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Ludwig Witzani ist von den Quellen des Ganges im Norden bis Kap Komorin im Süden, von Gujarat im Westen bis zu den Sunderbans im Osten mit Bussen und Bahnen durch ganz Indien gereist. Er hat an der Südspitze des indischen Subkontinentes auf den Monsun gewartet, hat sich mit den Pilgern durch den Käfiggang von Ayodhya hindurchgedrängt und ist mit dem Linienbus zwischen den Stellungen der indischen und pakistanischen Armee in Kaschmir hindurchgefahren. In dreißig Reiseerzählungen führt er den Leser durch alle Himmelsrichtungen der indischen Welt, um schließlich seine Reise als Teilnehmer der Kumbh Mela von Allahabad abzuschließen. Ein Kompendium der indischen Wirklichkeit aus der Perspektive eines Backpackers mit einer Schwäche für Tempel und Geschichte….
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Seitenzahl: 544
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Titel
Copyright
I BHARAT DARSHAN
II Statt einer Einleitung - Heiligabend in Delhi
III ERSTER TEIL - DIE GANGESEBENE
IV Hunderte warten im Hotel auf ihre Todesstunde
V Nur eine Haltestelle auf dem Weg nach Indien
VI Im Drahtkäfig
VII Die Stadt auf den Ruinen der Städte
VIII Krishna wird die Yamuna retten
IX Irgendwann kommt jeder einmal nach Agra
X ZWEITER TEIL - DER OSTEN
XI Ein Kaleidoskop des Elends in der Stunde der Glut
XII Städte sterben nicht an einem Tag
XIII Niemand begleitet die Honigsammler
XIV Immergrün und immerarm
XV DRITTER TEIL - DIE MITTE
XVI Das beunruhigende Kopulieren der Götter
XVII Frühling ist in Indien nur eine Tageszeit
XVIII Die steinernen Bilderbücher Indiens
XIX VIERTER TEIL - DER SÜDEN
XX Der Buddha, der ins Wasser fiel
XXI Ohne Bargeld läuft nichts in der heiligen Stadt
XXII Auf heißen Sohlen durch den Vormonsun
XXIII Die Augen sind klein und von blödem Ausdruck
XXIV Die Topiwallahs aus dem Charterjet
XXV Schmelztiegel am Scheideweg
XXVI FÜNFTER TEIL - DER WESTEN
XXVII Die Löwen von Sasan Gir
XXVIII Warum sitzen Baba und Bubu immer nur in der Sonne?
XXIX Uhrenvergleich am heiligen See
XXX Das Bikanerikamel findet seinen Weg
XXXI Nichts wird vergessen in Amritsar
XXXII SECHSTER TEIL - DER NORDEN
XXXIII Im Land der wiedergeborenen Götter
XXXIV Shangri La hinter den Bergen
XXXV Kein Frieden im Garten des Jehangir
XXXVI Wo die Beatles nach Erleuchtung suchten
XXXVII Der Strom als Metapher des menschlichen Lebens
XXXVIII ZEITFENSTER IN DIE EWIGKEIT
XXXIX GLOSSAR
XL LITERATUREMPFEHLUNGEN
XLI Nachweis der verwendeten Fotografien und Zitate
INDISCHE REISEN
Als Backpacker unterwegs zwischen
den Quellen des Ganges und Kap Komorin
mit einem Finale auf der Kumbh Mela von Allahabad
Ludwig Witzani
Copyright © 2014 Ludwig Witzani
All rights reserved.
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-0924-4
Lektorat: Regine Goede
www.ludwig-witzani.de
I BHARAT DARSHAN
Kleine Gebrauchsanweisung für dieses Buch
Ohrenbetäubender Lärm. Millionen unterwegs zum heiligen Fluss. Grellgelbe Gewänder fallen, nackt steigen die Sadhus in das heilige Wasser. Leichen verkohlen auf den Scheiterhaufen, brennende Körperteile bäumen sich auf, wenn die Seele entweicht.
Erschütterung in der Konfrontation mit dem vollkommen Fremden.
Alle Zugtickets sind ausverkauft, und der Busverkehr liegt brach. Ich hänge fest und komme nicht weg. Um mich herum Menschenozeane in einer der größten Städte Asiens, und die Temperaturen liegen über 45 Grad. Panik und Platzangst. Was will ich eigentlich hier?
Der Mond scheint durch die Palmendächer, die sich im sachten Nachtwind wiegen. Schwarz kräuselt sich die Brandung am Ufer wie eine unruhige Schlange. Ein leises Rauschen ist zu hören, sonst ist es still. Ich lege meine Füße auf die Brüstung und blicke in die Dunkelheit. Allein mit einer Minute des Glücks.
Erschütterung, Panik, Platzangst und Glück – das sind nur einige der Gefühle, die Indien unweigerlich erzeugt, wenn man das Land alleine und auf sich selbst gestellt bereist. Die Empfindungen, die den Reisenden dabei bedrängen, sind umfassender, direkter, erfüllender als in fast allen anderen Regionen der Erde. Indien verwandelt jeden, der sich ihm wirklich zu nähern versucht, in einen Resonanzraum, in dem sich Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit auf eine neuartige Weise verbinden – peinigend, verändernd, furchterregend und beglückend zugleich. Indien ist kein Reiseland. Indien ist eine Passion.
Ich bin dieser Passion mein Leben lang gefolgt, sooft und wann immer ich konnte. Von den Quellen des Ganges im Norden bis Kap Komorin im Süden, von Gujarat im Westen bis zu den Sunderbans im Osten bin ich an der Seite der Einheimischen mit Bussen und Bahnen durch Indien gereist. Oft war ich glücklich, oft war ich einsam, aber niemals war ich alleine. In den unzähligen Hostels, die den Subkontinent überziehen, fanden sich immer andere Individualreisende, mit denen man sich austauschen oder sogar eine Zeit lang gemeinsam reisen konnte. Oft traf ich auch auf schräge Vögel, doch viele der Backpacker, denen ich in Bussen und Bahnen begegnete, waren imponierende Reisegestalten, die Lord Byrons Diktum zu folgen schienen, nach dem das Reisen eine intensivere Form des Lebens ist. In noch viel stärkerem Maße gilt das für die unübersehbare Zahl von Gujaratis, Bengalis, Tamilen, Punjabis, Kaschmiris und allen anderen, mit denen ich einen Teil meiner Reisezeit verbrachte und denen ich den größten Teil dessen verdanke, was ich über dieses Land weiß.
Ihnen widme ich dieses Buch – und natürlich allen Indiennovizen, die mehr über dieses Land erfahren möchten.
Die Darstellung dieses Reisebuches verfährt nicht chronologisch, auch wenn das erste Kapitel, Heiligabend in Delhi, noch aus dem letzten Jahrhundert stammt und das letzte Kapitel über die Kumbh Mela aktuell ist. Es kam mir vielmehr darauf an, dem Leser, der den Kapiteln dieses Buches folgt, auf eine gesamtindische Reise mitzunehmen, auf der er on a shoestring alle wesentlichen Regionen des Landes nacheinander kennenlernen kann - wenngleich die einzelnen Kapitel auch für sich gelesen werden können. In vielen Orten, die in diesem Buch beschrieben werden, war ich mehrfach unterwegs, manche Routen habe ich auch andersherum bereist, manchmal wurden die Erfahrungen der ersten Reise durch die Erlebnisse einer zweiten Reise verdichtet. Nur ganz selten habe ich, wenn es zu persönlich wurde, die Namen von Personen oder Guesthäusern verändert. Einer persönlichen Schwäche für die Geschichte folgend habe ich, wo immer ich konnte, die Tempel und Monumente besucht und mich redlich bemüht, das, was ich sah, auch zu verstehen.
Dass alle meine Betrachtungen und Wertungen subjektiv gefärbt sind, versteht sich von selbst – andernfalls wäre das Buch eine reine Landeskunde. Zur Vollständigkeit dieser Einleitung gehört auch der Hinweis, dass ein Teil der Texte in gekürzten Formaten bereits als Reiseberichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT, der Süddeutschen Zeitung oder anderen Periodika erschienen sind.
Ein Glossar am Ende des Buches mag das Verständnis mancher Details erleichtern. Dort finden sich auch einige Hinweise für diejenigen, die sich Indien nicht nur auf den Pritschen einer Eisenbahn, sondern auch im Lesesessel nähern wollen.
Nichts, was jemals über Indien gesagt oder geschrieben wird, kann ganz vollständig oder ganz richtig sein. So verhält es sich selbstverständlich auch mit diesem Buch, denn auch jenseits der hier beschriebenen indischen Reisen gibt es noch jede Menge zu entdecken.
Bharat Darshan, die Begegnung mit Indien, ist niemals zu Ende.
Aber irgendwann fängt sie an, und bei mir war das an einem Heiligabend in Indien...
II Statt einer Einleitung - Heiligabend in Delhi
oder: Der erste Tag in Indien
Liebeskummer kommt immer zur falschen Zeit, aber wenn er dich in der Weihnachtszeit ergreift, bist du hinüber. So erging es mir, Gott seis geklagt, in jenem Dezember. Eine Woge der Behaglichkeit ergoss sich über die westliche Zivilisation, und ich war allein. So erwarb ich kurzerhand ein Ticket in die exotischste Region, die ich mir damals überhaupt vorstellen konnte, packte meinen Rucksack und flog nach Delhi. Indien sollte mich heilen, dachte ich damals zum ersten Mal, ohne zu wissen, wie oft ich diese Medizin noch würde nehmen müssen.
