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Ludwig Witzani präsentiert in dem vorliegenden Buch dem Leser Australien in dreifacher Weise: zunächst als "Einsteigerreise" für Australiennovizen mit den typischen Highlights wie Sydney, den Ayers Rock, Queensland und den Kakadupark im tropischen Norden. Die zweite Reise führt den Leser von Tasmanien und der Great Ocean Road gesamte pazifische Küste entlang bis zum Cape Tribulation im Norden Queenslands. Mit der dritten Reise, einer Tour von Perth nach Darwin durch West- und Nordwestaustralien präsentiert Witzani die raue, unwirtliche, aber umso faszinierendere Seite von Down Under. Die "rote", die "blaue" und die "gelbe" Reise ergeben insgesamt ein abgerundetes Portrait, dessen, was ein Reisender in Australien sehen und erleben kann. Zahlreiche landeskundliche und geschichtliche Exkurse und Begegnungen mit Einheimischen uns Reisenden runden dieses sehr persönlich gehalten Buch ab. Eine Reisebuch für Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen.
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Seitenzahl: 331
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Ludwig Witzani
Australien
Drei Reisen zu den Antipoden
(Weltreisen Band XV)
Australien
Copyright: © 2023 Ludwig WitzaniRegine Goede, Köln Konvertierung: Sabine Abels, Hamburg
published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
für Ian Englishund seine Familie,
in der Erinnerung an das Verhängnis,das am 7. September 2022 am Pink Lake/Westaustralienunser Leben streifte
Jacob Burckhardt beschreibt in seinem Buch „Die Kultur der Renaissance in Italien“, dass manche Einwohner von Florenz mit einem Spiegel vor dem Gesicht durch die Stadt liefen und zwar so, dass sie das, was sich hinter ihnen befand, in spiegelbildlicher Veränderung erblickten. Sie ergötzten sich an der seltsamen Kombination von Vertrautem und Verzerrtem, die ihnen die spiegelbildlichen Ansichten boten.
So verhält es sich auch mit Australien. Es ist, als begegne dem Reisenden auf der anderen Seite der Welt eine vertraute Variante der westlichen Kultur, allerdings mitunter in einer solch merkwürdigen Verzerrung, dass sie fremd und rätselhaft erscheint. Es dauert etwas, bis der Reisende sich dieser Brechung bewusst wird, und noch länger dauert es, bis er zwischen Bekanntem und Fremdem eine Balance findet, die sich auf der nächsten Reise schon wieder verändern kann.
Dieses Buch ist der Versuch, das Vertraute und das Fremde, das dem Reisenden in Australien begegnet, auszumessen und gegeneinander abzugrenzen - was nicht ohne ein gerütteltes Maß an Subjektivität gelingen kann. Zugleich spiegelt es mehr als meine früheren Reisebücher auch biografische Brüche wieder, die sich im Umfeld meiner Australienreisen ereignet haben. Dreimal habe ich Australien ausgiebig bereist und zweimal änderte sich anschließend mein Leben. Nach der ersten Reise brach meine Ehe zusammen. Nach der zweiten Reise führte mich eine schwere Krankheit an den Rand des Todes. Was mir nun, nach der dritten Reise blüht, bleibt abzuwarten, denn sie ist gerade erst vorüber. Aber bis dahin bleibt noch etwas Zeit, von den drei Reisen zu den Antipoden zu erzählen.
Die „rote Reise“ im ersten Hauptteil des Buches beschreibt eine „Australienreise für Einsteiger“. Auf ihr geht es um das naive „Entdecken“ der klassischen australischen Highlights: Sydney, Perth, Ayers Rock im Herzen des Kontinents, das tropische Darwin mit dem Kakadu-Nationalpark und Queensland, das touristische Juwel des Landes.
Die „blaue Reise“ hat das pazifische Australien zum Gegenstand. Sie führt den Leser von Melbourne und Tasmanien (die natürlich nicht am Pazifik liegen) über fünftausend Kilometer nach Norden bis kurz vor das Cape York. Sie berührt Sydney und Melbourne, die beiden Metropolen des Landes, die endlosen Strände, Weinfelder und die südseehafte Inselwelt vor den Küsten.
Die „gelbe Reise“ ist, wenn man so will, eine „Australienreise für Fortgeschrittene“. Sie beschreibt eine Reise durch die eher unbekannten, extrem dünn besiedelten Teile des Kontinents, in dem die wenigen Siedlungen und Städte wie Oasen des Lebens inmitten von Wüste und Gestein existieren.
Alle drei Reisen beruhen auf meinen Reisenotizen, die ich wie immer unmittelbar am Ort anfertigte. Sie wurden bis auf wenige Ausnahmen nahezu unverändert übernommen. Hier und da habe ich aus Gründen der Diskretion einige Namen verändert.
Und zum Schluss wie immer noch eine Warnung. Der Autor hat sein Herz an die Geschichte verloren und beleuchtet hier und da das Gewordene relativ ausführlich. Sicherheitshalber sind darum an verschiedenen Stellen des Buches „Warnhinweise“ vermerkt, die es nicht geschichtsaffinen Lesern erlauben, die Vergangenheit zu überspringen und gleich in der Gegenwart fortzufahren.
Mit diesen Einschränkungen begrüße ich den Leser auf einer transkontinentalen und sehr persönlichen Fahrt zu den Antipoden und wünsche gute Reise!
Matthew Finders Monument Melbourne
Achtung Geschichte!
Ohne Geschichte
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Als die „Endeavour” unter dem Kommando von Captain James Cook am 12. Juni 1771 nach einer dreijährigen Forschungsreise wieder im Hafen von London anlegte, war das Interesse der Öffentlichkeit kaum zu bremsen. Weder die Konstruktion der ersten Dampfmaschine durch den Ingenieur James Watt gerade eineinhalb Jahre zuvor, noch der eskalierende Konflikt mit den nordamerikanischen Kolonien interessierte das Publikum so sehr wie die neuen Nachrichten vom anderen Ende der Welt. Den sagenhaften Südkontinent hatte Captain Cook zwar nicht gefunden, doch die Schönheiten der Südsee waren in aller Munde. Weniger beachtet dagegen wurde die Kunde von der Entdeckung der „Botany Bay", einem bislang unbekannten Land im Südwesten des Pazifiks, an dessen Küsten eine dunkelhäutige Bevölkerung existierte, deren Aussehen und Gebräuche sich nach den Berichten der Heimkehrer auf das Unvorteilhafteste von den prachtvollen Menschen Polynesiens unterschieden.
Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sich aus der Zufallsentdeckung der Botany Bay, der anrollenden Industrialisierung in England und der sich bereits abzeichnenden Abfallbewegung der Neuengland-Kolonien eine Dynamik entwickeln würde, die innerhalb von nur wenigen Jahren zur Gründung Australiens führen sollte.
