufgewachsen war.
James zog einen Lappen hervor und polierte sorgsam das Gehäuse seines Yellow Boys. Nur durch diesen hatte er überhaupt Sams Botschaft erhalten. Bei seinem Büchsenmacher und Waffenhändler in St. Louis hatte er das Gewehr zur Reparatur abgegeben und dabei von ihm den Brief des Freundes übergeben bekommen.
Zwei Herumtreiber wie er und Sam hatten immer so eine Art von totem Briefkasten für Nachrichten, denn weder er noch der Freund hatten eine feste Adresse.
St. Louis war allerdings für sie beide immer wieder ein Anlaufpunkt und deshalb wohl auch von Sam so gewählt worden. Seit mehr als einem Jahr schrieben sie sich jetzt schon Botschaften, aber sie hatten sich in dieser Zeit immer wieder verfehlt und somit freute sich James natürlich darüber, dass er dieses Mal etwas länger mit dem Freund zusammen jagen würde.
Dafür nahm er sogar die etwas beschwerliche Anfahrt auf sich, denn seit Kansas City war er jetzt schon mehr als 350 Meilen hier im Zug unterwegs.
James blickte herab und konnte sich im Gehäuse der Waffe erkennen.
Er war fast zwanzig und mit seinem dunkelroten Haaren wohl auch nicht das Musterbild für einen typischen Krieger der Dakota, aber zumindest war er ein halber. Die Haarfarbe hatte er von Gundel bekommen, den Mut und die Tapferkeit jedoch von seinem Vater, dem Häuptling Weitblickender Falke vom Stamme der Wahpekhute1.
„Bist du ein echter Waldläufer?“, fragte ihn ein kleiner Junge, der in der Bank vor ihm saß.
Der Kleidung nach traf das wohl zu, allerdings gab es hier ja keinen Wald.
Der Junge mochte etwa zehn Jahre alt sein und blickte jetzt mit leuchtenden Augen auf das Gewehr in seinen Händen.
„Irgendwie schon, aber Scout trifft es wohl eher“, begann James.
Der Junge rutschte aufgeregt zu ihm herüber und dessen Mutter blickte ihm besorgt hinterher.
Ehrfurchtsvoll streichelte der Junge jetzt den Lauf des Karabiners und diese Geste erinnerte James gerade irgendwie an sich selbst, wie er fünf Jahre zuvor diese Waffe begutachtet hatte, als Maria sie ihm bei seinem Aufbruch aus dem fernen Faribault in Minnesota geschenkt hatte.
„Du hast ja gar keinen Colt“, bemerkte der Junge jetzt, weil er nur das große Jagdmesser an seinem Gurt gesehen hat.
„Wer braucht schon einen Revolver, wenn er ein gutes Gewehr hat? Diese Waffe hilft mir im Wald und bei der Jagd viel besser!“, entgegnete er.
„Rolf! Kommst du her?“, rief die Mutter des Jungen.
„Lassen sie ihn doch“, antwortete James auf Deutsch, denn mit solch einem Namen war es eher unwahrscheinlich, dass seine Eltern aus einem anderen Teil der Welt kamen, als seine beiden Mütter.
„Na, wenn er sie nicht stört“, gab die Frau mit leicht schwäbischen Akzent zurück.
„Willst du mal ein Stück Trockenfleisch probieren?“, fragte er Rolf.
Der Junge war sofort Feuer und Flamme und stürzte sich regelrecht auf das zähe Stück Fleisch.
Offenbar las er oft diese komischen Geschichten über den wilden Westen, denn anders war sein absurdes Verhalten gerade nicht zu erklären. Nie im Leben hätte er freiwillig auf dem harten Stück herumgekaut, wenn es auch noch etwas anderes gab.
Mit dem zähen Strunk kämpfend, schlich Rolf wieder zurück auf seinen Platz und ließ ihn vorerst in Ruhe.
Der Kontrolleur kam durch den Wagen und nannte den Namen des Kaffs, welches Sam in seinem Brief als Treffpunkt genannt hatte.
Unmittelbar danach schnappte sich James seine Ausrüstung, nickte Rolf zu und ging zur Ausgangstür.
Der Zug schob sich langsam an den Bahnhof heran und diese Siedlung sah wirklich so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte: Eine Haltestelle, ein Saloon und kaum mehr wie ein Dutzend Häuser.
Ohne die Kansas Pacific Railway wäre hier wahrscheinlich gar nichts!
Wo hatte Sam nur den Tipp her, dass es hier was zu holen gab? Der Name alleine konnte es ja kaum sein!
Quietschend kam die Eisenbahn zum Stehen und James sprang ab.
Auf das Bahnhofsschild hatte jemand einen Büffel gemalt und mit großen Buchstaben Buffalo dazu geschrieben, aber der Treffpunkt wäre dann wohl sicherlich der Saloon!
In der Mittagshitze schlenderte er die staubige Straße hinunter.
Still lächelte er in sich hinein, denn das hätte Rolf sicherlich gefallen: ein Mann, ein Gewehr, eine staubige Gasse und zwölf Uhr mittags! Fehlte nur noch das Duell mit einem zwielichtigen Banditen!
So etwas stand in den Heften, die in den Städten des Ostens über den weiten Westen für 15 Cent an jeder Straßenecke verkauft wurden.
Ein Hund döste in der Hitze und der Saloon lockte mit seiner offenen Tür, aber im Moment würde sein Geld noch nicht einmal für eines der Hefte reichen.
Die letzten Dollar hatte er für die Reparatur seines Gewehres, für Munition und die Fahrkarte ausgegeben und wenn das hier nichts wurde, dann müsste Sam ihm die Rückfahrt bezahlen.
Auf der Straße blickte sich James noch einmal um. Zwei Orte gab es hier, wo sich der Freund im Moment befinden konnte. Und beide Häuser lagen einander direkt gegenüber: Das Saufhaus und das Freudenhaus! Mehr war in diesem Kaff nicht zu finden! Bahnhof und Stall noch, aber da würde Sam unmöglich sein, also würde er es zuerst in der Bar versuchen.
James betrat den schummrigen Raum, in dem zum Mittag nicht wirklich viele Menschen zu finden waren, aber Sams Gestalt war hier sowieso unübersehbar.
Der Freund saß zwar mit dem Rücken zu ihm, doch solch eine Kleidung würde nur ein Waldläufer oder Scout wie er tragen! Und sein Aussehen war auch noch unvergleichlich: Sam war klein, aber dennoch ziemlich muskulös und wie immer hatte er sein blondes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihm bis auf den Rücken fiel.
James schob sich auf den Platz neben Sam, legte den Karabiner auf den Tresen und stieß dem Weggefährten aus alten Tagen mit dem Ellenbogen an.
„Hallo, mein Freund!“, sagte er.
Sam blickte auf und entgegnete: „Du hast dir aber ganz schön viel Zeit gelassen!“
„Ja! Viel zu viel!“, erwiderte James, dann fielen sie sich freudig um den Hals.