Dass sich schon am Flughafen von Delhi zerlumpte Elendsgestalten um die Shuttle-Busse versammelten und den Passanten ihre Prothesen oder Armstümpfe wie Monstranzen entgegenhielten, hätte mir eine Warnung sein müssen. Mit dieser Stadt war etwas anders als mit allen anderen Städten, die ich bislang gesehen hatte - das merkte ich schon während der Busfahrt in die Stadt, als ich unfreiwillig zum Augenzeugen dafür wurde, wie eine indische Megalopolis erwacht.
Zuerst sah ich nur Feuerstellen an den Straßenrändern und zusammengekrümmte Gestalten im Halbschatten, die auf der nackten Erde schliefen. Dann kroch das erste fahle Morgenlicht durch die Straßenschluchten. Abertausende von Obdachlosen auf den Bürgersteinen und in den Hauseingängen erwachten, begannen sich zu rekeln, zu rauchen, zu schwatzen und schließlich wie auf ein geheimes Kommando tausendfach gegen die Häuserwände zu pinkeln. Mit dem zunehmenden Tageslicht schien sich die Bevölkerung der Stadt dann unvermittelt zu potenzieren: Männer, Frauen, Kinder, Kühe und Affen quollen in frappierender Plötzlichkeit wie aus unterirdischen Höhlen auf die öffentlichen Plätze, Rikschafahrer rasten durch die Menge, Lastwagen hupten, Busbremsen quietschten; der indische Tag war erwacht, und ein würziges Aroma von Smog und Unrat legte sich wie eine Glocke über die Stadt.
"Ringos Guesthouse", die Unterkunft, in der ich einchecken wollte, hatte noch geschlossen, und so ging ich ein wenig durch die Straßen, um zu sehen, was sich weiter ereignen würde. Der Muezzin und der Tempelbrahmane schlurften heran und öffneten Moschee und Tempel. Die Milch für den Tschai wurde auf Eselkarren herangekarrt, und ohne irgendwelche Hintergedanken probierte ich eine Tasse dieses süßen und heißen Getränkes, nach dem ich später geradezu süchtig werden sollte.
Endlich öffnete das Guesthouse, ein verschlafener junger Inder, der einen dicken Schal um den Kopf gebunden trug, als litte er unter Zahnschmerzen, zeigte mir den Weg in den ersten Stock. Generatoren rappelten, weil der Strom ausgefallen war, und alle Duschen waren eingefroren. Es hatte mich in eine Mischung aus Kaserne und Obdachlosenasyl verschlagen, und der Anblick meines Zimmers gab mir den Rest. Ein Hocker, ein Rost, eine dünne Matratze, aber weder eine Decke noch ein Fenster - das war alles.
Als ich den Innenhof von Ringos Guesthouse betrat, saßen schon die ersten Mitglieder der internationalen Backpackergemeinde halb bekifft um einen kümmerlichen Tisch im Hof und diskutierten über die optimalen Bezugsquellen für Hasch und Marihuana. Kellner und Köche servierten kalte Nudelgerichte, eine junge Engländerin, der Indien ganz offensichtlich über das Maß ihrer Kräfte hinaus zugesetzt hatte, saß bewegungslos auf einem Stuhl, während ein badischer Elektriker, der in Stuttgart alles geschmissen hatte, offensichtlich auf Turkey war. Zappelnd wie ein Zitteraal wackelte er auf seinem Stuhl herum und quittierte jeden an ihn gerichteten Satz mit den Worten "Not for me, man, not for me".
Das war der Augenblick, in dem ich mir an meinem ersten Indientag die Frage stellte: War das wirklich eine so gute Idee gewesen, vor meinem Kummer an Heiligabend nach Delhi zu fliehen? Mir stand doch der Sinn nach malerischen Wüstenstädten, wunderbaren Stränden und weltabgelegenen Klöstern, kurz: nach jener Schönheit und Verzauberung, die meine Seele heilen sollte. Was sollte ich in diesem Moloch, der schon nach wenigen Stunden an meinen Nerven zehrte? Warum bin ich nicht gleich nach Goa gefahren, wo es doch alles so herrlich entspannt abgehen soll? Warum saß ich jetzt nicht am Ufer des Indischen Ozeans bei Shrimps und Bier und ließ es mir gut gehen?
Ich erkannte, dass ich mich überschätzt hatte und beschloss, weder in diesem Guesthouse noch in dieser Stadt zu übernachten, sondern, wenn möglich, noch am gleichen Abend in den wärmeren Süden aufzubrechen. Da ich aber nun schon mal in Delhi war, wollte ich mir aber doch mit Hilfe einer Rikscha mal schnell die Stadt ansehen.
Inzwischen weiß ich natürlich, dass es drei Arten von Rikschafahrern in Indien gibt. Die erste und zahlreichste Gruppe ist von der abgezockten Truppe - ein Rikschafahrer dieser Sorte versteht kein Wort, fährt einen aber als Strafe dafür, dass man ihn geweckt hat, bis zur übernächsten Ecke um dann einen unverschämt hohen Rupienbetrag zu fordern. Die Rikschafahrer aus der zweiten Gruppe verstehen zwar auch nichts, besitzen aber Anstand und Berufsehre und fahren einen immerhin so lange um den Block, bis der vereinbarte Fahrpreis ungefähr abgefahren ist. Der dritten Gruppe - Rikschafahrern, die das Ziel verstehen, den Weg kennen und nachher nicht das Doppelte fordern - bin ich nur sehr selten begegnet, und wenn, dann waren es echte Leistungsträger, die nicht nur eine Fuhre, sondern auch noch eine Vollrasur im Angebot hatten. Mein Rikschafahrer gehörte zur zweiten Gruppe, er hatte nur genickt, kein Wort verstanden und war voll guten Willens mit mir einfach über eine Brücke gefahren, und weil das so viele taten, saßen wir plötzlich fest. Es wurde gedrängt, geschoben und geschimpft, doch es ging nur noch halbmeterweise weiter, bis ich meinen Rikschafahrer entnervt bezahlte, zu Fuß wieder zurückging und dabei die gleichen Leute noch einmal von der anderen Seite begrüßen durfte.
Aber aufgeben wollte ich noch lange nicht. Immerhin hatte ich ein Jahr vor dieser Reise mit einem Dreizylinder die Sahara durchquert, da musste es doch möglich sein, wenigstens zu Fuß die Altstadt von Delhi zu erkunden. Es stellte sich aber heraus, dass es in der Altstadt von Delhi erheblich turbulenter zugeht als in der Sahara. Ehe ich mich versah, war ich zum Teil einer gewaltigen Woge aus drängenden, stoßenden, schwitzenden Leibern geworden, die mich durch die Straßen trieb, ich war zu einem humanen Partikel regrediert, zum hilflosen Element eines menschlichen Strudels, der mich mit unüberwindbarer Kraft in Richtung auf ein Zentrum schob, von dem ich ahnte, dass es der Platz sein musste, an dem sich alle diese Menschenströme treffen würden. Dieses Zentrum war das Basarviertel Chandni Chowk, und was ich hier sah, gab mir den Rest. Wie ein Menetekel des indischen Lebens wirkte der große Geflügelmarkt, auf dem sich tagtäglich das größte öffentliche Massaker an Lebendigem ereignet, das es auf der Welt zu sehen gibt. Lachend fingerten die Geflügelhändler im Zehnsekundenrhythmus in den überfüllten Käfigen nach einem Huhn, um ihm ritsch-ratsch den Kopf abzuschneiden und den noch flatternden Lebensrest an die Schwestern zum Rupfen und Kochen weiterzugeben. Wahrlich kein gutes Land für Hühner, die noch lebend aber ohne Kopf vor meinen Augen verendeten. Heute weiß ich, dass hinter der nächsten Ecke die Jainas, die Angehörigen einer extrem pazifistischen indischen Religion, darauf warten, alle bedrohten Tiere und somit auch die wenigen Hühner, die dem Gemetzel entkommen, aufzunehmen und in ihrem großzügigen Tierhospital wieder gesund zu pflegen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Während das Blut der Hühner in hohem Bogen über die Straße spritzte, erhob sich über dieser Hölle der Menschen und der Tiere wie für die Ewigkeit geschaffen im Morgennebel des 24. Dezember die großartige Freitagsmoschee von Delhi, ein Gebäude wie aus den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht entsprungen. Als wäre ich unvermittelt von einem Horrorfilm in eine Kulturdoku gewechselt, durchschritt ich das gewaltige Eingangstor und erblickte die herrliche Kuppel des Hauptgebäudes, das von schlanken Minaretten an den Seiten flankiert war. Dass ich in diesem Augenblick tatsächlich glaubte, mich einfach in eine Ecke setzen und die Erhabenheit des Ortes auf mich wirken lassen zu können, zeigte nur, was für ein Greenhorn ich noch war. Denn kaum hatte ich mich in eine ruhige Ecke gesetzt, um mich ein wenig zu sammeln, überfiel mich schon die erste Schleppergruppe, die sich mit ihren Halunkengesichtern und mit wichtigtuerischem Gehabe als Mitglieder der Fremdenführergilde vorstellte, deren vornehmste Aufgabe offenbar darin bestand, an diesem heiligen Ort jeden Touristen erst einmal kräftig abzukassieren. Von der großen Freitagsmoschee, das stellte sich schnell heraus, hatten sie keine Ahnung. Sie wussten nur, dass man hier zu allen Tageszeiten allein reisende Touristen so lange nerven kann, bis sie kapitulierten und einige Rupienscheine herausrückten. Verstört und verbittert wie ich war, wollte ich aber keinen Rupienschein herausrücken, so dass ich schließlich mit einer ganzen Horde nörgelnder und schimpfender Schlepper durch die Moschee lief und meinen Verfolgern erst entkam, als ich die Moschee verließ und in einen Hindutempel eindrang.
