Stampeders´Country - Ludwig Witzani - E-Book

Stampeders´Country E-Book

Ludwig Witzani

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Beschreibung

Alaska und das Yukon Territorium gehören zu den großen Reise-zielen der Erde. Ludwig Witzani und Wolfgang Stoffel versuchen sich dem Großen Norden auf einer selbstorganisierten Reise im Campermobil zu nähern. Ihre Reise beginnt in Anchorage, dem ungeliebten "Tor nach Alaska" und führt über den Denali Park nach Fairbanks und Eagle am Yukon, dann tausend Kilometer weiter südlich durch das Yukon Territorium vorbei an Dawson und Whi-tehorse bis nach Skagway am Pazifik. Über den Alaska Highway geht es wieder zurück nach Norden über Haines, Kluane und den Wrangel Mountains bis nach Valdez am Prince William Sound. Die große Rundreise endet in Kenai, dem zauberhaften Klein-Alaska vor der Haustüre von Anchorage. Begleitet werden die Reisenden von Regen und Sturm, von Karibus, Bären, Dallschafen, Elchen und leider auch von jeder Menge Mücken, vor denen es kein Entkommen zu geben scheint - aber auch von Erinnerungen an die Geschichte des Nordens und seiner Menschen, an Glückssucher, Helden, Mörder und Poeten...

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Stampeders´Country

Stampeders' CountryInhaltTitelCopyrightStampeders´ CountryVON ANCHORAGE NACH ALASKA – Das ungeliebte Tor nach AlaskaDie Sehnsucht nach der UnmittelbarkeitDie heißeste Stadt AlaskasVON FAIRBANKS NACH SKAGWAY – Der Mann mit dem KaribugebissDie Mutter aller GoldrauschstädteWo Sam McGee verbrannt wurdeEine Wahl zwischen Pest und CholeraVON HAINES NACH VALDEZ – Die Tlingit tanzen nicht mehrIn zwei Stunden fährt der letzte ZugDie Bucht der KatastrophenVON VALDEZ ZUR HALBINSEL KENAI – Kohlköpfe und DickköpfeKlein Alaska bei SonnenscheinDas dunkle Ende der WeltANHANG - ReisehinweiseFotonachweisNachweis der verwendeten Zitate und VerweiseBücher für den RegenÜber den AutorWeitere Veröffentlichungen

Stampeders' Country

Inhalt

Titel

Copyright

Stampeders´ Country

VON ANCHORAGE NACH ALASKA – Das ungeliebte Tor nach Alaska

Die Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit

Die heißeste Stadt Alaskas

VON FAIRBANKS NACH SKAGWAY – Der Mann mit dem Karibugebiss

Die Mutter aller Goldrauschstädte

Wo Sam McGee verbrannt wurde

Eine Wahl zwischen Pest und Cholera

VON HAINES NACH VALDEZ – Die Tlingit tanzen nicht mehr

In zwei Stunden fährt der letzte Zug

Die Bucht der Katastrophen

VON VALDEZ ZUR HALBINSEL KENAI – Kohlköpfe und Dickköpfe

Klein Alaska bei Sonnenschein

Das dunkle Ende der Welt

ANHANG - Reisehinweise

Fotonachweis

Nachweis der verwendeten Zitate und Verweise

Bücher für den Regen

Über den Autor

Weitere Veröffentlichungen

Titel

Ludwig Witzani

Stampeders´ Country

Reisen durch Alaska und das Yukon-Territorium

Reihe „Weltreisen“ Band VII

Copyright

Ludwig Witzani: Stampeders´ Country

Reisen durch Alaska und das Yukon-Territorium

_____________________________________________

Reihe „Weltreisen“ Band VII

Lektorat: Tina Wolf

epubli Verlag, Berlin, 2017

Zum Angedenken an den Naturfotografen Mishio Hoshino, (1952-1998)

Stampeders´ Country

Stampeders´ Country

Unter Stampede versteht man die unerwartet einsetzende Fluchtbewegung großer Tierherden. Plötzlich rasen einige Bullen los, ihre Panik überträgt sich auf die ganze Herde, und alles gerät in Bewegung. Nichts war bei den großen Tiertrecks des 19. Jahrhunderts so gefürchtet wie eine Stampede, weil dabei Kräfte freigesetzt wurden, die alles in Grund und Boden rannten, was ihnen in die Quere kam.

Dem Menschen blieb es vorbehalten, den Bedeutungsgehalt dieses Begriffes zu verändern. Menschliche Stampeder bewegen sich zwar auch plötzlich und in großer Zahl von einem Ort zum anderen - aber nicht um zu fliehen, sondern um ihr Glück zu machen.

Alaska und das Yukon-Territorium sind Stampeders´ Country. Es sind die Regionen, die mehr als andere Plätze immer wieder Massen von Abenteurern und Glückssuchern angelockt haben, um ihrem Leben am Yukon, am Tanaina, in Nome, Eagle oder anderswo eine entscheidende Wende zu geben. Kein halbes Jahr war nach den Goldfunden am Klondike vergangen, da standen bereits Tausende Stampeder am White Pass oder am Chilkoot Trail, um zu den Goldfeldern vorzustoßen und sich die besten Claims zu sichern.

Ihr Glück haben die meisten dabei nicht gemacht, aber die Leistungen, die sie zustande brachten, grenzen von heute aus gesehen, ans Unglaubliche. Und ihre Bemühungen waren nicht umsonst. Aus der Gesamtheit ihres individuellen Scheiterns entstanden Städte und Straßen, später Eisenbahnen, Flughäfen und Pipelines. Die gescheiterten Hoffnungen der Menschen waren derTreibstoff, aus dem sich Alaska und das Yukon Territorium entwickelten.

Alaska und das Yukon Territorium sind heute selbstverständlich viel weiter entwickelt als in der Goldgräberzeit. Niemand, der heute von Skagway nach Dawson will, muss sich mehr über den White Pass quälen oder den Yukon herunter paddeln, er kann ganz einfach mit der Eisenbahn die Berge überqueren und auf guten Straßen seine Ziele mit einem Fahrzeug ansteuern.

Und doch ist der Geist der Stampeder nach wie vor lebendig. Nicht mehr als Massenbewegung, sondern als Sehnsucht, an einem ganz anderen Ort am Ende der Welt alles hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Zehntausende folgen dieser Sehnsucht jährlich und ziehen aus den lower 48 nach Anchorage, Whitehorse, Nome oder Fairbanks. Viele dieser einsamen Stampeder bleiben erfolglos und kehren enttäuscht in den Süden zurück. Die meisten aber bleiben und gewöhnen sich an einen völlig anderen Lebenstakt, einen intensiveren Geschmack des täglichen Lebens und vor allen Dingen eine ganz andere Natur.