1 Wahpekhute - eine der vier Untergruppen der östlichen Dakota. Sie lebten in weiten Teilen Minnesotas.
E in neuer Tag brach an und der Abend zuvor wirkte noch immer in seinem Kopf nach, denn James kam nur langsam aus dem Bett hoch! Der Freund neben ihm schnarchte noch, denn der Whiskey war reichlich geflossen und Sam hatte alles bezahlt, sogar sein Zimmer, obwohl sie sich Sams Absteige und Bett eher unfreiwillig in der Nacht geteilt hatten.
Die Kopfschmerzen jedenfalls waren beachtlich und an diesem Tage sollte auch noch der Abmarsch erfolgen. In etwa zwei Stunden, wie die Taschenuhr ihm soeben verriet!
Der Freund vertrug offenbar auch nicht mehr so viel, wie früher, aber Sam war ja auch doppelt so alt!
„Sam, du alter Saufkopp! Raus aus den Federn!“, rief James und setzte sich auf die Bettkante.
Das Zimmer drehte sich noch ein wenig und der Nebel des Alkohols verflüchtigte sich nur sehr schleppend.
Den Kopf in die Hände gestützt, dachte James an den Tag zuvor zurück. Er hatte den Boss der Truppe kennengelernt und der Mann hatte sich nicht lumpen lassen und ebenfalls ein paar Runden Schnaps ausgegeben.
Gerade stellte er sich den Mann vor. Tom Derenger passte wohl kaum in diese Gegend, oder noch nicht mal in dieses Land. Rolf hätte an ihm seine helle Freude gehabt, denn er war groß gewachsen, schlank und in etwa im Alter von Sam. Seine Hosen hatten Bügelfalten und in seinem breiten schwarzen Gurt steckten zwei vernickelte, glänzende, blankpolierte Colt Navy Model 1861 mit Griffen aus Elfenbein.
Mit weißem Hemd, Fliege, Weste und Hut war er wohl das Ebenbild eines Dandys aus dem Osten, der hier auf Revolverheld machen wollte, doch in seinem Blick lag etwas, was James auch gleichzeitig wieder daran zweifeln ließ.
Sein Instinkt sagte ihm, dass Tom diese Verkleidung absichtlich gewählt hatte, um seine Gegenüber zu täuschen. Auf die eine oder andere Art, aber was er damit bezweckte würde sich ihm bestimmt mit der Zeit noch eröffnen.
„Los jetzt, Sam!“, rief er erneut und trat gegen das Bett des Freundes. Der rollte sich mit einem Geräusch aus dem Bett, das an die Laute eines zu früh geweckten Bären erinnerte.
Zumindest musste der Restalkohol jetzt erst mal aus seinem Kopf.
James schlurfte zur Tür und ging nach unten vor das Haus, um seinen Kopf in einen Eimer kaltes Wasser zu stecken. Das half und er war jetzt endlich soweit munter, dass er sich umsehen konnte.
Sam trat neben ihn und brummte einen Morgengruß, der aber kaum verständlich war.
„Wir hätten auf die andere Seite der Straße gehen sollen, da täte uns jetzt nicht der Kopf weh!“, setzte er seufzend hinzu.
„Dafür etwas anders, wie ich dich kenne!“, entgegnete James.
„Vermutlich! Jetzt haben wir dafür keine Zeit mehr und müssen das Ende der Jagd abwarten!“, erwiderte Sam und versuchte sein Hemd über den Kopf zu bekommen, was ihm aber nur mit Hilfe gelang.
Am Stall standen schon die Wagen aufgereiht, mit denen sie zur Büffeljagd fahren wollten.
Tom hatte ihnen in jedem Falle 500 Dollar als Prämie zugesagt, sogar dann, wenn sie nicht einen einzigen Büffel2 sehen würden. Das versprach, eine lohnende Sache zu werden.
Gegenüber trat eine recht hübsche Frau auf den Balkon und Sam seufzte bei deren Anblick auf.
„Tom hätte dir da sicher auch einen Besuch bei ihr spendiert!“, erklärte der Freund und begann sich prustend zu waschen.
James blickte sich erneut um und konnte den Mann nirgendwo sehen, doch einer der Wagen stand in der Gasse zwischen dem Bordell und dem Store und wurde offenbar gerade mit Vorräten beladen.
Ihre Jagdgesellschaft sollte aus fünfzehn Männern bestehen, das hatte Tom zumindest am Abend zuvor erzählt. Zwei davon verluden gerade Säcke und Kisten.
„Ich gehe mal zum Frühstück und hole danach meine Sachen!“, erklärte James.
„Ich lass‘ das Frühstück aus und gehe erst mal nach gegenüber!“, entgegnete Sam und stapfte über die Straße, wo die immer noch etwas spärlich bekleidete Blondine vom Balkon herab lächelte.
James blickte dem Freund nach, schüttelte den Kopf und betrat dann den Saloon.
Das Frühstück war schnell bestellt und stand dampfend auf dem Tisch, als er mit seinen Sachen wieder die Treppe herabkam.
Tom lehnte an der Bar und kaufte ein paar Flaschen Schnaps, die er in einen Korb verpackte.
„In einer Stunde geht es los!“, sagte er danach im Vorbeigehen.
James nickte ihm mit vollem Munde zu.
Nur sechzig Minuten! Das würde eng für den Freund! Oder es ging ganz schnell! Je nachdem, wie die Frau sich anstellte! Oder Sam!
Zumindest schmeckte das Frühstück ausgezeichnet.
Mehr als gut gelaunt schlenderte James etwas später zum Stall hinüber.
Tom war bereits dort und auch die anderen Männer standen um die bereits angeschirrten Wagen herum.
Sam fehlte noch immer!
„Sechs Wagen, fünfzehn Männer!“, begann Tom, obwohl zusätzlich zu Sam noch ein weiterer Mann fehlte und es auch nur die fünf Planwagen waren.
Tom zeigte zur Seite.
„Piet fährt mit dem Proviantwagen an der Spitze!“, erzählte er weiter. „Ich reite als Scout vornweg. Macht euch also aus, wer mit wem auf dem Bock sitzt!“, sagte Tom noch und ließ sie einfach vor dem Stallgebäude stehen. Sicherlich holte er jetzt sein Pferd.
„Ich nehme einen Wagen mit meinem Freund Sam zusammen!“, erklärte James.
Die anderen Männer machten sich auch gerade ihre Sitzpositionen aus. Zwei oder drei Männer saßen auf jedem Wagen.
Momentan waren sie leer, aber auf dem Rückweg würde darauf das Fleisch der Bisons verstaut sein.
Er trat zu einem dieser Wagen und streichelte die Mähnen der Pferde, um zu ergründen, welchem Gemütes die beiden Tiere waren. Sie waren friedlich und auch die Eisen waren korrekt an den Hufen.
Dem Aufbruch stand damit nichts mehr im Wege. Mal davon abgesehen, dass Sam noch immer nicht zurück war!
