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Ludwig Witzani hat in den letzten Jahren regelmäßig die Länder der arabi-schen Halbinsel inklusive Syrien und Jordanien bereist. Er stand sich in den endlosen Warteschlangen an der libanesischen und syrischen Grenze, besuchte die Omajjadenmoschee in Damaskus und die Felsenmetropole von Petra. Er bestieg die Wasserräder von Hama, durchfuhr die Steinwüsten im Norden von Riad und besuchte christliche Gottesdienste in syrischen Klöstern. In der Heiligen Stadt Medina, in den Lehmburgen des Oman und am Burj Khalifa in Dubai begegnete ihm eine Welt des Wandels, deren Wurzeln viel tiefer in die Vergangenheit zurückreichen, als es den Anschein hat. In Aleppo, Doha, Muskat, Amman oder Jeddah beobachtet er die Zeichen einer teils fundamentalistischen, teils modernistischen islamischedn Trans-formation, deren Zukunft unvorhersagbar ist. Nah an den Menschen, die ihm auf seinen Reisen begegnen, und in enger Tuchfühlung mit der Geschichte Arabiens entfaltet der Autor in dem vorliegenden Reisebuch einen sehr persönlich gehaltenen Bericht seiner Begegnung mit dem Morgenland.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ludwig Witzani:
Die Frommen und die Zornigen
Reisen durch Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien,
die Golfemirate und den Oman
______________________________________________________
(„Weltreisen“ Bd. XX)
Lektorat: UHU Lektoratsservice, Köln
Zum Gedenken an
Pater Paolo Dall´ Oglio,
den vom islamischen Staat ermordeten Freund der Muslime und Christen
Ludwig Witzani
Die Frommen und die
Zornigen
__________________________
Reisen durch Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien, die Golfemirate und den Oman
"Natürlich, im Grunde weiß man es auf eine verschwommene Weise, dass es das Historische ist; das ist es, was einen fesselt, ein immer gegenwärtiges Gefühl für die Myriaden Menschenleben, die hier erblühten, dahinwelkten und erloschen. Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrtausend um Jahrtausend, in ewiger Wiederholung desselben fruchtlosen Vorgangs. Dieses Gefühl ist es, was diesem gottverlassenen, unschönen Land die Macht verleiht, die Seele anzusprechen.“
Mark Twain: Dem Äquator nach
Einleitung
In der Heimat des Propheten: Saudi-Arabien
Die Saudis sollen ihre Wagen in Zukunft selber waschen
Krethi und Plethi in Saudi-Arabien
Exkurs: Die Pilgerfahrt nach Mekka
Am Grab des Propheten
„Du fährst nach Saudi-Arabien? Vergiss den Pulli nicht.“
Blutendes Land: SYRIEN
Anreise nach Syrien
Die älteste Stadt der Welt lebt noch immer
Liebe und Hass in der syrischen Wüste
Auf der Straße der Ruinen
Es gibt keine Normalität im Orient
Von Säulenheiligen, Kriegselefanten und dem ersten Alphabet
Der Wille zur Ewigkeit
Die Stadt in der Wüste
Bühne der Geschichte: JORDANIEN
„Auf deinen Mauern sollen die Kamele weiden“
Eine andere Physiognomie der Welt
Der Widerstreit von Mythos und Geschichte
Auf der Suche nach dem achten Weltwunder
Exkurs: Ludwig Burckhardt
Von der Wüste zum Meer
Gott und die Moderne: Die Golfemirate
Einleitung
Dubai, die Stadt der Zukunft?
Eine Tasse Kaffee im Palast des Emirs
Hightech und Fundamentalismus
Ein Golfemirat im Bonsaiformat
Der Golfkrieg ist unvergessen
Die verregnete Wetterecke Arabiens: OMAN
Der schöne Tarik und die Sure 18:29
Turtle-Watching in Ras al Jinz
Wo der Oman entstand
Exkurs: Die Al-Bu-Said-Dynastie
Im Gemüsegarten des Oman
Anhang
Reiseliteratur – Zum Ein- und Weiterlesen
Reisepraktische Hinweise
Bild- und Kartennachweis
Über den Autor
Danke an…
Impressum
In den Jahren 2010 und 2011, als in nahezuallenMetropolen des Nahen Ostens die Menschen aufdieStraßegingen, raste eine Welle der Begeisterung durch die arabische Welt. Für einen kurzen Moment herrschte das Gefühl, manerlebe einenVölkerfrühlingwie 1848, alsinnerhalbkurzerZeit dieThrone Europaserschüttert wurden. Große Teile der arabischen Bevölkerung erhoben sich imNamenvon Freiheit undDemokratie undfegten –mitoffeneroder verdeckterUnterstützung desWestens – Diktatoren hinweg, deren Herrschaft für die Ewigkeit gesichert schien.
ImWesten hatte man während des arabischen Frühlings allenErnstes geglaubt, die Araber sehnten sichnacheiner parlamentarischen DemokratiemitMinderheiten-undFrauenrechten, nach religiöserToleranz,Gewaltenteilung undpluralistischenInstitutionen, wie sie in Europa oder Nordamerika üblich sind. Man hätteesbesserwissen können. Der amerikanische Politikwissenschaftler SamuelHuntington hatte schon 1996inseinem Buch„ClashofCivilisations“ daraufhingewiesen,dassDemokratisierung inLändern derDrittenWeltimmer„Indigenisierung“bedeutet, dasheißt, dieRückkehrzu eigenen religiösen undkulturellen Traditionen, dienichts,aberauchgarnichtsmitDemokratie westlicherPrägungzutunhaben.Dafürwar er als„Rassist“und„Demokratiefeind“ beschimpftworden,dochdie Entwicklung desarabischen FrühlingshatteseinePrognosevollundganzbestätigt. Inzwischen ist der arabische Frühling gescheitert, und der Durchbruch der Demokratie steht zwischen Aleppo und Dubai nicht mehr auf der Tagesordnung.