Hier war es aber auch nicht besser. Der Tempelpriester, der Brahmane, blickte mich strafend an und wollte erst einmal eine Spende sehen, und erst als ich ein paar Rupien abdrückte, durfte ich mich auf eine Stufe setzen und die indische Götterwelt auf mich wirken lassen. Der indische Gott, das ergab schon der erste Augenschein, war eine spektakuläre und farbenfrohe Erscheinung von ungeheurer Betriebsamkeit. Er hat eigentlich immer etwas zu tun, mal rettet er die Welt wie Vishnu, oder er tanzt wie Shiva, lacht wie Ganesha oder fletscht die Zähne wie die schreckliche Durga. In ihren irdischen Erscheinungen verfügten sie über tadellose Körper, was mir vor allem an den indischen Göttinnen auffiel, die sich in keinem Freibad zu verstecken brauchten. Auch die Zahl ihrer Arme und Köpfe war beachtlich, manche besaßen Flügel, andere benutzten Tiere als Fluguntersätze, manche schwangen Schwerter und Speere, wieder andere verhedderten sich mit ihren Gliedern derart in ihren Begleiterinnen, dass man nicht recht, wusste, wo der Gott aufhörte und die Göttin anfing.
Natürlich sehen die Hindus gerade in dieser Vielfalt ihrer Götter einen der größten Vorzüge ihrer Religion. Die unübersehbare Schar der Göttergestalten, so habe ich es später oft von gebildeten Indern gehört, sei nichts weiter als ein Zugeständnis an die begrenzte Aufnahmefähigkeit des Menschen. In Wahrheit stehe hinter all diesen Erscheinungen immer nur der gleiche Gott. In diesem Sinne verkörpern Vishnu und Shiva die höchsten Prinzipien des Hinduismus, wobei Vishnu der Erhalter als die makellosere Göttergestalt erscheint, als eine Figur, die die Welt in seinen bisherigen neun Inkarnationen immer neu gerettet hat und sie in der abschließenden zehnten für alle Zeiten erlösen wird - während Shiva als wilder Tänzer und Zerstörer schon zahlreiche Missetaten auf dem Kerbholz hat und immer wieder neu entsühnt werden muss.
All das wusste ich damals natürlich noch nicht, mein protestantisches Gemüt war stark befremdet, meine Nase tropfte, und mein Magen knurrte, als ich den Tempel verließ und durch die Straßen irrte. Ratten huschten durch die Hauseingänge, ein Kamel zog mit einem großen Karren voller Ziegel an mir vorüber, und auf den Fenstersimsen saßen zwei Affen und blickten versonnen auf das Menschengewühl. Rinder trotteten durch die Gassen, Krähen schrien, Hunde bellten, und langsam dämmerte mir, dass die indische Stadt eine Art Säugetierzentrum ist, in der sich ein großer Teil der Tierwelt in der unmittelbaren Nähe des Menschen niedergelassen hat. An der Spitze dieser Säugetier-Verwandtschaft befindet sich in Indien natürlich seit urarischen Zeiten die heilige Kuh, die mit ihren fünf heiligen Produkten - Butter, Milch, Joghurt, Dung und Urin - die indische Großstadt mit der Aura des dörflichen Lebens anreichert. Wohin ich auch kam, überall waren sie schon da: Kühe standen in den Toreinfahrten und blickt mich nachsichtig an, Kühe lagen mitten auf der Straße und verließen sich darauf, dass die Motorrikschas schon um sie herumkurven würden, sie knabberten an dem Gemüse, das der Garküchenkoch für seine Gäste bereithielt und durchforschten die Abfallhaufen an den Straßenrändern. Erst auf einer sehr viel späteren Indienreise sollte ich erkennen, worin das sechste Geschenk der heiligen Kuh an die indische Moderne bestand. Wo wir in unseren Breitengraden mühsam Bodenwellen als Verkehrsberuhigung errichten müssen, die nebenbei bemerkt, keinerlei Milch oder Joghurt spenden, wirkte die indische Kuh inmitten des tosenden Verkehrs wie ein segensreiches Element der Verkehrsberuhigung.
Inzwischen war ich in der Nähe der Yamuna angekommen und erblickte zum ersten Mal in meinem Leben jene merkwürdigen Gestalten, die wie bei einem hemmungslosen Aggressionsabfuhrtraining nasse Textilien mit maximaler Wucht auf runde Steine knallten. Ohne es geplant zu haben, war ich zum ersten Mal den Dhobiwallahs begegnet, die in ihrer unnachahmlichen Technik den Dreck aus den Sachen prügeln und dafür sorgen, dass das durchschnittliche, mehrfach gewaschene indische Hemd nur über sehr wenig Knöpfe verfügt und nur ganz selten wirklich staubfrei trocken werden kann.
In Indien aber gab es an diesem Tag für mich nicht nur viel zu staunen, ich wurde auch selbst ausgiebig bestaunt. Einen allein reisenden Tourie sieht der Normalinder nicht alle Tage, so dass sich, wohin ich mich auch bewegte, sofort eine Gruppe freundlich interessierter Einheimischer um mich bildete. Sie rissen die Augen auf, zeigten mit den Fingern auf mich, steckten die Köpfe zusammen, um kichernd irgendwelche wunderlichen Details an meiner Erscheinung zu diskutieren. Einige sprachen mich auch an, wollten meinen Rucksack anfassen, meine Kamera bedienen oder einige Worte in mein Skizzenbuch schreiben. Wenn ich meinerseits mit den Fingern auf sie zeigte oder gar meine Linse auf sie richtete, machte das gar nichts. Der Inder ist ein epiphanisches Wesen, so anschauungsgesättigt wie seine Götter tritt auch er in Erscheinung, und ich gewann den Eindruck, als gäbe es für einen wildfremden Inder kaum eine angenehmere Schmeichelei als ihn möglichst oft zu fotografieren.
Ich blickte auf die Uhr, es war Nachmittag geworden, und mein Hunger nahm zu. Aber was sollte ich essen? Die Bürgersteige im Umkreis des Chandni Chowk waren voller Garküchen, überall wurde in großen Pfannen gebrutzelt, doch die Köche hinter ihren großen Pfannen flößten mir kein Vertrauen ein. Mit ihren Fingern griffen sie beherzt ins Gemüse, manschten diese Soße in jenen Brei, schüttelten und rüttelten den Glibber bis zur Konsistenz, um die Paste dann auf hauchdünne Brotscheiben zu schmieren. Theoretisch war mir bekannt und heute weiß ich es ganz sicher, dass die indische Küche zu den leckersten und auch den gesündesten der Welt gehört, damals aber schockten mich die fremdartigen Gerüche und Speisen derart, dass ich mich nicht entschließen konnte, ein Gericht an einer Garküche zu ordern. Eine lecker aussehende Tomatensuppe roch wie eine Teufelsbrühe, und was in die Brotgerichte eingewickelt wurde, kam mir verdächtig vor. Thali, ein Reisgericht mit sehr vielen scharf gewürzten Gemüsesorten auf einem Feigenblatt serviert, kannte ich damals ebenso wenig wie Masala Dosa, das wunderbar schmackhafte Gemüsepotpourri, das auf papierdünnen Brotscheiben gereicht wird. Als Sprössling des Spaghettizeitalters überlegte ich, eines der undefinierbaren Nudelgerichte mit Gemüse und Fleischeinlage zu essen, doch der Koch, der über seiner Pfanne wie der Leibhaftige wütete, schreckte mich ab. Am Ende erwarb ich einige Chapatis - kross gebratenes, meist sehr dünnes, salziges Brot - knabberte vorsichtig an den Scheiben herum, um sie alsdann mit einem heißen Tschai herunter zu spülen. Der zweite Tschai dieses Tages schmeckte mir noch besser als der erste, er wärmte mich nicht nur, er weckte meine Lebensgeister, so dass ich in einem Anfall von Tollkühnheit beschloss, Delhi auf der Stelle zu verlassen. Ich lief zurück zu Ringos Guesthouse, grapschte mein Gepäck aus meinem Kerker, fand eine Rikscha und fuhr schnurstracks zum Bahnhof.
Die erste Begegnung mit einem indischen Bahnhof werde ich niemals vergessen. So viele Menschen auf einmal hatte ich noch nie an einem Ort gesehen, und alle Menschen, die durch die Hallen liefen, hatten es unglaublich eilig. Hatte ich denn nicht bei Hermann Hesse von der unerschütterlichen Ruhe des indischen Gemüts gelesen, und sollte das denn alles nur gelogen gewesen sein? Von endlosen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern hatte ich auch nichts bei Hesse gelesen und auch nichts davon, dass jedermann sich von links und rechts so lange in die wartende Reihe nach vorne drängte, bis man selbst die Geduld verlor und das Gleiche tat. Als ich es endlich geschafft hatte, zum Fahrkartenschalter vorzudringen, verlangte ich ein Ticket nach Agra, Khajuraho, Varanasi, wohin auch immer, es war mir egal, wenn ich nur endlich aus dieser kalten Dreizehn-Millionenstadt herauskäme. Der Beamte hinter dem Tresen nahm meinen Wunsch als das Selbstverständlichste von der Welt zur Kenntnis, schüttelte aber den Kopf und teilte mir mit, dass heute Weihnachten sei, und auch wenn 98 % der Inder mit dem Christentum nichts am Hut hätten, sei Weihnachten in Indien selbstverständlich frei, so dass alle Zugtickets schon seit Tagen ausverkauft seien. Wenn Sie aus Delhi wegwollen, mein Herr, müssen Sie sich schon mit einem Bus begnügen.