*
Dass die Entstehung der Vereinigten Staaten und die Gründung der ersten Siedlerkolonien in Australien so eng zusammenhängen, mag überraschen, aber genauso war es. Noch während der zweiten Reise Captain Cooks durch den Pazifischen Ozean waren die Auseinandersetzungen zwischen der englischen Krone und den dreizehn Neuenglandkolonien zum offenen Konflikt eskaliert. 1778, im Jahr von Captain Cooks gewaltsamen Tod auf Hawaii, befanden sich die Neuenglandstaaten schon mitten im Unabhängigkeitskrieg gegen das Mutterland, den sie mit tatkräftiger französischer Hilfe im Jahre 1783 siegreich beendeten.
Seiner mit Abstand bedeutendsten Kolonie beraubt, geriet das Britische Empire wenige Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution in eine schwere außenpolitische Krise. Aber auch im Innern vollzogen sich tiefgreifende Umbrüche. Innerhalb von nur drei Generationen hatte sich die Einwohnerzahl Englands von sechs auf neun Millionen Menschen erhöht, und die Begleiterscheinungen dieser demographischen Explosion erschütterten das Land ebenso wie die Verwerfungen durch die sich abzeichnende Frühindustrialisierung. Ehemals beschauliche Städte wurden zum Auffangbecken für Tagelöhner, Landlose und Verzweifelte – und zum Schauplatz einer bislang unbekannten Woge der Massenkriminalität. Da an die bis 1775 übliche Deportation der Kriminellen in die Neuenglandkolonien seit dem Abfall der Amerikaner nicht mehr zu denken war, entstand innerhalb weniger Jahre eine Häftlingsschwemme, auf die die britische Gesellschaft nicht vorbereitet war. Überalterte Provinzkerker, die wieder in Betrieb genommen wurden, zweifelhafte Privatgefängnisse, in denen die Gefangenen verhungerten und typhusverseuchte Gefängnisschiffe in der Themsemündung brachten die öffentliche Meinung derart in Wallung, dass die Regierung Pitt in den Achtziger Jahren des 18. Jhdt. nach einer neuen Sträflingskolonie Ausschau hielt. „Man verfiel schließlich auf den unwahrscheinlichsten Ort der ganzen Welt" schreibt Robert Hughes in seinem Standardwerk über die Besiedlung des Fünften Kontinents: auf "Australien, Englands neuen, riesigen, menschenleeren Besitz, einen nutzlosen Kontinent am Ende der Welt, dessen Ostküste Kapitän Cook 1770 kartographiert hatte. Von dort würden die Häftlinge nie mehr zurückkehren."
*
Die „First Fleet", die am 17. Mai 1787 von London aus in See stach, stand unter dem Kommando des 49jährigen Captains Arthur Phillip, der bereits in portugiesischen Diensten Erfahrungen mit Häftlingstransporten nach Brasilien gesammelt hatte. Die elf Schiffe, die er befehligte, transportierten 736 Häftlinge nach Australien, darunter eine über siebzig Jahre alte Frau und fünf Jungen und Mädchen unter 15 Jahren. Wie die überwiegende Mehrheit der insgesamt etwa 160.000 Menschen, die zwischen 1787 und 1868 als Diebe, Betrüger, Prostituierte, Fahnenflüchtlinge oder einfach nur Pechvögel an das Ende der Welt deportiert wurden, handelte es sich vorwiegend um Kleinkriminelle, die nach dem drakonischen Strafrecht des 18. Jahrhunderts ohne großes Federlesen des Landes verwiesen worden waren. Mörder und Schwerverbrecher befanden sich nicht auf den Schiffen der First Fleet - ganz einfach, weil Verbrechen dieser Art schnell und schematisch bereits in England mit dem Tod bestraft wurden.
Arthur Phillip
Die monatelange Überfahrt der 736 Häftlinge vollzog sich in infernalisch stinkenden, lichtlosen Schiffsbilgen. Trotz der katastrophalen sanitären Verhältnisse kamen dabei „nur" 48 Menschen ums Leben. Nach der Passage von Teneriffa, Rio und Kapstadt erreichte die First Fleet mit 688 Häftlingen am 20.1.1778 die Botany Bay an der Ostküste Australiens.
Der erste Anblick der australischen Küste und Landschaft war ein Schock. Zwischen der freundlichen Beschreibung Captain Cooks, der die Botany Bay in einer günstigeren Jahreszeit besucht hatte, und der verdorrten Vegetation, die die Briten im heißen Südsommer 1778 sahen, konnte Captain Phillip keine Übereinstimmung feststellen. Schon nach kurzer Zeit verließ die First Fleet die Botany Bay, um in die Nachbarbucht zu segeln. An dieser Bucht war Captain Cook im April 1770 vorbeigesegelt, ohne sie zu erkunden. Er hatte ihr nur den Namen “Port Jackson” gegeben, ohne zu ahnen, dass er eine der schönsten naturbuchten der Welt verpasste.
Am 26.1.1788 landete die First Fleet in Port Jackson. Gleich unterhalb der heutigen Harbour Bridge wurde die britische Flagge gehisst. Captain Phillip nannte die neue Kolonie in Anlehnung an die Namensgebung Captain Cooks „New South Wales“ und gab der Siedlung zu Ehren des englischen Innenministers Lord Sydney den Namen Sydney.
Ankunft der First Fleet in der Botany Ba
Die Ankunft der Briten sollte einen ganzen Kontinent revolutionieren, doch ihre ersten Wochen kann man sich kaum kümmerlicher vorstellen. Es begann damit, dass schon wenige Tage nach dem Hissen der britischen Flagge die ersten Aborigines in der Bucht erschienen. Sie sahen genauso fremdartig aus wie sie Cook beschrieben hatte und waren zum Schutz vor Moskitostichen mit übel riechenden Fischinnereien eingeschmiert. Sie schwangen ihre Speere und riefen „warra, warra" - „verschwindet"- als ahnten sie bereits das traurige Schicksal, dass ihrem Volk mit der Ankunft der Weißen langfristig bevorstehen sollte. Bald jedoch entspannte sich die Stimmung. Speisen und Geschenke wurden ausgetauscht, ein Schiffsmaat musste in einen Waran, das Gastgeschenk der Aborigines, beißen, während sich die Ureinwohnern an Pökelfleisch aus der Schiffsküche labten. Captain Phillip ließ sich nicht lumpen und befahl einem Matrosen zur Erheiterung der Gäste die Hosen herunterzulassen.