Es ist oft bemerkt worden, dass der wahre Schatz des Nordens nicht das Gold, sondern seine Landschaft ist, seine Tierwelt, seine Berge und die Weite des Horizontes, der immer unendlicher wird, je weiter man in das Land vordringt. Manche begegnen dabei einer Welt, die sich noch immer in der ersten Schöpfungsstunde zu befinden scheint - unberührt und grandios und fast zu schön, um von Menschen betreten zu werden, selbst von solchen, die es aufsuchen, um im Land des ewigen Anfangs selbst neu zu beginnen.

Eine Reise durch Alaska und das Yukon Territorium kann diese Stimmungen und Gefühle nur in sehr unvollkommenerWeise erfassen, womit wir bei einem weiteren Paradoxon des Nordens sind. So groß und weit das Land auch ist, so begrenzt sind die Möglichkeiten, Alaska und dem Yukon Territorium auf einer touristischen Stippvisite näherzukommen. Deswegen ganz am Anfang einige Worte zu dem, was Sie in diesem Buch erwartet.

Ich bin auf dieser Reise nicht von Fairbanks nach Nome gewandert. Ich habe nicht den Mount McKinley bestiegen und musste auch nicht vor einem Grizzly auf einen Baum fliehen (was ohnehin sinnlos gewesen wäre). Ich bin so durch Alaska und das Yukon Territorium gereist wie es die Mehrheit der Touristen bisher getan und weiter tun wird: in guter Gesellschaft, mit einem kleinen Camperhome, mit einem ausgeprägten geschichtlichen Interesse und viel Neugierde und Beobachtungsbereitschaft. Ich habe mich vorbereitet, so gut ich es vermochte und war offen für das, was mir die Natur am Lynn Kanal, am Yukon oder oder in der Bucht von Valdez offenbarte. Ich habe unter dem teilweise grauenhaften Wetter gelitten, bin vor dem touristischen Trubel in Skagway und Dawson geflohen und habe auf der McCarthy Road oder am Columbia Gletscher Momente des Glücks erlebt.

Jeden Abend, wenn ich vor den Mücken in das Innere des Camperhomes flüchten musste, habe ich das, was ich erlebt und gesehen habe, in meinem Reisetagebuch notiert. Die dabei festgehaltenen Notizen bilden im Wesentlichen die Grundlage dieses Buches, nur hier und da habe ich in der Nachbearbeitung einige offensichtliche Irrtümer korrigiert und das eine oder andere der Systematik halber nachgetragen. Deswegen sind alle meine Perspektiven und Bewertungen selbstverständlich subjektiv, und es ist durchaus möglich, dass ich bei der Beurteilung des einen oder anderen Sachverhaltes ganz falsch liege - aber ich habe mich redlich bemüht, alles so zu beschreiben, wie ich es gesehen oder empfunden habe. Mit diesen Einschränkungen kann das Buch wie eine Einladung für Alaska und das Yukon-Territorium gelesen werden, als ein sehr persönlicher Einstieg in die einzigartige Welt des Nordens und als Umriss dessen, was man in etwa vier Wochen ohne großen Stress, aber mit einer gewissen Stringenz, Kondition und Leidensbereitschaft erleben kann.

Eine Erfahrung, die ich dabei gemacht habe, kann ich schon jetzt mitteilen, auch wenn sie für alle Reisen gilt, die ich unternommen habe: Es stand immer zu wenig Zeit zur Verfügung, denn Reisen, wenn es einen wirklich ergreift, gleicht dem Aufschlagen eines magischen Buches, in dem auf jedes Kapitel ein Neues folgt und das man deswegen nie ganz zu Ende lesen kann.

Im Grunde aber ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass für den Reisenden die Welt unendlich ist, und es immer einen Grund gibt, aufs Neue aufzubrechen…

VON ANCHORAGE NACH ALASKA – Das ungeliebte Tor nach Alaska

ErsterTeil:

Von Anchoragenach Fairbanks

DasungeliebteTornachAlaska

Anchorage

Kalte Polarwinde, die aus dem Norden eingebrochen waren, ergriffen die Maschine und schüttelten sie durch wie einen nassen Hund. Stunde um Stunde flogen wir nach Westen, der Sonne hinterher, und es wollte einfach nicht dunkel werden. Wolkengebirge - so schön wie der Abglanz des Paradieses – verwandelten sich in Wolkendecken, die fahlen Leichentüchern glichen.

Endlich wurden im Licht der Polarnacht die großen Schneeriesen Alaskas sichtbar. Seen wie zerbrochene Spiegel, Moränenlandschaften, Gletscherzungen und eine zerklüftete Gipfelwelt aus Eis. Der Kluane Nationalpark wurde überflogen, der Mount Logan tauchte tief unter uns zur Linken auf - und schließlich in der Ferne sogar der Denali/Mount McKindley, der König der amerikanischen Berge, von einem schwarz dunklen Wolkenschweif wie von einer Aureole umgeben. Schleierwolken zogen unter uns vorüber und gaben der Landschaft einen doppelten Boden. Dann begann der Landeanflug. Die Wolkenwände wurden dunkler und dichter, und kurz bevor die Maschine im Wolkenmeer verschwand, glichen die Gipfel der Berge links und rechts einer Ansammlung von Eisbergen in einem Urmeer. Eine Viertelstunde lang war nichts zu sehen als milchig weißer Nebel; dann unterschritt der Flieger, gerade mal einige hundert Meter über dem Meer, die Wolkengrenze und nahm Kurs auf das Festland.Wie ein einziger grüner Sumpf erstreckte sich die Landschaft der Kenai Halbinsel unter uns. Ein Boden, der seit undenklichen Zeiten im Rhythmus der Jahreszeiten taute und fror. Die Maschine flog einen Bogen über dem schwarzen Wasser und landete auf dem Internationalen Flughafen von Anchorage.

Es regnete, als wir eine Stunde vor Mitternacht über das Rollfeld zum Abfertigungsgelände liefen. Die Temperaturen entsprachen denen von Deutschland an einem kühlen Frühlingstag. In der Eingangshalle des Flughafens von Anchorage liefen Angehörige aller amerikanischen Ethnien wild durcheinander, Rau war der Umgangston, wenn man sich etwa am Gepäckausgabeband unbeabsichtigt vor einen anderen Reisenden stellte. Unser Taxi war ein alter Schlitten, die Taxifahrerin eine herbe Dame mit Tatoos an den kräftigen Unterarmen. Was wir auf der Anreise zum Hotel von der Stadt erblickten, waren breite, schnurgerade Straßen im Dämmerlicht. Einige Läden hatten noch geöffnet, Musik schallte über die Straßen, nur Menschen waren nicht zu sehen. Dann hielten wir von dem „Downtown Hotel“, das von innen besser aussah als von außen und in dessen Betten wir sofort todmüde einschliefen.