„Mach schon, alter Freund!“, sagte James gegen den Wind und blickte die Straße hinab.
Vorn fuhren die ersten beiden Wagen bereits in die Kolonne ein und stellten sich hinter Piets Fuhrwerk auf.
Schließlich stand die Truppe abmarschbereit und Tom kam auf einem wundervollen Schimmelhengst zu ihnen herüber. Das passte irgendwie. Schwarze Kleidung, weißes Pferd! Rolf würde voller Freude aufjauchzen, wenn er jetzt hier stehen würde.
Der Boss ritt an ihnen entlang und stutzte, als er sah, dass er nur alleine hier oben saß.
„Sam pinkelt noch mal schnell hinter den Stall!“, log James und sah sehnsüchtig nach vorn.
Endlich erkannte er die Gestalt des Freundes, der mit offener Jacke und dem Gepäck in der Hand die Straße heruntereilte.
Sam warf sein Gepäck in den Wagen und kletterte herauf.
„Gerade noch rechtzeitig!“, seufzte James.
„Wohl wahr, aber es war nötig!“, gab Sam ihm schmunzelnd zurück.
2 In Amerika sind es eigentlich Bisons und keine Büffel. Die fälschliche Bezeichnung stammt von den frühen europäischen Siedlern, denn obwohl beide zur Familie der Hornträger gehören, zu der unter anderem auch Rinder und Ziegen zählen, sind Bisons und Büffel völlig unterschiedliche Arten, die auf verschiedenen Kontinenten vorkommen und leicht zu unterscheiden sind.
A uf Knien rutschte sie über die hölzernen Dielen und schrubbte diese mit einer Bürste sauber. Ihre fuchsrote Mähne hatte sie unter einem Kopftuch verborgen und dennoch schaffte es eine störrische Strähne immer wieder, sich den Weg nach draußen zu bahnen.
„Arbeite schneller, du faules Stück!“, schimpfte Mister Johnson.
Schneller ging es aber eben nicht!
„Lizzie? Kannst du mir mal bitte helfen?“, hörte sie die Stimmer ihrer Freundin Olivia aus einem der Zimmer nach ihr rufen.
Jeder hier rief sie nur Lizzie, obwohl sie auf den Namen Elisabeth getauft war.
Der Blick von Mister Johnson schien sie an ihrem Platz am Ende des Flures festzunageln, aber sie sprang auf und eilte in das Zimmer. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie dabei, dass ein Teil des Wassers soeben auf die Schuhe des Mannes geschwappt war, was dieser wütend schimpfend quittierte. Das würde sicher noch Ärger geben!
Olivia saß in ihrem Bett und hustete in ein Tuch. Das Kleid der Frau war hinten offen und sie konnte es wohl nicht mehr alleine schließen.
Schnell war Lizzie bei ihr und schloss die Haken.
„Danke dir, Liebes!“, stöhnte Olivia, hustete danach wieder in das Tuch und als sie es fortzog, befand sich Blut darin.
Lizzie kannte das nur zu gut und auch Olivia wusste Bescheid.
„Du solltest jetzt weiterarbeiten, damit er dir nicht wieder den Hintern versohlt!“, erklärte Olivia röchelnd und zeigte mit der Hand nach draußen.
Lizzie nickte und eilte zu ihrer täglichen Beschäftigung zurück.
Mister Johnson stand immer noch im Flur und wischte sich gerade seine schönen Schuhe mit einem Lappen ab, aber bei seinem Blick schmerzte ihr jetzt schon das Hinterteil.
Unverzüglich kniete sie sich zu ihrem Eimer, schrubbte los, als wolle sie die Dielen durchscheuern und blickte dabei den Gang hinab. Der dicke Wirt des Saloons gegenüber kam ihr über den Flur entgegen und nur er rettete wohl momentan ihren Allerwertesten vor der zu erwartenden heftigen Abreibung.
„Mister Smith, wünsche gutes Gelingen!“, begrüßte Mister Johnson den dicken Mann und machte eine Verbeugung, wobei er ziemlich süffisant lächelte.
Der Wirt grüßte zurück und verschwand in Olivias Zimmer.
Zehn Kammern wie jene von Olivia gab es hier. Es war ein ziemlich heruntergekommenes Freudenhaus in einer schäbigen Siedlung und sie war hier das Dienstmädchen für alle nur erdenklichen schmutzigen Tätigkeiten.
Noch immer lag der Blick von Mister Johnson auf ihr und er verhieß momentan nichts Gutes.
Der Mann trat langsam auf sie zu und Lizzie versuchte sich so klein wie nur irgend möglich zu machen.
„Entschuldigung“, murmelte sie, als er vor ihr stand.
„So etwas Verstocktes, unnützes und vorlautes wie dich habe ich ja noch nie gesehen!“, zischte er sie an.
Offenbar dämpfte er gerade seine Lautstärke, um seine zahlenden Kunden in den Zimmern nicht zu vergraulen.
„Ich würde dir nur zu gern mal Manieren beibringen! Du weißt doch, dass ich dich gekauft habe! Vielleicht sollte ich dich einfach mal ordentlich zureiten, um dir diese unnützen Flausen aus dem Kopf zu nehmen! Aber zuvor wird dir Mister Smith in der nächsten Woche ein Geburtstagsgeschenk machen, dass du nicht ablehnen wirst!“, setzte der Mann nach und ging über den Flur zur Treppe.
Lizzies Blick lag dabei auf seinem Rücken und wenn sie jetzt einen Pfeil gehabt hätte, dann wäre der sicherlich nicht vorbeigegangen.
Bei dem Gedanken an den dicken Wirt schüttelte es sie regelrecht. Von dem wollte sie kein Geschenk, egal was auch immer es war.
Gerade war sie mit der Tür von Olivias Zimmer auf einer Höhe und hörte das Quietschen des Bettes von drinnen. Der Mann wog sicherlich annähernd 300 Pfund, das Dreifache ihrer Freundin!
„Arme Olivia!“, dachte sich Lizzie, schrubbte jetzt langsamer weiter und versuchte dabei, das laute Geräusch aus Olivias Zimmer zu überhören.
Eine der anderen Frauen stolzierte an ihr vorbei und beachtete sie dabei gar nicht. Für alle anderen war sie einfach Luft oder eine billige Putze, nur Olivia behandelte sie wie einen Menschen, mit Liebe und Herz.
Scarlett steckte den Kopf durch den Türspalt nach draußen und sah zu ihr.
„Mach mal mein Bett neu, aber sofort!“, wies die Frau sie herrisch an,
Lizzie schlenderte los, denn Scarlett war nicht Mister Johnson, da konnte sie sich Zeit lassen.
Gemächlich versah sie die Schlaf- und Arbeitsstelle der anderen Frau mit neuer Bettwäsche, während Scarlett vor dem Spiegel saß und ihre Locken mit einem wunderschönen silbernen Kamm ordnete.