MancheKommentatoren haben nach dem Scheitern des arabischen Frühlings einen radikalenSchwenkvollzogenundbehaupten nun,dass Demokratie undIslamsichausschließenwürden.Dieser Meinungbinichnicht.Selbstverständlich sindDemokratie undIslamvereinbar, abernur,wennderIslamdergroße, überwölbendeRahmenbleibt–wieetwaimIran, wodie Bevölkerung freizwischenverschiedenenKandidaten wählen kann,dieallerdingsvorher voneinem religiösen WächterrataufihreislamischeRechtgläubigkeitüberprüft wordensind.EineDemokratienachwestlichem Vorbild,inderliberale, weltlichePositionendenKernforderungen desKorans gleichberechtigtentgegentreten, istineinermuslimischen Mehrheitsgesellschaft undenkbar.ImUnterschiedzum durchdieSäkularisierung„weichgespülten“ unddamit demokratiekompatiblen ChristentumistderIslamnoch immereinewirkliche,selbstbewussteReligion,indemdas geoffenbarte WortGottesturmhochüberallennurdenkbarenDemokratieverfahrenrangiert.
Vor diesem Hintergrund müssen die tiefgreifenden Veränderungen verstanden werden, die sich gerade in der arabischen Welt andeuten. Saudi-Arabien, eine der beiden Führungsmächte der arabischen Welt (die andere ist Ägypten) hat seine Politik der strikten Abschottung aufgegeben, nicht unbedingt aus einer neu erwachten Liebe zur Weltoffenheit, sondern weil die absehbare Endlichkeit der Ölvorräte Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft erzwingt. Diese Veränderungen in Saudi-Arabien werden im ersten Kapitel des vorliegenden Buches beschrieben.
Ganz anders liegen die Verhältnisse in Syrien. Syrien hat für den arabischen Frühling zweifellos den größten Blutzoll entrichtet. Hunderttausende sind in einem Bürgerkrieg, in den sich Nachbarstaaten, Terrororganisationen und Großmächte einmischten, gestorben. Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen. Nur haarscharf entging Syrien einer Machtergreifung durch radikale Islamisten – um ihnen am Ende doch anheimzufallen. Noch während der Drucklegung dieses Buches besiegten islamistische Milizen, die man schon nicht mehr auf dem Schirm gehabt hatte, zum Staunen der Welt die marode Armee des syrischen Diktators Baschar al-Assad, der nach Moskau fliehen musste. Wie es in Syrien weitergeht ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen vollkommen offen. Das 2. Kapitel des vorliegenden Buches beschreibt eine aktuelle Reise durch Syrien, durch ein vom Krieg zerstörtes Land, in dem gleichwohl die Menschen ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgeben wollen.
Nur wenige Wochen nach meiner syrischen Reise im September 2023 startete die palästinensische Terrororganisation Hamas ihren Vernichtungsangriff, bei dem 1200 israelische Männer, Frauen und Kinder mit bestialischer Brutalität abgeschlachtet wurden. Jordanien, der Nachbarstaat Saudi-Arabiens, Syriens und Israels, geriet dadurch in erhebliche Schwierigkeiten. Als Vasall der USA folgt das jordanische Königshaus einem strikt prowestlichen Kurs, muss aber auch auf die eigene Bevölkerung Rücksicht nehmen, die viel Sympathie für die Hamas empfindet. Als ich ein Jahr vor dem Überfall der Hamas durch Jordanien reiste, war diese Zuspitzung noch nicht absehbar. Im Gegenteil: als Schauplatz der Begegnung von Islam, Christentum und Judentum schien das kleine Land eine große touristische Zukunft vor sich zu haben. Nun bleibt abzuwarten, wie sich die Verhältnisse weiter entwickeln werden. Diese Reise durch Jordanien ist der Gegenstand des 3. Kapitels.
Im 4. Kapitel geht es um die Golfemirate, jene politischen Gebilde, in denen sich der Islam mit der Moderne auf eine besondere Weise verbindet. Dubai, Doha, Abu Dhabi, Manama und Kuwait-City zeigen auf unterschiedliche Weise, dass extreme Modernität (in technischer Hinsicht) und das Festhalten am traditionellen Islam keine Gegensätze sind.
Den gleichen Weg, wenngleich langsamer und gewundener, geht das Königreich Oman, das im 5. Kapitel vorgestellt wird. Während der Reise durch den Oman erlebten wir nicht nur das schlechteste Wetter der letzten 25 Jahre, sondern auch eine dramatische Zuspitzung der internationalen Lage, als der Iran Israel mit 300 Raketen angriff und der Ausbruch eines großen Krieges drohte. Gottlob ist die Eskalation ausgeblieben - für dieses Mal. Wie die nächste Krise endet, kann niemand voraussehen.
Auf die Bereisung des Jemen und des Irak musste ich verzichten. Im Jemen hat ein steinzeitislamistisches Regime die Macht übernommen, das jeden Touristen im Land einen Kopf kürzer machen würde. Die Reise in den Irak hatte ich bereits vorbereitet, als der Terrorüberfall der Hamas im Oktober 2023 die Lage im Nahen Osten destabilisierte und jede Reise in die Reichweite iranischer Revolutionsgarden zu einem unvertretbaren Risiko werden ließ. Das kam mich bitter an, denn wie gerne hätte ich Babylon und Ur, die Orte, an denen die Weltgeschichte begann, gesehen.
Gleichwohl ist eine sich andeutende Normalität, das Ende der Gewalt und der Beginn des Friedens immer damit verbunden, dass die ersten neugierigen Wandervögel aus fremden Ländern kommen. Dass der IS dieses Zeichen der Hoffnung für die Menschen zerstören will, wird niemanden verwundern. Noch während der Abfassung dieses Buches hat der IS in Afghanistan gezielt eine Gruppe ausländischer Touristen überfallen und ermordet.
Die Grundlage dieses Reisebuches bilden meine Reisetagebücher, in die ich am Abend jeden Tages hineinschrieb, was der Tag gebracht hatte. Diese Obsession verfolgt mich schon mein ganzes Leben lang, und ich werde damit nicht aufhören, bis mir der Griffel aus der Hand fällt. Die zweite Obsession, der ich fröne, ist meine Liebe zur Geschichte, so dass der Leser im vorliegenden Buch immer wieder auf längere historische Exkurse stoßen wird. Wen diese Passagen nicht interessieren, der kann einfach ein paar Seiten überspringen.
