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Zwei Feinde müssen lernen, einander zu vertrauen, wenn sie überleben wollen ...
Die walisischen Grenzen, 1069: Als ihr Zuhause von brutalen normannischen Eindringlingen überfallen wird, ist Lady Christen gezwungen, den Tod ihres geliebten Ehemannes mitanzusehen. Es scheint, der Albtraum sei vorbei, als der Anführer Miles Le Gallois den Angriff abbricht. Doch der Normanne hat Christens Bruder in seiner Gewalt und schlägt ihr einen Deal vor: Er lässt ihren Bruder leben, wenn sie den Normannen heiratet. Christen geht wohl oder übel auf das Angebot ein. Und so ist sie plötzlich mit ihrem Feind verheiratet. Doch dieses Bündnis stößt auf Missbilligung und ruft von allen Seiten Widersacher auf den Plan ...
Weitere Romane von Elizabeth Chadwick (Auswahl):
Die irische Prinzessin
Der letzte Auftrag des Ritters
Das Vermächtnis der Königin
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Seitenzahl: 403
Buch
Die walisischen Grenzen, 1069: Als Ashdyke Manor von brutalen normannischen Eindringlingen überfallen wird, ist Lady Christen gezwungen, den Tod ihres geliebten Ehemannes mitanzusehen.
Es scheint, der Albtraum sei vorbei, als der Anführer Miles Le Gallois den Angriff abbricht. Doch der Normanne hat Christens Bruder in seiner Gewalt und schlägt ihr einen Deal vor: Er lässt ihren Bruder leben, wenn sie ihn, den Normannen, heiratet. Um ihren Bruder zu retten, geht Christen das Bündnis ein. Und so ist sie plötzlich mit dem Feind verheiratet. Doch dieses Bündnis stößt auf Missbilligung und ruft von allen Seiten Feinde auf den Plan. Und dann beordert auch noch der König Miles zu sich. Christen ist auf sich allein gestellt und soll Miles’ Länder hüten. Die zwei Feinde müssen irgendwie lernen, einander zu vertrauen, wenn sie in diesen Zeiten überleben wollen …
Autorin
Elizabeth Chadwick lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Nottingham. Sie hat inzwischen über 20 historische Romane geschrieben, die allesamt im Mittelalter spielen. Vieles von ihrem Wissen über diese Epoche resultiert aus ihren Recherchen als Mitglied von »Regia Anglorum«, einem Verein, der das Leben und Wirken der Menschen im frühen Mittelalter nachspielt und so Geschichte lebendig werden lässt. Elizabeth Chadwick wurde mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, und ihre Romane gelangen immer wieder auf die Auswahlliste des Romantic Novelists’ Award.
Von Elizabeth Chadwick bereits erschienen (Auswahl)
Die englische Rebellin · Die Hüterin der Krone · Das Lied der Königin · Das Herz der Königin · Das Vermächtnis der Königin · Der letzte Auftrag des Ritters · Die irische Prinzessin
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ELIZABETH CHADWICK
Das Herz des Feindes
Historischer Roman
Deutsch von Nina Bader
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Coming of the Wolf« bei Sphere, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Dieser Roman ist im September 2021 bei Weltbild erschienen.
Ausgabe 2022 by Blanvalet, einem Unternehmen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe © 2020 by Elizabeth Chadwick
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ulrike Nikel
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
LA · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28028-4V001 www.blanvalet.de
Christen lag im Bett und lauschte dem Vogelgezwitscher: den an- und abschwellenden Tönen einer Drossel, dem harmonischen Wettstreit zweier Amseln, dem frechen Geschilpe von Spatzen und dem heiseren Krächzen der Krähenkolonie in den Eschen hinter der Palisade.
Graues Tageslicht fiel durch die Ritzen in den Fensterläden und kroch über die Häute auf dem Bett, um die nackte Schulter des schlafenden Mannes neben ihr zu berühren. Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Das gedämpfte Licht ging freundlich mit seinen Jahren um, milderte die feinen Fältchen und glättete die knittrige Haut an seinem Hals und seinen Armen. Seit der Ankunft der Normannen vor drei Jahren hatte Lyulph die Blütezeit seines Lebens hinter sich und war zu einem alten Mann geworden. Inzwischen fehlten ihm das Feuer und die Tatkraft, die ihn früher vital und kräftig gehalten hatten, obwohl er seinen fünfzigsten Winter schon weit überschritten hatte.