Irene, die Chefin des Uptwon Hotels, hatte es als Hessin vor Jahrzehnten nach Amerika verschlagen. Dem ersten Mann war sie nach Kalifornien gefolgt, dem zweiten nach Alaska, was mit in dieser Reihenfolge ungünstig vorkam. Es gefiel ihr auch nicht in Alaska, in Anchorage schon gar nicht, wie sie freimütig bekannte: zu kalt, zu teuer und „No Gentlemen's at all“. Das einzig Gute an Alaska sei, dass man hier kaum Steuern zahlte, weil der Staat jedem gemeldeten Einwohner pro Jahr einen Anteil der Steuereinnahmen aus dem Ölgeschäft überwies. Obwohl Irene auch auf Ausländer nicht gut zu sprechen war, betrachte sie uns als Abgesandte der Heimat. Wir verkörperten einen zarteren Menschenschlag, dessen Existenz sie fast vergessen hatte, so dass wir am Morgen zum spartanischen Frühstück auch noch eine Extraportion Streichkäse erhielten. „Honey, is anything ok with the Breakfast?“ fragte sie mich, und ich nickte wie ein braver Schuljunge.

Anflug auf Alaska

Anchorage war das Tor zu Alaska hieß es, aber es war ein Tor, das mit dem, wohin es führte, nur wenig zu tun hatte. Für viele war es ein subarktisches Babylon, in dem sich die Rohheit der Peripherie mit der Dekadenz einer heruntergekommenen Stadt verband. Für andere war es das wirtschaftliche Herz Alaskas, von dem aus das Ölgeschäft organisiert und ausgebaut wurde. Für den Großteil der Touristen, die Alaska besuchten, war es der unvermeidbare Startpunkt ihrer Reise in die Welt des Nordens. So auch für uns, die wir in Anchorage unseren Camper Home in Empfang nehmen würden. Bis dahin aber war noch etwas Zeit, die wir für eine Besichtigung nutzen wollten, unvoreingenommen und mit der Anteilnahme, die jede Stadt verdient, die sich am Rande der Wildnis behauptet. Allerdings waren die ersten Eindrücke wenig dazu angetan, Begeisterung zu wecken. Als wir das Hotel zu einem ersten Spaziergang verließen, lag über der Stadt ein bleigrauer Himmel ohne jede Kontur. Kein Wind, keine Wärme, keine Kälte, wenig Licht - die Stadt begrüßte uns im reduzierten Modus eines verwaschenen Morgens. Unrat und Müll waren über die Straßenränder verteilt, zwei betrunkene Halbindianer torkelten auf dem Bürgersteig an uns vorüber. Auf einem Parkplatz lagen zwei Männer auf dem Asphalt und schliefen ihren Rausch aus. Eine Stimmung von scheißegal lag über diesem Vormittag, angefüllt mit einer Spur Bedrohlichkeit, die von der ungewohnten Größe herrührte, mit der in Anchorage alles daherkam. Die Autoswaren größer, die Männer voluminöser, die Straßen breiter und nur die Häuser waren meist flach, als fürchte man eine Wiederholung des Erdbebens von 1964, das die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Auch das McDonalds Gebäude, in dem wir einen zweiten Morgenkaffee trinken wollten, war groß - laut Reiseführer sogar der größte McDonalds der USA, wahrscheinlich aber auch eines der leersten, denn als wir den Laden betraten, saß nur noch ein junges Pärchen an einem Fenstertisch. Die Haare standen ihnen zu Berge, sie waren leichenblass und sahen aus, als wäre ihnen der Stoff ausgegangen. Der Tisch vor ihnen war leer, und sie starrten sich gegenseitig an, als könnten sie gar nicht glauben, in welche Gesellschaft sie das Leben verschlagen hatte. Zwei neue Kunden betraten das Lokal. Es waren zwei junge Amerikaner, nachlässig angezogen und mit Turnschuhen an den Füßen, deren Senkel nicht zugebunden waren. Beide waren angetrunken und wurden von einem bulligen Security-Man aus dem Laden gedrängt. Er war so breit wie die beiden Jugendlichen zusammen. Er packte jeden von ihnen mit einem Arm und schob sie wie Sperrmüll einfach vor die Türe. Der Alkoholismus war in Alaska offenbar keineswegs nur auf die Natives beschränkt. Am Visitor Center in der 4th Street on Downtown waren wir die ersten Klienten, enthusiastisch begrüßt von einer Rangerin in einer olivgrünen Uniform. „So nice to see you“, flötete sie, als wir eintraten. Sie strahlte die Gesundheit der dicken Menschen im Norden aus, deren Fett durch die Kälte im Zaum gehalten wird. „Oh you came from Germany, that´s great!“ jubelte sie und überreichte uns einen ganzen Packen Pläne und Prospekte. „You will have a wonderful Time in Anchorage“, versprach sie, als wir das Gebäude verließen. Draußen sah es aber nicht danach aus. Auf der andern Straßenseite stoppte ein Van. Die Türe öffnete sich, und eine kreischende Prostituierte wurde grob auf die Straße gestoßen. Es war eine grell geschminkte Farbige, aggressiv und gewöhnlich. Sie rappelte sich auf und kreischte „Fuck you“, ehe sie auf ihren High Heels davon schwankte. Ein Feuerwehrwagen hielt vor einem kleinen Park und begann zwei Inuits abzutransportieren, die vollkommen zugedröhnt im Gebüsch gelegen hatten. All das vollzog sich in einem merkwürdigen Zwielicht, das die schnurgeraden Straßenfluchten in bizarre Schluchten verwandelte, die immer geradeaus in ein verwaschenes Halbdunkel führten. Immerhin nahm die Polizeipräsenz zu, je weiter wir nach Downtown kamen, allerdings handelte es sich vorwiegend um Fahrradpolizei, um Zweiergruppen, die mit Fahrradhelmen und in bunter Fahrradkleidung neben ihren Rennrädern an den Ecken standen und die Umgebung beobachteten. Architektonisch Bemerkenswertes gab es nicht zu sehen, eine Straße glich der anderen und viele Geschäfte hatten noch geschlossen. Als wir Downtown im Umkreis der 4th and 5th Street erreichten, setzte ein leichter Nieselregen ein, so dass wir in das „Anchorage Museum of History and Art“ flüchteten. Bildung als letztes Refugium vor dem Ansturm der Tristesse - das funktionierte fast immer.

