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Ein verbummelter Philosophiestudent erbt von seinem Großvater ein Sparbuch und ein Fotoalbum, in das nicht nur Fotos, sondern auch Flugtickets und Hotelquittungen eingeklebt sind. Der Großvater hatte sich in eine Ballerina verliebt und war ihr auf einer Tournee gefolgt. Athen, Paris, Lissabon. Der Enkel macht es ihm nach.
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Seitenzahl: 119
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Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Jenes Bild ist mir unvergesslich in Erinnerung: Wie der Großvater, den Hut in der Hand, auf dem Düsseldorfer Südfriedhof aufrecht hinter dem Sarg seiner Frau einherschritt. Sicher, da war eine große Trauer in seinem Blick. Zugleich aber glaubte ich auch Dankbarkeit zu erkennen, diese Frau gekannt und mit ihr gelebt zu haben. Zu mir sagte er: „Junge, jetzt haben wir viel verloren.“
Ich war zu dieser Zeit gerade 19, machte mir nicht viele Gedanken über die Vergänglichkeit. Das Leben ging weiter. Der Großvater, er war da 78, zog zu meinen Eltern nach Köln, pflegte einen Lebensstil ohne besondere Unternehmungen und Ereignisse, hing Erinnerungen nach, wandte sich keiner Frau mehr zu, unternahm nicht den geringsten Versuch. Ich dagegen entschied mich nach dem Abitur für das Studium der Philosophie – was Besseres fiel mir nicht ein – und fand Frauen hochinteressant. Um bei meinen Erkundungstouren unabhängig zu sein, zog ich von zu Hause aus, mietete ein möbliertes Zimmer, verschlief Vorlesungen, wurde mehr und mehr zu einem verbummelten Studenten. Ab und zu besuchte ich auch die Eltern und den Großvater, der ein feines Gespür dafür hatte, dass ich mehr und mehr in den Tag hineinlebte, ohne eine solide Perspektive zu haben.
„Junge“, sagte er, „höre mit der Herumturnerei auf und lerne etwas Ordentliches. Und wenn du das geschafft hast, dann wende dich meinetwegen den Frauen zu. Andersherum geht es bergab. Dann sitzt du mit 40 auf der Straße und keine Frau will mehr etwas von dir wissen.“
Der Großvater hatte gut reden. Er hatte es richtig gemacht, zuerst ein solides Handwerk gelernt – er war Sattler, hatte eine eigene Werkstatt – und sich dann erst der Damenwelt zugewandt. Wie ich aus seinen sparsamen Erzählungen wusste, hatte er sich in eine Düsseldorfer Balletttänzerin verliebt, war ihr sogar zu Auftritten nachgereist, hatte um sie geworben, mit Erfolg, und schließlich geheiratet. Im Flur der Düsseldorfer Wohnung hingen Fotos aus der Glanzzeit der Großmutter, Bilder, die von einer grazilen Kunst zeugten. Eine schöne Frau! Der Großvater hatte gut gewählt. Als ich diese Fotos das erste Mal bewusst betrachtete, war die Zeit des Tanzens schon lange vorbei. Die Großmutter hatte sich von der Bühne zurückgezogen, arbeitete als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei. Mir war sie als sehr liebenswerte und freundliche Frau in allerbester Erinnerung. Vor allem auch, weil sie bei meinen Besuchen die besten und leckersten Reibe- und Pfannekuchen servierte, die ich kannte. Auch hatte ich mitbekommen, dass sie einen hervorragenden Eierlikör fabrizierte, den sie gar nicht so gut verstecken konnte, dass ich ihn nicht fand. Schon als zehnjähriger Bub wusste ich, dass die Flasche hinter einem Regal mit Büchern stand. Mag sein, dass der frühe Genuss dieses Getränks zu meiner leichtsinnigen Lebensweise beigetragen hat. Statt als Student gewissenhaft zu lernen, verbummelte ich die Nächte mit Skatrunden oder auch mit Kommilitoninnen, die das Bett interessanter fanden als den Hörsaal. Mit dreißig Jahren steckte ich im 21. Semester, ohne irgendeinen Examensabschluss zu haben. Da gab es nur ein paar Seminarscheine über die Philosophie des Mittelalters. Unter anderem hatte mich die Frage des Thomas von Aquin interessiert: „Wieviele Engel haben auf einer Nadelspitze Platz?“
Zu meinem dreißigsten Geburtstag nahm mich mein Vater ins Gebet.