Eine letzte Anmerkung soll diese Einleitung abschließen. Als ich bei der Abfassung dieses Buches meine Reisetagebücher durcharbeitete, war ich überrascht über die zahlreichen Schilderungen von Zuwendungen und Gastfreundschaft, die wir auf unseren Reisen erfahren haben. Wie leicht vergisst man die Qualität der menschlichen Beziehungen, wenn der politische Himmel voller dunkler Wolken hängt. Aber es waren nicht nur die Menschen, die uns mit Freundlichkeit und Nachsicht begegneten, auch das Erlebnis der Moscheen, Gärten, Paläste und Oasen hat mich verzaubert.
Um es noch etwas allgemeiner auszudrücken: Ich habe auf Reisen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es in der Fremde auch so etwas gibt wie ein Gewahrwerden von Heimat, oder, anders gesagt, das Gefühl, sich in einer eng verwandten Kultur aufzuhalten. Dieses Gefühl habe ich nirgendwo so stark empfunden, wie im arabischen Kulturraum. Ihn näher kennen zu lernen, war und ist mir ein lebenslanges Anliegen.
Aber, und das soll nicht als Einschränkung, sondern als Ergänzung verstanden werden, Arabien ist eine emotional und religiös intensiv getönte Region, in der die Frömmigkeit der Menschen lebendiger und tiefer, aber auch die Konflikte zorniger und härter sind. Es ist eine Welt der Frommen und der Zornigen, was zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Das darf niemand vergessen, der Arabien bereist.
Qabus Moschee / Medina
Koran (14. Jhdt. Nationalmuseum Riad)
Der Wind des Wandels
weht in Saudi-Arabien
Krethi und Plethi in Saudi-Arabien
Mit der MSC Splendida
durch das Rote Meer nach Jeddah
Exkurs: Die Pilgerfahrt nach Mekka
Am Grab des Propheten
Ein Besuch in der heiligen Stadt Medina
„Du fährst nach Saudi-Arabien? Vergiss den Pulli nicht.“
Riad, die Stadt in der Wüste
Reform und Tradition in Saudi-Arabien - Die Herrscherfamilie und ihre Unrertanen
Der Wind des Wandels
weht in Saudi-Arabien
Wer als Tourist die Länder der arabischen Halbinsel bereist, erlebt ein ganz anderes Arabien, als er es von seinen persönlichen Erfahrungen mit Arabern in Deutschland gewohnt ist. Die Vereinigten Arabischen Emirate, vor allem Dubai und Abu Dhabi, aber auch Katar, Bahrein, Kuwait und der Oman präsentieren sich als relativ reiche Länder, die ihre Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport entschlossen zur Verbesserung ihrer Infrastruktur einsetzen. Mittlerweile befinden sich diese Länder bereits in einem noch weiter gehenden Transformationsprozess hin zu einer Ära jenseits des Öls. Dieser Wind des Wandels hat inzwischen auch Saudi-Arabien erreicht, das bislang in der Welt als Paradebeispiel für ein ultraorthodoxes, islamisches Staatswesen wahrgenommen wurde. Dieses Staatswesen beruht auf zweierlei: politisch auf der autokratischen Herrschaft des Hauses Saud und religiös auf der Islaminterpretation des Wahhabitentums samt Scharia, Todesstrafe, Steinigung und Ausschluss der Frau aus dem öffentlichen Leben.
Das alles soll es nun in dieser extremen Form nicht mehr geben. Unter der Führung des saudischen Kronprinzen und Premierministers Mohammed bin Salman soll im Zuge der „Vision 2030“ ein neues, effektiveres und weltoffeneres Saudi-Arabien entstehen. Und das nicht, weil dem Kronprinz Liberalität und Moderne besonders am Herzen läge, sondern aus ganz praktischen Erwägungen. Denn das Land wird schon mittelfristig die opulente materielle Versorgung der eigenen Bevölkerung nicht mehr gewährleisten können. Noch gibt es keine Einkommenssteuer, noch sind die Krankenversorgung und die Bildungseinrichtungen kostenlos, und ein Heer von Gastarbeitern erledigt die härtesten Arbeiten. Aber dieser Luxus wird auf Dauer nicht zu finanzieren sein.
Deswegen umfassen die Reformen alle Bereiche von Politik und Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht der Ausbau der Infrastruktur mit den Öleinnahmen des Staatskonzerns Saudi Aramco. Es geht um den Bau von Straßen, Häfen, Finanzzentren und um die Ansiedlung von Technologiefirmen, den Abbau des hohen Beschäftigungsstandes beim Staat und die Förderung privater Investitionen. Nach und nach sollen die südasiatischen Gastarbeiter durch eine sogenannte „Saudisierung der Wirtschaft“ ersetzt werden, was im Klartext bedeutet, dass die Saudis in Zukunft ihre Autos selber waschen, ihre Rasen selber mähen und natürlich auch ihre Software selbst entwickeln sollen.
Ein ganz heikles Kapitel ist das damit verbundene vorsichtige Zurückdrängen der Religion. Offiziell wird am Islam als Staatsreligion natürlich nicht gerüttelt, aber die Summe einzelner Reformmaßnahmen führt doch schon ein Stück weit weg vom orthodoxen wahhabitischen Islam - wie etwa das Ende des Vermummungsgebots für Frauen in der Öffentlichkeit, die Abschaffung der Verhaftungsbefugnis der Religionspolizei, obgleich es sie noch immer gibt, die Möglichkeit der Scheidung für Frauen, das Recht auf den Erwerb eines Führerscheins, eines eigenen Passes und unter gewissen Voraussetzungen auch einer eigenen Wohnung für Frauen. Auch das Strafrecht wurde abgemildert. Das Auspeitschen wurde abgeschafft, ebenso die Todesstrafe, diese allerdings nur für Minderjährige. Nicht das zentralste, aber das auffälligste Kennzeichen des Wandels ist die Öffnung Saudi-Arabiens für den Tourismus. Was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar schien, ist nun Wirklichkeit geworden: Seit zwei Jahren legen Kreuzfahrtschiffe an den Häfen des Roten Meeres an, und westlichen Touristen ist es erlaubt, die heilige Stadt Medina zu besuchen.
Die Tendenz all dieser Reformen ist eindeutig. Es geht um den stärkeren Einbezug der eigenen Manpower bei der Wertschöpfung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die ältere Generation mag sich noch an ihren Pfründen laben, für die junge Generation wird Schluss sein mit dem bequemen, hochbezahlten Job beim Staat. Das Leben für den Einzelnen wird härter werden, es wird Verlierer geben, und möglicherweise werden Unruhen drohen.