Damit war der heitere Teil der Kolonialgeschichte aber auch schon beendet. Denn schon die nächsten Wochen zeigten, dass die Böden rund um die Sydney Cove selbst bei intensivster landwirtschaftlicher Bearbeitung noch auf Jahre hinaus die Kolonisten nicht würden ernähren können - ganz abgesehen davon, dass die Mehrzahl der Häftlinge zur Landarbeit nicht nur unwillig, sondern auch unfähig war.
Arthur Phillip blieb nichts anderes übrig, als der Knappheit mit strengster Disziplin zu begegnen. Auf Diebstahl von Zuchtvieh stand ab sofort die Todesstrafe. Arbeitsverweigerung wurde mit der Peitsche bestraft, ebenso alle Vergehen gegen die Ureinwohner, denn mit ihnen sollten auf Geheiß des Kolonialamtes unter allen Umständen freundschaftliche Beziehungen gepflegt werden. Immerhin wurden Gemüsegärten angelegt, deren Früchte jedoch, kaum dass sie essbar waren, gestohlen wurden. Als deutlich wurde, dass auch Jagd und Fischfang den Nahrungsbedarf der Kolonie nicht decken konnten, wurden die Tagesrationen noch weiter reduziert. "Ich behaupte, dass es auf der ganzen Welt kein schlimmeres Land gibt", notierte Phillips Stellvertreter Robert Ross in sein Tagebuch. „Alles um uns herum ist so unfruchtbar und abweisend, dass man wahrlich sagen kann: Die Natur ist auf den. Kopf gestellt."
Nun richteten sich alle Hoffnungen auf die angekündigte Versorgungsflotte, die innerhalb des nächsten halben Jahres eintreffen sollte. Doch sie kam nicht. Nachdem ein dreiviertel Jahr vergangen war und die Versorgungsflotte aus England noch immer auf sich warten ließ, sandte Philipp im Herbst 1788 Captain Hunger nach Kapstadt um Nahrungsmittel zu besorgen. Captain Hunger tat sein Bestes und war nach einer Rekordzeit von einem guten halben Jahr wieder zurück, doch die bescheidenen Mengen an Gerste, Mais und Weizen, die er mitbrachte, waren schnell verbraucht. Bald mussten wegen Vitaminmangel und Erschöpfung die Arbeitsverpflichtungen der Sträflinge halbiert werden, und nur die allgemeine Lethargie verhinderte eine völlige Auflösung der Disziplin. Zwar waren endlich fruchtbare Bögen im Westen der Sydney Cove bei Parramatta und Toongabie entdeckt worden, doch die Männer waren zu schwach, sie zu bearbeiten. Viele brachen vor Hunger tot auf den Feldern zusammen, und selbst Gouverneur Phillip, der seinen eigenen Nahrungsmittelvorrat in das allgemeine Depot überführt hatte, stand kurz vor dem Zusammenbruch.
Als die heiß ersehnte zweite Flotte im Juni 1790 endlich in der Sydney Cove eintraf, befand sich die Kolonie am Rande des Unterganges. Es waren die Vorräte der zweiten Flotte, die die Kolonie buchstäblich in letzter Minute vor dem puren Verhungern retteten. Und es waren die Angehörigen des New South Wales Corps, die ebenfalls mit der zweiten Flotte nach Australien kamen, die der Geschichte Australiens in den nächsten Jahren eine völlig neue Wendung geben sollten.
Die Angehörigen des New South Wales Corps waren eine speziell für den australischen Kolonialdienst zusammengestellte Truppe, womit sie sich von allen bisherigen Kolonialbeamten, Soldaten und Sträflingen in einem ganz wesentlichen Punkt unterschieden: sie waren gekommen, um zu bleiben. Und sie waren fest entschlossen, die Chancen, die sich ihnen boten, mit Egoismus und Geschick zu nutzen.
Ihr Aufstieg begann im Januar 1793, als nur wenige Wochen nach dem Ende der Amtszeit von Gouverneur Phillip und seiner Abreise nach Europa der amerikanische Frachter „Hope" mit einer Ladung von 30.000 Litern Rum in die Bucht von Sydney einlief. John Macarthur, der durchtriebene Zahlmeister des New South Wales Corps, erkannte sofort die ökonomischen Möglichkeiten eines Rum-Monopols, und es gelang ihm, von seinen Kameraden unterstützt und der Übergangsverwaltung gedeckt, dem Captain der „Hope" die ganze Ladung abzukaufen.
Merinoschaf
Die Folgen dieser Rumspekulation sollten die Besitzverhältnisse der gesamten Kolonie auf den Kopf stellen. Innerhalb kurzer Zeit erhielten die News South Wales Rangers für ihre mit Rum gedeckten Schuldverschreibungen das beste Land und die gefragtesten Werkzeuge. Als Grundbesitzer zögerten sie nicht, die ihnen zugeteilten Arbeitskräfte brutal auszunutzen. Nicht nur, dass sie die qualifiziertesten Sträflinge unter den Neuankömmlingen für sich beanspruchten - sie hintertrieben auch, wo sie nur konnten, die bis dahin übliche Vergabe von Freibriefen, die es den Häftlingen unter bestimmten Umständen ermöglichte, sich ihre Arbeitgeber selbst auszusuchen. Das wenigstens theoretisch verankerte Klagerecht der Sträflinge gegen Gewaltanwendung, unzumutbare Arbeitsbedingungen und miserable Verpflegung wurde durch die Ernennung führender Rum- Corps zu Friedensrichtern praktisch ausgesetzt.
Mit der Selbstzufriedenheit des frisch Arrivierten notierte John Macarthur schon Mitte der Neunziger Jahre: „Es scheint kaum glaubhaft, dass sich die Kolonie, die stets am Rande des Verhungerns lebte, in so kurzer Zeit aus einem Zustand kläglicher Armut zu ihrer gegenwärtigen Gestalt entwickelt hat. Ich selbst besitze ein Anwesen von nahezu 250 Acres. Aus dem Verkauf der Erzeugnisse dieses Jahres habe ich vierhundert Pfund erlöst, und in meinen Scheunen lagern noch mehr als tausendachthundert Bushel Getreide."
Möglicherweise hätten die Rum-Corps noch viel länger schalten und walten können, wären nicht bald die negativen Auswirkungen ihrer ökonomischen und sozialen Dominanz offenkundig geworden. Denn während die Angehörigen der neuen Elite auf den besten Böden saßen und als Minderheit den Großteil des kolonialen Viehbestandes kontrollierten, gelang es den nach und nach freigelassenen Sträflingen kaum noch, als freie Siedler zu überleben. Ohne eine Schicht freier Siedler, die sich bis auf Weiteres nur aus dem Kreis freigelassener Sträflinge rekrutieren konnte, aber drohte das ganze australische Kolonialprojekt zu scheitern. Das blieb den Gouverneuren Hunter, King und Bligh nicht verborgen. Immer öfter gerieten sie mit den Rum- Corps aneinander, und als sich John Macarthur offen mit der Kolonialverwaltung anlegte, ließ ihn Gouverneur King 1802 kurzerhand verhaften und zur Aburteilung nach England schicken .