Das Museum war der Geschichte Alaskas gewidmet – präsentiert wurden eine Sammlung von Karten, lebensgroße Puppen und Überreste aller Art, die wir an diesem Vormittag in Ruhe studieren konnten, denn wir waren fast allein im Museum. Im Mittelpunkt der Exponate stand die Geschichte der Ureinwohner Alaskas, ihre Wanderungen, Zelte, Bekleidung, Waffen und Baustoffe, die in einem eigenen Raum ausgestellt waren. Die Indianerstämme des Nordpazifiks waren wie alle Indianer vor gerade mal vierzigtausend Jahren aus Asien nach Alaska gekommen, als wegen des tieferen Meeresspiegels zwischen Ostsibirien und Nordamerika eine Landverbindung bestand.

Tlingit Totem

Doch während die meisten Proto-Indianer weiterzogen, in den Süden, in die Prärie, nach Mittelamerika oder in die Täler der peruanischen Anden bis hinunter nach Feuerland, waren die Vorfahren der heutigen Tlingit, Haisa oder Atha- basca geblieben, hatten autonome Stämme gebildet, Holzhäuser erbaut und Kulturen entwickelt, die ihnen das Überleben in einer fruchtbaren Umgebung sicherten. Sie ernährten sich von Wurzeln und Beeren, jagten die Bären mit bloßen Speeren und trugen im Winter Jacken aus zusammengenähten Tiereingeweiden, damit die Tiere gleich wussten, was ihnen blühte.

Ich blickte aus dem Museumsfenster und sah, dass der Regen zugenommen hatte. Ein regelrechter Wolkenbruch entlud sich über Anchorage, und die Häuserwände aus der anderen Straßenseite verschwanden im nassen Dunst. Kein Grund zur Eile also bei unserer Reise durch die alaskanische Geschichte. Ich studierte die Karten an den Museumswänden, die die Reisen der europäischen Entdecker in den pazifischen Norden darstellten - angefangen vom Kosaken Simon Deznew, der im Jahre 1648 als erster durch die spätere Bering Straße gepaddelt war, bis zu den Expeditionen der Russen im frühen und mittleren 18. Jahrhundert. Niemand Geringeres als Zar Peter der Große hatte den dänischen Seefahrer Vitus Bering im Jahre 1725 beauftragt, eine mögliche Verbindung zwischen Ostsibirien und Nordamerika zu erforschen. Anschließend war Virus Bering mit seinem Tross zwei Jahre lang durch ganz Sibirien gezogen, ehe er im Jahre 1727 die Halbinsel Kamschatka erreichte, wo er unter unsäglichen Mühen zwei Schiffe erbauen ließ, um mit ihnen in See zu stechen. Das eine Schiff nannte er „Peter“ das andere „Paul“, woraus sich der Name der heutigen Hauptstadt Kamtschatkas, eben Petropawlowsk, herleitet. Wie weit er mit diesen beiden Schiffen auf dieser Reise kam, ist umstritten. Alaska hat ernicht erreicht. Er soll aber das Meer zwischen Ostsibirien und Alaska durchkreuzt haben, das seitdem seinen Namen trägt. Im Jahre 1740 brach er mit seinem Stellvertreter Chirikow erneut von Kamtschatka aus gen Nordosten auf und erreichte im Juli 1740 in der Nähe von Kodiak Island endlich die Küste Alaskas. Der Hauptertrag seiner zweiten Reise, die weder er noch der größte Teil seiner Mannschaft überlebte, war die Entdeckung des alaskanischen Seeotters, dessen Fell ungeahnte Möglichkeiten der wirtschaftlichen Verwertung eröffnete. Schnell führten die sich hier andeutenden Profite russische Händler auf die Aleuten Inseln, wo sie alle Otter töteten, bis es keine mehr gab, um dann die Ureinwohner fast vollständig auszurotten.

Dann zogen sie weiter und gründeten 1773 Unalaska, die erste permanente europäische Siedlung am Nordpazifik. Nichts aber macht so schnell die Runde wie die Kunde von möglichem Reichtum, vor allem, wenn nur ein kurzes Zeitfenster existiert, in dem er ausgebeutet werden kann.

1774 kreuzte bereits eine spanische Expedition unter dem Kommando von Juan Perez vor der Küste, dann erschien 1778 der britische Weltumsegler James Cook auf seiner „Resolution“ vor Alaska - allerdings nicht der Otter wegen, sondern um eine mögliche Nordwestpassage zu erkunden. Durch diese Aktivitäten der europäischen Mächte beunruhigt, ernannte der Zar im fernen Sankt Petersburg im Jahre 1791 Alexander Baranoff zum ersten russischen Gouverneur für Alaska und übertrug der Russisch- Amerikanischen Handelsgesellschaft das Pelzmonopol für den gesamten Nordens. Die Händler und Trapper der englischen Hudson Bay Company, die von Osten her an den Yukon und bis nach Alaska vorstießen, störte das wenig. Immer stärker gerieten die Küstenindianer in das Fadenkreuz der russisch-britischen Rivalität, wobei sich die Russen von den Briten immerhin dadurch unterschieden,dass sie nicht nur Alkohol, Schusswaffen und Krankheiten, sondern auch orthodoxe Missionare nach Alaska brachten, denen die Welt die ersten russisch-orthodoxen Indianer der Weltgeschichte verdankt. Aber nicht genug damit, bald tauchten auch noch die Amerikaner auf, die 1840 nach ihrem Sieg über Mexiko den Pazifik erreicht hatten. Dort trafen sie, keine hundert Meilen von San Francisco entfernt, zu ihrem Erstaunen auf russische Pelzjäger, die sich in Fort Ross niedergelassen hatten. Einen kurzen geschichtlichen Moment lang schienen sich gefährliche Frontstellungen anzudeuten, doch dann brachte die Ökonomie eine schnelle und gewaltfreie Lösung. Nachdem die Russen den pazifischen Otter fast vollständig ausgerottet hatten und der Pelzhandel zusammengebrochen war, lohnte sich Russisch- Alaska einfach nicht mehr. So verkauften die Russen den Amerikanern im Jahre 1867 für 7,2 Millionen Dollar kurzerhand ihre riesige alaskanische Provinz. Welchen ungeheuren Wert die Amerikaner damit halb unwillig und gleichsam nebenbei erworben hatten, sollte sich erst später herausstellen. Die Ureinwohner des Landes hatte ohnehin niemand gefragt. Die Stadt Anchorage war übrigens erst lange nach dem Kauf Alaskas im Jahre 1915 gegründet worden, als sich die Amerikaner anschickten, wenigstens die Küstenregionen durch den Bau neuer Eisenbahnlinien zu erschließen.