Deswegen – und das ist die Schattenseite der Reformen - wird der Wandel In Saudi-Arabien von einer rigiden politischen Kontrolle begleitet. Mit anderen Worten: Oppositionelle haben nichts zu lachen im Lande des Reformers Mohammed bin Salman - und wie der Fall Kashoggi zeigte, auch nicht im Ausland. Der oppositionelle Journalist Jamal Kashoggi wurde 2018 bei einem Besuch in der saudischen Botschaft in Istanbul festgehalten, gefoltert und getötet, was weltweites Aufsehen erregte, und Mohammed bin Salman, ohne dessen Genehmigung dieser Vorgang niemals hätte stattfinden können, stand plötzlich am Schandpfahl der Weltöffentlichkeit.
Aber das ist nun auch schon ein paar Jahre her. Einige Sündenböcke in Saudi-Arabien wurden bestraft, und im Grunde spricht inzwischen niemand mehr darüber. Unlängst kam es sogar wieder zu einem Treffen zwischen Mohammed bin Salman und US-Präsident Joe Biden. Zu stark ist die gegenseitige Abhängigkeit, als dass ein politischer Mord - sei er auch noch so spektakulär - die langfristigen geopolitischen Koordinaten verrücken könnte. Denn Saudi-Arabien ist ein zentraler Brückenkopf der US-amerikanischen Politik, und das Haus Saud ist gegenüber dem iranischen Erbfeind auf militärischen Schutz angewiesen. Im Ernstfall wäre Saudi-Arabien mit seinen 35 Millionen Einwohnern, trotz der Hochrüstung mit amerikanischen Waffen, dem Iran mit seiner Bevölkerung von fast einhundert Millionen Menschen schwerlich gewachsen. Die latenten Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran haben sich im Jemen bereits zu einem veritablen Stellvertreterkrieg ausgewachsen, unter dem die jemenitische Bevölkerung in unvorstellbare Maße leidet. Gleichwohl ist das Misstrauen zwischen Saudis und Amerikanern gewachsen. Die Saudis haben nicht vergessen, wie schnell die Amerikaner während des arabischen Frühlings jahrzehntelange Verbündete wie den ägyptischen Präsidenten Mubarak fallen ließen.
Das Reformprojekt „Vision 2030“ steht also durchaus in einem fragilen Spannungsfeld widerstreitender äußerer und innerer Kräfte, auch was das Verhältnis zur ultraorthodoxen Geistlichkeit des wahhabitischen Islams betrifft. Transformationsprozesse können auch scheitern, wie das Beispiel des Irans zeigt. Im Iran hatte Schah Reza Pahlevi in den 1960er und 1970er Jahren auch versucht, sein Land in die Moderne zu katapultieren und war zum Staunen der Welt durch eine religiöse Revolution hinweggefegt wurde.
Aber was wären die Alternativen? Eine zu schnell vorangetriebene Demokratisierung würde mit Sicherheit die Einheit des Landes gefährden. Unter diesen Umständen ist nicht zu erkennen, wie der Wandel ohne Autokratie gelingen könnte, vor allem, was die Kontrolle der eigenen Eliten und des fundamentalistischen Islams betrifft. Es bleibt nur zu hoffen, dass irgendwann, wenn die Reformen Wirkung zeigen, in einem zweiten Reformschritt, vielleicht „Vision 2035“ oder „Vision 2040“ der Weg auch zu mehr Demokratie führen wird. Aber auch das nur Inschallah, wenn Gott will.
MSC Splendida im Hafen von Akaba
Mit der MSC Splendida durch das Rote Meer
nach Jeddah
Seien wir ehrlich, Kreuzfahrtreisen genießen einen durchaus gemischten Ruf. Mit einem Kreuzfahrtschiff durch die Welt zu reisen, einen Cocktail in der Hand die Inseln des karibischen Meeres vorbeiziehen zu sehen und abends ein vier- oder fünf Gänge-Menü zu genießen, besitzt eine Anmutung von Luxus und Bequemlichkeit, von der man zu Hause gerne erzählt. Auf der anderen Seite ist es gerade die Vollversorgung in schwimmenden Hotels, die manchen daran zweifeln lässt, ob es sich bei der Kreuzfahrt überhaupt um eine Reise handelt. Ich habe diese Doppelbödigkeit in meinem „Karibischen Reisetagebuch“1 ausführlich beschrieben und will das hier nicht weiter ausführen.
Dass wir uns für diese Reise erneut auf ein Kreuzfahrtschiff begeben würden, hatte nicht in erster Linie mit Luxus und Bequemlichkeit, sondern mit einem besonderen Angebot zu tun, dass die italienische Reederei MSC (Mediterranian Shipping Company) seit 2020 in anbietet. Innerhalb der aktuellen touristischen Öffnung Saudi-Arabiens war es möglich, im Rahmen einer MSC-Kreuzfahrtreise Saudi-Arabien zu besuchen! Die Heilige Stadt Mekka war zwar nach wie vor Moslems vorbehalten, aber es sollte möglich sein, Medina, die zweite heilige Stadt des Islams, und Jeddah, die größte Hafenstadt des Landes, kennenzulernen. Das klang vielversprechend, und so gingen wir mitten im europäischen Winter auf Tour ins Morgenland. Meine Frau war zwar nicht besonders scharf auf Saudi-Arabien, aber eine Kreuzfahrt im Roten Meer war auch nicht zu verachten.
Der Anreisetag war lang, verlief aber besser als erwartet. Pünktlich um 7:30 Uhr in der Frühe startete die Eurowings-Maschine vom Kölner Flughafen aus in Richtung Hurghada. Service gab es keinen, wer Hunger hatte, musste sich sein Brötchen selber kaufen. Die Bestuhlung war gnadenlos eng, aber für vier Stunden war es auszuhalten. Mittags kam bereits Hurghada in Sicht, eine ägyptische Retortenstadt am Roten Meer, die landeinwärts von scharfkantigen Wüstenbergen begrenzt war. Mit zwei proppevollen Bussen ging es von Hurghada nach Safaga, wo die MSC „Splendida“ vor Anker lag. Männer und Frauen mussten getrennte Gepäckkontrollen im Kreuzfahrtterminal durchlaufen. Aha dachte, ich, bei den Reformen ist also noch Luft nah oben.
