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Mit Eisenbahn, öffentlichen Bussen und Privatfahrzeugen ist Ludwig Witzani knapp zwei Monate lang einmal quer durch Asien gereist. Die achttausend Kilometer lange Reise beginnt in Karachi, der schrecklichsten der schrecklichen fünf Riesenstädte Südasiens, führt dann den Indus aufwärts, vorüber an den Ruinen von Mohenjo Daro und über den Khyber Pass bis an die Grenzen Afghanistans. Auf dem Karakorum Highway passiert Witzani die Gletschermoränen des Nanga Parbat und das verzauberte Land der Hunzukutz, ehe er kurz vor der chinesischen Grenze einem Bergrutsch entgeht. Im uigurischen Kaschgar erlebt er den größten Markt der Welt, um dann ostwärts auf der Seidenstraße die Oasen von Kucha, Turfan und Dunhuang zu besuchen. Am Koko Nor See und in Qinghai steift er den tibetischen und mongolischen Kulturraum, ehe er China gleichsam durch die Hintertüre betritt und jenseits des Gelben Flusses die alte Kaiserstadt Xian erreicht. Die transkontinentale Reise endet in Beijing, der künftigen Hauptstadt der Welt, in der sich der Autor aufmacht, Chinas Geschichte und Gegenwart mit dem Fahrrad zu erkunden. Ein Reisebuch oberhalb der Tagesaktualität, das auf dem Hintergrund persönlichen Erlebens und umfangreicher Literaturkenntnis die großen Strukturen sichtbar macht, die diesen Weltteil verändern: die religiöse Revitalisierung eines kämpferische Islams, der das westlichen Lebensmodell herausfordert, und die Wiederkehr Chinas als dem potenziell maßgeblichen und mächtigsten Land des 21. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 463
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Ludwig Witzani
Transasia
Über den Karakorum Highway und die Seidenstraße von Pakistan nach China
(Weltreisen Band XIII)
Transasia
Copyright: © 2021 Ludwig Witzani Lektorat: Hermann Conen, Köln Konvertierung: sabine abels, Hamburg
published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
für Lilia
„Der Allmächtige ließ uns in einer Epoche zur Welt kommen, in der die Menschen ihre niederen Leidenschaften für ihre Religion halten. Sie verlangen nach Macht und Titeln - Stolz und Eitelkeit sind ihnen Zeichen von Ehre und Wissen. Ihre heuchlerische, zur Schau gestellte Gottesanbetung halten sie für Gottesfurcht. Sie besitzen ein rachsüchtiges Herz, bilden sich aber ein, mitfühlend zu sein, und sie verwechseln Scheinheiligkeit mit Frömmigkeit."
Al ibn Uthman al Hudschwiri, (punjabischer Sufi aus dem 11. JahrhundertÜbersetzung von Annemarie Schimmel)
Vorbemerkung
Ali Baba und die vierzig Räuber
Gestrandet in Karachi
Picknick auf dem Hügel der Toten
Reisen durch den südlichen Sindh zum größten Gräberfeld der Erde
Die dritte Zivilisation
Ein Besuch in Mohenjo Daro der größten Stadt der Induskultur
Geben Sie meinem Sohn einen Dollar
Mit dem Schalimar Express von Karachi nach Lahore.
In der Stadt der Großmoguln
Kein rip-off in Lahore
Der fastende Buddha und die große Kanone
Der Schätzeverteiler
Aurangazebs Vermächtnis
Ein Interview im Teehaus
Dicke Luft in Peschawar
Eine Kalaschnikow zum Mitnehmen
Verlockungen in Darra Bazar und am Khyber Pass
Ein einziger Kadi ersetzt hundert Beamte
Das Swat-Tal zwischen Aufruhr und Idylle
Die drei Städte von Taxila
Ein Tag in Buddhas vergessenem Reich
Exkurs: Buddha und Bodhissatva
Die Stadt aus der Retorte
Islamabad und Rawalpindi
Die unmögliche Straße
Der Karakorum Highway
Dunkle Wolken über Kohistan
Von Islamabad und Taxila zum Tal des Indus bis nach Chilas
Am Schnittpunkt der Urkontinente
Von Chilas nach Gilgit
Shangri la hinter den Bergen
Zu Besuch bei den Hunzukutz, dem Volk, das keine Krankheiten kennt
Die höchste Grenze der Welt
Über den Khunjerab Pass von Karimabad nach Kaschgar
Exkurs: Der Turm des Ptolemäus
Die Achse der Welt
Kleiner geografischer und geschichtlicher Exkurs über die Seidenstraße
Die duftende Konkubine und der große Sonntagsmarkt
Tage in Kaschgar
Exkurs: Authentizität und Inszenierung exotischer Märkte
Die Wüste nimmt alles zurück
In Aksu, Kucha und Kizil
Im Schatten der flammenden Berge
In der Oase Turfan
Exkurs: Der Manichäismus
Das älteste Buch der Welt
Wüstendünen und Buddha-Grotten in Dunhuang
Das Land, in dem es niemals Frühling wird
Durch Qinghai zum Koko Nor See
In der Heimat des Dalai Lama
In Kunbum und Labrang
Exkurs: Im Land der lebenden Götter
Das fliegende Pferd
In Lanzhou, Bingling und am Maji Shan
Zu Besuch beim Ersten Kaiser
In Xian, der Hauptstadt des chinesischen Reiches
Treten statt Beten
Luoyang und Schaolin in der chinesischen Provinz Henan
Die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts
Das Ende der Reise in Beijing
Mit dem Fahrrad in sechs Etappen durch die chinesische Geschichte
Erste Station: Der Beihei Park oder: Dadu, die Hauptstadt der Yüan Dynastie (1271-1368)
Zweite Station: Die Verbotene Stadt oder: Der Glanz der Ming Dynastie (1368-1644)
Dritte Station: Der Himmelstempel – oder: Das Mandat des Himmels
Vierte Station: Der Jing Shan Hügel oder: Der Untergang der Ming Dynastie (1644)
Fünfte Station: Station: Der Sommerpalast – oder: Die Qing Dynastie (1644-1911)
Sechste Station: Der Platz des Himmlischen Friedens – oder: Die Geschichte eines Jahrhunderts als eine Abfolge von vier Demonstrationen.
Die große Mauer schützt niemanden mehr
Der letzte Tag
Anhang
Literaturhinweise
Bildnachweise
Anmerkungen zur Schreibweise der Namen und Begriffe
Über den Autor
Weitere Veröffentlichungen von Lundwig Witzani
Von Karachi nach Beijing – Übersicht (Detailkarten am Beginn jedes Buchteils)
Im Jahre 1924 reiste Alfred Döblin für zwei Monate durch Polen und veröffentlichte seine Eindrücke in einem Reisebuch. Dieses Buch „Reisen durch Polen“ ist heute noch in zweifacher Hinsicht lesenswert. Zum ersten wegen der Genauigkeit seiner Beobachtungen, der Prägnanz des Stils und der Treffsicherheit der Metaphern. Wer wollte beanspruchen, hier mithalten zu können?
Aber der Wert des Döblin´schen Reisebuches erschöpft sich nicht nur in seiner literarischen Qualität. In der Distanz der Jahre ist es selbst ein historisches Dokument geworden. Wer wissen will, wie das multikulturelle Polen früher, vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat, kommt um dieses Buch nicht herum.
Mit anderen Worten: Manche Reisebücher werden schneller als man denkt, „historisch“, d. h. sie werden zu Zustandsbeschreibungen von Ländern, Werten und Präferenzen, die sich schon wieder weiterentwickelt haben. Sind sie deswegen wertlos und veraltet? Keineswegs, vor allem dann nicht, wenn sich in ihnen bereits die Triebkräfte nachweisen lassen, die sich erst später voll entfalten sollten.
So erging es mir mit der vorliegenden Reise, die mich in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts in knapp zwei Monaten von Karachi am Arabischen Meer quer durch Asien in die chinesische Hauptstadt Beijing führte.
In Pakistan genoss ich die traditionell warmherzige Gastfreundschaft einer mohammedanischen Gesellschaft, spürte aber auch bereits sehr deutlich, wie sich Teile der Bevölkerung religiös sensibilisierten, um nicht zu sagen: fanatisierten. Der Glasboden der Normalität trug mich noch, als ich mich auf eigene Faust durch Pakistan bewegte. Nur dann und wann habe ich ein Knirschen vernommen, dessen Bedrohlichkeit mir erst im Nachhinein klar wurde.