So lernte ich eine gute dreiviertel Stunde später auch noch meinen ersten indischen Busbahnhof kennen, den Kaschmir Interstate Bus Terminal, an dem ich später noch so oft ankommen sollte, dass mich am Ende sogar die Bettler grüßten. Als ich ihn jedoch zum ersten Mal betrat, erschien er mir wie ein Notstandsgebiet des massenhaften Personentransportes, eine Welt fremder als der Mars, wo auf Dutzenden unüberschaubarer Rampen ebenso unübersehbare Gepäckberge lagerten, neben denen oder auf denen Menschen schliefen, während rappelvolle Busse einfuhren, in die zu meiner Überraschung ganze Menschenschwärme hineinströmten, als verfüge jeder dieser Busse in seinem Innern über die rätselhafte Fähigkeit, die Konsistenz der Passagiere so zu verändern, dass immer noch ein weiterer Passagier in diese rollenden Sardinenbüchsen hineingepresst werden konnte.
Und da war er endlich, nach einigem Suchen unzweifelhaft identifiziert: mein erster indischer Langstreckenbus, ein rustikaler Schlitten, der hier auf dem Bahnhof sogar als Super Deluxe Coach rangierte und - was noch wichtiger war - der noch in der gleichen Nacht nach Süden fahren sollte. Natürlich waren schon alle Plätze besetzt, aber das war mir nun auch egal, ich machte rücksichtslos von meinen Dollarvorräten Gebrauch, kaufte dem Schaffner seinen Zusatzplatz in der Fahrerkabine ab, bestieg das Gefährt als Letzter, fand meinen Sitz neben den drei plärrenden Söhnen des Busfahrers und verließ die Stadt zur Zeit des Sonnenunterganges in Richtung Süden. Als es gänzlich dunkel geworden war und unser Bus wie ein stählernes Geschoss über die indischen Straßen raste, fiel mein Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon nach zwanzig Uhr. Siebentausend Kilometer weiter westlich schmorten nun die Weihnachtsenten in den Öfen, und die Zeit der Bescherung brach an.
III ERSTER TEIL - DIE GANGESEBENE
IV Hunderte warten im Hotel auf ihre Todesstunde
Leben und Sterben in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges
Es gibt Hotels für Einzelreisende und Frischverliebte, es gibt Stundenhotels, Sporthotels, Spukhotels, sogar ein Hotel für Hunde gibt es - ein Hotel für Sterbende gibt es nur in Indien. Erst wollte ich es nicht glauben, bis ich es mit meinen eigenen Augen sah: In großen Schlafsälen lagen Hunderte Menschen auf ihren Pritschen und warteten auf den Tod. Sie müssen sich beeilen, denn wer länger als zwei Wochen in diesem uralten Gemäuer am Ganges logiert, ohne gestorben zu sein, muss wieder ausziehen. Doch das widerfährt nur den Wenigsten. Die meisten liegen mit dem Timing ihres Todes ganz richtig, sie wachen innerhalb ihres makabren Zeitfensters eines Morgens einfach nicht mehr auf, und ihr Leben hat sich an den Ufern des Ganges erfüllt.
Die Stadt Varanasi, deren Name sich von den beiden Flüssen Varana und Asi herleitet und den die Briten zu Benares verballhornten, ist Indiens heiligste Stadt. Schon seitdem die indoarischen Einwanderer im ersten Jahrtausend vor der Zeitrechnung die Gangesebene besetzt hatten, wurde die Stadt in den altindischen Texten als ein besonderer Ort der Gnade und Vergebung hervorgehoben. Hier schrieb der große Guru Shankara zu Beginn des neunten Jahrhunderts seine Kommentare zu den Upanischaden und der Bhagavad-Gita, und im Zeichen Shivas begann von der Universität von Varanasi aus die Zurückdrängung des bis dahin in Indien dominierenden Buddhismus. Fast achthundert Jahre später, in der Epoche der mohammedanischen Mogulkaiser, wurde Varanasi mit Krieg überzogen, die Tempel der Stadt wurden zerstört, und zeitweise wehte über dem Ganges die strenge Fahne des Propheten. Umso stärker wurde Varanasi noch unter der britischen Kolonialherrschaft zum Zentrum einer tief empfundenen Volksfrömmigkeit und in der Vorstellung der Hindus aller Schulen zu einer der großen Pforten der Erlösung. So wie jeder Moslem mindestens einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern sollte, so kann kein Hindu auf ein gutes Karma hoffen, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben in Varanasi war.
Ich war am Ende einer zweitägigen Bahnreise von Delhi aus in Varanasi eingetroffen. Es war Winter, und von Norden wehte ein schneidender Wind über die Gangesebene. Frierend hatte ich mich durch die Nacht gezittert, mit klammen Fingern hatte ich im Hof des Guesthauses meinen ersten Tschai getrunken, ehe mich ich zu den Ghat von Varanasi aufmachte. Wie schon seit Jahrtausenden versammelten sich auch an diesem Morgen die Menschen auf den Treppen, legten ihre Saris oder ihre Lumpen ab und stiegen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in den Fluss. Hagere, groß gewachsene Asketen mit langen, weißen Bärten, kahl geschorene, pechschwarze südindische Pilger und verwachsene Gnome, deren Knochen wie angeklebt aus ihrem Körper ragten, hoben die Hände zum Himmel, beteten und tranken das Wasser des heiligen Stroms. Jeder der Badenden, den ich von einem kleinen Boot aus beobachtete, vollzog sein Bad als einen Ritus, in dem sich Kollektives und Individuelles vermischten: Der sehnige junge Mann, der das Wasser des Ganges in ein Gefäß füllte um nachher mit seinem Guru zu beten, der rundliche Gemüsehändler, der sich nach der Waschung sorgfältig mit seinem Plastikkamm die Haare scheitelte, die Wohlhabenderen, die sich nach dem Bad die Körper massieren ließen - sie alle suchten im Wasser des Ganges die Last ihrer Sünden zu mindern.
Die Last meiner Sünden musste beträchtlich sein, denn so ausdauernd ich mich auch auf die Treppenstufen setzte - es wollte einfach nicht warm werden an diesem Wintermorgen. Ein dichter, kalter Nebel hielt die Kälte wie eine Glocke über dem Fluss, und die aufgehende Sonne war nur als eine milchige Kugel im Osten zu sehen. Nur manchmal wehte ein Windstoß die Nebelschwaden davon, und der Ausblick öffnete sich auf eine unwirkliche Flussfassade: verschachtelte hohe Gemäuer aus braunem Gestein, gekrönt durch die konisch geformten Hindutempeltürme, dazu Zinnen, Balkone, Fenster, Treppen, Fahnenstangen.
Im Laufe des Vormittags leerten sich die Ghats, und die meisten Pilger kehrten in die engen Gassen der Stadt zurück, aus der sie am Morgen gekommen waren. Nur die Yogis am Dasavamedah Ghat blieben sitzen. Sie trugen gleißend gelbe und rote Gewänder. Ihre Haare fielen ihnen wie Umhänge über die Schultern, ihre Gesichter waren alterslos, die Gesichtshaut gefurcht und mit roter Paste bemalt, die nackten Arme, mit denen sie ihre Stecken oder Dreizacks hielten, waren dürr wie abgenagte Hühnerknochen. Nicht alle meditierten, manche Yogis, die Gott Shiva in seiner Inkarnation als großer Ganjaraucher folgten, zogen sich einen Joint rein, wieder andere saßen erstaunlich entspannt am heiligen Fluss - die Beine ausgestreckt, den Körper mit dem angewinkelten Ellbogen an einer Stufe abgestützt, betrachteten sie die den Unrat, den der Ganges mit sich führte. Die Verschmutzung des Flusses machte den meisten keine Sorge, denn der heilige Strom wird schon die Kraft besitzen, sich selbst zu reinigen.
Asiatische Städte sind immer übervölkert, indische noch mehr, aber was ich auf meinem Rundgang durch die Gassen Varanasis erlebte, war eine Nummer für sich. Viele Gassen waren so eng, dass eine einzige der freilaufenden Kühe genügte, um sie völlig zu verstopfen. Aus jeder Straße, aus jedem Häusereingang, jeder Gassenbiegung ergoss sich ein immerwährender Passantenstrom, voller quirliger Aktivität, beweglich und fließend in alle Richtungen, blockiert und geschoben durch Rikscha- und Fahrradfahrer, Kühe, Prozessionen, Busse, Karren und Lastträger. Da war es wieder, das Dehli-Feeling, von dem ich nun lernte, dass es ein gesamtindisches Feeling war: Es handelte sich um eine Art Platzangst, die sich immer dann einstellte, wenn man sich gegen das Gefühl wehren musste, alle Bewohner der Stadt befänden sich auf der gleichen Straße wie man selbst. Zugleich gab es auf diesem agoraphobischen Bühnenbild etwas zu sehen. Hier neigte sich das zehnjährige Schweigegelübde eines Gurus seinem Ende entgegen, nur noch wenige Wochen waren zu ertragen, und man konnte sich daran erfreuen, dass der heilige Mann, von seinen Jüngern umgeben, schon wieder eine Zeitung las. Gleich daneben wurde ich Zeuge einer Schlägerei - zwei der sonst so friedlichen Inder hatten sich bei der misslungenen Abgrenzung ihrer Marktstände derart erhitzt, dass nun ihre Sippschaften mit großem Geschrei übereinander herfielen. Die allgegenwärtigen Kühe trotteten derweil über die kleinen Gemüsemärkte und knabberten so lange an den Salatköpfen, bis sie der fromme Hindu sanft von dannen schob. Wie die verdammten Seelen nach einem sündigen Leben hockten Affen missmutig auf den Häusersimsen oberhalb des Menschengequirls - von den Passanten herzlich verachtet, denn sie würden noch Dutzende besserer Leben brauchen, ehe sie einmal wieder als Mensch in einer Rikscha fahren könnten.