In den Tagen vor den Normannen, zur Zeit König Edwards, wäre Lyulph vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl damit beschäftigt gewesen, die Landgüter zu verwalten. In seinen Mußestunden wäre er auf die Jagd gegangen oder hätte sich im Umgang mit Waffen geübt und am Abend dem versammelten Haushalt vorgestanden, Essen und Getränke an die Anwesenden an ihrer Tafel ausgegeben und mit seinem silbernen Horn Trinksprüche ausgebracht, dabei alles und jeden scharf beobachtet. Stark wie ein Ochse, aber nie träge und schwerfällig, sondern gutherzig, dachte Christen und schluckte den Kummer darüber, was aus ihm geworden war, hinunter.
Es war alles so schwierig für Lyulph geworden. Er war mit Harald Godwinson, dem angelsächsischen König, in den Norden gereist, um den Invasionstruppen des Norwegers Hardrada entgegenzutreten, und wurde in der Schlacht von Stamford schwer verwundet. Er war nicht imstande gewesen, gemeinsam mit Harald den Rückzug anzutreten, um sich der neuen Bedrohung durch den Normannen William zu stellen. An der zweiten großen Schlacht um den Thron von England, die bei Hastings stattfand, konnte er nicht mehr teilnehmen, da er unter einer entzündeten Wunde am Oberschenkel litt. Diese hatte ihm der Stich eines norwegischen Speers zugefügt. Christen dachte oft, es wäre für Lyulph eine Gnade gewesen, wenn er wie Harald bei der Verteidigung der Schildmauer von Hastings, dem höchsten Teil der Burgmauer, gestorben wäre. Dann hätte er nicht William dem Eroberer, dem neuen englischen König die Lehenstreue schwören müssen, um jeden Tag von Schuld und Bitterkeit zerfressen weiterzuleben.
Der Vogelgesang wurde lauter und das graue Licht heller und leuchtender. Lyulph schlief weiter, sein Atem blies in seinen dichten silbernen Bart. Christen rückte von ihm ab, zog die Bettdecke wieder über ihn und streifte sich leise ihr Hemd und ihr Gewand über. Dann kämmte und flocht sie ihr schweres flachsblondes Haar, steckte es mit geschickten Fingern auf und legte den Schleier über ihren Kopf, wie es sich für eine anständige verheiratete Frau gehörte. Zum Schluss setzte sie sich auf einen niedrigen Schemel, um ihre Schuhe anzuziehen, und blickte erneut mit einer Mischung aus Besorgnis und Traurigkeit zu ihrem schlafenden Mann hinüber.
Inzwischen waren sie seit fünf Jahren verheiratet, und sie hatte vor Kurzem ihren zwanzigsten Sommer erreicht. Lyulph war dreißig Jahre älter als sie. Ihr Land war Teil des Hochzeitsgeschenks von König Edward gewesen, dessen Mündel sie nach dem Tod ihres Vaters geworden war. Der angelsächsische Herrscher hatte sie dann Lyulph gegeben, damals ein starker, mächtiger Krieger, der in der Lage war, ihr Land an der unruhigen Grenze zwischen England und Wales zu verteidigen.
In diesen frühen Tagen hatte sie Lyulph nie als alten Mann betrachtet, sondern vielmehr als Bollwerk und Beschützer. Für sie war er ein Mann voller Würde, kraftvoll und zuverlässig, der gern lachte und sie liebevoll und ein wenig nachsichtig behandelte. Ihr Leben in einer arrangierten Ehe hätte um vieles schlimmer sein können, und deshalb empfand sie große Dankbarkeit.
Zweimal hatte sie ein Kind empfangen; die erste Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt, noch bevor sich das Baby bewegt hatte, und die zweite scheiterte, als die Normannen angriffen und Lyulph in den Krieg zog. Damals brachte sie eine totgeborene Tochter zur Welt, und seitdem hatten sie nicht mehr als Mann und Frau beieinander gelegen. Lyulph wollte kein Kind mehr in ein Land setzen, das unter dem Joch raubgieriger Wölfe litt, deren Anführer ihr Nachbar William FitzOsbern war, der Earl of Hereford, ein mächtiger normannischer Warlord und Geißel der ganzen Umgebung. Er war ein Verwandter von William dem Eroberer, den man auch den Bastard nannte, und einer seiner engsten Berater.