Und schließlich führte die Reise weiter nach China, einem Land, das nach den schrecklichen Verheerungen des Maoismus damals gerade erwachte und sich anschickte, seine ungeheuren produktiven Kräfte zu sammeln. Die Großstädte, die damals wie von Zauberhand gelenkt, am Rande der zentralasiatischen Wüsten entstanden, die Entfesselung der chinesischen Wirtschaftskräfte, die gigantischen Infrastrukturprojekte, die die chinesische Eisenbahn bis nach Tibet führten, waren damals gerade erst zu ahnen, ebenso wie die ausgefeilten Techniken der totalen Überwachung, die dem modernen China einen so beunruhigenden Anstrich geben.
Die Perspektiven, von denen aus diese Veränderungen beobachtet und beschrieben werden können, sind ganz unterschiedlich, aber sicher gehört die unmittelbare sinnliche Erfahrung eines Reisenden mit ins Bild, auch wenn er vor Ort noch nicht alles versteht, was ihm widerfährt. „Transasia“ bedeutet in diesem Sinne nicht nur eine Reise quer durch Asien, sondern auch das unmittelbare Erlebnis der großen asiatischen Transformation, die in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts Fahrt aufnahm.
Die Grundlage des vorliegenden Buches bilden Reisetagebücher, die ich während der Reise tagtäglich mit einer gewissen obsessiven Beharrlichkeit führte. Nur an wenigen Stellen erlaube ich mir einen Sprung in die Zukunft respektive die Gegenwart, um die Entwicklungen anzudeuten, die sich damals bereits vor Ort bemerkbar machten. Wie idyllisch war das pakistanische Swat Valley in den 1990er Jahren, welche Agonien durchlitten seine Bewohner während der Veitstänze mörderischer Islamlisten nur einige Jahre später. Wie verhalten war der Groll der Uiguren gegen die chinesische Fremdherrschaft, ehe sich daraus ein gewalttätiger Widerstand entwickelte.
Auch wer sich für das Reisen im Allgemeinen und die kulturgeschichtlichen Höhepunkte dieser Regionen im Besonderen interessiert, sollte in dem vorliegenden Buch fündig werden. Denn die Mogulpaläste von Lahore oder die Buddha Grotten von Dunhuang veraltern ebenso wenig wie das Grab des ersten Kaisers in Xian oder die Erinnerungen an große untergegangene Zivilisationen wie Mohenjo Dao am Indus.
Aus Gründen der Diskretion habe ich alle Namen von Personen, die in diesem Buch auftauchen, geändert. Bei vielen meiner pakistanischen Gesprächspartner bin ich mir ohnehin nicht sicher, ob sie die blutigen Exzesse der Taliban-Ära und des Afghanistankrieges (als Täter oder Opfer) überstanden haben.
Um am Ende noch einmal auf Alfred Döblin zurückzukommen: Döblin hat das „ich“ in seinen Romanen immer gehasst, aber in seiner Reisebeschreibung kommt er ohne das „ich“ nicht aus. Die Subjektivität des Reisenden bei der Schilderung einer Reise ist also unhintergehbar und in all ihren Vor- und Nachteilen immer gegenwärtig: sowohl was ihre narrative Dimension wie ihre wertenden Positionierungen betrifft.
Und zum Schluss noch ein Warnung. Der Autor hat sein Herz an die Geschichte verloren und beleuchtet hier und da das Gewordene recht ausführlich. Sicherheitshalber sind darum an verschiedenen Stellen des Buches „Warnhinweise“ vermerkt, die es nicht geschichtsaffinen Lesern erlauben, die Vergangenheit zu überspringen und gleich in der Gegenwart fortzufahren.
Mit diesen Einschränkungen begrüße ich den Leser auf der langen transasiatischen Reise von Karachi nach Beijing und wünsche gute Reise.
Im Jahre 1924 reiste Alfred Döblin für zwei Monate durch Polen und veröffentlichte seine Eindrücke in einem Reisebuch. Dieses Buch „Reisen durch Polen“ ist heute noch in zweifacher Hinsicht lesenswert. Zum ersten wegen der Genauigkeit seiner Beobachtungen, der Prägnanz des Stils und der Treffsicherheit der Metaphern. Wer wollte beanspruchen, hier mithalten zu können?
Aber der Wert des Döblin´schen Reisebuches erschöpft sich nicht nur in seiner literarischen Qualität. In der Distanz der Jahre ist es selbst ein historisches Dokument geworden. Wer wissen will, wie das multikulturelle Polen früher, vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat, kommt um dieses Buch nicht herum.
Mit anderen Worten: Manche Reisebücher werden schneller als man denkt, „historisch“, d. h. sie werden zu Zustandsbeschreibungen von Ländern, Werten und Präferenzen, die sich schon wieder weiterentwickelt haben. Sind sie deswegen wertlos und veraltet? Keineswegs, vor allem dann nicht, wenn sich in ihnen bereits die Triebkräfte nachweisen lassen, die sich erst später voll entfalten sollten.
So erging es mir mit der vorliegenden Reise, die mich in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts in knapp zwei Monaten von Karachi am Arabischen Meer quer durch Asien in die chinesische Hauptstadt Beijing führte.
In Pakistan genoss ich die traditionell warmherzige Gastfreundschaft einer mohammedanischen Gesellschaft, spürte aber auch bereits sehr deutlich, wie sich Teile der Bevölkerung religiös sensibilisierten, um nicht zu sagen: fanatisierten. Der Glasboden der Normalität trug mich noch, als ich mich auf eigene Faust durch Pakistan bewegte. Nur dann und wann habe ich ein Knirschen vernommen, dessen Bedrohlichkeit mir erst im Nachhinein klar wurde.
Und schließlich führte die Reise weiter nach China, einem Land, das nach den schrecklichen Verheerungen des Maoismus damals gerade erwachte und sich anschickte, seine ungeheuren produktiven Kräfte zu sammeln. Die Großstädte, die damals wie von Zauberhand gelenkt, am Rande der zentralasiatischen Wüsten entstanden, die Entfesselung der chinesischen Wirtschaftskräfte, die gigantischen Infrastrukturprojekte, die die chinesische Eisenbahn bis nach Tibet führten, waren damals gerade erst zu ahnen, ebenso wie die ausgefeilten Techniken der totalen Überwachung, die dem modernen China einen so beunruhigenden Anstrich geben.
Die Perspektiven, von denen aus diese Veränderungen beobachtet und beschrieben werden können, sind ganz unterschiedlich, aber sicher gehört die unmittelbare sinnliche Erfahrung eines Reisenden mit ins Bild, auch wenn er vor Ort noch nicht alles versteht, was ihm widerfährt. „Transasia“ bedeutet in diesem Sinne nicht nur eine Reise quer durch Asien, sondern auch das unmittelbare Erlebnis der großen asiatischen Transformation, die in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts Fahrt aufnahm.
Die Grundlage des vorliegenden Buches bilden Reisetagebücher, die ich während der Reise tagtäglich mit einer gewissen obsessiven Beharrlichkeit führte. Nur an wenigen Stellen erlaube ich mir einen Sprung in die Zukunft respektive die Gegenwart, um die Entwicklungen anzudeuten, die sich damals bereits vor Ort bemerkbar machten. Wie idyllisch war das pakistanische Swat Valley in den 1990er Jahren, welche Agonien durchlitten seine Bewohner während der Veitstänze mörderischer Islamlisten nur einige Jahre später. Wie verhalten war der Groll der Uiguren gegen die chinesische Fremdherrschaft, ehe sich daraus ein gewalttätiger Widerstand entwickelte.
Auch wer sich für das Reisen im Allgemeinen und die kulturgeschichtlichen Höhepunkte dieser Regionen im Besonderen interessiert, sollte in dem vorliegenden Buch fündig werden. Denn die Mogulpaläste von Lahore oder die Buddha Grotten von Dunhuang veraltern ebenso wenig wie das Grab des ersten Kaisers in Xian oder die Erinnerungen an große untergegangene Zivilisationen wie Mohenjo Dao am Indus.
Aus Gründen der Diskretion habe ich alle Namen von Personen, die in diesem Buch auftauchen, geändert. Bei vielen meiner pakistanischen Gesprächspartner bin ich mir ohnehin nicht sicher, ob sie die blutigen Exzesse der Taliban-Ära und des Afghanistankrieges (als Täter oder Opfer) überstanden haben.
Um am Ende noch einmal auf Alfred Döblin zurückzukommen: Döblin hat das „ich“ in seinen Romanen immer gehasst, aber in seiner Reisebeschreibung kommt er ohne das „ich“ nicht aus. Die Subjektivität des Reisenden bei der Schilderung einer Reise ist also unhintergehbar und in all ihren Vor- und Nachteilen immer gegenwärtig: sowohl was ihre narrative Dimension wie ihre wertenden Positionierungen betrifft.