John Macarthurs Deportation nach England sollte für die Wirtschaft des Fünften Kontinentes ungeahnte Folgen haben. Denn zur allgemeinen Überraschung wurde Macarthur in London nicht nur freigesprochen, sondern kehrte vollkommen rehabilitiert schon 1805, auf dem Höhepunkt der napoleonischen Kriege, aus dem fernen Europa zurück. Mit sich führte er eine Ladung von über tausend Merinoschafen, mit denen die australische Viehwirtschaft eigentlich erst begann. Durch die Kreuzung mit anspruchslosen bengalischen und afrikanischen Fettsteißschafen gelang Macarthur kurz darauf die Züchtung einer überlebensfähigen australischen Merino-Rasse, deren Wolle in den Jahren der napoleonischen Kontinentalsperre und der expandierenden englischen Textilindustrie auf eine stürmische Nachfrage aus Europa traf. So wenig sympathisch die Gestalt John Macarthurs im Rückblick auch erscheinen mag - mit dieser Zuchtinnovation revolutionierte der Führer der Rum -Corps die Ökonomie der ganzen Kolonie und begründete einen bis dahin unbekannten Impuls zur territorialen Ausdehnung, die als Suche nach Weideland die Erforschung des ganzen Kontinents maßgeblich motivieren sollte.
Einstweilen aber trieb der Kampf zwischen der Kolonialverwaltung und den „Merinos", wie sich die Rum-Corps nun nannten, einem dramatischen Finale entgegen. Gouverneur Hunter wurde durch William Bligh abgelöst, der als Captain der „Bounty" und Durchsegler der Torresstraße zu Weltruhm gelangt war. Er sollte in Australien zwischen den Belangen der Merinos, den Wünschen der freien Siedler und den Schutzbedürfnissen der Häftlinge vermitteln. Ihn erwartete eine Kolonie im Aufruhr, bevölkert von Rebellen, gegen die sich Fletcher Christian und seine Spießgesellen von der „Bounty" wie harmlose Kinder ausnahmen. Wieder wurde Macarthur verhaftet, doch bevor er abermals deportiert werden konnte, erhoben sich die Rum Corps und ergriffen am 26. Januar 1808 die Macht. Gouverneur Bligh konnte sich gerade noch mit Mühe und Not nach Vandiemensland, dem späteren Tasmanien, in Sicherheit bringen. Die australische Kolonie hatte sich in eine Schafzüchterdiktatur verwandelt.
Lachlan Macquarie, 1762 als Sohn eines Pächters im Norden Schottlands geboren, war 47 Jahre alt, als er im Jahre 1809 zum neuen Gouverneur von New South Wales ernannt wurde. Ausgestattet mit einem bewaffneten Regiment von Soldaten sollte er die Revolte der Rum-Corps niederschlagen und die koloniale Ordnung wiederherstellen. Diese Aufgabe erwies sich als nicht sonderlich schwierig, Noch bevor Macquarie an der Spitze seiner Truppen Australien erreichte, hatten sich John Macarthur und die Spitzen der Verschwörung bereits nach England eingeschifft, um ihren Fall in London direkt vorzutragen. William Bligh, der aus seinem Exil in Vandiemensland zurückkehrte, musste auf die erhoffte Rache verzichten und ebenfalls nach England zurückkehren, wo er einige Jahre später als Offizier ohne Fortune pensioniert wurde.
Als Macquarie ziemlich genau 22 Jahre nach der Landung der First Fleet am 1. Januar 1810 in Sydney als neuer Gouverneur von New South Wales vereidigt wurde, befand sich die australische Kolonie an einem Scheideweg. Vom Damoklesschwert des allgemeinen Hungertodes hatte die Schafzucht der Merinobarone die Kolonie befreit, die erfolgreiche Kultivierung der Böden von Parramatta und Toongabbie hatte die Nahrungsgrundlage der Kolonie weiter verbessert, doch noch immer glich Sydney einer Zelt- und Budenstadt „im Zustand des übelsten Verfalls", wie Macquarie in seinen Briefen vermerkte.
Zwar hatte sich seit einigen Jahren das geographische Dunkel rund um die südostaustralische Küste gelichtet (seit 1804 existierte sogar eine britische Tochterkolonie in Hobart auf Vandiemensland), doch die etwa zehntausend weißen Australier in New South Wales sahen sich noch immer durch die scheinbar undurchdringlichen Blue Mountains von den Weiten des Kontinents abgeschnitten. Außerdem traf Macquarie auf eine administrativ völlig heruntergekommene Kolonie, in der mit dem Schicksal der Häftlinge notorisch Schindluder getrieben wurde. Besonders bedrückend war die Sträflingssterblichkeit während der Überfahrten, was für die privaten Schiffseigner keineswegs unerwünscht war, wurde doch auf diese Weise Lagerraum für Waren frei, die man während der Überfahrten in Rio oder Kapstadt kaufen und mit Gewinn in der Kolonie verkaufen konnte.
Als erstes ordnete Macquarie an, dass alle neuankommenden Häftlinge im Hafen von Sydney einer gründlichen Gesundheitsinspektion unterzogen wurden, deren positive oder negative Ergebnisse auf den finanziellen Ertrag der Schiffseigner durchschlugen. In seinem Auftrag erstellte der ehemalige Häftling William Redfern, der erste Arzt Australiens, einen medizinischen Bericht über die Praxis der Deportationen, der in London Aufsehen erregte und zum Erlass von Mindeststandards für Verköstigung, Desinfektion und Unterbringung während der Überfahrten führte. Macquarie erkannte, dass die weitere Entwicklung der Kolonie davon abhing, dass die Sträflinge eine faire Perspektive erhielten. Er führte vorzeitige Begnadigungen in allen Fällen besonderer Bewährung ein und achtete darauf, dass bei der Zuteilung der Arbeitskräfte die meist mittellosen ehemaligen Sträflinge stärker berücksichtigt wurden.