Als wir das Museum verließen, erwartete uns eine Überraschung. Ein starker Wind hatte vom Meer her die Wolken an den Rand der östlichen Berge getrieben, und über der Stadt wölbte sich ein unerwartet strahlend blauer Himmel. Als hätte man eine neue Stofftapete von Horizont zu Horizont aufgezogen, hatte sich die Stimmung schlagartig verändert. Die Farben der Autos kamen mir bunter vor, die Menschen auf den Straßen freundlicher, und auch von den Parkplätzen waren die Betrunkenen verschwunden. ImLicht der Mittagssonne wirkte sogar das Visitor Center nun plötzlich wie ein schmuckes Trapperhaus, Tische und Stühle waren herausgestellt worden, an denen nun Touristen saßen und Stadtkarten studierten. Vor dem Denkmal des Schlittenhundes Balto, der in voller Lebensgröße und im gestreckten Lauf dargestellt war, drängelten sich Kinder für das obligatorische Erinnerungsfoto. Der Husky Balto hatte als Leithund eines Hundeschlittens im Jahre 1925 in einer atemberaubenden Fahrt quer durch ganz Alaska einen dringend benötigten Impfstoff gegen eine Diphtherie- Epidemie von Anchorage nach Nome an die Beringsee gebracht. Das haben ihm die Alaskaner nie vergessen, und ein herzzerreißender Zeichentrickfilm, siebzig Jahre später gedreht, hatte den wackeren Balto endgültig unsterblich gemacht. Balto, der unermüdliche Schlittenhund, der seinen menschlichen Musher vor dem Aufgeben bewahrte, Balto, der alle Schliche in der Wildnis kannte, war für jedes amerikanische Schulkind ein Begriff und rangierte weit von cineastischen Kunstfiguren wie Lassy, Fury oder Flipper.

Balto Denkmal in Anchorage

Mit Lassy, Fury oder Flipper haben die Alaskaner ohnehin nicht viel am Hut. Die Ebenen und Berge ihres Landes jenseits von Anchorage sind der Lebensraum von Karibus, Pumas, Waipitis, Adlern Grizzlys und Wölfen, wobei den Wölfen in der Vorstellung der Einheimischen eine ganz besondere Rolle zukommt. Für sie ist der Wolf das inoffizielle Wappentier ihres Landes, ein Wesen, in dem Eleganz, Schönheit, List und Mut ebenso zu finden sind wie ein ausgeprägtes soziales Verantwortungsgefühl für die Mitglieder des eigenen Rudels. So überraschte es nicht, dass es in Anchorage ein eigenes Wolf-Museum gab, das „Song of Wolfe-House“ in der 6th Street, in dem die Besucher den wahren Herren des Nordens auf Diorahmen, als lebensecht gestaltete Reproduktionen oder im Film bewundern konnten. Wie den Exponaten zu entnehmen war, entstammte der Alaska-Wolf einer Vermischung des grauen Wolfes mit einer besonders gewitzten Kojotenart, während seine Vettern, der Yukon- und den Polarwolf einen anderen Stammbaum aufwiesen. Gemeinsam war ihnen allen der dichte, schöne Pelz, die lange Schnauze und die unvergleichliche Grazie, mit der sie ebenso durch das Unterholz pirschten wie über flaches Gelände jagen konnten. Ein Film im „Song of Wolf-Museum“ zeigte den Alaska-Wolf bei der Jagd und bei der Aufzucht seiner Jungen. Man sah ihn während des Sonnenaufgangs durch die Wälder schleichen oder von erhöhter Warte über die Weiten Zentralalaskas schauen. „We are all part oft the Nature, and all Animals are our Cousins“, meinte einer der Museumsführer, mit dem ich versuchte nach der Filmvorführung ins Gespräch zu kommen. Er war ein junger Mensch mit treuherzigen Augen und einem spitzenGesicht, eher ein Vetter des Fuchses als des Wolfes, und auf die Tourismuswirtschaft seines Staates nicht gut zu sprechen. Seit Jahren versuchten die Geschäftemacher die Tierschutzgesetze zu ändern, um reichen Touristen eine Wolfsjagd per Helikopter zu ermöglichen, meinte der junge Mann. Das Beste wäre es, die Menschen würden in ihren Städten bleiben und die Tiere in der freien Natur, aber das sei illusorisch, weil zu viele Leute viel zu gut am Alaska- Tourismus verdienten. Recht hatte der junge Mann, auch wenn ich ihm nicht gestand, dass auch wir selbst zu dieser despektierlichen Spezies gehörten, denn auch wir würden uns bald mit dem Camperhome aus der Stadt hinaus trauen, um uns ein wenig an der Wildnis zu laben.

An der nordwestlichen Uferfront von Anchorage befand sich der Resolution-Park, ein begrünter Aussichtspunkt, von dem aus man über den Cook Inlet hinweg die schneebedeckten Ausläufer der Alaska Range im Norden sehen konnte. Der Cook Inlet war ein weiträumiger Meeresarm, der Anchorage mit dem etwa zweihundert Kilometer entfernten offenen Pazifik verband. Benannt war der Cook-Inlet nach dem britischen Entdecker James Cook, der jedem Weltreisenden, wohin es ihn auch im pazifischen Großraum verschlug, immer wieder begegnete. Auf der anderen Seite des Pazifiks stand seine überlebensgroße Statue im Hyde Park von Sydney auf einem meterhohen Sockel, eine der schönsten Inselgruppen des Südpazifiks, die „Cook Islands“ trug seinen Namen, ebenso wie die stürmische Cook-Strait zwischen der neuseeländischen Nord- und Südinsel. Es gab eine „Cook Bay“, einen „Mount Cook“, ein „Cooktown“ und jede Menge anderer Orte, Berge, Gletscher und Täler auf der Welt, die in irgendeiner Beziehung zu James Cook standen und deswegen seinen Namen trugen. Die Küsten Alaskas war der Entdecker imJahre 1778 auf seiner dritten und letzten Weltreise entlang gesegelt, immer auf der Suche nach der Nordwestpassage, von der sich die britische Admiralität eine direkte Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik erhoffte. Die gesamte Westküste Nordamerikas nördlich von Vancouver hatte der akribische Kapitän abgesucht, in jeden Meeresarm war er hinein gesegelt, immer in der Hoffnung im Norden des amerikanischen Kontinents einen befahrbaren Wasserweg zum Atlantik zu finden. Doch immer wieder hatte er unverrichteter Dinge umkehren müssen. So auch im großen Cook-Inlet, der als tief ins Land reichender Meeresarm zu besonderen Hoffnungen Anlass gegeben hatte und am Ende doch wieder enttäuschte. An diesen Misserfolg erinnerte das Denkmal des Entdeckers auf der Aussichtsplattform des Resolution Parks. So schlank und gut gewachsen wie er wahrscheinlich gar nicht gewesen war, stand der steinerne Cook breitbeinig mit dem Rücken zur Stadt dem Cook Inlet zugewandt, als könne er gar nicht glauben, dass es wieder ein Schuss in den Ofen gewesen war. Weniger als ein Jahr, nachdem er seine erfolglose Erkundung am Turnagain-Arm im Südosten von Anchroage hatte abbrechen müssen, war der weltberühmte Entdecker auf der Insel Kauai hawaiianischer Menschenfressern zum Opfer gefallen. Ich blickte von unten in das angespannte, fast genervte steinerne Gesicht des unglücklichen Mannes, der immer nur gereist und gereist war und seine Kinder kaum gekannt hatte. Über sein Haupthaar hatte man ein Taschentuch gespannt, um ihn vor dem Taubenkot zu schützen.