Und zum Schluss noch ein Warnung. Der Autor hat sein Herz an die Geschichte verloren und beleuchtet hier und da das Gewordene recht ausführlich. Sicherheitshalber sind darum an verschiedenen Stellen des Buches „Warnhinweise“ vermerkt, die es nicht geschichtsaffinen Lesern erlauben, die Vergangenheit zu überspringen und gleich in der Gegenwart fortzufahren.
Mit diesen Einschränkungen begrüße ich den Leser auf der langen transasiatischen Reise von Karachi nach Beijing und wünsche gute Reise.
Erster Teil:
Von Karachinach Islamabad
Nichts an ästhetischer Überwältigung kommt dem Erlebnis gleich, wenn ein Großraumflugzeug beschleunigt, die Schwerkraft überwindet und sich in die Lüfte erhebt. Im Innern der vibrierenden Riesenmaschine schrumpft der Passagier auf die seelischen Ausmaße eines Vögelchens, hört sein Herz schlagen im Rhythmus der mühsam unterdrückten Besorgnis und atmet erleichtert auf, wenn die Warnzeichen ausgehen und der Bordservice beginnt.
So war es auch auf dem Flug LH 764 von Frankfurt nach Karachi. Die Maschine war gut gefüllt mit zwei Arten von Passagieren. Die erste Gruppe bestand aus Männern und Frauen mit rosigen, gesunden Gesichtern, die einer Reise in die Berge entgegensahen, denn die Lufthansa-Maschine würde nach ihrem Zwischenstopp in Karachi nach Nepal weiterfliegen. Die Angehörigen der zweiten Gruppe waren Pakistanis, die aus Europa nach Pakistan heimflogen. Ein Teil der pakistanischen Frauen war schwarz verschleiert, andere saßen in bunten Kostümen in der Business-Class. Einige der älteren pakistanischen Männer waren in eng sitzende Anzüge gezwängt und glichen Patriarchen, deren Zorn man nicht gerne erleben wollte. Die Kinder waren laut und ausgelassen, auch die Mädchen, von denen die meisten bald hinter Schleiern verschwinden würden. Ich flog nach Pakistan, einem Land mit tausend Fragezeichen.
Das fing schon mit dem Namen des Landes an, über dessen Etymologie zwei Versionen kursierten. Die erste bezog sich auf die Landessprache Urdu, in der „Pakistan” „Land der Reinen” bedeutet. Die zweite, unbekanntere Version ging zurück auf den Unabhängigkeitsaktivisten Choudhary Rahmat Ali, der den Begriff „Pakistan” als ein Kunstwort aus lauter Akronymen für die fünf Hauptlandschaften des Landes konstruierte, nämlich dem Punjab, Afghanistan (=Paschtunistan), Kashmir, den Sindh und Belutschistan.
Geschichtlich gehörte das heutige Pakistan seit uralten Zeiten zu Indien, allerdings einem Indien, das viel größer war als die heutige Indische Union und auch den Westen um den Indus und den Osten um die Mündung des Ganges-Brahmaputra umfasste. Dieser Subkontinent war seit dem Mittelalter zweigeteilt, in eine weit überwiegende hinduistische Bevölkerungsmehrheit und eine moslemische Minderheit. Beim Abzug der britischen Kolonialmacht im Jahre 1947 entstanden dementsprechend zwei Staaten mit wahrlich unmöglichen Grenzen, eben Indien als Kernland und an seinen Rändern das Kunstgebilde Pakistan, aufgeteilt in Westpakistan (das heutige Pakistan) und Ostpakistan, das sich 1972 als Bangladesch von Pakistan abspaltete. Die schrecklichen Ausschreitungen und die Hunderttausende an Todesopfern, die mit der Teilung des indischen Subkontinents verbunden gewesen waren, haben das politische Klima zwischen Indien und Pakistan bis auf den heutigen Tag vergiftet.
Das aktuelle Pakistan gehört mit ca. 225 Millionen Einwohnern auf knapp 800.000 Quadratkilometern zu den bedeutendsten Staaten Südasiens, und doch steht es im Schatten des noch viel größeren indischen Erbfeindes. In vier Kriegen und endlosen Scharmützeln standen sich Indien und Pakistan seit 1947 gegenüber. Immer ging es um die Provinz Kaschmir im Himalaya, und jedes mal zog Pakistan den Kürzeren. Obwohl hunderte Millionen Inder und Pakistanis in schreiender Armut leben, haben sich Indien und Pakistan im Zuge dieser Rivalität unter immensen finanziellen Opfern zu Atommächten hochgerüstet, die ihre Sprengköpfe auf die Riesenstädte des Gegners gerichtet haben. Seitdem Pakistan ebenso wie Indien über die Atombombe verfügt, hat sich ein fragiles Patt auf dem Subkontinent entwickelt – man könnte auch sagen: ein brüchiger Frieden im Schatten der totalen Vernichtung.
Was die Innenpolitik betrifft, so ist Pakistan das Musterbeispiel eines gescheiterten Staates mit einem der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen Asiens, mit einem miserablen Bildungssystem, regelmäßigen Epidemien, ausufernder Korruption und unkontrollierter Kriminalität, von der aktivsten Terroristenszene weltweit ganz zu schweigen. 96% der Pakistanis sind Moslems, aufgeteilt in die sunnitische und die schiitische Richtung, zwischen denen es regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen kommt. Ich hatte mir dazu einige Kennziffern in meinem Reisetagebuch notiert und durchblätterte meine Notizen. War ich eigentlich von allen guten Geistern verlassen, freiwillig in dieses Land zu reisen?
Auf der anderen Seite gibt es kaum ein beeindruckenderes Reiseland als Pakistan. Das mag den Leser überraschen, aber es ist die Wahrheit. Am Ufer des Indus entstand in Mohenjo Daro und Harappa eine der ältesten Hochkulturen der Menschheit. Eine der fruchtbarsten Kulturlandschaften Asiens, der Punjab, bildet das Herz des Landes, und im Norden Pakistans erheben sich einige der höchsten Gebirgszüge der Welt, über die der „Karakorum Highway” nach China führt. Das größte Gräberfeld der Erde befindet sich im südpakistanischen Makli, und einige der prachtvollsten Mogulpaläste wurden in Lahore errichtet. Aber das war noch nicht alles. Unzählige Individualreisende, die Pakistan auf eigene Faust erkundet hatten, waren voll des Lobes über die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen vor Ort, die mit Mord, Totschlag und Terror nichts zu tun haben wollen. Die meisten dieser Reisenden waren übrigens lebend wieder aus Pakistan zurückgekehrt. Das war immerhin mal eine gute Nachricht.
„Vegetarian or Meat?”, fragte die Stewardess, und ich legte mein Reisetagebuch zur Seite. Tief unter uns glitzerten die Lichter von Teheran. In tiefschwarzer Nacht überflog die Maschine die iranischen Wüsten. Ein letztes Mal für lange Zeit trank ich ein Glas Wein zur Nacht und schlief, als die Maschine zum Landeanflug auf Karachi ansetzte.
Der internationale „Mohammed Jinnah Airport” war die mit Abstand größte Flugdrehscheibe des Landes und besaß einen notorisch schlechten Ruf, was seine Sicherheitsvorkehrungen betraf. Weltweit bekannt sollte er einige Jahre später werden, als die Taliban in einer konzertierten Aktion den Flughafen zu stürmen versuchten und mehrere Dutzend Menschen umbrachten, ehe sie von der Armee überwältigt werden konnten.
In dieser Nacht aber war auf dem Jinnah Airport alles ruhig. Mitternacht war längst vorüber, und knirschend setzte sich das Rollband mit den Gepäckstücken in Bewegung. Es roch nach Kerosin, und ein kaltes Licht zeichnete tiefe Falten in die übermüdeten Gesichter der Passagiere. Nach und nach leerte sich die Halle, die Gepäckstücke wurden weniger und weniger, bis das Band stoppte. Ich hatte es fast erwartet und konnte es doch nicht glauben: Mein Rucksack war nicht ausgecheckt worden und befand sich wahrscheinlich bereits auf dem Weiterflug nach Kathmandu.
Mr. Sada Saaqui, der zuständige Beamte des „Lost Baggage Departments” schnarchte hinter seinem Tresen, war aber sofort hellwach, als ich auf die Klingel drückte. Er hatte eine fleischige Nase, teigig herabhängende Wangen und gutmütige Augen. Mitfühlend hörte er sich meine Klagen an, machte mir aber wenig Hoffnung. „Ja, ja”, sagte er in abgehacktem Englisch, „unser Airport ist Champion, was die Zahl der verschwundenen Gepäckstücke betrifft, aber Looser im Hinblick auf die Wiederbeschaffung.” Trotzdem half er mir beim Ausfüllen der Suchmeldung, schüttelte mir zum Abschied die Hand und empfahl mir, in zwei Tagen noch einmal vorbeizuschauen. Sicherheitshalber hinterließ ich die Telefonnummer meines vorgebuchten Hotelzimmers in Karachi.