Die MSC Splendida war ein gigantisches Gefährt, ein kolossales Wunderwerk der Schiffsbautechnik, dessen Anblick mir die Sprache verschlug. Das Schiff hat 18 Decks, ist 333 Meter lang und über140.000 Bruttoregistertonnen (BRT) schwer. Es besitzt ein Dutzend Restaurants und Bars und etwa 1600 Kabinen für 4200 Gäste, die von einer Crew von weit über fünfzehnhundert Angestellten umsorgt werden. Wir hatten eine Kabine mit Balkon gebucht und konnten, was Räumlichkeit und Ausstattung betraf, keine Unterschiede zur AIDA oder MEIN SCHIFF feststellen. Ein großes Bett, eine gute Matratze, eine Sitzecke, eine Nasszelle, ausreichender Stauraum und ein Balkon - wer hätte gedacht, dass Reisen so komfortabel sein kann?
Was wirklich anders war als auf der AIDA oder der MEIN SCHIFF, war die Internationalität der Gäste. Verhüllte Orientalinnen liefen in ihren pechschwarzen Kaftans ebenso durch das Restaurant wie junge, hyperbunt ausstaffierte russische Girlies. Tschetschenische Familien speisten neben Swahilis aus Mombasa. Das war erfreulich und bunt anzusehen, beinhaltete aber für westliche Kreuzfahrtgäste auch Nachteile, die im Vorfeld der Reise nicht kommuniziert worden waren. Entsprechend der moslemischen Speise- und Verhaltensnormen war der Badebetrieb eingeschränkt. Außerdem erfuhren wir, dass der Alkoholausschank eingestellt würde, sobald das Kreuzfahrtschiff die Hoheitsgewässer Saudi-Arabiens erreichen würde. Wer also eines der sündhaft teuren MSC-Alkoholgetränkepakete gebucht hatte, war gekniffen.
Dafür war die Innenausstattung der MSC Splendida von betörendem Luxus. Die Rezeption glich der Lobby eines Fünf Sterne-Hotels, sie war über dreißig Meter hoch, wurde von Glasaufzügen befahren und war mit Teppichen und Plüschsesseln ausstaffiert. Überall klang leise Musik aus den Lautsprechern, mal Soft-Rock, mal Piano-Bar-Musik, mal arabische Beduinengesänge. Auch die Verpflegung ließ keine Wünsche offen. Während man sich morgens und mittags in den Restaurants frei bewegen und essen konnte, was immer man wollte, waren abends die Tische fest zugeteilt. Wir erhielten den Tisch 538 im Restaurant „La Reggio“ und wurden schon am zweiten Tag von den arabischen Kellnern wie lebenslange Freunde begrüßt. Unsere Tischnachbarn waren ein Ehepaar aus Berlin, die sich auf einer verspäteten Hochzeitsreise befanden und uns über alle Einzelheiten informierten, wie sie sich kennen und lieben gelernt hatten. Der Honeymoon stand noch immer in voller Blüte, und sie schleckten aneinander herum, als wären sie sich ein immerwährende Nachtisch.
Im Unterschied zum Auslaufen der AIDA und der MEIN SCHIFF vollzog sich das Auslaufen der „Splendida“ völlig unspektakulär. Irgendwann während des Abendessens verließ das Schiff, kaum merkbar, den Hafen von Safaga und nahm Kurs auf Jordanien. Die Lichter der ägyptischen Küste verschwanden in der Nacht, dann wurde es ruhig.
Der zweite Kreuzfahrttag brach an, und ich lernte, dass es für den Kreuzfahrtteilnehmer drei Zustände gibt: Seetag, Ausflugstag und Hafentag. Der Seetag ist der geheime Horror der Passagiere, vor allem derjenigen, die über keinen eigenen Balkon verfügen. Das Schiff platzt dann aus allen Nähten. Beim Essen findet man keine Tische, von den Liegen am Pool ganz zu schweigen. Überall zu viele Menschen, noch nicht einmal die vorbeiziehende Landschaft ist ein Trost, weil nur die wenigsten eine Liege mit Meerblick finden.
Was Enge und Raumnot betrifft, sind die Ausflugstage nicht viel besser. Am Ausflugstag wird die unübersehbare Menge der Kreuzfahrtteilnehmer auf Dutzende von Bussen verteilt und in stundenlangen An- und Abfahrten zu einem Zielort gefahren, für den fast immer zu wenig Zeit zur Verfügung steht. Ausflüge, das muss man allerdings hinzufügen, gehören zu den wesentlichen finanziellen Standbeinen des Kreuzfahrtgeschäftes. Ohne die Einnahmen aus dem Ausflugsgeschäft wären die Grundpreise für die Kreuzfahrtteilnahme mit Sicherheit höher.
Der dritte und mit Abstand erholsamste Zeitintervall einer Kreuzfahrtreise, das mag manche überraschen, ist der Hafentag, d.h. der Ausflugstag, an dem der Gast nicht teilnimmt. So jedenfalls erlebten wir es am zweiten Reisetag, als etwa 80 % der Passagiere mit einer ganzen Busflotte von Akaba nach Petra und zum Wadi Rum aufbrachen. Da wir beide Ziele bereits kannten, blieben wir auf dem Schiff. In aller Ruhe suchten wir uns unsere Liegen aus, blickten auf das jordanische Akaba und das israelische Eilat, die feindlichen Geschwister, die sich in der Distanz kaum unterschieden, schliefen, dösten oder lasen.
Ich hatte mir Albert Houranis „Geschichte der arabischen Völker“ mit auf die Reise genommen, ein wuchtiges 600-Seiten-Werk, in dem ich während der ganzen Reise las, ohne mit der Geschichte der arabischen Völker wirklich vertraut zu werden. Trotzdem habe ich das eine oder andere gelernt, was ich im Folgenden kurz darstellen möchte. Wen das nicht interessiert, der kann gleich auf S. 31 weiterlesen.