Derweil schwoll der Zustrom von Häftlingen aus Europa nach dem Ende der napoleonischen Kriege sprunghaft an. Über zwanzigtausend Häftlinge, mehr als in den 22 Jahren seit der Gründung der Kolonie, kamen allein zwischen 1810 und 1821 nach Australien, und Gouverneur Macquarie hatte genaue Vorstellungen darüber, wie mit diesem Pfund zu wuchern war. Ungerührt von den Protesten der Farmer und Merinobarone requirierte er einen Großteil der qualifiziertesten Häftlinge für staatliche Arbeiten. Auf der Grundlage der Entwürfe des „Häftlingsarchitekten” Francis Howard Greenway erhielt Sydney, „dieser elende Schweinekoben" (Macquarie) endlich das Gesicht einer Stadt. Anstelle von Elendsquartieren und Schenken, die größtenteils ihre Lizenz verloren, entstanden Stadtteile mit breiten Straßen, Schulen und Kirchen. Auf dem Gelände des heutigen Hyde Parks wurden die Hyde Park Barracks erbaut, in denen die obdachlosen Häftlinge zum ersten Mal ein festes Dach über dem Kopf erhielten, und aus den Erträgen der Rumkonzessionen entstand das erste Krankenhaus Australiens. Als es im Jahre 1813 dem Farmer Gregory Blaxland und seinen Begleitern endlich gelang, einen Weg über die Blue Mountains nach Westen zu finden, war die Klammer um die Kolonie gesprengt. Innerhalb von nur einem halben Jahr errichteten sechzig ausgesuchte Sträflinge, denen dafür die Freiheit versprochen worden war, die erste provisorische Straße über die Blue Mountains in das Innere des Kontinents.
Allerdings führte der Ausbau der Infrastruktur bald zu Konflikten. Da im Laufe der Jahre ein immer höherer Anteil der qualifiziertesten Häftlinge für die staatlichen Arbeiten der Kolonialverwaltung requiriert wurden, fehlten trotz der stark ansteigenden Häftlingszahlen Arbeitskräfte für die privaten Arbeitgeber und Neusiedler, deren Zahl sich zwischen 1810 und 1821 von vierhundert auf eintausend pro Jahr erhöhte. Außerdem war im Jahre 1814 John Macarthur, der ehemalige Führer der Rum -Corps unbestraft nach Australien zurückgekehrt. Sofort begann er mit Kampagnen gegen den Gouverneur, denen sich im Laufe der Jahre immer mehr private Siedler anschlossen.
Bedrohlich für Gouverneur Macquarie wurde diese Konstellation durch die explodierenden Kosten des Kolonialbetriebes. Obwohl die Unterbringungs- und Verpflegungskosten pro Häftling seit 1810 stetig gesunken waren, sorgten der Anstieg der absoluten Häftlingszahlen und ihre starke Inanspruchnahme für öffentliche Arbeiten für ein deftiges Kolonialdefizit. Im Jahre 1819 erschien deswegen der Anwalt John Thomas Bigge als Leiter einer von London eingesetzten Untersuchungskommission in Sydney. Bigge, ein unerfahrener junger Anwalt, überwarf sich schnell mit dem dominanten Gouverneur und ließ sich von der Propaganda der Merino-Barone einnehmen. In seinem Abschlussbericht kam er zu dem Ergebnis, dass in erster Linie das „Versagen" des Gouverneurs für die finanziellen Engpässe der Kolonie verantwortlich sei. Kurz nach der Abgabe des Berichtes wurde Gouverneur Macquarie abberufen. Im Jahre 1821 kehrte er nach England zurück, wo er bereits drei Jahre später mitten im Kampf um seine Rehabilitation verstarb.
Seinem Nachruhm hat die ehrenrührige Abberufung nichts anhaben können. Alle wesentlichen Impulse, die die weitere Geschichte des Kontinentes prägen sollten, waren unter seinem Regiment in die Wege geleitet worden. Die Überschreitung der Blue Mountains bildete den Auftakt für den Aufbruch ins Landesinnere, und nach dem Vorbild der städtebaulichen Durchgliederung Sydneys entstanden in den folgenden beiden Jahrzehnten in kurzer Folge Brisbane, Perth, Melbourne und Adelaide als die noch heute maßgeblichen Metropolen Australiens. Bis heute gilt er den Australiern deswegen nicht nur als der bedeutendste Gouverneur ihrer Geschichte, sondern auch als einer der Gründerväter Australiens, der bei seinem Abschied aus Sydney mit Recht von sich behaupten konnte: „Ich fand New South Wales als Gefängnis vor und verlasse es als Kolonie."
Wie viele Freunde hat man im Leben? Ich weiß es nicht, aber viele können es nicht sein. Und wie entsteht Freundschaft? Durch Wahl? Durch Zufall? Oder durch das Leben in einem gemeinsamen Milieu? Bei Hubert, Andy und mir war es wohl von allem etwas gewesen. Kennengelernt habe ich Hubert und Andy am Ende meiner Studenten- und Single-Zeit. Wir verkehrten in den gleichen Lokalen, unternahmen einiges miteinander und hielten auch noch Kontakt, als wir älter und seriöser wurden. Als wir heirateten und uns in gefestigten Existenzen breit machten, sah es so aus, als segelten wir wie Freunde auf ähnlichem Kurs in eine freundliche Zukunft.
Ich selbst lebte damals scheinbar im Zenit meines Lebens. Ich hatte kurz vor der Reise eine sündhaft schöne Frau geheiratet, an der das Begehrenswerteste für mich war, dass sich die anderen Kerle nach ihr den Hals verrenkten. So bescheuert kann man noch in den späten Vierziger Jahren sein. Ich publizierte regelmäßig in großen Zeitungen und Magazinen, mein Bankkonto wuchs und wuchs, und ich stand kurz davor, das Haus, das wir im Bergischen Land gemietet hatten, zu kaufen. Nicht lange nach dieser Reise sollte all das wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Doch davon ahnte ich auf dieser Reise noch nichts.
Der vierte im Bunde, der aber nicht wirklich dazu gehörte, war Axel. Er hatte Deutschland vor sechzehn Jahren verlassen müssen und war nach Australien ausgewandert. Ihn wollten wir im südwestaustralischen Perth besuchen. Wenn überhaupt, war nur Hubert mit ihm befreundet. Mir war er immer etwas fremd geblieben, ein sehr eigener Mensch, von dem ich aber noch nicht ahnte, wie sehr er sich in Australien verändert hatte.
Blick auf Opernhaus und Skyline von Sydney
Harbour Bridge mi Opernhaus im Hintergrund
Die Wahrheit ist, Australien hatte mich lange Zeit nicht sonderlich gereizt. Erst als ich nahezu die gesamte Welt bereist hatte, interessierte ich mich auch für den fünften Kontinent – einfach deswegen, weil ich noch nicht dagewesen war. Was für eine abgedrehte Begründung. Vielleicht war ich auch in den Zwanzigern und Dreißigern einfach zu jung für den großen Süden unseres Planeten gewesen. In meinen jungen Jahren hatten mir Indien, Indonesien und Indochina einfach näher gelegen, weil es dort preiswerter, chaotischer, abenteuerlicher - mit einem Wort: jugendgemäßer abging. Vielleicht hatte ich erst in den späten Vierzigern das richtige Alter für Australien, Alaska und Patagonien erreicht.