So trat ich nur mit Fototasche, Skizzenbuch, Zahnbürste und Walkman auf den Vorplatz des Flughafens. Sofort umfing mich die nächtliche Wärme Südasiens, eine Wärme, die in der Nacht einer molligen Decke glich und von der ich noch nicht ahnte, bis zu welchen Exzessen sie sich am Tage steigern würde. Gleich vor dem Eingang des Flughafens parkten Dutzende von Taxis, deren Fahrer bei offenen Türen schliefen. Einigen waren die Köpfe in erstaunlichen Winkeln bis unter die Achseln verrutscht, und manche Beine baumelten in somnabulen Spagats aus den Fenstern.
Ich weckte den ersten Taxifahrer in der Reihe, der sofort erwachte, seine Glieder sortierte und nach einer kurzen Preisverhandlung mein Gepäck in den Wagen packte. Er war eine jüngere und schönere Ausgabe von Mr. Sada Saadqui, mit strafferen Gesichtszügen und ohne Hängebacken, ein schöner Mensch mit wolligem schwarzem Haar und kräftigem Nacken, dem man sein Schlafdefizit nicht ansah. Erstaunlich, wie übergangslos der Pakistani vom Schlaf- in den Wachmodus wechseln kann, ging es mir durch den Kopf - ohne zu bedenken, dass dieser Prozess auch andersherum verlaufen kann. Denn kaum hatten wir den Flughafen verlassen, um in stockdunkler Nacht auf einer schnurgeraden Straße der Innenstadt von Karachi entgegenzubrausen, entschlummerte der schöne pakistanische Taxifahrer hinter seinem Lenkrad. Das Fahrzeug fuhr in einem zunächst ganz sachten, dann immer schärferen Bogen von der geraden Straße ab, was ich auf dem Rücksitz im Halbschlaf nur undeutlich registrierte, bis es mit dem rechten Vorderreifen gegen einen halbmeterhohen Bordstein prallte. Der Wagen wurde hochgeschleudert, raste im James Bond Style eine beachtliche Strecke auf seinen beiden linken Reifen über die Straße, bis er wieder in seine Normallage herniederkrachte.
In bewundernswertem Phlegma kletterte der Taxifahrer aus seinem Gefährt, musterte nur kurz die völlig zertrümmerte rechte Vorderseite seines Fahrzeugs und kassierte von mir fairerweise nur den halben Dollarpreis, nicht ohne mir zum Abschied alles Gute für meinen Aufenthalt in Pakistan zu wünschen. Mit einem zweiten, wacheren Taxifahrer erreichte ich schließlich die Innenstadt von Karachi, und, wie nicht anders zu erwarten, waren zu dieser Uhrzeit alle Hotels geschlossen. Da stand ich nun in der letzten Stunde der Nacht auf der Sarwar Sahid Road in der Innenstadt von Karachi und blickte mich um. Langsam wich das Dunkel der Nacht, und wie geisterhafte Schemen schälten sich die Konturen Karachis aus der Finsternis. Die Krähen starteten über Minaretten, Fernsehantennen und Hoteltürmen zu ihrem Morgenflug, und im frühen Licht des Tages wirkten die gesichtslosen Straßenzüge mit ihren abbröckelnden Fassaden wie Schluchten in einem verwunschenen Labyrinth. Auf hunderten von Bettgestellen mit einfachen Drahtrosten, schliefen die Menschen vor ihren Häusern, umschlichen von den Hunden, die in Karachi allmorgendlich als erste erwachten, um vor den Ärmsten der Armen im Marktmüll zu stöbern. Eine Pferdedroschke bewegte sich die halbdunkle Straße entlang, gelenkt vom Milchmann, der mit einem Dutzend unterschiedlich großer Milchkübel auf der Ladefläche seine Morgenrunde drehte. Ein korpulenter Pakistani hatte sich von seinem Drahtbett erhoben und nahm eine Milchkanne in Empfang, während der örtliche Mullah erschien und eine kleine grün gekachelte Straßenmoschee öffnete.
Nachtruhe in der Innenstadt von Karachi
Mit einem heißen Tschai beginnt der Tag
Als hätten Milchmann und Mullah das Startsignal des Tages gegeben, rasselten plötzlich die Gitter vor den Läden herauf, und unter allerlei Ächzen und Kühmen erhoben sich die Männer von ihren Charpoys. Der Inhaber des „Nagorni Madina Milk Shop” trat aus seinem Haus, schürte ein Feuer und verrührte in einem badewannengroßen Bottich die dicken Rahmklumpen der Milch zum Tschai. Als sähe er jeden Morgen einen heimatlosen westlichen Touristen an seinem Teestand, reichte er mir wortlos den ersten Tschai des Tages, der ganz ausgezeichnet schmeckte.
Die meisten Männer, die nach und nach den Teestand betraten und sich gleich mir durch einen heißen Tee zu stärken suchten, hätte man sich mühelos als Hauptpersonen in „Sindbad der Seefahrer” oder ,,Ali Baba und die Vierzig Räuber” vorstellen können. Kräftig und großgewachsen, mit buschigen Augenbrauen und dem unvermeidlichen Schnauzbart unter ihren herrischen Nasen entströmte ihnen eine unerhörte Aura von Virilität. Alle sahen in ihren Shalwar Qamiz Gewändern irgendwie ähnlich aus, und wie es sich für richtige Kerle gehörte, sprachen sie wenig. Von mir nahmen sie keine Notiz, als wäre ich eine zu vernachlässigende Nulldiät, die wie ein Fernsehbild bald aus ihrem Gesichtskreis verschwinden würde. Wieder ertönte der Ruf des Muezzins, und wie auf Kommando verschwanden die meisten von ihnen in die grün gekachelte Moschee.
Da das Sarawan Hotel noch immer geschlossen hatte, unternahm ich eine kleine Innenstadterkundung. Ich lief an Fassaden mit weit aufgerisssenen Fenstern vorüber, die offenen Mündern glichen, durch die die Kühle des Morgens in die aufgeheizten Häuser eindringen konnte. Im Slalom kurvte ich zwischen auf den Bürgersteigen liegenden Menschen herum, passierte öffentliche Urinale ohne Sichtschutz und beobachtete, wie der Charpati-Bäcker das Frühstück für die Laufkundschaft vorbereitete. Ein Karachi erklomm als erster Kunde den Stuhl eines Straßenfrisörs und erhielt noch vor Sonnenaufgang den landestypisch ölig-glänzenden Haarschnitt. Die wenigen Frauen, die ich sah, waren verschleiert, die Männer trugen den Shalwar Qamiz, einen lang gezogenen Baumwollüberzug, der bis zu den Unterschenkeln reichte und unter dem eine Hose getragen wurde. Ich hörte das Röhren eines alten Esels, der einen überladenen Karren mit Ziegeln über die Straße zog. Rollläden quietschten und eine pakistanische Hausfrau begann ihren Tag mit dem Teppichklopfen auf ihrem Balkon. Und da sah ich ihn, meinen ersten pakistanischen Lastwagen, wie er bunt und herausgeputzt wie ein Streitwagen aus dem Mahabharata um die Ecke bog. Der Verkehr auf den Straßen nahm minütlich zu, und es dauerte nicht lange, da wurden alle Alltagsgeräusche vom Hupen der Autos, Motorrikschas oder Bussen übertönt.
Schließlich kehrte ich an meinen Ausgangspunkt in der Sawar Shahid Road zurück und sah, dass das Hotel Sarawan geöffnet hatte. Es handelte sich weder um ein Mariott, noch um ein Sheraton, sondern um einen schmucklosen vierstöckigen Bau an einer Straßenecke, den ich aus zwei Gründen gewählt hatte. Erstens wegen der zentralen Lage und zweitens, weil der letzte Lonely Planet Guide die funktionierenden Ventilatoren dieses Hotels gelobt hatte. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass in Karachi regelmäßig der Strom ausfiel und dass dann der Ventilator nur als Zimmerschmuck dient.
Der Inhaber des Sarawan-Hotels war Herr Ibrahim, ein rustikaler Mann mit pechschwarzen Haaren und herrischem Gebaren, der sofort Vorkasse verlangte. Meine Dollars nahm er gerne entgegen, und da ich gleich für die ganze Woche tauschen wollte, erhielt ich von ihm eine Quittung und ein halbes Pfund abgegriffener pakistanischer Uralt-Rupien, auf denen ich nur die Zahlen lesen konnte. Während dieser Verhandlungen huschten verschleierte Reinigungskräfte um uns herum. Nie habe ich eine von ihnen mit einem Besen gesehen, was ich darauf zurückführte, dass ihre langen Kaftane permanent über den Fußboden schleiften und das Kehren ersetzten.