Wie immer wurde Lizzie von ihr nicht mehr beachtet und schließlich trug sie die schmutzige Wäsche nach unten in die Waschküche, die am Abend auch ihre Schlafkammer wurde.
Als Lizzie auf der Treppe wieder nach oben stieg, kam ihr Mister Smith grienend entgegen.
Oben angelangt lief sie zu ihrer Freundin Olivia, denn auch deren Bett musste neu bezogen werden und dort ließ sie sich besonders viel Zeit. Es waren Augenblicke zum Quatschen!
„Mister Smith will mir am nächsten Sonntag ein Geburtstagsgeschenk machen“, begann sie zu erzählen.
Olivia wischte sich den Mund mit ihrem Taschentuch ab.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete die Freundin ihr.
„Doch! Mister Johnson hat es vorhin zu mir gesagt!“
„Das beginnt damit, dass er die Hose fallen lässt und du mit dem Rücken im Bett landest!“, äußerte Olivia und ein Hustenanfall schüttelte sie regelrecht durch.
„Meinst du wirklich?“, fragte Lizzie nach.
Die Freundin nickte hustend.
„Du solltest hier so schnell wie nur irgend möglich verschwinden!“, setzte Olivia nach Luft schnappend hinzu.
„Das kann ich nicht! Ich habe Mister Johnson diesen Schuldschein unterschrieben und ich kann dich doch auch hier nicht einfach so zurücklassen!“, antwortete sie.
„Du schuldest dem Kerl hundert Dollar und du arbeitest seit einem Jahr für ihn. Hat er dir in der ganzen Zeit auch nur einen einzigen Dollar dafür als Lohn gegeben?“, erkundigte sich Olivia bei ihr.
„Nein“, erklärte Lizzie.
„Dann hast du deine Schuld schon lange beglichen und ich habe nur noch ein halbes Jahr!“, antwortete die Freundin.
Sie blickte auf das blutige Tuch und setzte hinzu: „Wohl eher drei Monate!“
„Aber ich kann dich doch hier nicht einfach so zurücklassen!“, entgegnete Lizzie und kniete sich vor die Freundin.
„Wenn du es nicht tust, dann erbst du hier nur mein Bett! Lauf, so schnell du kannst, kleine Lizzie, und blicke nicht zurück!“, erklärte Olivia.
„Meinst du?“, fragte Lizzie und erhob sich langsam.
Olivia nickte abermals hustend und griff sich ihren Kamm vom Schränkchen. „Den will ich dir schenken und jetzt renn, kleine Lizzie!“, antwortete die Freundin.
Lizzie umarmte sie und steckte den Kamm in ihre Tasche.
Langsam trat sie auf den Flur hinaus und nahm den Eimer.
Mister Johnson kam gerade die Treppe herauf und hatte den Spazierstock in der Hand.
Gegenwärtig war keiner der Gäste auf dem Flur und so kam es, dass dieser Spazierstock schon wenig später auf ihrem Hintern niederprasselte.
Ihre gedämpften Schmerzenslaute waren sicher auch in Olivias Zimmer zu hören.
„Und jetzt mach dich an deine Arbeit, du faules Stück!“, stieß Mister Johnson noch aus, bevor sie mit dem Eimer in der Hand nach unten eilte, um das schmutzige Wasser auf der Straße auszukippen.
Sie rieb sich das schmerzende Hinterteil und trat vor das Haus.
In einer Seitengasse stand ein Planwagen und wurde gerade angeschirrt.
Lizzie kippte den Eimer aus, drehte sich vorsichtig nach der Tür um, dann ließ sie den Eimer stehen und huschte hinter den Wagen.
Mit einem entschlossenen Sprung hechtete sie auf das Fuhrwerk und versteckte sich zwischen ein paar Kisten. Es war ihr egal, wohin das Gefährt sie bringen würde, nur weit von hier fort sollte es sein, bevor Mister Johnson ihr Fehlen bemerken würde.
Mit Tränen in den Augen rieb sie sich den Hintern, dann ruckte der Planwagen an.
Der leere Eimer und ihr bisheriges Leben blieben hinter ihr zurück. Und leider auch ihre Freundin Olivia, deren Kamm sie jetzt aus der Rocktasche zog. Der war wirklich wunderschön.
D er Wagenzug rollte aus der Siedlung hinaus und Sam grüßte im Vorbeifahren noch mal nach oben, wo die Blondine jetzt erneut auf dem Balkon des Freudenhauses stand, zu ihm herab winkte und ihm eine Kusshand zuwarf.
„Tom hatte schon Angst, du verpasst den Treck!“, begann James.
„Ach wo, aber Rachel war mir die Sache wert!“, entgegnete Sam und lächelte entspannt.
„Du kennst sogar ihren Namen? Dafür hat die Zeit also wenigstens noch gereicht!“, antwortete er.
„Natürlich! Wie sollte ich sie denn sonst in den nächsten Nächten in meinen Träumen ansprechen? Sie war echt eine Wucht und ich werde nach unserer Rückkehr sicherlich einen Teil des Geldes bei ihr lassen!“, erklärte Sam und lehnte sich zurück.
„Solltest du nicht langsam mal etwas sesshafter werden?“, erwiderte James und musste dabei schmunzeln, denn der Gesichtsausdruck des Freundes zeigte ihm mehr als deutlich, woran dieser soeben dachte.
Jetzt hatten sie erst mal viel Zeit zum Reden.
„Und bei dir? Auch noch nichts Festes?“, fragte Sam nach einer Weile des glücklich lächelnden Sinnierens.
„Noch nicht. Kommt aber bestimmt noch! Ich muss mir jetzt erst mal überlegen, wo ich im Winter bleibe. Das andere kommt dann später!“, erklärte James.
„Ich bleibe jedenfalls erst mal eine Weile in dem Kaff da hinten!“, antwortete Sam und zeigte mit der Hand hinter sich.
„Und du? Norden oder Süden?“, setzte der Freund noch hinzu.
James zuckte mit den Schultern.
„Der Süden ist im Winter schön! Da ist es warm und dennoch erträglich. Nicht so, wie sonst im Sommer! New Orleans vielleicht, da könnte ich auf einem Dampfer anheuern. Immer von St. Louis nach New Orleans den Mississippi rauf und auch wieder zurück!“
„Hattest du das nicht schon im letzten Jahr gemacht? Kenne ich die Kleine vielleicht?“, entgegnete Sam und schmunzelte.
James räusperte sich.
„Oder in den Norden! Nach Kanada, zur Pelztierjagd!“, erklärte er schnell, bevor Sam den Gedanken weiter aufrollte, denn gerade musste er an die kleine schwarzhaarige Frau aus dem französischen Viertel der Großstadt denken. Die war vermutlich genauso eine Wucht, wie Rachel! Und auch im selben Gewerbe tätig!
„Ja! Kanada!“, sprang Sam erwartungsgemäß auf das neue Thema an und begann jetzt regelrecht zu schwärmen.