Christen schlich auf Zehenspitzen aus der Schlafkammer und trat in die nebenan gelegene Halle. Eine gähnende Dienerin schürte gerade das Feuer unter dem Kessel über der Feuerstelle, und die aus dem Schlaf gerissenen Bewohner der Halle rollten ihre Strohsäcke zusammen und wappneten sich für den Tag. Im Hof traf Christen zwei Frauen, die am Brunnen Wasser holten, und eine dritte, die sich in einem Eimer Gesicht und Hände wusch.
Ein köstlicher Duft nach frisch gebackenen Brotlaiben wehte von dem Ofen neben der Halle herüber und bewirkte, dass sich ihr Magen vor Hunger zusammenzog. In der Meierei machten die Frauen Butter und Quarkkäse, den es zum Fastenbrechen geben würde. Sie blieb stehen, um die Arbeit zu überwachen, und als sie sah, dass alles in Ordnung war, setzte sie ihren Weg fort.
Es war jetzt angenehm kühl, versprach aber ein heißer Spätsommertag zu werden, sowie die Sonne am Himmel höher gestiegen war – ideal, um die zur Schurzeit von den Vliesen der Herde des Landgutes gesponnenen Wollstränge zu färben, die schon darauf warteten, dass sie sich ihrer annahm. Christen betrat den Lagerschuppen, wo auf zwei Regalen ordentlich aufgereiht Krüge und Säckchen mit Beizen und Farben standen: Krappwurzel für Rot, Resede für Gelb und Bälle getrockneten Waids für Blau. Da dieser Kreuzblütler teuer war, sparte sie daran. Überhaupt achtete sie mit scharfem Hausfrauenblick auf den Geldbeutel, denn seit die Normannen gekommen waren, mussten sie sich einschränken.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie eine Bewegung wahr, und bevor sie sich umdrehen konnte, schlang sich ein harter Arm um ihre Taille. Sie wurde vom Boden hochgehoben und in eine bärenhafte Umarmung gezogen, die ihr den Atem nahm. Empört schrie sie auf und kämpfte darum, sich loszumachen.
»Christen, alles ist gut, ich bin es!« Ein bärtiges Gesicht ragte über ihr auf und küsste sie unsanft auf die Wange.
»Osric!« Sie starrte den Bruder, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit die Rebellen letztes Jahr Hereford überfallen hatten, schockiert und ziemlich bestürzt an. »Lieber Gott, was tust du hier?« Die Ringe seines Kettenhemds gruben sich in das Fleisch ihrer Wange, und der harte Rand eines Schwertknaufs stieß gegen ihre Rippen. Sie gewann ihre Fassung zurück, befreite sich aus seinen Armen und funkelte ihn ärgerlich an. Sie wusste schließlich aus langer Erfahrung, dass sein kräftiger, massiver Körper das einzig Verlässliche an Osric war.
»Sieh mich nicht so an.« Er stieß ein verlegenes Lachen aus und fuhr sich mit einer Hand durch sein dichtes, helles Haar.
»Wie soll ich dich sonst ansehen?«, fauchte sie. »Ein Jahr vergeht ohne irgendeine Nachricht von dir, und dann springst du aus dem Nichts heraus auf mich los, quetschst mich fast zu Tode und erwartest, dass ich überglücklich bin. Bist du immer noch bei den Rebellen?« Schon als sie die Frage stellte, kannte sie die Antwort. Er hatte auf dem Schlachtfeld von Hastings gekämpft und bloß überlebt, weil er vor dem endgültigen Gemetzel geflohen war. Der Kampf war für ihn jedoch nicht vorbei und würde es auch nie sein. Er ließ die Hand sinken. »Ich bin bei den freien Engländern«, berichtigte er sie steif.
Unbeeindruckt verschränkte sie die Arme vor der Brust. Osric öffnete den Mund, wollte wohl protestieren, änderte dann aber seine Meinung und bedachte sie mit einem bittenden Blick aus großen haselnussbraunen Augen. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte er.
Christen hätte ihn am liebsten erwürgt. Wohin immer Osric ging, folgte ihm unweigerlich das Chaos, und seine Pläne erwiesen sich stets als verhängnisvoll für jeden, der dumm genug war, sich in sie verstricken zu lassen. So war es seit ihrer Kindheit. Sie beschrieb eine brüske Geste. »Du kommst besser in die Halle und brichst dein Fasten. Lyulph liegt noch im Bett. Wer ist das denn?« Ihr Blick schoss zu sechs Männern, die sich verstohlen in der Nähe des Stalls herumdrückten.