Mein Zimmer befand sich im vierten Stock am Ende eines dunklen Ganges und verfügte über den Charme einer Gefängniszelle. Nach dem verschwundenen Gepäck und dem Taxicrash war das der dritte Schock des Tages. Um die Stimmung ein wenig aufzuhellen, schaltete ich meinen Walkman auf Lautbetrieb und hörte das Mandolinenkonzert von Vivaldi, während ich duschte. Obwohl ich den Kalt-Schalter voll aufdrehte, kam nur warmes, braunes Wasser aus dem Duschkopf, eine eklige Brühe, die schon nach zwei Minuten versiegte. Ich legte meinen Schlafsack auf die hoteleigene Bettwäsche und schlief sofort ein.
Lange kann ich nicht geschlafen haben, denn ich erwachte noch vor Mittag mit rasenden Kopfschmerzen. Zwei Plagen, die mich auf meiner weiteren Reise durch Pakistan begleiten würden, hatten mich geweckt: die Hitze und der Lärm. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, müsste ich an dieser Stelle noch den Gestank hinzufügen, denn wie ich bald feststellen musste, existierte die Kanalisation von Karachi entweder nur auf dem Papier oder im im Zustand der permanenten Überlastung. Gottlob schreibe ich das rein theoretisch, denn ein gnädiges Geschick hat mich mit einem extrem unterentwickelten Riechempfinden ausgestattet, so dass ich zwar durchaus wahrnehme, wenn es stinkt, ohne allzu sehr darunter zu leiden.
Als ich am frühen Nachmittag aus meinem Zimmer in das Hotelfoyer herunterkam, teilte mir Herr Ibrahim mit, dass die Lufthansa angerufen habe und dass mein Gepäck in Kathmandu gefunden worden sei. Spätestens in zwei oder drei Tagen würde mein Rucksack mit dem Rückflug der Lufthansa-Maschine wieder in Karachi eintreffen. Ich nahm diese Nachricht so gefasst auf wie ich konnte, denn sie bedeutete, das ich auf jeden Fall länger als geplant in Karachi bleiben musste. Spontan fiel mir eine moderne Kafka-Variation ein, eine Geschichte, in der es zwar kein Schloss gab, in das ich nicht hereinkam, aber einen Rucksack, auf den ich bis zum Ende meiner Tage warten musste. So schlimm würde es schon nicht werden, tröstete ich mich und schickte mich ins Unvermeidliche.
Draußen hatte sich inzwischen die Hitze wie ein Verhängnis entfaltet. Die Sonne knallte gnadenlos auf die Vierzehnmillionenstadt, und es war vollkommen unmöglich, in der prallen Hitze durch Karachi zu laufen. Deswegen aktivierte ich mein Hitzschlag-Notprogramm für asiatische Millionenstädte, das einfach darin besteht, sich an den Pool eines Luxushotels zu legen und in der Nähe von Wasserbecken und Duschen so gut wie möglich durch den Tag zu kommen. Nach zwanzig Jahren islamistischem Terrorismus wäre es heutzutage vollkommen unmöglich, in ein pakistanisches Luxushotel einfach hineinzuspazieren und sich an den Pool zu legen. In den Neunziger Jahren war das aber noch kein Problem. Ich brachte mich so gut es ging optisch in Schuss und marschierte zum benachbarten Avari Tower Hotel. Der Türöffner war mit einem Fantasiekostüm ausstaffiert, sagte „Good Morning, Sir”, und verzog keine Miene. Ich grüßte in Richtung Rezeption, durchquerte die Lobby und fand den Poolbereich. Die Liegen waren kaum besetzt, nur eine philippinische Nanny war anwesend, die das Planschen zweier kreischender Knaben überwachte. Ein Hotelangestellter eilte herbei und brachte mir eine Unterlage für die Liege und zwei große Handtücher, die ich dankbar entgegennahm. Der Rest des Tages verging mit Duschen, Schlafen und Lesen auf eine überraschend komfortable Weise.
Von heute aus betrachtet, schäme ich mich natürlich für dieses asoziale Verhalten, das ich dann und wann in asiatischen Städten an den Tag legte. Zu meiner Entlastung kann ich nur vorbringen, dass ich bei diesen Gelegenheiten stets versucht habe, mein ramponiertes Karma-Konto durch die Vergabe großzügiger Trinkgelder an die Poolkellner auszugleichen.
Am nächsten Morgen rief ich das Lufthansa-Büro an und erfuhr, dass sich mein Gepäck bereits wieder auf dem Weg nach Karachi befand. Ich hatte sogar Mr. Sada Saaqui am Apparat, der mir eine Unkostenentschädigung in Aussicht stellte, die so lächerlich war, dass ich mir davon im Avari Tower Hotel keinen Drink hätte kaufen können. Ansonsten empfahl er mir die Sehenswürdigkeiten Karachis, die lohnender seien, als man glauben wolle.
Diesem Rat bin ich nolens volens gefolgt. Langsam und bedächtig, mich von Schatten zu Schatten fortbewegend und unablässig trinkend erkundete ich die größte Stadt Pakistans, von der es hieß, dass sie von den „fürchterlichen Fünf” die fürchterlichste sei. Unter den „fürchterlichen Fünf” verstand man Kalkutta, Delhi, Bombay, Dhakka und Karachi, die fünf größten Städte des indischen Subkontinents, von denen keine unter 14 Millionen Einwohner hatte und in denen sich niemand länger als unbedingt nötig aufhielt. Wieder lief ich zum Avari Tower, diesmal aber nicht zum Pool, sondern zum Aufzug, mit dem ich zum Hotelrestaurant im obersten Stockwerk fuhr, um mir einen ersten Überblick über die Stadt per Augenschein zu verschaffen. Durch den Smog hindurch, der sich in diesen Morgenstunden noch nicht so stark entfaltet hatte, erblickte ich eine unendliche Betonwüste, durchsprenkelt mit winzigen Parks, Kanälen und Seen und begrenzt vom Horizont des Arabischen Meeres. Sah man genauer hin, erkannte man zwei Binnenseen, die zwischen Stadt und Meer lagen. Der kleinere, der sogenannte China Creek, war ein Mangrowensee, an dessen Ufern die oberen Zehntausend in ihren Clubs residierte. Bei dem größeren Gewässer handelte es sich um eine gewaltige Naturbucht, die vom Arabischen Meer nur durch eine langgezogene Halbinsel abgetrennt war. Man musste kein Städtebauer sein, um in dieser Naturbucht einen natürlichen Idealhafen zu erkennen, der die Engländer dazu veranlasst hatte, diesen ursprünglich vollkommen unbedeutenden Marktflecken zu besetzen und ihn zu einer britischen Niederlassung auszubauen. Von Karachi aus wurde dann ab 1840 innerhalb weniger Jahrzehnte der ganze Sindh und das Mündungsgebiet des Indus in den britischen Machtbereich integriert.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Schnell überflügelte Karachi die älteren Zentren Thatta und Hyderabad und stieg in die gleiche Liga wie Bombay oder Kalkutta auf. Karachi wurde ein Verwaltungszentrum mit Eisenbahnanschluss, viktorianischen Gebäuden, einem der größten Häfen Britisch-Indiens und einer Einwohnerschaft kurz vor der Millionengrenze.
Aber dabei sollte es nicht bleiben. Im Zuge der indisch-pakistanischen Teilungstragödie flüchteten hunderttausende indische Mohammedaner, sogenannte Moharis, in die neue Hauptstadt Pakistans. Diesen Zustrom hatte die Stadt noch nicht verkraftet, da folgten ihnen Anfang der Siebziger Jahre die Biharis, die Urdu sprechenden bengalischen Moslems, die nach der Sezession Bangladeschs von Ostpakistan nach Westen flohen, Schließlich siedelten sich seit den frühen Achtziger Jahren Hunderttausende afghanischer Flüchtlinge in Karachi an.
Nichts von dieser Vielfalt war von meinem erhöhten Aussichtspunkt im Avari Tower aus zu sehen. Nichts von dem, was ich sah, glich überhaupt einer normalen Stadt. Eine normale Stadt, die vielleicht bald nur noch als nostalgische Erinnerung gegenwärtig sein wird, besitzt ein gut erkennbares Zentrum und einen Landsaum, der die Stadt begrenzt. Bei Karachi gab es außer dem Meer keine Grenze, sondern nur eine Unendlichkeit von Stein, die stinkend und lärmend unter der südasiatischen Sonne briet. Karachi war eines der abschreckendsten Beispiele einer Urbanisierung neuen Typs, für eine ausufernde Menschenagglomeration, die sich von der Küste aus immer weiter ins Land hineinfraß, ohne auf das Fehlen von Verkehrsanbindungen, Infrastruktur oder Kanalisation Rücksicht zu nehmen.