„Jakob, ich will dir deinen Geburtstag nicht versauen, aber wie lange willst du uns noch auf der Tasche liegen und studieren? Du hast immer noch keinen Abschluss und langsam tut es mir leid, dass wir dich statt aufs Gymnasium zu schicken nicht zum Bäcker in die Lehre gegeben haben. Deine Mutter und ich bekommen gar nicht mit, was du in deiner Wohnung so alles treibst. Aber uns schwant nichts Gutes.“
„Mach dir keine Sorgen Vater. Mir fehlt noch ein Schein und dann geht es ab ins Examen beziehungsweise zur Masterprüfung. Mit der Masterarbeit habe ich schon angefangen. Die ersten Seiten sind fertig.“
„So, so! Dein Thema?“
„Ethik und angewandte Philosophie.“
„So? Und was macht man damit?“
„Bei Zeitungen arbeiten im Feuilleton für Kultur, vielleicht beim Fernsehen. Aber das weiß ich noch nicht genau.“
„Flausen! Nichts als Flausen! Mir wäre lieber gewesen, du hättest BWL und Steuerberatung studiert und könntest in zwei Jahren unser Büro übernehmen. Kannst du immer noch. Du wechselst auf die IU, die Internationale Hochschule Köln, machst ein duales Studium, eben BWL und Steuerberatung. Meinen Ruhestand schiebe ich auf, bis du fertig bist. Dann hast du etwas Handfestes. Philosophie! So etwas Brotloses! Nachdenken über die Probleme der Welt kannst du abends nebenbei auf dem Balkon. Überleg es dir!“
Ich sah meine Felle davonschwimmen. Kein bequemes Leben mehr, kein langer Schlaf, keine Nächte mit Skat, keine willigen Kommilitoninnen mehr. Ich war vom Geld des Vaters abhängig. Wenn das nicht mehr floss, war Feierabend. Die Vorstellung, irgendeinen ungeliebten Job anzunehmen, bedrückte mein Gemüt. Aber als ebenso reizlos empfand ich das Studium der Betriebswissenschaften und der Steuerberatung. Der Abschluss in der Philosophie würde sich noch lange hinziehen. Dass ich bereits mit einer Masterarbeit begonnen hätte, war schlicht eine Lüge der Not gewesen. Da gab es nicht eine einzige Seite. Und ein Thema hatte ich schon gar nicht.
„Gib mir noch etwas Zeit!“ bat ich. „Ich will es mir überlegen. Vielleicht hast du ja recht.“
„Zöger‘ es nicht zu lange hinaus! Es ist mein letztes Angebot.“
Zwei Monate nach dem Gespräch mit dem Vater rief mich meine Mutter eines Morgens an.
„Junge, Jakob, dem Opa geht es gar nicht gut.“
„Dem Opa? Du meinst den Großvater!“
Ich konnte den Ausdruck ‚Opa‘ nicht leiden, empfand ihn als respektlos, als Jargon von Boulevardzeitungen. Wenn die Mutter ‚Opa‘ sagte, korrigierte ich sie immer oder fragte: „Wen meinst du?“
„Ja, ja“, antwortete sie. „Du weißt doch genau, von wem ich spreche. Also, es geht ihm nicht gut. Er wird Morgen ins Krankenhaus müssen, will dich aber vorher noch einmal sehen. Im Krankenhaus ist das wegen Corona nicht mehr möglich.“
„Schlimm? Was ist es denn?“
„Krebs. Mit Metastasen. Er wird das Krankenhaus nicht mehr verlassen.“
„Ich komme, bin in einer Stunde da.“
Großvater Hermann lag in der oberen Wohnung, die er im Haus meiner Eltern hatte, im Bett. Er sah bleich und abgemagert aus. Aber ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er mich sah und mir die Hand reichte.