Auch James musste an dieses Land im Norden zurückdenken, denn es war in den dichten Wäldern dort oben gewesen, wo sie sich rein zufällig vor Jahren über den Weg gelaufen waren.
Unendliche Weiten, man hätte tagelang laufen können, ohne einen Menschen zu begegnen und sie hatten sich beide denselben Rastplatz ausgesucht.
In jenem Winter hatte ihre Freundschaft begonnen! Das war jetzt schon über vier Jahre her.
„Weißt du noch? Die kleine Dominic?“, fragte Sam mit leuchtenden Augen.
„Sage mal, kannst du auch an irgendetwas anderes denken?“, entgegnete James.
„Du etwa nicht? Schließlich war sie bei dir doch die Erste!“
„Das hat sie dir erzählt?“, stieß James entsetzt aus.
„Sie hat in den höchsten Tönen von der Nacht mit dir geschwärmt!“, entgegnete Sam, doch das Schmunzeln strafte seine Worte Lügen.
Es war furchtbar gewesen! Für sie und für ihn!
„Anderes Thema“, sagte James schnell. „Da du wegen Rachel das Frühstück ausfallen lassen hast, habe ich dir was eingepackt! Brot, Wurst und Wasser ist im Beutel hinter dir!“, setzte er noch hinzu.
Der Freund nickte und zog den Sack nach vorn.
Während Sam genüsslich mampfte, bogen die Wagen von der Straße auf einen holprigen Feldweg ab, der nach Nordwesten zeigte.
Tom umrundete jetzt immer mal wieder seine Wagen und preschte anschließend nach vorn, um den weiteren Weg zu erkunden. Der hielt sich wirklich gut im Sattel und damit bewies er nur zu deutlich, dass sich jeder irren würde, der ihn ein Greenhorn nannte. Tom wusste ganz genau, was er hier tat!
Der Tag zog sich dahin und Stunden später schwärmte Sam noch immer von Rachels Vorzügen. Eventuell war die Frau wirklich einen zweiten Blick wert!
Er war ja jetzt auch nicht mehr dieser unerfahrene Grünschnabel, der er damals noch bei Dominic gewesen war, denn bei seinem unsteten Leben blieb es eben nicht aus, dass man so manche Nacht irgendwo in der Wildnis lagerte, oder bei einer Frau, die sich im Herbst nach Wärme sehnte.
Aber jetzt war erst mal die Jagd wichtiger, für das andere blieb im Winter noch viel Zeit.
Der Feldweg endete im Nirgendwo und die Fuhrwerke rollten in das flache Grasland hinein.
Die große Prärie! Endlose Weiten! Da konnte man monatelang geradeaus fahren und traf dabei auf keinen anderen Menschen! Das war die Heimat der Büffel!
Sam hatte schon so einige geschossen, aber James war bisher noch keines der Tiere vor die Mündung gekommen und dementsprechend gespannt war er darauf, die Bisons leibhaftig vor sich zu sehen, aber bisher war noch nicht einmal eine Spur der gewaltigen Tiere zu erkennen.
Grübelnd blickte er nach vorn in das weite Land. Sie waren hier fünfzehn Männer und wenn Tom jedem der Teilnehmer dieselbe Summe geboten hatte, dann würde er in ein paar Tagen etwa 7.000 Dollar zahlen müssen, selbst dann, wenn sie nichts fanden, was die Kugel lohnte.
War der Mann wirklich so wagemutig? Oder verrückt? Oder trafen sie noch unterwegs auf eine andere Gruppe?
Er hatte ja schon gehört, dass es im Osten richtige Snobs gab, die einmal auf eine Bisonjagd gehen wollten und dafür fast jeden Preis zu zahlen bereit waren.
Eventuell sprach das Aussehen von Tom dafür, dass er genau das vorhatte, obwohl James sich das im Moment noch nicht wirklich vorstellen konnte, denn sonst hätten sie die Männer am Bahnhof in Empfang genommen. Hier draußen konnte man im Nirgendwo verschwinden und ohne Treffpunkt war man hier verloren.
Es blieb also abzuwarten und in der Zwischenzeit zeigte ihm Sam auf einem Blatt Papier und einem Foto eines Büffels, wo die Stelle bei dem Tier lag, die es zu treffen galt.
Doch das blieb alles nur Theorie!
So wie damals bei Dominic!
Da hatte es auch erst das Tun gebracht! Und der erste Schuss durfte auch mal daneben gehen! So wie bei Dominic! Der zweite musste sitzen! Und alle anderen danach ebenfalls!
Das war dann die Praxis!
Seinem Karabiner konnte er jedenfalls vertrauen, denn damit hatte er bisher noch jedes Ziel getroffen!
Und abermals schwenkte Sam von der Bisonjagd zu den offenbar sehr freudvollen Stunden am Morgen! Da hatte der Freund eine andere Beute vor seiner Flinte gehabt!
Beim Schwärmen des Freundes ärgerte er sich jetzt, dass er das Geld am Abend zuvor versoffen hatte, anstatt es für ein paar süße Erinnerungen auszugeben.
Aber die Jagd würde in ein paar Tagen zu Ende sein und für 500 grüne Scheine bekam man sicherlich einige schöne Nächte mit Rachel oder einer ihrer Kolleginnen.
Z uckelnd schob sich der Planwagen durch die Gegend, aber wohin er fuhr, konnte Lizzie aus dessen Innerem nicht erkennen, denn die Planen vorn und hinten waren fest geschlossen und sie wollte nicht hinaussehen, aus Angst, dabei erwischt und aus dem Fuhrwerk geworfen zu werden.
Sie musste schon ewig in diesem schaukelnden Karren sitzen und nur gelegentlich hörte sie Rufe von Männern oder das Wiehern von Pferden.
Seltsamerweise waren weder Ochsen noch Frauen zu hören, aber sie wollte ja auch nur in die nächste Ortschaft und dort würde sie dann heimlich aus dem Planwagen verschwinden, falls der irgendwann mal zum Stehen kam.
Lizzie hatte sich hinter einer der Kisten im Inneren versteckt und saß auf der harten Planke, wobei die unregelmäßigen harten Stöße des Gefährtes auf ihrem geschundenen Hinterteil sehr schmerzten.
Sonst hatte Mister Johnson immer nur die Hand genommen, wenn er ihr eine Abreibung gegeben hatte, doch dieses Mal war es der ziemlich stabile Spazierstock gewesen und damit bestätigte sich Olivias Vermutung nur noch mehr, dass es jetzt wirklich an der Zeit gewesen war, dort aus diesem Haus zu verschwinden.
Putzen und sauber machen waren bisher in Ordnung gewesen, denn das hatte sie auch zu Hause gemacht, solange sie sich zurückerinnern konnte, doch das andere, was Olivia ihr gegenüber angedeutet hatte, ging eindeutig zu weit!
Dann wollte sie doch lieber als Magd auf einer Farm arbeiten, denn das waren ihr gut bekannte Tätigkeiten!