Houranis Werk gliedert sich in drei Teile: (1) Die Entstehung des islamischen Kulturkreises vom siebten Jahrhundert bis zu seiner Krise im späten Mittelalter, (2) die Revitalisierung des Islams unter der Herrschaft der türkischen Osmanen vom 15. bis zum 19. Jahrhundert und (3) die Geschichte der unabhängigen arabischen Staaten im 20. Jahrhundert einschließlich der Suche nach einer neuen gesamtarabischen Identität. Geradezu erstaunlich mutet es an, mit welcher Leichtigkeit die Araber nach dem Tod Mohammeds im Jahre 632 die alten Großreiche des Orients in den Orkus der Geschichte geworfen hatten. Das war nach Hourani aber weniger verwunderlich, als man denken sollte, denn der junge Islam traf in Gestalt des byzantinischen und des sassanidischen Reiches auf zwei erschöpfte Imperien, die den größten Teil ihrer militärischen Ressourcen in einem generationenlangen Kampf gegeneinander verschlissen hatten. Außerdem entsprach Vieles in der Lehre des Islams den gewohnten Glaubensvorstellungen von Juden und Christen. Der neue Glaube und das Arabertum in Abgrenzung zu den unterworfenen Völkern sorgte für den Zusammenhalt in den ersten Jahrhunderten des omayyadischen und abbasidischen Kalifats – und das trotz der Spaltung in Sunniten und Schiiten, die schon im ersten Jahrhundert der islamischen Machtentfaltung einsetzte. Als dauerhaft und segensreich erwies sich die Etablierung eines neuen, großen Wirtschaftsraums zwischen Indus und Atlantik, in dem sich zahlreiche Innovationen wie Reisanbau, Zuckerrohr, Baumwolle, Wassermelonen und neue Bewässerungstechniken verbreiteten.
Das Reich der Kalifen im 8. Jahrhundert
(Darstellung aus dem Nationalmuseum von Riad)
Allerdings zerbrach die politische Einheit der arabischen Welt schon am Beginn des zehnten Jahrhunderts, als lokale Herrscher immer autonomer wurden und der Kalif in Bagdad zum Grüßaugust herabsank. Wahrscheinlich wäre der Islam unter dem Ansturm der Kreuzfahrer aus dem Westen und der Mongolen aus dem Osten ganz zusammengebrochen, hätten ihn nicht die Türken gerettet. So wie das Christentum ab 1000 durch die assimilierten Normannen eine erhebliche Stärkung seiner militärischen Schlagkraft erfuhr, so erging es dem Islam mit den frisch missionierten Türken. Sie schlugen die Mongolen und Kreuzfahrer zurück, eroberten Konstantinopel und erschufen ein neues islamisches Imperium, in dem die Araber allerdings nicht mehr Herrscher, sondern Unterworfene waren, auch wenn Mekka und Medina die Zentren der islamischen Welt blieben. Ohne dass es Hourani ausdrücklich formulierte, war dem Text zu entnehmen, welche Kränkung diese Phase für das arabische Selbstverständnis beinhaltete. Obwohl Mekka und Medina die unbestrittenen Zentren des Islams blieben, waren die Araber neben den Türken, Iranern, Indern und Malayen nun nur noch eines von zahlreichen Großvölkern, die sich zur Religion des Propheten bekannten.
Im 18. Jhdt. erlahmte die Kampfkraft der Osmanen, und das türkische Imperium begann zu schrumpfen. Die christlichen Völker des Balkans fielen ab, und auch die Araber sehnten sich nach der Wiedergewinnung der politischen Freiheit. Unter tatkräftiger Mitwirkung des sagenhaften Lawrence von Arabien und mit beträchtlichen britischen Subsidien gelang es Hussein, dem haschemitischen Scherifen von Mekka, einen arabischen Aufstand zu entfachen, der die Osmanen von der arabischen Halbinsel vertrieb. Allerdings wurden die Araber um die Früchte ihres Aufstandes betrogen. Anstelle der erhofften Krone eines gesamtarabischen Reiches wurden die Haschemiten mit Jordanien und dem Irak abgespeist. Selbst in ihrem arabischen Kernland mussten die Haschemiten bald der Dynastie der Ibn Saud weichen, die bis auf den heutigen Tag Saudi-Arabien regiert.
Allerdings war auch dem britischen und französischen Spätkolonialismus im Orient wenig Dauer beschieden. Die neuen arabischen Staaten, die nach dem zweiten Weltkrieg aus der Konkursmasse des türkischen, britischen und französischen Imperialismus entstanden, waren fragile Gebilde, die sich mehreren Strukturproblemen gegenübersahen: einer explosiven Bevölkerungsvermehrung und einer unaufhaltsame Landflucht in die großen Städte, einem wachsenden Gegensatz von arm und reich und enormer Uneinigkeit zwischen den einzelne arabischen Staaten. Aus dem Zwang zu wirtschaftlichen Wachstum und dem Wunsch nach Teilhabe der ärmsten Schichten entstand der panarabische Sozialismus, der sich allerdings im Kampf gegen Israel als unzulänglich erwies. In der arabischen Gegenwart stehen Sunniten gegen Schiiten, Modernisierer gegen Offiziere, Israelhasser gegen Israelkompromissler, Republikaner gegen Monarchisten, arm gegen reich, Araber gegen Iraner, Türken, Kurden, Berber und Drusen. Kein Wunder, dass sich viele Araber angesichts dieser Unübersichtlichkeit einen fundamentalistischen Islam wie im Iran zurückwünschen. Andere glauben an die Vorbildwirkung der wohlhabenden Golfstaaten, die wirtschaftliche Offenheit und technischen Fortschritt mit der Bewahrung eines strengen Islams verbinden. Völlig offen ist außerdem, was mit Arabien in der Zeit nach dem Öl geschehen wird. Die aktuellen Reformen Ibn Salmans zeigten immerhin, dass die Regierung Saudi-Arabiens dieses Problem auf dem Schirm hatte.
Am Abend des Hafentages gingen wir wieder zu unserm Tisch 538 im Restaurant „La Reggio“. Sofort erschien Hamid, der Chefkellner, um uns zu begrüßen, während Abdul, sein flinker Kollege, herbeieilte, um die Bestellung aufzunehmen. Nach und nach trafen auch die Rückkehrer der Petra- und Wüstenausflügler im Speisesaal ein, manche noch mit Rucksack und Jacke, weil sie Angst hatten, das Abendessen zu verpassen. Eine Frau in mittleren Jahren, Typ Oberstudienrätin für Geschichte und Französisch, erzählte am Nebentisch, wie katastrophal der Ausflug verlaufen sei. Die Anfahrt nach Petra hatte viel zu lange gedauert, und am Ort hatte der Reiseführer versucht, die Gruppe nur mit dem Felsentempel abzuspeisen. Gerade mal zwei Stunden waren sie vor Ort gewesen, dann hatte schon die Rückreise begonnen. Und jetzt wurde auch noch das Essen kalt.