„Schön, dass du gekommen bist. Es gibt etwas zu bereden. Das wird unser letztes Gespräch sein. Es geht zu Ende. Ich spüre das. Aber das macht nichts. Ich habe genug gelebt. Vielleicht treffe ich ja deine Großmutter. Im Himmel, im Jenseits oder weiß der Kuckuck wo. Glaubst du an sowas? Bist doch ein studierter Bub. Philosophie!“
Ich hob die Schultern. „Woher soll ich das wissen? Keine Ahnung. Wäre aber schön.“
„Naja“, meinte er. „Darum geht es jetzt auch nicht. Ich mache mir ein paar Sorgen wegen dir. Keine Angst! Nicht wegen der Philosophie und deines langen Studiums. Dein Vater hat mir erzählt, was er mit dir vorhat. Mach es nicht! Du bist nicht geeignet für Steuerberatungen. Da lerne lieber Koch oder sonst etwas Handfestes. Andererseits stimmt es schon: Du musst aufpassen, dass du dich nicht verbummelst, zum Müßiggänger wirst. Und was die Frauen betrifft: Suche lieber eine richtige statt wie ein Schmetterling herumzunaschen.“
Er machte eine schwache, wegwerfende Handbewegung, fuhr fort: „Darüber wollte ich eigentlich nicht reden. Junge, wir sehen uns heute das letzte Mal. Mach oben rechts die kleine Schranktür auf. Unter den Pullovern liegt etwas für dich.“
Ich ging zu dem Schrank, öffnete die obere rechte Tür, suchte unter den Pullovern, zog ein rotes Büchlein heraus. ‚Sparkasse Köln/Bonn‘ stand oben in der linken Ecke in weißen Buchstaben. Und darunter in größeren Lettern ‚Sparkassenbuch‘. Ich sah den Großvater fragend an.
„Ja, ja!“ sagte er. „Das ist für dich. Es sind zwar nur 25 000 Euro. Mehr war mir in all den Jahren bei meiner bescheidenen Rente nicht möglich. Aber du hast dann erst einmal für zwei Jahre Ruhe und bist unabhängig vom Geld. Und noch etwas. Öffne die andere kleine Schranktür. Hier findest du ein Album mit allerlei Fotos und Souvenirs. Flugtickets, Hotelquittungen, Eintrittskarten. Ich vermache es dir. Sonst interessiert sich ja niemand dafür. Die Bücher, wenn ich nicht mehr bin, kannst du auch haben. Das ist schon mit deiner Mutter geklärt.“
„Und das Sparbuch?“ fragte ich. „Wissen die Eltern das?“
„Nein. Die kriegen nix. Die haben mich mit ihren Ermahnungen genug gequält.“
„Nun heul nicht, mein Junge!“ sagte der Großvater. „Das Leben ist so. Es fängt an und hört auf.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür.
„Deine Mutter“, flüsterte der Großvater. „Steck das Sparbuch ein!“
Ich schob das rote Heft in die Hosentasche. Kaum hatte ich es verstaut, öffnete sich auch schon die Tür. Die Mutter kam herein, hatte rote Augen. Ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Großvater versuchte sich aufzurichten, schaffte es nicht, fiel mit dem Kopf zurück auf das Kissen, sagte aber mit lauter Stimme:
„Wenn ihr hier flennen wollt, schmeiß ich euch raus.“
Die Mutter unterdrückte ein Schluchzen, blickte hilflos zur Zimmerdecke hoch. Ich drehte mich zum Bücherregal hin, wischte mir verstohlen mit der Hand über die Augen.
„Hermann“, fragte meine Mutter, „kann ich noch etwas für dich tun? Essen willst du ja nichts.“
„Bring mir das Morphin und aus eurer Hausbar den Whisky mit zwei Gläsern.“
„Ich bring dir nicht das Morphin. Nicht die ganze Flasche. Nur eine Tablette. Whisky? Du weißt, dass du in deinem Zustand nichts trinken darfst.“
Hermann lächelte amüsiert, verdrehte die Augen. „Nun geh schon! Mach kein Ammentheater. Ich will mit dem Jungen noch ein Gläschen zum Abschied trinken. In eurem Scheißkrankenhaus geht das ja nicht. Da gibt es noch nicht einmal Besuch.“
Meine Mutter schüttelte den Kopf, zögerte. Dann aber ging sie und kam kurz darauf mit dem Gewünschten zurück.