Noch immer machte der Wagen keine Pause!
Am Morgen war sie auf das Gefährt gesprungen und hatte zuvor nichts gegessen. Das musste jetzt schon viele Stunden her sein und ihr Magen begann zu knurren.
Da war es in ihrer Not auch nicht wirklich hilfreich, dass direkt neben ihr ein Korb mit frischen Broten stand und irgendwo auch noch geräucherte Würste liegen mussten, deren Duft ihr momentan so verlockend in die Nase stieg.
Es war die reinste Tortur!
Aber der Vater hatte ihr immer gesagt: „Du sollst nicht stehlen!“
Doch war es wirklich Diebstahl, wenn sie nur ein kleines Stück von der Wust abbiss? Mundraub eventuell! Oder einfach nur an dem geräucherten Wurststück leckte? Das ging sicherlich, denn da verschwand ja nichts von der Wurst!
Der Hunger zog sie aus ihrem Versteck und sie kroch auf allen Vieren im Halbdunkel auf der Ladefläche umher. Dabei folgte sie ihrer Nase und schnupperte wie ein alter blinder Hofhund ihren Weg zum verlockend riechenden Futter!
Die Würstchen schienen direkt an der hintersten Plane zu liegen.
Sie hatte den Korb mit den herrlich duftenden Fleischstücken gerade erreicht und ein der Würste in der Hand, da stoppte der Wagen abrupt und sie fiel zu Boden.
Als sie sich gerade aufgerappelt hatte, schlug ein Mann die hintere Plane zur Seite und schaute sie an.
Sie kniete auf Armlänge vor ihm und hatte die verräterische Räucherwurst noch in der Hand. Leugnen wäre damit völlig zwecklos!
„Wen haben wir den hier? Eine Diebin, die uns das Essen klaut?“, schrie der Mann sie an.
Lizzie ließ die Wurst fallen und zuckte zurück, doch der Mann schnappte sich ihr Handgelenk und zerrte sie ziemlich unsanft vom Wagen herunter.
Verzweifelt versuchte sie, seinem Griff zu entkommen und schrie um Hilfe, doch der Mann lachte hämisch und hielt sie einfach nur fest.
Lizzie blickte sich nach Rettung um, aber sie sah nur etwa ein Dutzend Männer mit sechs Planwagen. Nicht eine Frau und auch sonst kein Mensch, der ihr eventuell helfen konnte.
Und die Wagen standen mitten in der Prärie an einer kleinen Baumgruppe. Ringsum war nur flaches Land bis zum Horizont, gegen den sich gerade die Sonne senkte.
„Lass sie los“, sagte ein älterer Mann mit grauen Haaren und der andere gab schließlich ihre Hand frei.
Fliehen konnte sie hier sowieso nicht!
„Wo kommst du denn her?“, fragte der Alte sie.
„Aus der Siedlung. Ich bin da heute Morgen auf euren Wagen geklettert“, entgegnete sie.
„Und du hast eine Wurst geklaut!“, stieß der andere Mann aus.
„Ich hatte Hunger!“, erwiderte sie.
Mittlerweile waren alle Männer um sie versammelt.
„Wir sollten jetzt erst mal die Nacht vorbereiten!“, erzählte der Mann und setzte dann hinzu: „Ich hätte nicht übel Lust, dich da an einen Baum zu binden und für die Kojoten zurückzulassen. Die haben nämlich auch Hunger!“
Die Männer ließen sie stehen, schoben die Wagen zu einer Wagenburg zusammen und führten die Pferde zur Seite. Danach suchten sie Holz in dem Wäldchen und niemand beachtete sie.
Vielleicht erwarteten sie auch einfach, dass sie davonlief, aber sie wusste im Moment nicht, wohin sie hätte laufen sollen.
Schließlich brannte das Feuer und sie schob sich langsam in die Nähe des alten Mannes, der sie zuvor verteidigt hatte. Er stellte soeben einen Kessel auf das Feuer, drückte ihr einen Eimer in die Hand und sagte: „Kannst du Wasser vom Bach holen?“
Dabei zeigte er nach links, wo die Pferde augenblicklich im Gewässer tranken.
Lizzie lief dorthin und prüfte die Strömung, dann ging sie Bachaufwärts und schöpfte das Wasser.
Als sie zurückkam, nickte ihr der Alte zu. Er hatte sie vermutlich dabei beobachtet, nahm ihr den Eimer ab, goss das Wasser in den Kessel und hielt ihr danach die Hand hin.
„Ich bin Piet“, sagte er.
„Lizzie, eigentlich Elisabeth“, entgegnete sie ihm und gab ihm ebenfalls die Hand.
Piet brach ein Stück Brot ab und schob es ihr zu.
Gierig verschlang sie die Scheibe.
„Ihr könnt mich ja morgen irgendwo in der nächsten Ansiedlung absetzen“, erklärte sie ihm kauend.
„Das wird schwierig. Wir werden die nächsten Wochen nicht in einen Ort kommen“, entgegnete ihr Piet.
„Geht ihr etwa auf einen Trail?“, fragte sie entsetzt, denn die Überlandfahrten konnten mitunter Monate dauern.
„Nein! Auf die Jagd. Setz dich“, erklärte Piet und zeigte auf den Platz neben sich.
„Das da drüben ist Tom. Unser Boss! Vor ihm solltest du dich in Acht nehmen!“, erzählte Piet und zeigte auf den Mann, der sie vom Wagen gezogen hatte.
„Könnt ihr mich nicht einfach zurückbringen?“, erkundigte sie sich bei Piet.
Tom hatte es wohl gehört, denn er sagte ziemlich laut: „Dann verlieren wir zwei Tage! Entweder du kommst mit, oder du bleibst hier!“
Lizzie blickte sich um und erwiderte dann: „Da komme ich lieber mit!“
„Was kannst du denn?“, fragte Tom.
„Sauber machen, Kühe füttern und alles, was man so im Haushalt machen muss“, erwiderte sie ihm.
„Also all das, was wir in den nächsten Wochen garantiert nicht brauchen werden!“, stieß Tom aus.
„Kannst du kochen?“, fragte Piet.
„Ja! Natürlich!“, antwortete sie.
„Na also! Dann zeige mal, was du kannst!“, äußerte Piet und drückte ihr den Kochlöffel in die Hand.
Damit war sie ab sofort die Köchin der Gruppe.
Zumindest dann, wenn die Suppe genießbar werden würde, anderenfalls würde Tom sie sicherlich den Kojoten überlassen.
J ames stand an die Seite eines der Wagen gelehnt, rieb den Winchester Karabiner mit einem Tuch ab und schaute dabei unentwegt zum Feuer hinüber, denn die Bewegungen dieser jungen Frau ließen ihn nicht mehr los.
Sie hatte ebensolche roten Haare, wie er selbst und es gab hier nur wenige, die er bisher gesehen hatte, die eine solche strahlende Lockenpracht besaßen.