Das war das eine. Das andere war, dass diese Reise in den großen Süden als Männerreise geplant war. Merkwürdigerweise war nie die Rede davon gewesen, unsere Ehefrauen mitzunehmen. Beatrice und Petra, die Gattinnen von Hubert und Andy, waren nicht scharf auf Australien - sagten sie. Und jemand musste sich schließlich auch um die Kinder kümmern, fügten sie hinzu. Meine eigene Ehefrau Silvia, schön und kinderlos, wollte ihr Geschäft im Sommer nicht schließen, ließ sich aber breitschlagen, wenigstens nach Australien nachzukommen, sobald die Männerreise beendet war.
Der Flug von Frankfurt nach Singapur war ein Klacks. Um 18:15 Uhr Ortszeit landete die Maschine auf dem Changi International Airport in Singapur. Der Flughafen war sauber, gediegen, teppichgedämpft, der chinesisch eingefärbte Traum eines perfekten Ostasiens. Reibungslos funktionierten die Kontrollen, in die sich auch die Europäer und Inder einfügten wie in eine zweite Haut.
Schon um 20 Uhr ging es weiter nach Sydney. Andy trank einen Rotwein und hörte Musik über Kopfhörer. Hubert unterhielt sich mit dem bordeigenen Filmprogramm. Ich blätterte ein wenig in meinen Reisenotizen und versuchte, mir die wichtigsten Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Aha, Australien war zugleich der jüngste und der älteste Kontinent - der jüngste, weil er sich spät aus dem Urkontinent Gondwanaland herausgelöst hatte, und der älteste, weil manche Oberflächengesteine im Outback über drei Milliarden Jahre alt waren. Das war doch mal ein Fakt, mit dem man auf Feten glänzen konnte. Dieses uralte Gestein nahm an der Oberfläche unterschiedliche Formen an, vereinfacht gesagt, waren es drei:
(1) Das Westaustralische Tafelland auf einer Höhe von ca. 200 bis 800 Metern. Hier wohnte Axel, den wir an der Küste des Indischen Ozeans in Perth besuchen würden.
(2) Die mittelaustralische Senke mit drei großen Becken, dem Carpentaria-, dem Murray- und Eyre-Becken, in denen es praktisch kaum Regen gab. Das war die Heimat von Crocodile Dundee und seinem Riesenmesser.
(3) Und schließlich das östliche Hochland mit der „Great Dividing Range“, die als dreitausend Kilometer lange Gebirgskette die Wolken auffing und abregnen ließ. Daher die landwirtschaftliche Fruchtbarkeit in Victoria, New South Wales und Queensland.
Was aber lebte auf diesem Grund? Vorwiegend Eigengewächse, wie es den Anschein hatte. 88 % aller Reptilien, 70 % der Vögel, 94 % der Frösche waren endemisch, ein großer Teil davon ging aber gerade aufgrund der Übergriffigkeit importierter Kaninchen, Ratten, Katzen und Hunde zugrunde. Etwa die Hälfte der ursprünglichen Regenwälder soll bereits dahin sein. Das war traurig. Was aber war mit den Menschen? Sie lebten, was den einen oder anderen überraschen mochte, zu fast sechs Siebteln in den großen Städten. Diese großen Städte waren Sydney (5,0 Mill.), Melbourne (4,2 Mill.), Brisbane (2,3 Mill.), Perth (1,8 Mill.) und Adelaide (1,2 Mill.). Die Hauptstadt Canberra war mit 360.000 Einwohnern nur die siebtgrößte Stadt. Im ganzen Land lebten zur Jahrtausendwende etwa 25 Millionen Menschen, was ungefähr der Bevölkerung der chinesischen Millionenstadt Chongqing entsprach. Dabei war Australien mit einer Fläche von 7.7 Mill qkm nach Russland, Kanada, den USA, China und Brasilien der sechstgrößte Flächenstaat der Erde. Es gab also reichlich Raum in Down Under, nur lebte fast niemand dort, wo es Platz gab.
Es war früher Morgen, als die Maschine pünktlich in Sydney landete. Ein libanesischer Taxifahrer fuhr uns in unser Hotel in die Innenstadt. Er war ein kräftiger Mann in mittleren Jahren, der das Hohelied Australiens sang: „Hier bleibt man nur arm, wenn man faul ist“, sagte der Vater von vier gut ausgebildeten Kindern. Die Luft an diesem Morgen war lau und erstaunlich mild für den australischen Winter.
Kaum im Hotel angekommen, legten wir uns einige Stunden aufs Ohr, duschten anschließend und machten uns fertig für den ersten Erkundungsgang. Aufgekratzt und zugleich durch die Zeitverschiebung erschöpft, liefen wir kreuz und quer durch die Innenstadt und passierten die überlebensgroßen Statuen von James Cook, Matthew Flinders und anderen Größen der australischen Geschichte, ehe wir die Hafenfront erreichten.
Die Hafenfront war ein echter Augenöffner. Sie war es vor allem, der Sydney den Ruhm verdankte, neben Rio de Janeiro und Kapstadt die schönste Stadt der Welt zu sein - was im Falle Sydneys auch deswegen etwas heißen wollte, weil hier, anders als in Rio oder Kapstadt, das Stadtbild ohne eine malerische Berg- und Felsenkulisse allein durch seine Architektur auf den Besucher wirken musste. Die vertikalen Kontraste, die in Rio und Kapstadt als Geschenke der Natur lange vor der Entstehung menschlicher Siedlungen bereit lagen und die als Zuckerhut und Tafelberg einen Großteil der ästhetischen Wirkung erzeugten, mussten in Sydney durch Menschenhand erst geschaffen werden. Wie drei asynchrone, aber aufeinander bezogene Wellen ergaben die geöffneten Muschelschalen des Opernhauses, der Schwung der Wolkenkratzer-Silhouette von Downtown und die gigantische Wölbung, in der die Harbour Bridge das Hafenbecken überspannte, den Eindruck einer perfekten urbanen Harmonie, von der sich in den frühen Tagen der Sydneysider Geschichte niemand auch nur in Ansätzen etwas hätte träumen lassen.
Dabei war über Jahrzehnte hinweg kaum etwas umstrittener gewesen, als der Bau des Opernhauses. Die abstrakte Konzeption des Gebäudes wollte vielen bodenständigen Sydneysidern nicht gefallen, die Baukosten, ursprünglich auf sieben Millionen australische Dollar veranschlagt, explodierten auf über einhundert Millionen, und schließlich warf sogar der dänische Architekt Jörn Utzon das Handtuch, als ihm die Änderungswünsche seiner Auftraggeber zu weit gingen. Dass das Werk dann doch noch im September 1973 durch niemand Geringeren als das Staatsoberhaupt Queen Elisabeth II eingeweiht werden konnte, verdankten die pragmatischen Stadtväter den Erträgen einer Lotterie, mit denen die Baukosten finanziert wurden.