„Das ist sehr unvernünftig“, sagte sie. „Aber bitte, wie du willst. Ich lass euch jetzt wieder allein.“
„Komm, Junge“, forderte mich der Großvater auf. „Schenk ein! Die blöde Pille schluck ich mit dem Whisky. Und tu mir noch einen Gefallen. Hol das Album, schlag die erste Seite auf, nimm das Foto heraus und gib es mir. Ich nehm es mit.“
Ich ging wieder zu dem Schrank, öffnete jetzt die linke Tür. Da lag auf einem Stapel Hemden das Album. Ich schlug den Deckel auf, sah direkt das Foto, nach dem der Großvater verlangt hatte. Vorsichtig löste ich es, gab es ihm. Es zeigte meine noch junge Großmutter in einem roten Kleid, wie sie elegant und graziös mit ausgestreckten Armen auf nur einer Fußspitze tanzte.
„Sowas musst du dir suchen, mein Junge“, murmelte der Großvater. „Dann hast du fürs Leben genug und willst nichts anderes mehr.“
Gedankenvoll hielt der Großvater das Bild in den Händen, betrachtete es. Dann sagte er: „Nein, nein, nimm du es. Kleb es wieder ein. Im Krankenhaus kommt es nur weg.“
Er gab mir das Foto zurück. Sein Atem ging jetzt schwer. „Junge“, fragte er leise, „kannst du mir noch einen Gefallen tun?“
„Ja“, antwortete ich. „Was denn?“
„Du kennst dich doch hier im Haus aus. Bring mir die Flasche mit dem Morphin!“
Ich erschrak. Mir war klar, was der Großvater vorhatte. Ich konnte mir denken, wo das Morphin aufbewahrt wurde. Im Badezimmer der Eltern, im Arzneischränkchen. Die Mutter verwahrte den Schlüssel. Wo, wusste ich nicht. Ich schüttelte den Kopf.
„Das ist weggeschlossen. Ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist. Wahrscheinlich trägt die Mutter ihn jetzt bei sich. Ich komm da nicht dran.“
„Entschuldige, Junge, dass ich dich damit belaste. Das gibt nur Scherereien. Ich kann ja nicht mehr aufstehen. Die Polizei wird an Sterbehilfe denken. So kann ich nicht von euch gehen.“
Zum Abschied beugte ich mich über den Großvater, küsste ihn auf die schweißnasse Stirn. „Danke“ sagte ich, „für alles, was ihr für mich getan habt.“
Er machte eine Handbewegung zur Tür hin. „Geh jetzt!“ sagte er.
Das Album legte ich bei mir auf den Schreibtisch. Ich war nicht in der Lage, es jetzt schon durchzublättern. Das Sparkassenbuch schob ich in die Schublade, warf zuvor einen kurzen Blick hinein. 25 879 Euro und ein paar Cent. Freuen konnte ich mich darüber noch nicht.
Am Vormittag des nächsten Tages wurde der Großvater ins Krankenhaus transportiert. Es gab keine Hoffnung mehr. Der Krebs war zu weit fortgeschritten. Er lag noch ein paar Tage allein auf irgendeinem Zimmer. Niemand von uns durfte ihn wegen Corona besuchen.
Die Philosophiebücher, die ich hatte, waren schlau. Aber auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens gaben sie keine Antwort.
Zum allerletzten Mal sah ich den Großvater aufgebahrt in der Kapelle des Düsseldorfer Südfriedhofs. Vor der Trauerfeier konnte man am offenen Sarg Abschied nehmen. Man durfte wegen Corona nur einzeln antreten und musste selbst dort eine Maske tragen. Der Großvater lag ganz entspannt in der weißen Innenausstattung und schien mir ein rätselhaftes Lächeln im Gesicht zu haben, so als würde er sich freuen, endlich wieder seiner Frau begegnen zu können. Vielleicht war es auch die Freude, dem zunehmenden Irrsinn in der Welt entkommen zu sein. Oft hatte er über die zunehmenden Krisen den Kopf geschüttelt. Klima, Inflation, Corona und Krieg. Dass sich jetzt auch noch die Affenpocken hinzugesellt hatten, hatte er nicht mehr mitbekommen. Ich dachte auch daran, wie er immer über die Digitalisierung geschimpft und sich der Anschaffung eines Computers oder Smartphones verweigert hatte.
„Firlefanz, Entpersönlichung, Überwachung, Manipulation. Terror mit Updates und PIN-Nummern. Wenn ein