Am Gangesufer besuchte ich eines der großen staatlichen Krematorien, in dem die Ärmsten der Armen eingeäschert wurden. Das nie versiegende Sterben in dieser Stadt hatte immer wieder zu Seuchen geführt, und erst mit dem Bau moderner Verbrennungsanlagen schien man das Problem in den Griff zu bekommen. Was aber geschehen würde, wenn der Strom ausfiel oder ein Streik den Betrieb lahmlegte, daran mochte niemand denken. Für den etwas betuchteren Pilger, der von weither kam, um sein Leben hier zu beschließen, war diese Methode der Massenverbrennung ohnehin wenig verlockend. Er orderte lieber bei dafür besonders ausgewiesenen Dienstleistern die stilechte Verbrennung auf einem Scheiterhaufen. Solche Abfackelungen in aller Öffentlichkeit gehörten in Varanasi zum Alltag, überall kokelten die Kadaver am Ufer des heiligen Flusses, und ein scharfer Geruch nach verbranntem Menschenfleisch zog über die Ghats. Ich sah einen Leichnam im Zustand der völligen Entflammung bruzzeln und konnte beobachten, wie sich an einem bestimmten Punkt des Brennvorganges Oberkörper und Beine des Leichnams aufbäumten, als wäre gerade erst in diesem Augenblick der Seele ihre Flucht aus dem toten Körper gelungen.
Obwohl in Varanasi noch immer menschenbetriebene Rikschas in Betrieb waren, dominierte in Varanasi die Fahrradrikscha. Dabei handelte es sich um eine winzige, auf die Größe zweier schmaler indischer Hinterteile berechnete Kutsche, die durch ein vorne festmontiertes Fahrrad gezogen wurde. Als Gast eines solchen Gefährtes steckte man entweder im Stau, oder der Fahrer preschte in einer derartigen Geschwindigkeit durch das Menschengewühl, dass der Fahrgast jeden Augenblick fürchten musste, auf dem Rücken einer heiligen Kuh oder im Marktgemüse zu landen. Zielangaben wurden von den Rikschafahrern entweder nicht verstanden oder einfach uminterpretiert. So wurde ich in der ersten Nacht zu einem Hotel verfrachtet, in das ich überhaupt nicht wollte, ohne dass mir das aufgefallen wäre. Am nächsten Tag versuchte ich in zwei Anläufen vergeblich die Aurangazeb-Moschee zu erreichen, bis ich völlig entnervt die Fahrradkutsche verließ, um mich mit einem Boot zur Aurangazeb-Moschee rudern zu lassen. Aurangazeb, dieser letzte bedeutende Mogulkaiser, ist in Varanasi übrigens ebenso verhasst wie Nebukadnezar bei den orthodoxen Juden: Er ließ Varanasi mehrfach besetzen, die bedeutendsten Hindutempel zerstören, um auf ihren Trümmern Moscheen zu errichten.
Ein Besuch der zahlreichen hinduistischen Tempel ist dem Nichthindu in Varanasi verwehrt. Im Durgatempel im Süden der Stadt kann der Besucher allerdings von einer begehbaren Umfassungsmauer aus das Geschehen in einem Hindutempel beobachten. Ich erblickte einen kleinen Innenhof mit Marmorfußboden, an dessen Kopfseite ein blumengeschmückter Altar mit einer Abbildung der Göttin Parvati aufgestellt war. Parvati, die zauberhafte Gattin Gott Shivas, wurde hier in ihrer Erscheinungsform als Durga, als todbringende Rächerin, verehrt, was nur den erstaunen wird, der nicht begreift, dass alles, was in Indien wirklich ist, in seinem Gegenteil noch wirklicher wird. Zwischen den Tempelsäulen waren zahlreiche Glöckchen befestigt, an denen die Gläubigen vor Betreten des Tempels zur Besänftigung der Durga erst einmal kräftig bimmelten. Dann traten sie an den Altar heran, überreichten dem Brahmanenpriester die Opfergabe und erhielten dafür als Gegengabe Prasad, eine Art Brei, der mit Löffeln auf die Handflächen verteilt und dann von den Gläubigen geschlürft wurde. Der Tempelbezirk als Ganzes wurde überragt von einer Sikhara, einem konisch nach oben zulaufenden Tempelturm, der nach der hinduistischen Tempelarchitektur den Weltberg Meru als den mythischen Mittelpunkt des Universums symbolisierte. Neben den wenigen Touristen, die auf Stufen die Umwandung begingen, liefen so viele Affen durch die Gegend, dass ich gut verstehen konnte, warum der Durgatempel in den Reiseführern vornehmlich als "Affentempel" firmierte. Sie rauften, kreischten, stibitzten den Besuchern die Schuhe und fletschten bedrohlich die Zähne, wenn man ihnen zu nahe kam. Es waren merkwürdige Zerrbilder des Menschen, mit spitzen Ohren, braunem, struppigen Fell und einer bösartig nach vorne gewölbten Schnauze.
Der Haupttempel Varanasis war der Shiva geweihte Vishwanath-Tempel, der wegen seiner kostbaren Ummantelung im Volksmund auch als der "Goldene Tempel" bezeichnet wurde. Shiva, der nach einem unzutreffenden westlichen Vulgärverständnis allein als der Gott des Wandels oder der Zerstörung definiert wird, repräsentiert für den gläubigen Hindu in Wahrheit sämtliche Aspekte des Göttlichen: Shiva trank das Gift des Urozeans und machte damit die Erschaffung der Welt erst möglich, aus seinen Haaren floss Mutter Ganga auf die Erde, er ist der große Asket, der Tänzer, Richter oder das abstrakte Prinzip des Lebens, das in ganz Indien in Gestalt des phallusartigen Lingam verehrt wird. Er ist der personifizierte Traum Indiens von der Übersteigerung allen Lebens ins Göttliche.
Leider war auch der Vishwanath-Tempel für Nichthindus strengstens verschlossen. Um wenigstens einen umrisshaften Überblick über den Goldenen Tempel zu erhalten, erkletterte ich die Emporen umliegender Handelshäuser und erkannte, dass nicht nur die Straßen und Plätze der Stadt Varanasi, sondern auch ihre Dächer übervölkert waren. Dort sah ich eine Großfamilie auf dem Dach eines unverputzten Hauses um eine Feuerstelle hocken, nebenan ließen Kinder Drachen steigen, auf anderen Dächern kochten die Mütter, von ihrem Anhang umgeben, die Abendmahlzeit.
Der Tag war bereits fortgeschritten, der Nebel war einem kalten Himmelsblau gewichen, und die Sonne hatte jenen Tiefstand erreicht, der allen Dingen ihre magischsten Farbtöne entlockte. In den schmalen Gassen des Basarbezirks unter mir brodelte die Geschäftigkeit, und das späte Licht der Sonne fiel wie eine helle Flamme auf die Türme und Zinnen des Goldenen Tempels. Ein Konzentrat der indischen Vielfältigkeit gerann in dieser Stunde zu einem einzigen Bild: Der Händler, der tief unter mir seine bunten Ballen rollte, die tanzenden Affen in den Tempelnischen, und ein in sich versunkener Gläubiger an Shivas Brunnen beschenkten mich mit einer Minute des Glücks.
V Nur eine Haltestelle auf dem Weg nach Indien
Ein Besuch in Buddhas Geburtsort Lumbini an der indisch-nepalesischen Grenze
547 Leben hat Buddha benötigt, ehe er zu seiner letzten Geburt in Lumbini ansetzte, wo er gleich nach seiner Entbindung verkündete, dies werde sein letzter Erdenaufenthalt sein und er sei nur noch einmal erschienen, um der Welt die Erleuchtung zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, einen Kalauer zu produzieren: Dass Buddha gleich nach seiner Geburt erklärte, er wolle nie mehr wiedergeboren werden, kann jeder verstehen, der die Umgebung von Lumbini zum ersten Mal erblickt.
Für den Liebhaber des historischen Films, der mit der üppigen Geburtsszene aus Bernardo Bertoluccis "Little Buddha" im Gedächtnis dem Bus entsteigt, glich der erste Anblick von Lumbini einem Schock. Sicher mochte es hier einmal grün gewesen sein, aber das war wohl schon Jahrtausende her, und statt der Dschungelwiesen, auf denen der wackere König Suddhodhanna seinen Sohn Gautama Siddhartha seinen Kriegern präsentiert hatte, prägten Hitze und Staub das Bild einer steinigen Landschaft. Topfeben und heiß erstreckte sich von Lumbini aus die indische Tiefebene über Hunderte von Kilometern bis weit über Ganges und Yamuna hinaus, und in den letzten beiden Monaten vor den Monsun verwandelte sich diese Gegend in einen glühenden, knochentrockenen Rost, auf dem alle Lebewesen brieten.