Der Bus No. 7 brachte uns am späten Nachmittag zum Lake Logan im Süden Anchorages, dem größten Wasserflughafen der Welt, von dem manche behaupten, er wäre die eigentliche Drehscheibe des Alaska-Verkehrs. Denn so viel an Eisenbahnschienen, Fährverbindungen und Straßen in den letzten beiden Generationen auch gebaut worden war, die Weite des Landes erschloss sich nur mit Hilfe von Flugzeugen, genauer gesagt, kleinen Wasserflugzeugen oder Flugboote, die mit einer Besatzung von fünf bis zehn Personen bis in die entferntesten Winkel des Landes vordringen konnten. „Bush-Country“ war die Sammelbezeichnung jener neunzig Prozent Alaskas, die nur auf dem Luftweg erreichbar waren und deren Anflug Wagemut und Können erforderte. Unzählig waren die Geschichten von Unglücken, Abstürzen und Heldentaten der Piloten, wobei nie ganz klar war, wo die Tatsachenberichte endeten und das Fliegerlatein begann. Eine der berühmtesten Moritaten der alaskanischen Wasserflugzeughistorie handelte von dem Piloten Jim Dodson, dem es gelungen sein soll, während eines Inlandfluges mit rechts den Steuerknüppel zu halten und mit links einer jungen Frau zu assistieren, die während des Fluges auf dem Beifahrersitz ein Kind zur Welt brachte. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann fliegen sie noch heute.

Von dergleichen Gefahren und Eventualitäten aber war an diesem Tag am Ufer des Lake Hood nichts zu spüren. Das ganze Gelände wirkte wie ein Freizeitareal voller Touristen, die auf den Holzplanken herumliefen, es sich in Cafés gutgehen ließen oder das benachbarte Flughafenmuseum besuchten. Aus der Nähe betrachtet, erschienen die Flugzeuge erstaunlich klein, oft hatten sie nur Platz für drei oder vier Personen. Manche wirkten so grazil, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie sie einen Sturm über einem Gletschergebiet überstehen könnten. Der Startvorgang erwies sich übrigens als erstaunlich unspektakulär: Kurze Beschleunigungsphase, mächtiges Brummen der starken Motoren, und ab ging es in die Lüfte. Wie kleine weiße Vögel kreisten die Maschinen über dem See, ehe sie in Richtung Meer oder Berge entschwanden.

Als wir nach dem Abendessen ins Hotel zurückkamen, war Irene leicht alkoholisiert. Man merkte es an ihrer aufgekratzten Heiterkeit und den weit aufgerissenen Augen, mit denen sie mich ansah. „Honey, did you enjoy your first Day in Alaska?“ fragte sie mich, ohne sich für meine Antwort zu interessieren. Wie schon gestern Abend war von ihrem Ehemann nirgendwo etwas zu sehen. Vielleicht würde bald ein dritter kommen und sie in einen wärmeren Bundesstaat der USA mitnehmen.

Da wir noch immer an der Zeitumstellung litten, gingen wir früh aufs Zimmer. Ich las noch ein wenig in Richard Leos „Jenseits aller Grenzen“, einem zum Zeitpunkt unserer Reise vieldiskutierten Buch über einen jungen Mann, der zusammen mit Frau und Kind von Chicago aus in die Wildnis Alaskas aufgebrochen war. Ganz trübselig konnteman werden, wenn man las, wie viele Probleme ein solches Abenteuer aufwarf. Und auch das Ende des Buches war wenig erbaulich: Obwohl die Ansiedlung in Alaska gelang, brach die Familie am Ende auseinander. Die Frau hatte von Alaska die Nase voll, verließ Mann und Sohn und kehrte in die „lower 48“ zurück. Richard Leo und sein Sohn aber blieben in Alaska und richteten es sich mehr schlecht als recht in ihrem herben Utopia ein.

Der nächste Tag stand ganz im Zeichen der Wagenübernahme. Wir verabschiedeten uns von der verkaterten Irene, orderten ein Taxi und fuhren zur Mietstation in einen Vorort von Anchorage. Wir hatten bei CruiseAmerica.com den sogenannten „T19“ gebucht, nicht verwandt mit dem russischen T34 Panzer, sondern einfach nur ein Ford-Truck, auf dessen Ladefläche ein optimal angepasster Wohncontainer aufgesetzt worden war. So klein er von außen auch erschien, sein Innenleben hatte es in sich, und es dauerte eine geschlagene Stunde, ehe uns zwei junge Männer alle Bedienungsdetails unseres Alaska- Mobils erklärt hatten. Das normale Licht im Wageninnern lief über eine Batterie, die über Generatoren beim Fahrtbetrieb des Wagens regelmäßig aufgeladen wurde. Der Kühlschrank bezog seine Energie entweder durch Propangas, Batterie oder durch elektrischen Strom, wenn der Wagen auf einem Campingplatz an die Stromversorgung angeschlossen war. Nur im letzteren Fall war es übrigens möglich, die Klimaanlage anzustellen. Das Spül- und Toilettenwasser musste regelmäßig in dafür bereitstehende Dump-Stationen auf den Campingplätzen entsorgt werden. Trinkwasser wurde natürlich separat aufgefüllt, entnommen und gelagert. Gekocht wurde mit Propangas aus einem Propangasbehälter, dessen Füllung unter normalen Umständen für eine vierwöchige Reise ausreichte. Wie volldie Abwasserbehälter oder Batterien waren, konnte man besonderen Schaltern entnehmen, die neben der Spüle angebracht waren.

Von außen sah der T19 winzig aus, war aber im Innern erstaunlich geräumig. Wir verfügten über eine Spüle mit Herd, eine Dusche und eine Chemotoilette, bei deren Anblick wir uns versprachen, sie nur zu benutzen, wenn uns Grizzlys belagerten. Sogar zwei separate Schlafgelegenheiten standen zur Verfügung, eine Schlafnische über der Fahrerkabine und eine Sitzecke, die man mit wenigen Griffen in ein Bett umbauen konnte.

Am Ende entschlossen wir uns, die Versicherung auch auf Reifen- und Glasschäden aufzustocken und buchten noch ein Meilenpaket extra. Das Schulterklopfen von Seiten der Stationsbesetzung gab es gratis. Wir bedankten uns, stiegen ein, ließen den Motor an, und die Fahrt begann.