In einer solchen Stadt war man als Fußgänger verloren, als Rikschafahrer gefährdet, als Busfahrer eine Sardinenexistenz, und allenfalls im Taxi war es möglich, die wenigen Sehenswürdigkeiten mit einem vertretbaren Aufwand an Zeit zu erkunden – wenn man nervenstark genug war, die endlosen Staus zu ertragen.
Meine erste Fahrt führte mich zum Containerhafen von Karachi. Südlich des Westwharf fuhr der Taxifahrer über die Küstenstraße direkt zum Keamari Boot-Basin, in dem Dutzende malerisch aufgemachter traditioneller Dhaus stundenweise Stippvisiten in die große Naturbucht vor Karachi anboten. Diese Stippvisiten galten als eine landesweit gerühmte Attraktion, nicht nur, weil die kleinen Boote die Inlandstouristen aus Lahore, Islamabad oder Peschawar in Tuchfühlung mit Containergebirgen und Riesentankern brachten, sondern auch, weil sie ihre Gäste mitten in der Bucht mit frischem Fisch verköstigten. Ich horchte in mich hinein und fragte mich, ob es mir wirklich Freude bereiten würde, umsorgt von den wilden Gesellen des Sindh zwischen den Riesentankern aus dem Iran und Japan Schalentiere zu essen. Als dann auch noch die Polizei erschien und von mir in gebieterischem Ton aus Gründen der Geheimhaltung meine Kamera beschlagnahmen wollten, verzichtete ich auf eine Hafentour und suchte das Weite.
Mitglieder des einheimischen Tourismusgewerbes warten auf Kundschaft
Karachi hält sich viel darauf zugute, neben Rio de Janeiro die einzige Weltstadt zu sein, die über einen Strandbetrieb verfügt, und diesen Strand, den Clifton Beach, wollte ich mir ansehen. Allerdings führte der Weg zu dieser Enklave der Erholung durch niederschmetternde Bezirke von Schmutz und Verfall. Hunderte von Tankwagen warteten in kilometerlangen Autokolonnen an der Ghalib Road, um sich hier mit dem Öl und Benzin zu beladen, die die Riesentanker aus Arabien in den Hafen brachten, um sie anschließend im ganzen Land zu verteilen. Niemand wusste, wie viel hunderttausend Gallonen bereits in der Erde versickert waren, aber alle Straßen und Wege zum Clifton Beach waren schwarz und krustig von Öl.
Nach dieser deprimierenden Anfahrt erschien mir der eigentliche Strandbezirk von Clifton nicht so übel wie erwartet. Er bestand aus einem grauen Sand- und Steinfeld, von Ginster durchwachsen, durch eingetretene Trampelpfade erschlossen und mit einfachen Schaubuden und Garküchen ausgestattet. Hinter einer baufälligen Moschee begann der eigentliche Strand, an dem ich ein merkwürdiges Schauspiel beobachtete. Tausende Pakistanis standen in voller Bekleidung, aber barfuß, wie ratlos im seichten Wasser, gingen einige Schritte, bückten sich, um sich dann ebenso unentschlossen wieder umzuschauen - geradeso, als hätte ein Großteil der Bevölkerung von Karachi hier am Strand ihre Geldbörsen verloren, die nun im Rahmen einer kollektiven Suchaktion wiedergefunden werden sollten.
Ich notierte: Der gewöhnliche Pakistani ist ganz einfach keine Wasserratte.
Unnötig zu erwähnen, dass ich weit und breit der einzige Tourist war. Als solcher setzte ich mich in den Schatten eines Baumes und döste bis zum späten Nachmittag in der Nähe einer Garküche. Schlierwolken hingen wie graue Fäden am Himmel, einsame Kamele liefen scheinbar ziellos über den Strand und koteten, wo immer es ihnen gefiel. Busse fuhren vor und entließen einheimische Touristen, die sofort durch Gebüsch und Geröll zum Meeresufer eilten, um sich dort eine Weile in die rätselhafte Gruppe der Fußbadenden einzureihen, ehe sie wieder zu den Bussen und dann in Richtung Innenstadt entschwanden.
So ging auch dieser Tag zur Neige, und ich wollte ihn nicht beschließen, ohne das Wahrzeichen der Stadt, das Quaid-I-Azzam-Mausoleum, das „Grab des größten Führers” zu besuchen. In diesem einunddreißig Meter hohen weißen Marmorbau im Norden Karachis lag Muhammad Ali Jinnah, der Vater der pakistanischen Republik, begraben, eine geschichtliche Figur, die in der Geschichtsschreibung als moslemischer Widerpart Mahatma Gandhis von jeher eine schlechte Presse hatte.
happy hour am Clifton Beach
Muhammad Ali Jinnah war allerdings als andere als ein überzeugter Moslem gewesen. Er liebte den Wein, verachtete die traditionellen Mullahbärte und wurde nur selten in der Moschee gesichtet. Aus rein taktischen Gründen bediente er die traditionellen Formen der islamischen Gläubigkeit, um die neunzig Millionen Moslems, die es nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem indischen Subkontinent gab, für die Schaffung eines eigenen islamischen Staates zu mobilisieren. Dieser Kurs, den Jinnah mit einer beispiellosen Härte und Unnachgiebigkeit verfolgte, war am Ende erfolgreich, auch wenn er zu einem der schrecklichsten Massenexzesse der asiatischen Geschichte führte. Im August 1947, als sich der indische Subkontinent in Indien und Pakistan teilte, verloren fünfzehn Millionen Menschen ihre Heimat. Mehr als eine Viertelmillion Menschen fand in den blutigen Massakern, die die Radikalen auf beiden Seiten anzettelten, den Tod.
Nur ein Jahr nach der Gründung Pakistans starb Mohammed Ali Jinnah im September 1948 an Leukämie, und möglicherweise war es dieser unerwartete Tod, der Jinnah in den Rang eines Märtyrers und Nationalheiligen erhob. Ihm zu Ehren errichtete die junge und krisengeschüttelte Republik, einig nur in der Verehrung ihres Staatsgründers, zwischen 1958 und 1968 ein monumentales Marmorgrab, umgeben von Gärten und Brunnen, bewacht von einer immerwährenden Ehrenwache und mit kostbaren Geschenken aus China und dem Iran versehen.
Als ich das Mausoleum am späten Nachmittag erreichte, war ich außer den Wachsoldaten der einzige Mensch in der geisterhaften Halle. In der Mitte der großen Grabkuppel stand Jinnahs schlichter Sarg, geschmückt mit Blumen und versehen mit jenen Koranversen in Stein, um die sich der Staatsgründer zu seinen Lebzeiten so wenig gekümmert hatte. Ich saß eine Zeitlang in der Nähe des Grabes auf dem Marmorboden und lauschte den Windgeräuschen in der großen Halle, den widerhallenden Schritten der Wachsoldaten und dem Piepsen der Vögel unter der Decke, als wären es die Bestandteile einer futuristischen Sinfonie.
Mausoleum des Muhammad Ali Jinnah
Ich blieb bis nach Sonnenuntergang am Mausoleum, und sah weit in der Ferne, wie sich der immer grauer werdende Steinteppich in ein fluoreszierendes Lichtermeer verwandelte. Die Hitze, die den ganzen Tag wie eine Faust über der Stadt gelegen hatte, wich einer luftigen Brise, und als ich in einem Taxi mit offenen Fenstern zurück zum Hotel fuhr, schienen die sandgelben Häuser im letzten, magischen Licht des Tages fast ein wenig zu flackern. Wieder erhoben sich die Krähen über der Stadt und starteten zu ihrem Abendflug. Über den Häuserschluchten ertönte tausendfach verstärkt der kehlige Ruf des Muezzins zum Abendgebet. Die Gnade Allahs war es, die diese unmögliche Stadt am Leben erhielt, und ein wenig sollte auch ich von dieser Gnade profitieren. Als ich ins Hotel zurückkehrte, war mein Rucksack da. Mr. Sadi Saaqui, der Gute, hatte ihn mit einem Taxi ins Sarawan Hotel bringen lassen.
Herr der Landstraße, – lässt sich auch durch die Banditen des südlichen Sindh nicht von der Reise abhalten.