Osric zuckte die Achseln und täuschte Lässigkeit vor. »Meine Kriegertruppe. Wir sind auf dem Weg, uns westlich von hier wieder Eadric Cild anzuschließen.«
Die Rede war von einem englischen Rebellen, der entschlossen war, sich der normannischen Herrschaft bis zum bitteren Ende zu widersetzen. Nach einem erfolglosen Versuch, den Normannen die Grafschaft Herefordshire abzujagen, hatte er sich über die Grenze nach Wales zurückgezogen, und niemand vermochte mit Sicherheit zu sagen, wo er als Nächstes zuschlagen würde. Weder er noch William FitzOsbern scherten sich darum, was sie zerstörten, wenn es ihnen im Weg stand.
»Also schön, nur halte sie von unseren Pferden fern«, schnappte sie. »Der Himmel weiß, dass Lyulph genug Mühe hat, sie vor FitzOsberns Zugriff zu schützen, ohne dass du versuchst, sie dir gewissermaßen auszuborgen.«
»Christen!« Osric warf ihr einen Blick vor Tadel triefenden Blick zu.
»Ich bin erwachsen geworden«, gab sie resigniert zurück, »und Lyulph ist vorzeitig gealtert. Wir sind darüber hinaus, auf dem Rücken des Ruhms in den Tod zu reiten. Du kannst die Leute in die Halle bringen, damit sie etwas essen und trinken, hierbleiben kannst du mit ihnen nicht oder uns als Zufluchtsort benutzen. Ich werde jetzt gehen und meinen Mann wecken.«
Mit verkniffenen Lippen brachte Christen den Männern Brot, Quarkkäse und frisches Ale.
»Du gehst also nach Wales, um wieder zu Eadric Cild zu stoßen?«, fragte Lyulph und musterte seinen Schwager aus blassen blauen Augen.
Osric brach sich ein Stück Brotkruste ab und schob es in den Mund. »Wenn wir die normannische Blockade durchbrechen können, ja. Es sollte nicht schwierig werden, wir haben schon eine ganze Horde abgeschüttelt, die uns auf den Fersen war.«
»Dann werdet ihr also verfolgt?« Lyulph hob die Brauen.
Sein Schwager zog verlegen die Schultern hoch. »Wir haben sie letzte Nacht im Wald abgehängt. Du weißt, dass ich euch nie in Gefahr bringen würde.«
»Ich weiß nichts dergleichen«, beschied Lyulph ihn streng. »Allein deine Anwesenheit bringt uns in Gefahr.«
Osric spülte das Brot mit einem Schluck Ale hinunter. »Es war keine große Truppe. Wir hätten kehrtgemacht und gekämpft, doch sie hatten Pferde, und wir waren zu Fuß. Es war leichter, uns im Schutz der Dunkelheit davonzumachen. Wir werden nicht lange bei euch bleiben, das verspreche ich dir.«
Lyulph sagte nichts, aber sein Mund war nach unten gezogen, und sein Gesichtsausdruck drückte Missbilligung und Ärger aus. Osrics Verfolger konnten nicht weit weg sein, fürchtete er, es sei denn, sie hatten die Jagd aufgegeben und waren umgekehrt.
»Es freut mich, das zu hören«, erklärte er trotzdem und bedeutete Christen, sie alleine zu lassen, damit sie reden konnten.
Folgsam ging sie nach draußen, um nach der Farbwanne zu sehen und die Diener in der Küche anzuweisen, zusätzliches Essen für die Mittagsmahlzeit zuzubereiten. Sie wusste genau, was sich zwischen Lyulph und ihrem Bruder abspielen würde. Osric würde um Speere, Äxte und Pferde bitten, um sie mit nach Wales zu nehmen, und Lyulph würde einwilligen, damit er mit seinen Leuten Ashdyke, ihr Land und ihren Besitz, verließ. Er fordert sozusagen Tribut ein, dachte sie verdrossen. Warum konnte Osric sie nicht in Ruhe lassen? Sie hatten auch so mit genug Problemen zu kämpfen.