Jetzt, im Schein der untergehenden Sonne, waren sie noch viel intensiver zu sehen.
Unentwegt fixierte er die Frau. In ihren Gesten war mitunter noch ein kleines Mädchen zu erkennen, das nervös in den Haaren zupfte, oder irgendwelche unkontrollierte Handbewegungen machte, doch das war wohl auch normal, denn sie war die einzige Frau unter fünfzehn Männern.
Wäre es umgekehrt, so wäre sicher auch er nervös gewesen.
Doch mitunter blitzte bei ihr auch schon eine sehr schöne junge Frau durch. Sie mochte noch keine sechzehn sein, aber ihr Gesicht war einfach wundervoll anzusehen.
Die Katzengleichen grünen Augen hatte er zuvor aus nächster Nähe gesehen und sie waren ebenfalls bezaubernd gewesen. Die Sommersprossen auf ihrer Stupsnase waren den seinen gleich und er mochte das.
Sie rührte im Topf und dabei war ihr anzusehen, dass sie mit allen Mitteln versuchte, das Beste aus der Suppe herauszuholen.
Immer wieder kostete sie oder würzte mit Piets Hilfe etwasnach.
Der alte Piet und sie waren der ruhende Pol in der abendlichen Geschäftigkeit.
Eigentlich hätte er gerade die Wache und sollte die Gegend im Auge behalten, doch im Moment beobachtete er eben nur noch sie.
Auf die Entfernung von etwas mehr wie einem Dutzend Schritten konnte er keinen Blick mehr von ihr lassen.
Ihre Kleidung war einfach. Sie trug eine hellbraune Bluse mit kurzen Ärmeln und einen dunkelbraunen Rock, der ihr gerade einmal bis zum Knie fiel. Vielleicht ein Stück zu kurz, wenn man die anderen Frauen mitunter so sah.
Das bunte Kopftuch konnte ihre Mähne nicht bändigen und gelegentlich wischte sie sich die Hände an einer hellen Schürze ab.
Sie musste wohl direkt aus einer Küche oder von einer Hausarbeit auf den Planwagen geklettert sein, denn in solch einer Kleidung würde keine andere Frau auf die Straße gehen.
Mit zunehmender Dunkelheit beendeten alle ihre Tätigkeiten und versammelten sich um das Feuer. Die Pferde grasten ein paar Schritte abseits und jetzt trat auch James näher heran.
Der Duft der Suppe war zu verlockend, als dass er dabei abseitsstehen konnte.
Den Karabiner über dem Arm, stellte er sich so an das Feuer, dass er den Inhalt des Topfes und sie gleichzeitig im Blick haben konnte.
„Na, dann zeige mal, ob du wenigstens kochen kannst“, erklärte Tom und hielt ihr seinen Napf hin.
Vorsichtig goss sie die Kelle hinein und Tom zog den Löffel aus seinem Stiefel.
„Zumindest riecht es gut“, bemerkte er, bevor er den Löffel in den Mund schob.
In den Augen der Frau war so ein flehender Zug, dass es ihm schmecken sollte.
„Also, auf alle Fälle ist es besser, als das, was du uns bisher vorgesetzt hast!“, gab Tom nach dem ersten Löffel bekannt und blickte dabei zu Piet hinüber.
„He! Ich habe nur gesagt, dass ich weiß, wie man die besten Steaks aus einer Kuh schneiden kann. Du wolltest doch unbedingt, dass ich auch für euch koche!“, verteidigte sich Piet und alle mussten lachen.
Jetzt wollte jeder die Suppe kosten und alle hielten ihr die Näpfe hin.
Gefräßiges Schweigen und anerkennendes Raunen setzte ein.
„Das Zeug ist besser, als das, was meine Mutter immer gekocht hat!“, erklärte Sam schmatzend und hielt ihr den Napf noch einmal hin.
Während sich die Männer schon die zweite Schüssel nahmen, hatte sie noch nicht einmal davon gegessen. Noch immer stand sie verlegen neben dem Feuer und so viel Lob ließ gerade ihre Wangen etwas röter werden.
Oder lag das nur an der Sonne, die soeben hinter dem Horizont verschwand? Zumindest sah es wirklich schön aus!
„Du solltest jetzt auch was essen!“, ermahnte der alte Piet die Frau und schließlich nahm sie sich ebenfalls einen Napf.
„Also, wenn du weiter so gut kochst, dann behalten wir dich erstmal!“, erklärte Tom und leckte seinen Löffel sauber.
Sie nickte, sprach ein tonloses Gebet und schaufelte dann ihre Suppe in sich hinein.
Während Piet Brot und Kaffee verteilte, ordnete Tom die Wachen an. Immer drei Mann würden jeweils zwei Stunden auf Posten sein, bevor dann die nächsten die Wache übernahmen. Damit würde jeder wenigstens ein wenig Schlaf bekommen.
„Die Männer bleiben am Feuer in der Nacht und Lizzie schläft auf dem Wagen“, tat Piet zum Schluss kund.
„Aber auf einem der leeren Planwagen! Auf dem Vorratswagen frisst die uns nur in der Nacht die Wurst auf“, entgegnete Tom.
Es klang gehässig und einige der Männer lachten.
„Und vorher machst du noch den Abwasch!“, setzte Tom hinzu und schob ihr die leeren Näpfe hinüber.
Der Bach war zwar nur etwa drei Dutzend Schritte entfernt, aber mittlerweile im Dunkel der Baumgruppe verschwunden. Mit etwas Angst im Blick schaute sie daher zu der Stelle hinüber.
„Ich komme mit und leuchte dir den Weg aus“, erklärte James und griff sich den Karabiner sowie eine Fackel.
Lizzie nickte dankbar, sammelte die Näpfe in den leeren Eimer und ging damit in die Dunkelheit.
Er folgte ihr mit einem Schritt Abstand und leuchtete mit der Fackel in den Wald hinein.
Eigentlich hätte er in die Gegend schauen müssen, ob sich ihnen da jemand näherte, aber sein Blick lag auf dem wiegenden Gang der Frau vor ihm. Sie war einen halben Kopf kleiner als er und bewegte sich anmutig durch das Waldstück.
James musste dabei an die Geschichten denken, die ihm seine Tante Clara einst im Winter erzählt hatte. Von Elfen und Feen im Wald. Lizzie bewegte sich gerade so, wie er sich das als Kind damals vorgestellt hatte.
Aber da war auch noch etwas anders in ihren Bewegungen, etwas Katzengleiches, schleichend und lauernd! Offenbar setzte sich dieser raubtierhafte Ausdruck ihrer Augen bis zu ihrem Gang fort.
Schließlich kniete sie sich an den Bach und spülte die Näpfe sauber.
„Ich danke dir, dass du mitgekommen bist“, erzählte sie dabei leise.
„Gern geschehen. Ich bin James“, entgegnete er.
„Lizzie, eigentlich Elisabeth“, gab sie ihm fast schüchtern zurück.