Ich hätte den Geburtsort Buddhas gerne in einem „Großen Fahrzeug“ erreicht, doch das einzige Gefährt, das immerfort kreisend wie das Rad der Vergeltung von Bhairawa nach Lumbini und von Lumbini nach Bhairawa fuhr, war als Bus eigentlich nur daran zu erkennen, dass er über vier Räder, ein Lenkrad und eine Hupe verfügte und dass er sich, wenngleich langsam, so doch unleugbar fortbewegte. Aber aller Mangel, so lesen wir im buddhistischen Tripitaka, ist nur die Vorstufe zur Erkenntnis, und so gab mir die zeitlupenhafte Fortbewegung unseres rollenden Käfigs und das Fehlen jeglicher Fenster ausreichende Muße, die Mannigfaltigkeit des nordindischen und südnepalesischen Menschenschlages zu studieren. Ganoven und Gurus, Hungerleider und Gutbetuchte warteten an den Haltestellen des Terai auf den Bus. Manche reisten mit Stock und Bündel, andere in gebügelten Gewändern, manche trugen ihren Turban wie eine Krone, wieder andere erschienen in Lumpen und zerrissenen Dhotis am Buseingang.
Nur etwa zweihundert Rupien, umgerechnet etwa 1,50 Euro, kostete das Bett im einzigen Guesthouse des Ortes, der Lumbini Lodge - und dies, obwohl eine Übernachtung in der Lumbini Lodge einer kostenlosen Einführung in die buddhistische Lebenslehre glich. Nichts in der empirischen Welt hat wirklich Bestand, lehrte der Erleuchtete, und tatsächlich: Kaum lag ich abends nass geschwitzt auf dem schmalen Bett, gaben die dünnen Holzroste unter meinem Gewicht nach, und unsanft landete ich in jenem Staub, aus dem alles Leben entsteht und wieder verschwindet. Doch durch die Betten bin ich auf meine Reisen schon oft gefallen, und ich wollte zufrieden sein, wenn sich die nächtlichen Prüfungen an Buddhas Geburtsort allein auf dieses Malheur beschränkten. Aber ich hatte Lumbinis Mücken nicht auf der Rechnung, jene heruntergekommene Wesen auf der Lebensleiter der Wiedergeburt, die sich allnächtlich unter den Schläfern Lumbinis ihre Opfer suchten und die mich glatt an der Weisheit des Karmas zweifeln ließen. Denn es war mir bei aller Demut an diesem heiligen Ort nur schwer verständlich, warum diese satanischen Inkarnationen der absoluten Heimtücke und Gemeinheit sich an meiner doch immerhin beträchtlich höher entwickelten Wiedergeburt so wohlfeil und gefahrlos laben durften. Sie saugten sich voll mit meinem Blut, sie durchstachen Strümpfe, Hose und Shirt, und mein geballter Hass, der mich motivierte, mit meinen Schlappen einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, brachte mich schließlich nur zu der Erkenntnis, dass sich der Übernachtungsgast in der Lumbini Lodge gegenüber den Mücken Lumbinis etwa in der gleichen Position befand wie die Lachse Alaskas gegenüber den Grizzlybären: Man war gänzlich ohne jede Chance, und je eher man sich dazu durchrang, jeden Stich als Buße für eine irdische Verfehlung zu begreifen, desto besser.
Kaum war die Sonne nach dieser Nacht des Leidens aufgegangen, verließ ich mein stickiges Schlafgefängnis und begrüßte, zerstochen und fertig mit der Welt, den Anbruch eines neuen Tages. Die Mütter rollten die Matratzen von den Dächern, und die Männer marschierten in langen Reihen mit Kopftuch, Hacke, Dhoti und Spaten zur Feldarbeit. Erstaunlich adrett gekleidete junge Frauen erschienen in den Türrahmen ihrer Häuser, um beachtliche Lasten über die Straßen zu schultern: Holzlatten, Körbe, Kisten, Kinder oder was immer es an diesem Tage von dem einen Ort zum nächsten auch zu tragen gab. Schließlich rasten einige Knaben, von kläffenden Hunden verfolgt, mit ihren Schulbüchern zum Bus, der sie zur Schule nach Bhairawa bringen würde, während als letzte Akteure die Ladenbesitzer auf der morgendlichen Bühne des Dorfes erschienen - fette, behäbige Männer, die mit der Würde der Honoratioren die Gitter vor den Läden entfernten und beim ersten Tschai des Tages ihren Morgenplausch begannen.
In jenen alten Zeiten, in denen das Licht der Weltgeschichte ein einziges Mal auf Lumbini gefallen war, dürfte es an diesem Ort weder eine Straße noch ein Guesthouse gegeben haben. Konnte man der buddhistischen Überlieferung glauben, dann befanden sich hier nur ein Teich und ein Baum, als König Suddhodhanna auf dem Heimweg in sein Königreich Kapilavastu etwa im Jahre 556 vor unserer Zeitrechnung eine Rast einlegen ließ, während der seine Gattin, die Königin Maha Devi Prinz Gautama Siddhartha, den späteren Buddha, zur Welt brachte. Das war es dann auch schon mit Buddha und Lumbini gewesen. Aufgewachsen ist Prinz Siddharta in Kapilavastu, und auch als er seine Heimat im Alter von 29 Jahren verließ, zog ihn nichts mehr Lumbini zurück. Stattdessen suchte er in Wäldern und Wüsten, in der Gegenwart heiliger Männer und in der Einsamkeit nach der Erleuchtung, bis er sie im nordindischen Bodh Gaya erlangte und in Sarnath bei Varanasi zum ersten Mal öffentlich verkündete.
Konnte Lumbini als Etappe einer buddhistischen Pilgerreise also mit Bodh Gaya und Sarnath nicht wirklich konkurrieren, so stimulierte ein Besuch seiner Ruinen noch immer jene feinstoffliche Geistigkeit, die das Kennzeichen der höheren buddhistischen Sphären ist. Denn zu sehen gab es in der empirischen Welt Lumbinis fast nichts - außer einem Teich, auf dem an diesem Morgen einige Enten schwammen und von dem die Überlieferung behauptet, die Buddhamutter Maha Devi hätte in seinem Wasser vor ihrer Niederkunft gebadet, einer Säule, die an einen verkleinerten Schornstein erinnerte und den Resten einer der Maha Devi geweihten Tempelanlage. Allerdings handelte es sich bei der Säule, die an einen Schornstein erinnerte, nicht wirklich um einen Schornstein, sondern im Gegenteil um ein historisches Zeugnis allerhöchster Wichtigkeit. Denn die Etablierung der Säule ging zurück auf den indischen Imperator Ashoka, den die Historiker heute sehr dafür loben, dass er während seiner langen Regierungszeit seine Baumeister auf Trab hielt und sein Reich mit einer Vielzahl von Inschriften und Säulen schmückte. Tatsächlich besuchte Ashoka im Jahre 249 vor der Zeitrechnung auch Lumbini und ließ an der Stelle, an der nach der Legende die Maha Devi den Gautama Siddhartha geboren haben sollte, eine Säule errichten, auf der man heute noch - vorausgesetzt natürlich man verstand Sanskrit und besaß sehr gute Augen - lesen konnte: „König Ashoka, geliebt von den Göttern, begab sich hierher im zwanzigsten Jahr seiner Herrschaft, huldigte dem Buddha und erklärte: ‚Hier wurde der Buddha Shakayamuni geboren‘ ".
Kein Wunder, dass die Wiederentdeckung dieser Säule im Jahre 1895 ein echter Knüller wurde: Buddhas Geburtsort war gefunden worden, und der staubige Ort Lumbini erkletterte plötzlich den gleichen religionsgeschichtlichen Rang wie Bethlehem oder Mekka. Das war beachtlich, interessierte aber fast ein ganzes Jahrhundert lang niemanden, weil das zur Vermarktung notwenige Kapital nicht zur Verfügung stand.
Das hat sich nun geändert. Finanziert durch die Millionen, die der Lumbini Development Trust in aller Welt locker macht, wird sich in naher Zukunft das gesamte archäologische Areal mit Teich, Tempelresten und Ashoka-Säule zu einer Insel inmitten eines künstlichen Sees verwandeln. Sogar eine gigantische Prozessionsstraße ist geplant, links und rechts des Weges gesäumt von einigen Dutzend repräsentativer Klosteranlagen aus allen Teilen der buddhistischen Ökumene. Zusagen aus Japan, Korea, Sri Lanka und Thailand lagen bereits vor, und die inzwischen eingegangenen Gelder reichten offenbar aus, die Angestellten des Lumbini Development Trusts in ihren kleinen Büros gleich neben dem Gelände über gigantischen Plänen brüten und die arbeitsfähigen Männer der Umgebung bereits mit Grabungsarbeiten beschäftigen zu lassen.
Mr. Sharma, der Inhaber der Lumbini Lodge schüttelte den Kopf über diese Pläne. Wann immer die Rupien auch rollen würden, ob schon in einem guten Jahrzehnt, wie es die Angestellten des Lumbini Development Trusts erhofften, oder wirklich erst im Jahre 2024, wenn sich Buddhas Todestag zum 2.500sten Male jährte - das heutige Lumbini würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Und das wäre schade, denn der Umstand, dass es im Geburtsort des Erleuchteten über die Jahrtausende hinweg ohne die Glaubenskraft und die Fantasie der Pilger rein gar nichts zu erleben gab, repräsentierte die Religion des Nirwana wahrscheinlich viel treffender als das geplante Disneyland der buddhistischen Welt.
VI Im Drahtkäfig
Ayodhya. Indiens offene Wunde
Gestern gingen Bomben hoch in Hyderabad. 14 Tote. Kein guter Tag, um nach Ayodhya zu fahren. Aber wenn ich jetzt nicht fahren würde, käme ich niemals dorthin. Und einmal im Leben sollte jeder, der sich für Indien interessiert, in Ayodhya gewesen sein.