Nach dem Essen lernten wir an der Bar den Norweger Ole kennen, einen schlanken Mann in meinem Alter, der alleine unterwegs war und den inmitten all der Menschen die Einsamkeit plagte. Er habe vor zwei Jahren seine Frau durch Krebs verloren, erzählte er. Von der Diagnose bis zum Tod hatte es nur ein Jahr gedauert. Beide waren gerade erst verrentet worden und hatten sich vorgestellt, nun gemeinsam und sorgenfrei die Welt bereisen zu können. Nun war Ole alleine auf Tour und versuchte, sein Leben, so gut es ging, wieder in den Griff zu bekommen. Immerhin hat er drei Töchter und vier Enkel, Freunde und Hobbys und kommt auf diese Weise einigermaßen durch sein Leben. Er berichtete dies unaufdringlich wie etwas, das aus ihm heraus musste, und wir bildeten sein Auditorium in der Stunde der Schwermut. Mir graute, als ich seine Geschichte hörte. Das Schicksal war wie eine Fliegenklatsche, und niemand wusste, wann sie sie niedersausen würde.
Der nächste Tag war ein Seetag, und er kam mir vor wie ein Vorschein endzeitlicher Menschenüberflutung. Schon am frühen Morgen waren Poolwanderer unterwegs, um die besten Liegen zu reservieren, und bereits kurz nach dem Frühstück füllte sich das Oberdeck bis an den Rand des Erträglichen. Eine verkehrsrechtliche Neuerung aus Jakarta fiel mir ein, wo sich die Stadtverwaltung wegen des hohen Verkehrsaufkommens dekretiert hatte, dass abwechselnd nur die Autos mit geraden oder ungeraden Nummernschildern die Straßen der Stadt benutzen durften. Vielleicht sollte man Ähnliches auch auf Kreuzfahrtschiffen an Seetagen versuchen, indem alle Passagiere mit geraden Kabinennummern vormittags und die mit ungeraden Kabinennummer nachmittags auf das Oberdeck durften. Das war natürlich vollkommen illusorisch bei einem Kreuzfahrtkonzept, das verspricht, dass (1) alle (2) alles (3) jederzeit haben können. Da an diesem Grundkonzept festgehalten wurde, kam es zur Schlangenbildung. Schlangen vor der Poolbar, Schlangen vor der Handtuchausgabe, Schlangen vor dem Whirlpool. Wir verzichteten nach einem kurzen Rundgang durch diese Schlangenökonomie auf das Pooldeck und zogen uns auf unseren Balkon zurück. Dort schliefen und lasen wir den ganzen Tag, unterbrochen nur von den Mahlzeiten, einem Nachmittagskaffee und einem Spaziergang durch die bordeigene Mall. Lange saß ich auf dem Balkon und blickte auf das Wasser. Das funkelnde Licht der Sonne verwandelte das Meer in eine Samtdecke voller Diamanten. Ein warmer Wind wehte uns von Süden entgegen, dann und wann erblickten wir einen Öltanker in der Ferne. Von der arabischen Küste war nur ein schmaler Streifen zu sehen.
Das Rote Meer ist unter den Meeren das, was Chile unter den Ländern ist, ein extrem lang gezogenes, schmales geographisches Gebilde. Es erstreckt sich über etwa 2200 km von der Sinai-Halbinsel im Norden bis zur Meerenge von Bab el Mandab, wo es sich bis auf eine Breite von etwa 30 km verengt. Seinen Namen hatte das Rote Meer in Anlehnung an den antiken Usus erhalten, den Himmelsrichtungen bestimmte Farben zuzuordnen. Da die Farbe „Rot“ für den Süden stand und sich das Meer, das wir gerade befuhren, südlich des Zweistromlandes befindet, nannten die Altvorderen das südliche Gewässer Rotes Meer. Erdgeschichtlich repräsentiert der Wasserspalt des Roten Meeres das langsame Auseinanderdriften kontinentaler Platten, das sich im Norden im Jordantal und im Süden im ostafrikanischen Grabenbruch fortsetzt. Wenn man den Geologen glauben darf, dann erweitert sich das Rote Meer alljährlich um einen Zentimeter, so dass es noch ein paar Millionen Jahre dauern wird, ehe es genauso breit wie lang sein wird. Es bestand also aktuell kein Grund zur Sorge.
Im Altertum war das Rote Meer eine Wasserstraße von höchster Bedeutung gewesen. Ägypter und Römer hatten es in südlicher Richtung befahren, um am Handel mit Südarabien teilzunehmen. Seit der Öffnung des Suezkanals verläuft ein großer Teil des Welthandels durch das Rote Meer, und nun hatte auch der Tourismus dieses Gewässer erobert.
Als wir am nächsten Morgen erwachten und mit dem Morgenkaffee auf den Balkon traten, lief die MSC Splendida gerade in den Hafen von Jeddah ein. Von einem Pilotenboot geleitet passierten wir Tanker und Kräne in einer hufeisenförmigen Bucht, ehe wir am nagelneuen Kreuzfahrtterminal anlegten. Hinter dem Hafen erstreckte sich ein weißes Häusermeer, dessen Grenzen im morgendlichen Dunst verschwammen.
Kaum hatte das Schiff angelegt, war ein mächtiges Gerumpel im Treppenhaus zu hören. Dann öffneten sich die Luken, und eine unübersehbare Schar muslimischer Pilger ergoss sich an Land. Von alters her war Jeddah der Hafen Mekkas, die Anlegestelle von Millionen Pilgern, die hier landeten, um die Hadsch zu begehen. Eine wirkliche Hadsch, also eine vollgültige Wallfahrt, war mit einem Tagesausflug natürlich nicht zu erlangen, aber für eine sogenannte „Umra“, die Eintageswallfahrt, würde der Tagesausflug nach Mekka reichen.