Der Fackelschein machte ihre Wangen noch ein Stück röter.
Irgendwo knackte es im Unterholz und sie beide zuckten zusammen, dann mussten sie beide darüber lachen.
Sie hatte dabei solch kleine Grübchen, wie sie seine Schwester Katharina manchmal hatte und das machte Lizzie jetzt in seinen Augen nur noch sympathischer.
D er Tag neigte sich seinem Ende zu und dennoch war Lizzie nicht müde, denn es war der erste Tag, an dem sie eigentlich nicht viel gemacht hatte. Die ganze Fahrt über hatte sie auf dem Fuhrwerk gesessen und danach nur noch gekocht.
Bei Mister Johnson hätte sie in dieser Zeit das ganze Haus putzen müssen! Inklusive aller Fenster, wozu auch immer man das jeden Tag hätte tun müssen! Es schien ihr die reine Schikane gewesen zu sein und jetzt war sie frei.
Zumindest irgendwie.
Momentan kniete sie in der Wildnis an einem kleinen Bach und säuberte die Näpfe der Männer, die einige Schritte hinter ihr am Feuer saßen.
Die Dunkelheit veränderte gerade die Umgebung in einer ziemlich beängstigenden Weise und sie war auch noch nie nachts in einem Wald gewesen.
Der zuckende Schein der Fackel zauberte Fabelwesen in die Gebüsche und sie musste dabei immerfort an die Geschichten der Mutter denken, die einst von Kobolden und Trollen gehandelt hatte.
Gab es die eventuell auch hier?
Zum Glück stand James in ihrer Nähe und hatte ein geladenes Gewehr in seiner Hand. Das gab ihr ein wenig die Ruhe zurück, aber beklemmend war es hier dennoch!
„Vermisst dich eigentlich keiner?“, fragte James.
„Nein. Nicht wirklich“, entgegnete sie und stapelte die Näpfe in den leeren Eimer hinein.
„Mutter? Vater?“, erkundigte sich James jetzt.
„Meine Eltern und meine beiden kleinen Schwestern sind im letzten Jahr an der Schwindsucht gestorben“, antwortete sie und blickte in den Bach.
„Oh, das tut mir leid“, erwiderte James.
Sie blickte zu ihm auf. Er war nett und sein rotes Stoppelhaar umrahmte ein gegenwärtig trauriges Gesicht. Bart und Haare hatten dieselbe Länge und an den Seiten zogen sich rote Koteletten über seine Wangen bis zum Bart herunter.
„Kommst du auch aus Irland?“, erkundigte sie sich.
„Nein! Ich bin zur Hälfte ein Dakota und zur anderen komme ich aus einem kleinen Dorf bei Magdeburg. Dass liegt drüben in Preußen!“, erklärte er und zog das Gewehr fester in seinen Arm.
„Und? Vermisst dich jemand?“, konterte sie.
„Mein Vater ist seit Jahren tot, meine Mutter wohnt weit oben im Norden, in einem kleinen Ort in Minnesota!“, erzählte er und blickte sich dabei um, als könne er deren Haus von hier aus sehen.
„Vor ein paar Jahren sind meine Eltern mit mir über den großen Teich gekommen, um in diesem Gebiet auf einer Farm ein neues Leben anzufangen, aber das sollte wohl nicht sein. Sie sind dem Hunger in Irland entkommen, um dieser verdammten Krankheit hier im gelobten Land zum Opfer zu fallen“, erklärte sie bitter und erhob sich aus ihrer knienden Position.
Irgendwo knackte es im Unterholz.
„Wir sollten wieder zurück“, bemerkte sie ängstlich.
Der Schein des Feuers zog sie jetzt regelrecht zu den anderen Männern.
Mit dem Eimer in der Hand ging sie zurück und James blieb neben ihr.
Ein dringendes Bedürfnis ließ sie kurz ihre Schritte stoppen.
„Ähm, ich muss mal“, sagte sie und blickte sich um.
Im Lager zwischen den Männern wollte sie sich nicht neben einen der Wagen hocken müssen. Dann doch lieber hier, aber konnte sie sich hier so einfach in den Wald kauern? Mit James neben sich?
„Ok, mach hin, aber schnell“, entgegnete James und blickte dabei in die Richtung, aus welcher das letzte Knacken gekommen war.
Das machte es gerade nicht wirklich einfacher für sie!
„Ist da etwas?“, fragte sie und blickte angestrengt in dieselbe Richtung.
„Keine Ahnung! Aber im Wald knackt es nur selten völlig grundlos“, erklärte James.
„Allerdings machen Raubtiere für gewöhnlich keine Geräusche“, setzte er noch hinzu, aber das verstärkte nur das seltsame und beunruhigende Gefühl in ihr.
„Wenn ich nicht auf dich aufpassen müsste, dann könnte ich mal nachsehen gehen“, bemerkte James jetzt.
„Nein! Bitte bleib“, erwiderte Lizzie, zog sich den Rock hoch und kauerte sich eilig neben einen der Bäume.
„Mach hin“, flüsterte James und lud die Waffe durch.
Es war schon schwierig genug, sich hier im Wald neben dem Mann zu hocken und pinkeln zu müssen und da war dieses mehr als laute Geräusch, mit dem er das Gewehr durchlud, nicht wirklich sehr hilfreich dabei.
Gerade ließ sie es laufen, da brach ein paar Schritte neben ihr eine dunkle Gestalt durch das Unterholz.
Ihr erschrockener Schrei und der Schuss der Büchse fielen beides zusammen und als sie voller Furcht aufsprang, fiel ein totes Reh direkt vor ihre Füße.
„Da hätten wir schon mal das Essen für morgen“, erklärte James und lud die Waffe neu.
Einige der Männer kamen zu ihnen gelaufen und Lizzie drückte sich mit dem Rücken gegen einen der Bäume, damit sie das Malheur mit ihrem Rock nicht bemerken würden, denn der war hinten ziemlich feucht geworden.
„Guter Schuss“, erzählte Piet und hob sich das Reh auf die Schultern.
Die Männer gingen wieder zum Lagerfeuer zurück und zum Schluss standen nur noch sie und James im Wald.
„Musst du immer noch?“, erkundigte er sich.
„Das hat sich gerade erledigt“, entgegnete sie und versuchte nach hinten über die Schulter zu blicken, um die nasse Spur zu sehen.
Mit der Hand war sie jedenfalls zu ertasten und würde in der Nacht hoffentlich trocknen, aber sie würde es zuvor noch säubern müssen.
„Jetzt müsste ich mich eigentlich noch waschen“, seufzte sie.
„Inklusive deines Rockes. Oder?“, fragte er schmunzelnd.
Unschlüssig blickte sie zum Bach zurück und nickte.
„Also nach dem Schuss sind wir jetzt erst mal eine Weile in Sicherheit“, offenbarte er lächelnd.
„Wenn du mir leuchtest und in der Nähe bleibst?“, erkundigte sie sich vorsichtig.