Auf der Plattform 15 des Busbahnhofes in Lucknow wartete bereits der Bus nach Faizerbad. Der Fahrer trug einen Salafistenbart und war ein sympathischer Kerl, der mich gleich auf einen Sitz in der Fahrerkabine einlud. Von dort aus durfte ich zusehen, wie er anschließend die Frontscheibe seines Busses hingebungsvoll mit Zeitungspapier reinigte. Sauber wurde es nicht, aber immerhin wurde der Dreck auf diese Weise gut über die Fensterfläche verteilt. Fliegende Händler nutzten die Wartezeit, um im Minutenabstand zuzusteigen und ihre Waren anpriesen. Der erste war ein Textilverkäufer, der es sich nach einer kurzen Ansprache nicht nehmen ließ, seine Tischdecken im Eingangsbereich des Busses auszupacken und wild an ihnen wild herumzureißen, um zu demonstrieren, wie stabil sie waren. Als nächster erschien ein dürrer Mensch, der Zahnbürsten anpries und zur Demonstration mit ihnen in seinem eigenen Mund herumputzte. Leider wurden dabei sehr schadhafte Zähne sichtbar, was dem Verkauf wenig förderlich war, sodass er sich schließlich ohne Absatz trollte. Der dritte, der es noch in den Bus schaffte, ehe die Frontscheibe fertig geputzt war, entpuppte sich als ein Parfümhändler. Er öffnete eine grell bemalte Flasche, und sofort entströmte dem Gefäß ein regelrechter Freudenhausgeruch, so intensiv, dass die Gespräche in den ersten Reihen erstarben. Ein Inder mit verschwitztem Gesicht und einer fleckigen Jacke roch an der Flaschenöffnung und erwarb das Produkt.
Dann ging es endlich los, doch es dauerte fast eine geschlagene Stunde, ehe der Bus den Großraum Lucknow verlassen hatte. Ich notierte: Wie groß eine indische Stadt ist, erkennt man immer erst, wenn man versucht, sie mit einem Bus zu verlassen. Straßenschlucht folgte auf Straßenschlucht, vor den Kreisverkehrsrondellen krachten die Fahrzeuge in karrengroße Schlaglöcher, und vor jedem Bahnübergang gab es einen Stau. Wenn es dann einmal auf einer Geraden etwas schneller voranging, schossen Mofas, Rikschas und Kleinwagen pfeilschnell links und rechts am Bus vorüber, behinderten, schnitten oder gefährdeten sich gegenseitig, als wäre die Gefahr eines Zusammenstoßes nur eine theoretische Eventualität, mit der man nicht wirklich rechnen müsste. Jahrelange Schnibbelpraxis beim Überholen und hemmungsloses Gottvertrauen ermöglichen in Indien im Vergleich zu europäischen Ländern das Doppelte bis das Dreifache des normalen Verkehrsaufkommens auf einer gegebenen Fläche. Wenn es aber doch einmal kracht, geht es oft nicht ohne Tote ab.
Dann außerhalb von Lucknow die nächste Überraschung: ein Highway oder besser gesagt: eine zweispurige Schnellstraße auf dem Weg zur Autobahn, an deren Rändern zwar noch immer die Ziegen grasten, auf der aber immerhin Spitzengeschwindigkeiten von bis zu achtzig Stundenkilometern möglich waren. In einem so schnellen Gefährt sitzend hatte ich die Landschaft Uttar Pradeshs noch nie gesehen. Wie ein impressionistisches Gemälde, dessen Details an den Rändern verschwammen, huschte sie vorbei – eine flache Landschaft zwischen Verbuschung und Kultivierung, Heimat von insgesamt fast zweihundert Millionen Menschen im größten Bundesstaat der Indischen Union. Weite Felder, auf denen Menschen Salatköpfe zählten, überall Straßenarbeiten, aufgerissener Lehmboden, dann wieder lang gezogene Dörfer, die der Bus ohne anzuhalten durchraste – das war das ländliche Uttar Pradesh, das sich als eine flache Ebene über etwa 230.000 Quadratkilometer im indischen Norden erstreckte.
Nach drei Fahrtstunden war die Busfahrt in Faizerbad zu Ende, und ich stieg in ein Tempo, um nach Ayodhya zu gelangen. Ein Tempo trägt seinen Namen natürlich nur als Euphemismus - in Wahrheit handelt es sich um die Kollektivvariante einer Rikscha, die mit der doppelten Sitzfläche ein vierfaches Passagieraufkommen bewältigt. In dem Tempo, das mich von Faizerbad in das nur neun Kilometer entfernte Ayodhya bringen sollte, saßen bereits zehn Personen und ein Huhn. Zuunterst hockten auf der schmalen Pritsche drei würdige Matronen, auf ihnen vier Kinder und das besagte Huhn – neben ihnen drei Jugendliche, die je einen Teil ihres Hinterns aus dem Fenster heraushängen ließen und nur mit je einer Hinterbacke Kontakt zur Sitzfläche hielten. Ich hasse Tempos nicht so sehr wegen ihrer Enge, sondern weil man im Falle eines Unfalls in einem solchen Gedränge praktisch keine Überlebenschance besitzt. Außerdem ist für einen Westtouristen das Einsparpotenzial im Vergleich zu einer gewöhnlichen Rikscha nicht der Rede wert, allerdings befanden sich in Faizerbad die normalen Rikschas offenbar alle anderswo, sodass ich mich wohl oder übel in das offene Tempo-Fahrerhaus neben den Fahrer und seinen Kumpel quetschte.
Auf den ersten Blick sah es in Ayodhya nicht anders aus als in den meisten indischen Großstädten, die ich bis dahin besucht hatte. Für indische Verhältnisse handelte es sich sogar nur um eine relativ kleine Stadt - gerade einmal 40.000 Menschen lebten hier am Sarayu River. Ohrenbetäubender Lärm, Hupattacken, Staub und Hitze, Menschenmassen – zunächst das gewohnte Bühnenbild indischer Urbanität. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass Ayodhya anders war als andere Orte: Es gab kaum Banken, wenig Geschäftshäuser, dafür unzählige Pilger, die allein oder in Gruppen durch die Gassen gingen. Ich sah Bettler, Sadhus, Götterschreine und jede Menge Devotionalienbuden mit Skulpturen in allen Farben und Lebensgrößen. Ich befand mich in einer heiligen Stadt.
Natürlich gibt es in Indien jede Menge heiliger Städte. Heilig sind die vier Achsenstädte Rameswaram in Tamil Nadu, Puri in Orissa, Dwarka in Gujarat und Badrinath im Himalaja. In Allahabad, Haridwar, Ujjain und Nasik wird alle zwölf Jahre die Kumbh Mela gefeiert, das Fest des Kruges, und selbstverständlich sind auch diese Städte heilig. Daneben pilgern die Inder zusätzlich zu jenen Städten, die zu einer bestimmten Gottheit in einer besonderen Beziehung stehen – allen voran nach Varanasi, der heiligen Stadt Lord Shivas.
Längst nicht jedem Gott ist eine heilige Stadt zugeordnet, dafür gibt es einfach viel zu viele Götter. In der indischen Kolonialzeit wurde behauptet, es seien 330 Millionen, womit damals auf jeden Inder ein Gott gekommen wäre, was für das westliche Gemüt verwirrend ist, aber mehr als alles andere verdeutlicht, dass es sich mit den indischen Göttern ganz anders verhält als mit Jahwe, Jesus oder Allah. Vielleicht ist Ganesha auch deswegen bei den Touristen so beliebt, weil man ihn unter so vielen Göttern an seinem Elefantenrüssel immer unzweideutig identifizieren kann. Ganz anders verhält es sich zum Beispiel mit Vishnu, der neben Shiva alles überragenden Göttergestalt des Hinduismus. Vishnu ist der Schöpfer und Erretter der Welt, so liest man es immer wieder, aber wenn man der Überlieferung glauben darf, dann tat er das bereits sehr oft in den unterschiedlichsten Inkarnationen. In seinen ersten drei Inkarnationen erschien Vishnu in Tiergestalt auf der Erde. Als Fisch zog er vor der Erschaffung der Welt die große Arche, als Schildkröte trug er den heiligen Berg Meru, während der Milchozean gequirlt wurde, und als Rieseneber rettete er die gerade erst erschaffeneWelt vor den Tiefen des Urozeans. Als Löwe erschlug er sodann in seiner vierten Inkarnation die Dämonen, die die Welt bedrohten, um schließlich als Zwerg, der ins Unermessliche wachsen konnte, die Erde auszumessen und einzuteilen. Inzwischen war auch das Menschengeschlecht auf der Erde erschienen und mit ihm das Laster, sodass Vishnu in seiner sechsten Inkarnation als „Mann mit der Axt“ zum Schrecken der Verbrecher wurde. In seiner siebten Inkarnation erschien Vishnu schließlich in Ayodhya, und zwar in Gestalt Lord Ramas, der beispielgebenden Figur der altindischen Kultur. Deswegen ist Ayodhya Lord Ramas Stadt.
Davon konnte sich jeder überzeugen, der auch nur wenige Schritte abseits der Hauptstraße durch die Pilgerviertel schlenderte. Überall standen lebensgroße Skulpuren von Lord Rama, und auf den großen Bildern wurden Szenen und Motive seines Lebens in grellen Farben dargestellt: Rama mit seinem gewaltigen Bogen, Rama, der seinen Helfer Hanuman umarmt, Rama und seine Gattin Sita, Rama mit seinem tiaraartigen Helm. Die penetrante Allgegenwart des Gottes an jeder Ecke und Bude hatte etwas Beunruhigendes, ebenso wie die krasse Ärmlichkeit der Pilger, die durch die Gassen gingen.