Mit der Zeit wurde mein Verhältnis zu Herrn Ibrahim etwas besser. Es schien ihm zu imponieren, dass ich jeden Morgen meine Zimmermiete widerspruchslos im Voraus bezahlte, denn der letzte europäische Gast seines Hotels, ein Brite, war einfach abgehauen. Angaben über seine persönliche Geschichte konnte ich ihm nicht entlocken. Bald fand ich aber heraus, dass die beiden schwarz gekleideten Frauen, die morgens das Frühstück zubereiteten, zu seiner Familie gehörten - ob als Frauen oder Töchter, musste offen bleiben, denn dergleichen Fragen beantwortete Herr Ibrahim nicht. Freigiebiger war er mit Informationen über das Reisen im südlichen Sindh, auch wenn das, was er mir erzählte, wenig erfreulich war.
Der gesamte südliche Sindh bis zur Mündung des Indus ins Arabischen Meer sei Banditengebiet, hörte ich. Regelmäßig würden Reisende ausgeplündert, noch vor wenigen Wochen sei ein Bus auf dem Indus Highway nördlich von Hyderabad angehalten und ausgeraubt worden. Herr Ibrahim berichtete es mit ausdrucksloser Miene, als spräche er vom Mond und erklärte, dass ich deswegen für meine geplante Reise nach Thatta und Makli eine offizielle Erlaubnis benötige. Diese Erlaubnis kostete 100 Dollar und müsse mit einer Vorlaufzeit von einer Woche im Tourismusbüro von Karachi beantragt werden. Sollte mir das Permit erteilt werden, würden mich zwei Polizisten auf meiner Reise nach Thatta begleiten und beschützen, wofür ich extra bezahlen müsse.
Eine Woche auf das Permit einer pakistanischen Behörde zu warten, war so ziemlich das Letzte, womit ich meine Zeit verbringen wollte. Ich verfiel deswegen auf die Idee, mich mit einem Taxi nach Thatta hin- und zurückkutschieren zu lassen. Die Entfernung betrug nur etwa einhundert Kilometer, das war in einer oder zwei Stunden zu schaffen. Einschließlich der Rückreise würde also genügend Zeit verbleiben, die Gräberfelder von Makli und die Schahjahan-Moschee in Thatta zu besuchen. Fünfzig Dollar, eine für pakistanische Verhältnisse beachtliche Summe, wollte ich dafür auf den Tisch legen.
Herr Ibrahim riet mir ab, doch ich beharrte auf meinem Plan. Merkwürdig war, dass die meisten Taxifahrer meine Anfrage nach kurzer Überlegung ablehnten. „Police, Police“ sagten sie und schüttelten die Köpfe. Der Einzige, der sich auf Verhandlungen einließ, war ein finsterer Bursche mit einer Sturmfrisur und einem zerzausten Bart. Da er selbst über kein Taxi verfügte, führte er mich in eine Seitenstraße zu einem noch finsteren Gesellen, dem ich mit konspirativem Gemauschel übergeben wurde. Der Name dieses finsteren Gesellen war Ali, und er war mir auf Anhieb unsympathisch. Er hatte eine Glatze, was ich in Karachi bisher selten gesehen hatte, trug aber dafür einen langen dichten Bart, in dem ich kaum seinen Mund erkennen konnte. Ohne Umschweife wollte er Geld sehen, und zwar den ganzen Betrag im Voraus, was ich verweigerte. Ich wollte mich schon abwenden und den ganzen Deal platzen lassen, als er sich mit einem Vorschuss für die Tankfüllung nach Thatta zufrieden gab. Nachdem ich das Nummernschild des Taxis notiert und bei Herrn Ibrahim hinterlegt hatte, kletterte ich auf den Rücksitz der alten Kiste, und wir fuhren los.
Es dauerte eine Weile, bis wir die Stadt verlassen hatten, und in dieser Zeit habe ich nichts weiter gesehen als verstopfte Durchgangsstraßen, Esel, Pferde, Lastwagen und gestikulierende Menschen am Straßenrand. Die Auslagen der improvisierten Verkaufsstände behinderten den Verkehr, als wäre ganz Karachi ein einziger Markt. Nirgendwo sah ich Polizisten. Allem Anschein nach fuhren wir durch staatenloses Land. Sollte ich das gut oder schlecht finden?
Chaukundi
Nicht weit hinter dem Stadtrand stoppten wir an den Gräbern von Chaukundi, von denen ich vorher noch niemals etwas gehört hatte, von denen es aber hieß, dass sie zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten des Sindh gehörten. Sie befanden sich nur wenige hundert Meter von der Schnellstraße Karachi-Thatta entfernt und lagen völlig unspektakulär mitten im Niemandsland. Bei den Chaukundi Gräbern handelt es sich um Gräber einheimischer Adliger aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die sich aus vollkommen unbekannten Gründen an dieser gottverlassenen Stelle hatten begraben lassen. Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, glichen die Gräber großen Stromkästen mit hochkant gestellten Grabplatten auf ihrer Spitze. Kam man näher, enthüllten sich die überlebensgroßen Steingräber als Stufengräber, deren Sandsteinplatten über und über mit Girlanden und Schriftzeichen geschmückt waren. In den Reiseführern wurde vermerkt, dass auch figürliche Darstellungen zu den Grabverzierungen gehörten, was für die islamische Kunst absolut ungewöhnlich sei. Gefunden habe ich diese Figuren aber nicht.
Fast noch bemerkenswerter als die Stufengräber von Chaukundi war das triste Landschaftsbild, das die Anlage umgab. Schwarz verbrannt war die Erde, verkrüppelt die Tamariske, in deren Schatten der glatzköpfige Taxifahrer mürrisch auf mich wartete, und knochentrocken der Boden, in dem kein Regenwurm überleben würde. Ich befand mich in einer Landschaft, in der das schönste die Gräber waren. Schlimmer als in dieser Gegend konnte es auch im Totenreich nicht aussehen.
Kurz nach dem Besuch von Chaukundi war Schluss. Eine Eisensperre neben einer Polizeistation blockierte plötzlich die Straße. Zwei bewaffnete Soldaten bauten sich vor unserem Taxi auf, ein dritter ließ sich die Wagenpapiere zeigen, blickte in das Innere des Fahrzeuges, erkannte mich als Touristen und wies Amir an, sofort umzudrehen.
Nun hätte mein mürrischer Taxifahrer ins Handschuhfach greifen und einige Scheine herausziehen müssen, um uns die Durchfahrt zu erkaufen. Doch nichts davon geschah. Wortlos wendete Ali den Wagen und fuhr nach Karachi zurück.
Mir dämmerte, dass ich hereingelegt worden war, denn der Taxifahrer musste von Anfang an gewusst haben, dass mit einem ausländischen Touristen auf dem Rücksitz kein Durchkommen möglich sein würde. Deswegen hatten auch die anderen Taxifahrer, die ich gefragt hatte, redlicherweise abgewunken.
Trotzdem verlangte Ali am Ende der Fahrt vor dem Hotel in Karachi den vollen Tagespreis. Gierig blickte er auf meine Bauchtasche, in der sich die Dollarnoten befanden und hielt gebieterisch die Hand auf. Ich gab ihm die Hälfte des vereinbarten Preises und war gespannt, welchen Tanz er nun aufführen würde. Erwartungsgemäß schaltete er sofort auf maximale Empörung, fuchtelte mit den Armen vor mir herum und schrie, dass ich ihn betrügen wolle. Schnell waren wir von einer Männergruppe umgeben, die dem Geschehen mit Interesse folgte. Es war ein Querschnitt der gleichen Gestalten, die mit mir am ersten Morgen in Karachi Tschai getrunken hatten, diesmal aber in anderer Stimmung. Wieder spürte ich die enorme Maskulinität, die von ihnen ausging, und als es immer mehr wurden, drehte ich mich um und verschwand im Inneren des Hotels. Zurück blieb eine wütende Menge.
Damit war die Angelegenheit aber noch nicht ausgestanden. Als ich frisch geduscht wieder in die Eingangshalle des Hotels herunterkam, stand Ali mit einigen seiner Kumpels an der Rezeption und forderte von Herrn Ibrahim die Begleichung der Tagesrechnung. Der Hotelbesitzer stand hinter seinem Tresen, sagte kein Wort und schaute Ali an, als wäre er ein Wurm, was dessen Emphase sichtlich beeinträchtigte. Ich trat hinzu und erklärte, dass ich für einen Bruchteil des Tages den halben Tagespreis und eine volle Tankfüllung finanziert habe und dass das genug sei.