Die größte Gruppe der Mekka-Pilger waren muslimische Familien aus Tatarstan am Kaspischen Meer und Tschetschenien aus dem Kaukasus. Diese Familien bestanden aus behäbigen Patriarchen, die wenig sagten und viel aßen und energischen Tatarenmüttern, die konspirativ umherblickten, als hätten sie ihren Mongolenmännern ein Stück rohes Fleisch unter den Sattel gelegt. Auch jede Menge Burka-Frauen liefen zu den Bussen. Ihre Fortbewegung besaß etwas Huschendes, und aus der Entfernung kamen sie mir vor wie ein System beweglicher schwarzer Punkte. Acht Uhr war kaum vorüber, da setzte sich ein Dutzend Busse in Bewegung, um das nur 70 km entfernte Mekka anzusteuern.
Als nächstes waren wir an der Reihe. In langen Schlangen standen wir vor der Passkontrolle im Kreuzfahrtterminal, um unseren Ausflugsbus nach Jeddah zu erreichen. Was war es für ein Aufwand gewesen, ein saudi-arabisches Touristenvisum zu erhalten, nun scherte sich kein Mensch darum. Auf der anderen Seite war gut zu erkennen, dass die saudischen Amtsträger mit ihrer Dienstleistungsrolle noch ein wenig fremdelten. Der Zollbeamte saß wie ein Geheimagent hinter dem Tresen und senkte seinen Einreisestempel so langsam in unsere Pässe, als erweise er uns eine Gunst, die jeden Augenblick widerrufen werden könnte. Auch der Busfahrer trennte nicht zwischen seiner funktionalen Autorität und seiner Person. Wie ein mürrischer Sultan stand er neben dem Buseingang und sah so aus, als würde er dem nächsten säumigen Touristen mit der Gerte am liebsten eins drüber geben. Ganz anders unser Reiseführer Abdul. Er begrüßte uns mit schalmeienhafter Freundlichkeit, setzte sich sodann wie ein Kamelreiter mit durchgedrücktem Rücken in die erste Reihe und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Der erste Teil unserer Exkursion führte uns die Corniche von Jeddah entlang, einem Boulevard im Werden, der seine Glanzzeit noch vor sich hat. Er bestand aus einer schmalen Wiese mit jungen Palmen, hinter denen eine lebhafte Strandstraße sichtbar wurde. Jenseits der Corniche befanden sich weite Flächen unbebauten Geländes, dann erst begann die eigentliche Stadt. Besonders viele Hochhäuser waren nicht zu erkennen, aber es waren jede Menge geplant. Eines von ihnen war der Rohbau des Jeddah Towers, der mit einer Höhe von über 1000 Metern das höchste Gebäude der Welt werden sollte, ehe die Arbeiten bei einer Höhe von 250 Metern vorläufig eingestellt worden waren. Auch im Reformland Saudi-Arabien wuchsen die Bäume, respektive die Hochhäuser, nicht in den Himmel. Vergeblich hielt ich nach dem König Fahd-Brunnen Ausschau, dem Brunnen mit der vermeintlich höchsten Fontäne der Welt (es sollen über dreihundert Meter sein). „Dahin fahren wir nicht“, erklärte Abdul kurz und bündig auf meine Nachfrage. „Außerdem ist der Brunnen zurzeit außer Betrieb.“
„Ist denn ein solcher Brunnen in einem Wüstenland nicht eine enorme Verschwendung?“ wollte ein Brite wissen.
Nein, erwiderte Abdul, der Brunnen würde mit Meerwasser betrieben, davon gebe es hier reichlich. Meerwasser bilde auch die Grundlage der allgemeinen Wasserversorgung, fügte er hinzu. „Ohne die großen Meerwasserentsalzungsanlagen an der Küste wäre Jeddah mit seinen vier Millionen Einwohnern überhaupt nicht lebensfähig. Dann wechselte er etwas abrupt das Thema, als er einen Araber mit einem Kamel am Straßenrand sah, was in der blitzblanken Stadt skurril wirkte. „Der Araber liebt seine Kamele noch mehr als seine Frauen, obwohl die Kamele sensibler sind.“
Dann wurde Abdul ernst und begann über Mohammed bin Salman zu erzählen, den Neffen des Königs und Kronprinzen. Mohammed bin Salman sei gerade mal in den Dreißigern und habe das Land mit zahleichen Reformen bereits stark verändert. „Welche Reformen sind das denn?“ wollte ein Mann in zweiten Reihe wissen. „Saudi-Arabien öffnet sich der Welt, das können Sie doch an ihrer Kreuzfahrtreise erkennen,“ gab Abdul zurück.
„Und wie kommen die Reformen beim Volk an?“ fragte ein Italiener.
„Das Volk liebt den Kronprinzen, und der Kronprinz liebt das Volk“, erwiderte Abdul, um sogleich hinzuzufügen: „Die Krankenversicherung ist noch immer für alle Saudis kostenlos.“
Wir passierten einen großen palastartigen Bau, von dem wegen der hohen Umfassungsmauern kaum etwas zu erkennen war. „Das ist der Palast des Kronprinzen, bitte unterlassen Sie das Fotografieren.“
Die Altstadt von Jeddah bestand aus einem Areal schmaler Straßen und verwinkelter Plätzen mit alten Wohnhäusern. Diese traditionellen Wohnhäuser besaßen weiße Kalksandsteinfassaden und braun oder grün angestrichene Vorbauten und Balkone. Viele dieser Balkone waren mit kunstvollen Holzschnittarbeiten verziert, manche waren aber auch verfallen und sahen aus, als würden sie im nächsten Augenblick herunterstürzen.
Das berühmteste traditionelle Haus in Jeddah ist das sogenannte Nasif-Haus, in dem Sultan Abd al-Aziz ibn Saud (1875-1953) vor seiner Ernennung zum König von Saudi-Arabien zwei Jahre lang residierte. Schlecht hatte er hier nicht gelebt, denn im Innern des Hauses war es herrlich kühl, die Fußböden waren mit dunkelroten Teppichen ausgelegt, und jede Menge Kännchen standen bereit, daraus den leckeren Tee in ziselierte Tassen zu gießen. Stärkere Sachen waren dem frommen Kriegsherrn versagt geblieben, denn das Haus Saud stand im Bund mit den Wahhabiten, einer islamischen Reformbewegung, für die jeder Drink eine Versuchung des Satans war.