Mit den Jahren und der internationalen Anerkennung, die das Gebäude fand, wuchs auch die Liebe der Sydneysider zu ihrem Wahrzeichen, dessen größter Vorteil wohl darin liegt, dass jedermann in ihm etwas anderes erblickt: eine Familie perlweißer Muscheln, die ihre Schalen alle gleichzeitig öffnen, ein Schiff, das mit vollen Segeln in die Sydney Cove zu starten scheint oder einfach ein fragmentierter Baldachin, unter dessen Dächern alle Ideen der Welt ihren Platz finden können.
Gleich neben dem Opernhaus führte eine Flaniermeile zum Circular Quay, dem Verkehrsknotenpunkt der Stadt, von dem aus die Busse und Fähren in die nähere und fernere Umgebung starteten. Gerade mal dreißig Minuten dauerte von hier aus die Fährfahrt zu den Stränden von Manly oder Bondi, noch schneller funktionierte der Transport nach Darling Harbour, dem expandierenden Vergnügungsviertel der Stadt, und gerade zehn Minuten benötigt die Fähre zum Milsons Point auf der anderen Seite der Bucht. Das Nebeneinander von Fahrkartenschaltern, Andenkengeschäften, Flohmarktständen, Restaurants und Take-aways, das Kommen und Gehen der Einheimischen auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause, die Allgegenwart der Touristen als freundliche Komparsen des Geschehens und die musikalische Begleitung, mit der die Straßenmusikanten dieses Treiben unterlegten, wirkten wie eine perfekte urbane Installation. Nur einige derangierte Aborigines, die neben den Eingängen zu den Fährstationen vor ihren Bettelschalen saßen, erinnerten daran, dass die so kraftvolle Entfaltung der europäisch-asiatischen Zivilisation im Südwesten des australischen Kontinents gleichbedeutend gewesen war mit dem Niedergang der australischen Ureinwohner. Jochen Olbert hatte in seinem Standardwerk über „Migration“ die Inwertsetzung der planetarischen „Peripherien“ Australien, Neuseeland, Südafrika und Argentinien als das Werk europäischer Kolonisten beschrieben. Mit ins Bild gehörte aber auch, dass dergleichen „Inwertsetzungen“ immer auch zur Marginalisierung der Urbevölkerung beigetragen haben.
Außer am Circular Quay traf man in Sydney die Ureinwohner nur noch in Museen, an den Stadträndern oder in der „Northern Territory-Hall“ in Darling Harbour. Aus dem Stadtbild schienen sie ebenso spurlos verschwunden zu sein wie aus der Geschichte, jedenfalls dann, wenn man die restaurierten Überreste des Viertel „The Rocks" als Maßstab nahm.
Der Hügel zwischen Circular Quay und Harbour Bridge, auf dem die weiße Besiedlung des Fünften Kontinents ihren Anfang genommen hatte, war nach einer grundlegenden Sanierung im Vorfeld der Zweihundertjahrfeier zu einem touristischen Aushängeschild geworden, mit dem den Besuchern aus aller Welt das glattgebügelte Narrativ einer fröhlichen australischen Geschichte präsentiert werden sollte. Ob die Besucher dabei wirklich fündig wurden, wusste ich nicht - nicht nur, weil die Aborigines in dieser Open-Air-Chronik fehlten, sondern auch, weil die Vielzahl von Feinschmeckerläden und Top-Restaurants, Souvenirshops, Boutiquen, Visitor-Centers und Weinläden die ohnehin wenig augenfällige historische Substanz einfach überlagerte. Am Cadman Cottage, dem mit fast zweihundert Jahren ältesten Haus Sydneys, lief man leicht vorüber, weil es ebenso zurechtrestauriert dargeboten wurde wie eine beliebige Anzahl moderner Gebäude. Dass die Statue „First Impressions" am Rock Square den Betrachter wirklich zwingend an die ersten harten Jahre der Stadtgeschichte erinnerte, würden auch die Wohlmeinenden nicht behaupten wollen. Wo unter dem Regiment der ersten Gouverneure Phillip und Hunter Schmalhans Küchenmeister gewesen war, traf der Besucher heute auf einen wohlhabenden Stadtteil, dessen multikulturelle Einwohnerschaft sich hier allabendlich kulinarisch verwöhnen ließ.
Wie sehr sich die geschichtliche Rekonstruktion von „The Rocks" im Schatten der Gegenwart befand, wurde durch die großen Zufahrtsstraßen verdeutlicht, die oberhalb von „The Rocks" zur Harbour Bridge führten, jener großen Bogenbrücke, die die Sydney Cove an ihrer schmalsten Stelle überspannt und Downtown Sydney mit den südlichen Stadtteilen verbindet. Die über einen Kilometer lange und knapp fünfzig Meter breite Eisenbrücke mit ihren acht Autospuren, ihren Schienentrassen, Radfahrer- und Fußgängerüberwegen war schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung im Jahr 1932 mit Absicht überdimensioniert konzipiert worden, um die Verkehrsanforderungen künftiger Zeiten bewältigen zu können. Man wollte eben für die Zukunft bauen - ein Konzept, das in den nächsten beiden Generationen insofern aufging, als Sydneys Stadtverkehr schrittweise den Dimensionen der Brücke hinterherwuchs, bis er sie ab den 1990er Jahren schließlich überholte. So war die Zukunft, wie man sie im Jahre 1932 plante, schneller als erwartet vergangen, so dass nur der Bau eines zusätzlichen Tunnels unter der Sydney Cove den drohenden Verkehrskollaps verhinderte.
Aber die Harbour Bridge, die die Sydneysiders vertraulich „The Cliffhanger", den Kleiderbügel, nennen, war natürlich mehr als nur eine Verkehrsverbindung. Längst war sie neben dem Opernhaus und dem Ayers Rock zu einem der weltberühmten Wahrzeichen ganz Australiens geworden - und darüber hinaus auch zu einer atemberaubenden Aussichtsplattform für alle, die schwindelfrei und neugierig genug waren, die Brücke zu ersteigen.