Ayodhya war ein durch und durch innerindisches Pilgerzentrum. Nichts an seiner Erscheinung gehorchte ästethetischen Rücksichten, die Stadt war authentisch bis zu Schmerzgrenze, nur auf sich selbst bezogen und sich selbst genug. Die Verstümmelungen des Leprakranken an der Ecke, die Eiterwunden der bettelnden Kinder, die Glasknochen des Yogis, der unbeweglich in der Sonne saß, verdeutlichen eine Grunderfahrung der indischen Wirklichkeit: das Leben war ein Tal des Leidens, und nur in der Entsagung konnte es Erlösung geben.
Auch Lord Rama hatte in seiner irdischen Existenz viel leiden müssen – aber nicht nur. Denn Rama aber wäre nicht die Inkarnation Vishnus, die neben Krishna die höchste Verehrung genießt, wenn sich seine Wesenszüge nur im Leiden erschöpfen würden. Rama ist nicht Buddha, hatte mir einmal ein Inder erklärt. Wer ihm etwas nimmt, dem zieht er die Ohren lang.
Für den gläubigen Hindu wurde Rama vor undenklichen Zeiten als Sohn des Königs von Ayodhya in Nordindien geboren. Schon als Prinz stach er unter seinen Brüder durch Tapferkeit, Kraft, Wohlgestalt und Charakter hervor, lauter Eigenschaften, die dazu beitrugen, dass er die schöne Sita zur Frau gewann. Infolge einer Intrige am Hofe seines Vaters musste Rama allerdings mit seiner Frau Sita in die Verbannung gehen, in der er unerhörte Heldentaten beging, bevor ihm der Dämon Ravana seine Frau Sita raubte. Unterstützt vom Affenkönig Sugriva und seinem Minister Hanuman verfolgte Rama den Ravana bis nach Sri Lanka, wo es ihm gelang, seinen Widersacher zu töten und seine Gattin Sita zu befreien. Diese Geschichte mit ihren kaum überschaubaren Einzelheiten und Nebenhandlungen gehört als „Ramayana“-Epos mit weit über 20.000 Zeilen zum Kernbestand der hinduistischen Kultur. Redlichkeit und Treue, Verlust und Wiedergewinn, Gerechtigkeit und Schuld, Entsagung und Reue – ein ganzer Kosmos ethischer Verhaltensweisen wird dem heranwachsenden Hindu anhand der Geschichten aus dem Ramayana-Epos als vorbildliches Verhalten vorgeführt.
So konnte es nicht ausbleiben, dass die Ramaverehrung mit einem kämpferischen Islam in Konflikt geriet, der seit dem 13. Jahrhundert immer größere Teile Indiens eroberte und für den die Hindugötter nichts weiter waren als widerliche Götzen, die es zur Ehre Gottes von der Erde auszutilgen galt. Die damit verbundene Gewaltanwendung und Zerstörung Hunderter hinduistischer Verehrungsstädten im ganzen Land hatte das Verhältnis von Islam und Hinduismus dauerhaft zerrüttet - doch nirgendwo hat der Konflikt eine derartige Intensität angenommen wie in Ayodhya. Lord Ramas Stadt ist zum Kristallisationspunkt eines gesamtindischen Religionskonfliktes geworden, der das Land zu zerreißen droht.
Die Ursprünge des Konfliktes reichten bis in das Jahr 1528 zurück, als der erste Großmogul Babur im Pilgerviertel von Ayodhya die Babri-Moschee errichteten ließ, ein Gotteshaus, das im Schatten des hinduistischen Pilgerbetriebes verblieb und nur wenig genutzt wurde. Obwohl immer wieder behauptet wurde, diese Moschee sei auf den Trümmern eines älteren Ramatempels und genau an dem Ort errichtet worden, an dem Lord Rama geboren worden war, blieben die Verhältnisse in Ayodhya unter der britischen Kolonialherrschaft jahrhundertelang ruhig und unaufgeregt.
Wirklich virulent wurde der Konflikte von heute aus betrachtet unmittelbar nach der indischen Unabhängigkeit durch das so genannte „Wunder von Ayodhya“, das sich am 22. Dezember 1949 ereignet haben soll. Umgeben von einer glühenden Aureole soll sich Lord Rama vor den Augen der Gläubigen in das Innere der Babri-Moschee von Ayodhya begeben und sich dort niedergelassen haben. Der damalige indische Ministerpräsident Nehru reagierte sofort und tat das einzig Richtige: Ehe sich die allgemeine Hysterie unter Hindus und Moslems voll entfalten konnte, ließ er die Moschee besetzen und sie für Moslems und Hindus gleichermaßen sperren.
Damit aber war das Problem in der Welt – die Hindus beklagten, das Lord Rama in einer Art Käfig in der Moschee gefangen sei und befreit werden müsse, die Moslems forderten die Räumung und Instandsetzung der besetzten Moschee, die von Jahr zu Jahr mehr verfiel. Und tatsächlich spross bald auf dem Moscheevorhof das Gras aus den Fugen, und die Risse im Gemäuer wurden immer bedrohlicher.
Trotzdem eskalierte der Konflikt zunächst nicht weiter. In der Fähigkeit, in unmöglichen Zuständen auf Dauer zu leben, macht dem Inder so schnell niemand etwas vor, und tatsächlich blieb es in Ayodhya fast dreißig Jahre lang relativ ruhig. Erst mit dem Erstarken des Hindunationalismus in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts erreichte der Konflikt die nächste Eskalationsstufe. Auf der Kumbh Mela von Allahabad im Jahre 1989, an der Millionen Hindus aus allen Teilen der indischen Welt teilnahmen, veröffentlichte der Weltrat der Hindus eine Liste von nicht weniger als 150 Moscheen, die allesamt auf den Ruinen zerstörter Hindutempel erbaut worden wären und die es folglich ihrerseits wieder abzureißen gelte. An erster Stelle auf dieser Liste stand die Babri-Moschee von Ayodhya mit der Begründung, dass sich genau an der Stelle, an der die Babri- Moschee errichtet worden sei, sich nicht nur ein älterer Ramatempel, sondern sogar der Geburtsort Lord Ramas lokalisieren ließe. In das Gesamtbild eines sich immer weiter verschärfenden Gegensatzes gehörte übrigens auch das herausragende Medienereignis des Jahres 1989: die landesweite Ausstrahlung einer erfolgreichen Fernsehbearbeitung des Ramayana-Epos, die von über 200 Millionen Menschen gesehen wurde.
So kochten die Emotionen auf beiden Seiten hoch, doch es war keine Lösung in Sicht. Ein Gerichtsverfahren folgte dem nächsten, und als ein Gerichtsurteil im Jahre 1992 endgültig entschied, dass alles beim Alten bleiben und die inzwischen fast verwaiste Moschee nicht abgerissen werden sollte, kam es zum Eklat. Ein schon vorher aus allen Teilen des Landes herangekarrter Hindumob stürmte am 6. Dezember 1992 die Moschee, schlug sie in kürzester Zeit kurz und klein und errichtete auf ihren Trümmern in aller Eile einen provisorischen Schrein, der als Ram-Janmabhumi-Tempel bezeichnet und nun ebenfalls als sakrosant erklärt wurde.
Damit war Indiens offene Wunde wieder aufgerissen. Obwohl in Ayodhya das Gelände der geschändeten Moschee sofort von einem großen Armeeaufgebot besetzt wurde, um alle weiteren Veränderungen des status quo zu verhindern, brachen unmittelbar nach der Stürmung der Moschee bürgerkriegsähnliche Unruhen im ganzen Land aus. Angeheizt von den Parolen verantwortungsloser Demagogen auf beiden Seiten gingen sich Moslems und Hindus an die Kehle, und Tausende Tote, vor allem in Maharashtra und Gujarat, waren die Folge.
Wie aber sollte es weitergehen? Niemals würden die über einhundertfünfzig Millionen Moslems in Indien dulden, dass auf den Ruinen einer mutwillig zerstörten Moschee ein Hindutempel errichtet werden würde. Ebenso wenig aber wollten die Hindus zulassen, dass der gerade erst etablierte Ramaschrein wieder abgebaut würde. Wie eine heiße Kartoffel wurde der Streitfall von Gericht zu Gericht gereicht, während die Armee ihre Präsenz an den Ruinen der Babri-Moschee immer mehr ausbaute. Schließlich erging das Urteil, dass der Ramatempel auf dem Gelände der zerstörten Moschee erbaut werden sollte, wenn der unzweifelhafte Nachweis gelänge, dass vor 1528 an der Stelle der Babri-Moschee auch tatsächlich ein Ramatempel gestanden hätte. Dieser Nachweis konnte nicht zwingend erbracht werden. Fundamentalistische Überzeugung und wissenschaftlicher Nachweis waren nicht zur Deckung zu bringen.
Seitdem gilt der ehemalige Moscheebezirk von Ayodhya als Indiens heikelster Platz, und ein Besuch auf dem Gelände der zerstörten Babri-Moschee lehrt mehr über die innerindischen Religionskonflikte als ein Dutzend Seminare. Es handelt sich allerdings um eine Sehenswürdigkeit der besonderen Art, um die alle großen Fernreiseanbieter einen großen Bogen machen. Zu angespannt ist die Stimmung, zu schnell kann aus nichtigen Anlässen eine Gewalt entstehen, die niemand mehr kontrollieren kann.