Die Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit

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Die Sehnsucht

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Alaska ist mit einer Fläche von 1,43 Millionen qkm der mit Abstand größte Flächenstaat der USA, mit seinen knapp 750.000 Einwohnern aber bevölkerungsmäßig der viertkleinste (Nur Wyoming, North Dakota und Vermont haben noch weniger Einwohner) Das hat den kuriosen Effekt, dass Alaska mehr Senatoren in den amerikanischen Kongress entsendet als Repräsentanten, nämlich wie alle anderen Bundesstaaten zwei in den Senat, aber nur einen Abgeordneten in das 435köpfige Repräsentantenhaus. So riesig dieser 49. Bundesstaat der USA auch ist (als 50. und bisher letzter kam im Jahre 1960 Hawaii hinzu) - seine Hauptstadt Juneau in der Inselwelt des Alaska- Panhandle ist mit ca. 30.000 Einwohnern der mit Abstand der kleinste Regierungssitz eines amerikanischen Bundesstaates. Dann wieder ein Superlativ. Der höchste Berg Amerikas, der Denali/Mount McKinley befindet sich in Alaska. Der längste Fluss Alaskas, der Yukon, bringt es mit seinen 3.180 Kilometern Länge unter den Flüssen der USA auf den dritten Platz.

Wie steht es mit dem Klima? Kalt und nass. Aber wie kalt und nass? Während es in der Inselwelt Süd-Alaskas fastimmer regnet und Nord-Alaska fast vollständig vereist ist, schwanken die Temperaturen in Zentral-Alaska um unglaubliche einhundert Grad. In der Ebene von Fairbanks waren in einem der heißesten Sommer der letzten Jahre +37 Grad gemessen worden, während im Winter bei Delta Junction die Temperaturen auch schon auf -72 Grad gefallen sind. Kein Land für schwache Autobatterien. Einen klimatischen Sonderfall stellt die Inselkette der Aleuten zwischen Alaska und Sibirien dar, von der behauptet wird, sie litte unter dem schlimmsten Klima der Erde, weil an ihren Küsten die pazifischen und die arktischen Eismeerströme aufeinandertreffen.

Ganz ähnlich wie Sibirien ist auch Alaska bei dieser Größe und klimatischen Unberechenbarkeit bis heute verkehrstechnisch nur unvollkommen erschlossen. An den Küsten verbinden Fährlinien die einzelnen Orte, die wichtigste ist die „Alaska Inside Passage“ von Bellingham im Bundesstaat Washington bis Skagway bzw. Anchorage. Die weiträumige Erschließung vollzog sich mit auf der Grundlage des inneralaskanischen Flugverkehrs mit Hilfe von Wasserflugzeugen und Flugbooten. Das bequemste aber geografisch eingeschränkteste Verkehrsmittel ist die Eisenbahn. Vier Strecken im Sommer und zwei Strecken im Winter verbinden die wichtigsten Orte in Zentral-Alaska. wobei immer wieder Elche von den Eisenbahnen überfahren werden, weil die Tiere gerne die Schienen als Wege durch die vereisten Wälder nutzen.

Im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten der USA ist nur Zentral-Alaska hinreichend durch Straßen erschlossen, von denen vier immerhin den Rang eines „Interstate“- Highways besitzen, ohne dass sie die Qualität vergleichbarer Interstate-Straßen in den lower 48 erreichen. Die berühmteste ist der Alaska-Highway, der von Dawson Creek in Britisch Columbia gut zweitausendKilometer bis nach Tok bzw. Fairbanks führt. Die am intensivsten frequentiertesten Straßen Alaskas sind der Glenn Highway und der George Parks Highway, die Anchorage und Fairbanks, die beiden größten Städte, miteinander verbinden.

Diese geografischen Basisdaten hatte ich mir in mein Skizzenbuch notiert, ohne zu wissen, was sie mir im Ernstfall nutzen würden. Als wir den Motor unseres T19 Camperhomes anließen, gab es ohnehin zunächst Wichtigeres zu erledigen. Wie nahezu jeden Camperhome, der in Anchorage startete, führte uns die erste Fahrt zum Walmart Supercenter in der Debarr Road zum Einkaufen. Nudeln, Reis, Kartoffeln, Wein, eingefrorenes Fleisch, Gemüse, Obst, Wasser und Saft, wie immer fast alles in für Europäer ungewohnt großen Portionierungen, schleppten wir vom Store zum Wagen, so dass wir Schwierigkeiten hatten, die Lebensmittel in Kühlschrank und Stauraum unterzubringen. Übrigens waren die Parkplätze von Walmart die inoffiziellen Treffpunkte von Wohnmobilen aller Art, denn es war erlaubt, auf ihnen zu übernachten und am Morgen die sanitären Anlagen zu benutzen.

Bei den Wohnwagenfahrern, die wir an diesem Nachmittag kennenlernten, handelte es sich überwiegend um ältere Herrschaften, die ihr Erspartes in rollende Wohnhäuser investiert hatten und nun ihren Lebensabend damit verbrachten, Nordamerika abzureisen. Pete und Aline stammten aus Sacramento in Kalifornien und waren vor vier Monaten über den Alaska-Highway angereist. Nun befanden sie sich schon am Ende ihrer Reise, die sie zehntausend Kilometer kreuz und quer über alle befahrbaren Straßen Alaskas und Yukons geführt hatte. Pete war ein großer breitschultriger Mann mit einem vernarbten Gesicht, seine Frau Aline war eine kleine quirlige Person, die immerfortum ihren Pete herumschwirrte. Ihnen hatte es in Alaska gut gefallen, jedenfalls viel besser als in Mexiko oder Mittelamerika, wo es zwar billiger, aber gefährlicher gewesen sei. Die einzige Gefahr, vor der man sich in Alaska in Acht nehmen müsse, seien die Elche, die urplötzlich aus dem Unterholz auf die Straße gerannt kämen und manchmal die Fahrzeuge einfach umrannten.

Nach dem Einkauf bei Walmart verließen wir die Stadt und fuhren den Glenn Highway nach Norden. Der Wagen fuhr sich erstaunlich leicht, und auch an die erhöhte Position im Fahrerhaus über der Fahrbahn gewöhnte man sich schnell. Eine Zeitlang führte die Straße parallel zu den Schneisen der Alaska Railroad, die Anchorage und Fairbanks verbindet. Links und rechts der Straßen befand sich Birken- und Tannenwald am Fuße stark bewachsener Hügel. Dann tauchten die ersten Schilder auf, die vor kreuzenden Elchen warnten. Viele von ihnen wiesen Einschussspuren auf. Die Autofahrer hatten also aus dem fahrenden Auto auf die Schilder gefeuert, ob aus Wut oder Gaudi, wer wollte das wissen?