Nachdem die Harbour Bridge immer wieder zum Schauplatz waghalsiger Kletterpartien und streng verbotener Parasailing-Events geworden war, hatte man sich im Jahre 1998 entschlossen , aus der Not eine Tugend zu machen, und eine Besteigung der Harbour Bridge im Rahmen einer geführten und gesicherten dreistündigen Klettertour jedermann zu ermöglichen. Auch wenn dieser Spaß 90 Dollar kostete, wollten wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Allerdings hatten die Sicherheitsvorkehrungen es in sich. Nachdem wir unsere Personalien angegeben hatten, folgte eine Einkleidung, als würden wir zum Mond fliegen. Ein Spezialanzug, eine Stahlseilsicherung und eine Funkverbindung für jedermann im Gürtel, eine Fleecejacke und Spezialschuhe waren obligatorisch, ebenso wie die Abgabe der Armbanduhr, der Kamera und ein Alkoholtest vor Beginn der Tour. Dann ging es im Entengang zunächst hundert Meter über einen schwindelerregenden Blechgitterweg. Durch die Ritzen im Boden gähnte uns der Abgrund entgegen, doch wir waren so optimal gesichert und verdrahtet, dass selbst ein wild entschlossener Selbstmörder chancenlos gewesen wäre. Schließlich kletterten wir auf Leitern die Pylone empor, bis wir die große Bogenstrebe erreichten. Auf ihr marschierten wir weiter, wieder mit Streben gesichert, bis zum Scheitelpunkt der Brücke. Oben angekommen wurden wir allerdings durch einen Ausblick belohnt, den niemand so schnell vergessen würde. In einem einzigen Blick erfasste das Auge die ganze Bucht von Sydney. Ihre Uferlinie war extrem fragmentiert und glich von oben einer bunten Legowelt. Klein wie in einer Puppenstube wirkten der Circular Wharf und das Opernhaus, während jenseits von Stadt und Bucht die blaue Unendlichkeit des Pazifiks den Horizont erfüllte. Obwohl alle Teilnehmer der Tour mit Stahlseilen gesichert waren, war die Faszination des Ausblicks verschattet durch ein Hintergrundgefühl der Angst. Die Relation von Weite und Tiefe geriet aus den Fugen, und die gewöhnlichen Wahrnehmungsmodalitäten versagten. Die Wolkenkratzersilhouetten von Downtown Sydney wirkten wie die zierlichen Umrisse einer Spielzeugstadt. Winzige Schiffe, umkräuselt von weißen Wellenrändern, zogen ihre Kreise weit unten in der Bucht, und das Sydney Opera House erschien aus dieser Perspektive wie eine Armada aus drei Schiffen, die sich aufmachen, mit prall gesetzten-Segeln den Pazifik zu befahren.
Es regnete, als wir nach der Besteigung der Harbour Bridge zum Vergnügungsviertel von Darling Harbour spazierten. Merkwürdigerweise waren kaum Touristen zu sehen. Die Hallen waren leer, und niemand stand vor dem IMAX Kino.
Blick von der Harbour Bridge auf Sydney Harbour
Die Kartenverkäuferin blickte melancholisch durch die Glasscheibe, als fürchtete sie, wir würden an diesem Tag die einzigen Besucher bleiben. Wir betraten das IMAX Kino und sahen einen Film über Saurier. Die Saurier in Australien sahen aber genauso aus wie die Saurier, die man bereits vom heimischen Fernsehen kannte.
Im großen Aquarium von Sydney erwuchs mir eine weitere Einsicht über Australien. Der fünfte Kontinent, der auf über 90 % seiner Fläche karg und eintönig war, besaß seine schönsten Stellen unter Wasser. Korallen und Fische in herrlichen Farben hinter Glas waren ein Fest für die Augen. Dann schwamm wie in Zeitlupe ein riesiger Hai ganz nah an das Glas heran. Konnte er uns überhaupt sehen? Verstand er, dass er in seiner Riesenhaftigkeit in einem relativ kleinen Becken schwamm? In der Abteilung über das Great Barrier Reef hallte klassische Musik durch die Räume. Wir hörten Mozarts Jupitersinfonie aus unsichtbaren Boxen, während hinter dicken Glasscheiben Rochen, Mantas, Schildkröten und Korallenfische in allen Farben ihre Kreise zogen.
Am nächsten Tag versuchte ich vergeblich, meine Eindrücke zu ordnen. Die Stadt war eine kunterbunte Collage von Disparatem, die trotzdem miteinander harmonierten. Das Kommen und Gehen der Sydneysider glich einem Bühnenauftritt, hinter der eine nicht erkennbare, aber wirkungsvolle Regie zu stehen schien. Die Geräusche in der Innenstadt kamen und gingen wie akustische Gezeiten, das Gehabe der Menschen war zugewandt, aber ausbalanciert, so dass ein Rest von Distanz gewahrt blieb.
Mit dem Boot fuhren wir nach Manly. Allein der Rundblick auf Sydney samt Opernhaus und Harbour Bridge lohnte die ganze Tour. Bei Manly selbst war ich mir nicht so sicher. Der Ort wurde meerwärts durch zwei Landzungen begrenzt. In einer schicken Fußgängerzone schoben muskelbepackte Männer Kinderwagen vor sich her. Sieh mal an, der australische Mann ist ebenso gut gebaut wie durchgegendert. Zierbäume standen in Töpfen vor den Geschäften, ein kühler Wind wehte über die Bucht, so dass man trotz der Sonne merkte: es ist Winter in Australien. Andererseits beeindruckte die Beharrlichkeit, mit der die Australier auch an diesem frischen Tag zum Strand strebten. Eine homo sapiens-Variante, zu dessen Genetik es gehörte, sich mit einem Surfbrett am Meer zu vergnügen, hatte sich in Manly breitgemacht. Gutaussehende Frauen saßen auf den Bänken oder im Sand und beobachten das Strandvolleyballspiel athletischer Männer. Im Umkreis dieser schönen jungen Frauen wollten Andy und Hubert noch etwas verweilen, ich fuhr alleine mit der Fähre zurück nach Sydney.
Blick von der Manly Fähre auf Opernhaus und Brücke
Vom Circular Wharf aus schlenderte ich noch einmal durch „The Rocks“, besuchte den „Observatory Park“ mit seinen herrlichen Ausblicken auf den „McMahon-Point“ und überquerte die Harbour Bridge, um dann, gleich unterhalb der Brücke, am „Milsons Point“ den Königsblick auf Sydney zu erleben: Das Panorama besaß Weite und Tiefe zugleich, denn wie ein gigantischer, sich nach Norden verjüngender Arm langte die Stahlbrücke über die Bucht nach Downtown. Die geöffneten Muschelschalen des Opernhauses warfen im Licht des Nachmittages scharfe Schatten über das Wasser. Segler, Schaufelraddampfer, Katamarane und giftgrün angestrichene Personenfähren durchquerten die Bucht. Über den höchsten Etagen der Wolkenkratzer wölbte sich ein makelloser Himmel wie das Zelt über einem anderen Planeten.