Herr Ibrahim übersetzte meine Darstellung in Urdu, wobei er langsam und gesetzt sprach wie ein Lehrer, der aufgeregte Kinder beruhigen will. Nach dieser Erklärung herrschte einen Moment Ruhe. Alis Gefährten wiegten die Köpfe hin und her, als rechneten sie den Sachverhalt durch, kommentierten das eine oder andere und zogen sich schließlich wieder auf die Straße zurück. Nur Ali blieb mit verkniffenem Gesicht am Tresen stehen und schien zu überlegen, wie er mir das Geld doch noch abpressen konnte. Schließlich ballte er die Fäuste und stieß einen Fluch in meine Richtung aus, den ich zwar nicht verstand, aber von dem ich mir aber denken konnte, was er bedeutete.
Wutentbrannt verließ er das Hotel und begann im Kreis seiner Taxifahrerkollegen ein neues Palaver über meine vermeintlichen Betrügereien. Ohne weiteres würde ich das Hotel nicht mehr verlassen können.
„Sollen wir die Polizei rufen?“ fragte ich Herrn Ibrahim.
Die Polizei zu rufen, sei das Falscheste, was ich machen könnte erwiderte der Hotelbesitzer. Falls es sich um Bekannte dieses Taxifahrers handelte, könnten sie meinen Pass und mein Geld beschlagnahmen und mich ins Gefängnis stecken. „Was dann mit Ihnen geschieht kann niemand wissen. Sie wären nicht der erste Ausländer, der in Karachi spurlos verschwindet.“
Das waren schlechte Nachrichten, doch Herr Ibrahim wusste Rat. Er wählte eine Nummer, sprach leise ins Telefon und legte auf. Eine halbe Stunde später beobachtete ich vom Fenster meines Zimmers im vierten Stock, wie ein schwarzer Van neben dem Taxistand vor dem Hotel hielt. Zwei großgewachsene Männer in dunkler Kleidung stiegen aus, blickten sich kurz um, zeigten mit dem Finger auf Ali und winkten ihn herbei. Auf der Stelle leerte sich der Kreis um Ali, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Sofort trottete der glatzköpfige Taxifahrer zu den beiden Dunkelgekleideten und nahm dabei die Haltung eines Schülers an, der in jedem Augenblick ein paar Ohrfeigen erhalten könnte. Soweit ich erkennen konnte, nickte er immerzu zu dem, was ihm einer der beiden Männer sagte. Dann dreht er sich um, stieg in sein Taxi und fuhr davon. Auch die beiden großgewachsenen Männer stiegen wieder in ihren SUV und fuhren davon. Die aufgebrachte Menge zerstreute sich und verfiel in die übliche Lethargie.
„Wer war das?“, wollte ich von Herrn Ibrahim wissen.
„Die Nachbarschaftspolizei“, war die kurze Antwort.
„Offiziell oder inoffiziell?“ fragte ich.
„Weder noch - sondern effektiv“, gab Herr Ibrahim zurück und verschwand in der Küche.
Trotz der heiklen Erfahrungen dieses Tages wollte ich meinen Plan, zur Nekropole von Makli zu reisen, nicht aufgeben. Zu diesem Zweck besorgte ich mir noch am gleichen Nachmittag in einem Textilgeschäft in der Nachbarstraße einen Shalwar Qamiz in gedeckten Farben. Da ich einen Bart trug und dunkle Haare hatte, hoffte ich bei oberflächlicher Musterung in meinem Shalwar Qamiz als Einheimischer durchzugehen.
Pakistanischer Busfahrer bewahrt die Übersicht
Derart ausstaffiert fuhr ich am nächsten Morgen zum Leo Market in der Innenstadt von Karachi und erwarb für umgerechnet 50 Cents ein Busticket nach Thatta. Obwohl ich meine Fototasche über der Schulter trug, erregte ich keinerlei Aufmerksamkeit und hatte genügend Muße, meine Umgebung zu betrachten. Die pakistanische Busse waren farbenfroh wie Karnevalswagen und in ihrem Innern streng nach Geschlechtern getrennt. Der hintere Teil des Busses war bis zum letzten Platz mit grimmig dreinblickenden Männern gefüllt. Vorne konnten es sich die Damen mit den Kindern bequem machen Da sage noch mal einer, der Islam sei eine ungalante Religion. Mit strengem Dienstgesicht überprüfte der Busfahrer vor dem Start, ob sich nicht doch irgendwo ein pakistanischer Jüngling in sitzender Haltung näher als einen halben Meter an eine pakistanische Frau herangearbeitet hatte. Nein, es war alles in Ordnung, und es konnte losgehen.
Wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis der Bus das Einzugsgebiet der Stadt verlassen hatte. Ich saß auf einem Fensterplatz und beobachtete das gleiche wie gestern: Staub und Enge, Schutt und Dreck. Meine Verkleidung schien auch im Bus Niemandem aufzufallen, ganz abgesehen davon, dass ohnehin die meisten Männer gleich nach der Abfahrt des Busses in ein komatöses Dösen verfielen.
Im vorderen Teil des Busses waren fast alle Frauen verschleiert, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Manche ließen nur die dunklen Augen frei, die eine oder andere zeigte gar an den nachlässig geschürzten Rändern ihres Tschadors eine Locke. Andere aber reisten komplett inkognito und saßen komplett verhüllt in schwarz aufrecht auf ihren Sitzen. Erst bei genauerem Hinblicken erkannte ich eine Rüschennaht in Augenhöhe, die ihnen eine grobe Orientierung in ihrer Umgebung ermöglichte. Das Ausmaß an Verhüllung hatte jedoch wenig mit Scheu oder Zurückhaltung zu tun. Die grellsten Farben prangten auf den Gewändern der völlig verschleierten Frauen, und man gewann sehr schnell den Eindruck, dass sich unter der Totalverhüllung ganz gut schimpfen ließ.
Neben den auf unterschiedliche Weise verhüllten Müttern tummelte sich eine große Kinderschar in den Gängen und an den Fenstern. Mit der natürlichen Grazie kleiner Prinzessinnen drückten die kleinen Mädchen ihre weißen, sauberen Hüte auf ihre dunkel gelockten Haare, wischten sich den Staub von ihren winzigen Schuhen und achten sorgfältig darauf, dass ihre goldgrünen Shalwars nicht zerknittern. Leider machten die Knaben neben ihren liebreizenden Schwestern keine gute Figur, nicht zuletzt deswegen, weil sie auf Geheiß der sparsamen Eltern zu Frisören geschickt worden waren, die ihnen die Köpfe nach alter Landessitte gründlicher abrasiert hatten, als je ein Schaf im Sindh geschoren worden war. Nun liefen sie herum wie glatzköpfige kleine Banditen, und fast hatte man das Gefühl, sie wollten sich für diese Verhunzung durch nervtötendes Gehabe revanchieren.
Kleiner Racker, kurzgeschoren
Jedenfalls entwickelte sich ein muslimischer Knabe, der wie ein trotziger Zwerg vor seiner rot verschleierten Mutter hockte, schon in einem frühen Stadium der Busfahrt zu einem regelrechten Erziehungsproblem. Schier unerschöpflich mit immer neuen Einfällen seine Mutter oder seine beiden Schwestern zu nerven, begann er auf seinem Sitz hektisch hin und her zu rutschen, herumzuquengeln und schließlich mit seiner kleinen Knabenfaust in immer kürzeren Abständen auf das gewaltige Mutterknie zu hämmern, nicht ohne dafür von seinen beiden hübschen Schwestern mit einer Mischung aus Bekümmerung und Missfallen gemustert zu werden. Als auch das Hämmern nichts nützte, außer dass ihm bald die kleinen Fäuste schmerzten, heulte er noch einmal auf, um dann blitzschnell in den rot-gelben Seidenschal seiner Mutter hineinzubeißen. Dieser überraschenden Attacke folgte ebenso schnell die Reaktion der Mutter. Sie riss dem Knaben das Tuch mit einem einzigen Ruck wieder aus dem Mund, dass ich mich wunderte, dass nicht alle Milchzähnchen hinterhergeflogen kamen. Wieder heulte der garstige Knabe auf, griff zu seiner Gummisandale und schwang sein Schuhwerk wie eine Waffe, um seiner Mutter möglicher-weise mit einem einzigen Schlag den Schleier vom Gesicht zu schlagen. Da hob die Mutter wieder mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die mächtige Hand, so groß wie der Kopf ihres missratenen Sprösslings, und verpasste ihm eine solche Ohrfeige, dass der Winzling über die Getriebehaube dem Busfahrer in die Schaltung kullerte, wofür er von diesem gleich noch eine Kopfnuss erhielt.
Noch spannender als diese Detailansichten pakistanischer Erziehung war der Stopp an der Polizeistation hinter Chaukundi, an der wir gestern hatten umkehren müssen. Diesmal schoben drei andere Soldaten Dienst, waren aber mit erkennbar weniger Elan bei der Sache als ihre Kollegen gestern. Ein kurzer Blick in den Bus genügte, und wir konnten weiterfahren.