Unseren ersten Stopp machten wir in der Eklunta, einer kleinen Athabaskensiedlung gleich am Glenn Highway. Der Ort selbst machte wenig her, seine Attraktion war der Eklutna-Village Historic-Park, in dem es eine echte Kuriosität der Völkergeschichte zu besichtigen gab. Denn die Athabasken-Indianer von Eklutna hatten sich unter dem Einfluss russischer Missionare früh und vollständig zum orthodoxen Christentum bekehrt. Das war lange her, und als wir Eklutna erreichten, waren die orthodoxen Missionare ebenso verschwunden wie die meisten Athabasken - geblieben aber war ein kleiner Friedhof, auf dem die Gräber russisch-orthodoxer Indianer zu besichtigen waren. Sie waren in sogenannte spirit houses bestattet, länglichen Särgen aus Holz und Blech mit einem kleinen Giebeldach, auf denen bunte viereckige Scheiben hochkant befestigt waren. An ihren Seiten befanden sich Blumenbeete und die typischen orthodoxen Kreuze mit dem abschüssigen Querbalken an ihrem unteren Ende. Malerisch im Fluchtpunkt des Friedhofs lag die bunt angemalte russisch- orthodoxe Kirche zum heiligen Nikolaus, die leider geschlossen war. Merkwürdige Seitenwege geht die Kulturgeschichte - in der Südsee hatte ich protestantische Samoaner kennengelernt, die ihrer Sinnenfreude mit dem engen Ethikkorsett des Luthertums zu Leibe rückten, in Mittelamerika war ich guatemaltekischen Bauern begegnet, die bei ihren Umzügen den Christus am Kreuz wie einen Indianerhäuptling mit prachtvollem Federschmuck ausstatteten, und nun betrachtete ich die Gräber russisch- orthodoxer Athabasken-Indianer, von denen manche mit paganen Holzschnitzereien versehen waren. Amerikanische Hare-Krisna-Jünger, die die Bhagavad-Gita lasen oder jüdische Äthiopier, die den Lehrern der Thora folgten - die Welt war zu einer Zentrifuge geworden, in denen die Werteaus allen Himmelsrichtungen wie in einer Lotterie über die Völker geschleudert wurden.

Kurz hinter Eklutna verließen wir die Straße und fuhren auf einer Schotterpiste etwa fünfzehn Kilometer in den Wald, mitten hinein in eine dunkelgrüne Front mächtiger Bäume, deren Äste sich von beiden Seiten der Straße wie die Arme eines Ungetüms über unseren Wagen schlossen. Inzwischen war es noch dunkler geworden, und schmutzig- graue Regenwolken bedeckten den Himmel, als wir den Eklutna See erreichten. Der Anblick des Sees und der mächtigen Chugach-Gletscher, die ihn speisen, gehört zu den klassischen Fotomotiven einer Alaskareise, doch als wir an diesem Abend den Wagen stoppten, war nichts zu erkennen außer Regen und Dunst. Niemand außer uns war auf den anderen Stellplätzen zu sehen, und als ich aus dem Wagen stieg, betrat ich matschigen, modrigen Grund. Neben dem Eingang des Campgrounds befand sich eine Art Postkasten, in den die Camper, bevor sie sich auf dem Platz niederließen, ihre zehn Dollar Übernachtungsgebühr einwerfen konnten. Der Platz verfügte über keine elektrischen Anschlüsse und auch keine Dump-Station, dafür gab es einen stabilen alaskanischen Donnerbalken, von außen gut verschließbar, damit einem Bären und Elche bei dem Geschäft keine Gesellschaft leisten konnten.

OrthodoxerAthabaskenfriedhofinEklutna

Unser erstes Abendessen im Camperhome prägte ein Muster, das wir für den Rest der Reise beibehalten sollten. Ich war für die einfachen Arbeiten zuständig, für das Tischdecken, Spülen und bald auch für das Frühstück. Wolfgang dagegen regierte am Herd, kochte, würzte und schnitt, mischte und portionierte mit staunenswerter Meisterschaft Fleisch und Fisch, Gehacktes und Vegetarisches und was immer auch nach dem Rhythmus unserer Walmart Einkäufe auf den Tisch des Camperhomes kam. Aus großen Benzinkanister ähnlichen Plastikbehältern mit Zapfhahn füllten wir unsere Becher mit nordamerikanischen Wein, der sehr, sehr bitter schmeckte und deswegen auch gesund war, weil man von ihm einfach nicht zu viel trinken konnte.

Nach dem Abendessen verließen wir den Wagen und stapften zum Ufer des Sees, überquerten Kies und vermoderte Bäume und versuchten irgend etwas jenseits des Sees zu erkennen. Doch es war nichts zu sehen, als schwarzes Wasser mit den unzähligen Kringeln, die der Regen auf der Wasseroberfläche erzeugte. Ohne dass es uns bewusst war, begrüßten wir an diesem Abend zum ersten Mal einen Gefährten, der uns auf dieser Reise noch oft begegnen würde: den alaskanischen Regen. Es gibt viele Arten des Regens in der Welt, und einige von ihnen sind geradezu eine Labsal: der Monsunregen, der im Juni über den indischen Süden fällt und das Land kühlt, der Regen des mexikanischen Hochlandes, der die Natur zum Leuchten bringt oder der kurze zarte Regen unserer heimatlichen Breitengrade, der einem feuchten Streicheln gleicht. Aber der alaskanische Regen war anders. Er war diesig, kalt und penetrant, man konnte ihn nicht ignorieren sondern nur erleiden wie ein Gebrechen, das man in Kauf nehmen musste wenn man Alaska bereisen wollte. Der Regen, der heute fiel war so bitterkalt, dass ich mich wunderte, dass er nicht als Schnee vom Himmel kam. Er war ein Quälgeist, ein Farbenschlucker, - und er war ein Regisseur, der die Landschaft ins Unheimliche veränderte. Wie ein nasser Schleier legte er sich über die Umgebung des Sees, raubte den Bäumen ihre Kontur und verwandelte sie in vermummte Riesensoldaten am Rande des schwarzen Wassers. Ich erinnerte mich plötzlich daran, wie ich im Vorfeld der Reise einen Artikel über Robert Christian Hansen gelesen hatte, einen Serienmörder aus Anchorage,der eine bis heute unbekannte Anzahl von Frauen in den Wäldern Südalaskas ermordet hatte. Diese Mordserie hatte hier am Eklutna-See begonnen. Straßenarbeiter hatten im Sommer 1980 in der Nähe des Sees die sterblichen Überreste einer jungen Frau gefunden - geschändet, erstochen und das Gesicht von einem Bärenbiss entstellt. Als „Eklutna-Annie“ war sie in die Kriminalgeschichte Alaskas eingegangen und bis heute ist ungeklärt, um welche Frau es sich gehandelt hatte.