Sie beugte sich über ein Fass mit dampfendem Krapp und hielt Wollstränge bereit, als Lyulph aus der Halle kam, um mit ihr zu sprechen. Er hinkte leicht. Sein Stolz verbot es ihm, in Gegenwart ihres Bruders einen Stock zu benutzen, wenngleich sie ihm ansah, welche Anstrengung ihn das kostete. »Deck an unserer Tafel für sieben weitere Männer«, wies er sie schroff an, »und lass das Essen früh servieren. Danach wird Osric fortreiten.«
»Reiten?« Sie trat zur Seite, damit eine Dienerin einen weiteren Eimer Wasser in den brodelnden Kessel gießen konnte. »Wir können keine Pferde entbehren. Das geht einfach nicht.«
Lyulphs Mund verhärtete sich. »Er gehört zur Verwandtschaft. Wir sind ihm verpflichtet.«
»Genau aus diesem Grund ist er hier. Er weiß, dass wir ihm verpflichtet sind.«
»Sie können nicht gewinnen«, sagte er bedächtig. »Vom Schlag König Harolds sind keine mehr übrig, außer vielleicht William von der Normandie, und den haben wir ohnehin längst, ob es uns nun gefällt oder nicht.« Er rieb sich mit der Handfläche über das Gesicht. »Dein Bruder will nicht hören, was ich in seinem Alter genauso getan hätte. Noch weit nach meiner eigenen Jugend hätte ich mich ihm angeschlossen und wäre mit ihm zu den Rebellen gegangen, weil er das Tuch seines Schicksals selbst webt und nicht mit leeren Händen und einem gebrochenen Körper am Webstuhl sitzt und sein Leben an sich vorbeiziehen lässt.«
Aus einem Impuls heraus hob sie eine Hand, um über seinen silbernen Bart zu streichen, und lächelte ihn voll besorgter, trauriger Zuneigung an. »Ich bin nicht sicher, ob Osrics Webkunst Früchte tragen wird«, sagte sie. »Ich jedenfalls würde nicht wollen, dass du meinem Bruder auf seinem Weg folgst.«
»Dabei wäre ich in seinem Alter einer hübschen jungen Frau von weit größerem Nutzen«, erwiderte Lyulph, verzog trübsinnig das Gesicht, und seine Augen umwölkten sich vor Schmerz.
Sie verschloss seinen Mund rasch mit ihrer Hand. »Ich will solche Worte nicht von dir hören, weil ich zufrieden bin, Mylord.«
Er zog ihre Hand weg. »Bist du das wirklich?«, wollte er wissen und betrachtete forschend ihr Gesicht.
»Ja.« Sie würde ihm den Teil zugestehen, der der Wahrheit entsprach, und den anderen für sich behalten. »Du bist ein guter und rücksichtsvoller Ehemann. Hätte mich König Edward einem seiner jungen Krieger zur Frau gegeben, gäbe es dennoch keine Gewissheit, dass mein Leben mit ihm in irgendeiner Hinsicht erfüllter gewesen wäre. Ihm hätte deine Weisheit und Geduld gefehlt.«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Das sind nicht unbedingt Eigenschaften, die eine junge Frau über andere stellen würde.«
»Diese hier sehr wohl«, beharrte Christen. »Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass König Edward mich nicht mit einem Mann wie meinem Bruder verheiratet hat.«
»Ich verstehe, was du meinst«, entgegnete er mit melancholischer Belustigung und beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, bevor er zu den Ställen humpelte, um die Pferde herauszugeben, die zu verlieren sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Christen beobachtete, wie mühsam er sich vorwärtsschleppte, und eine eisige Hand schloss sich um ihr Herz. Seinen Schritten haftete eine bleischwere Endgültigkeit an, nicht die der Niederlage, sondern die müder Resignation.
Ihre Augen begannen zu brennen. Abrupt richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Farbzuber. Je eher Osric mit seinen Leuten aufbrach, desto besser. Selbst vor dem Gemetzel bei Hastings war er waghalsig und skrupellos gewesen, jetzt indes war diese Eigenschaft beispiellos und zu einer tief in ihm verwurzelten dunklen und gefährlichen Rücksichtslosigkeit geworden.
Sie saßen an dem langen Tisch in der Halle.Osric spießte eine Hühnerkeule auf die Spitze seines Messers und unterhielt die anderen mit einer angeberischen Geschichte seiner Taten bei den freien Engländern, als der Angriff der Normannen sie an diesem Sommertag traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Soeben hatte Christen noch einen Diener angewiesen, Lyulphs Becher nachzufüllen, als die Männer auf einen entsetzten Warnschrei hin aufsprangen und eine goldene Pfütze Ale sich über den Tisch und Christens Rock ergoss. Lyulph erhob sich und drehte sich ungelenk zur Wand, um seine Streitaxt herunterzureißen, schob sich schützend vor Christen und brüllte seinen verwirrten Gefolgsleuten Befehle zu.
Es kam ihnen vor, als hätten sie es mit Hunderten von Gegnern zu tun, obwohl Christen später erfuhr, dass es sich lediglich um zwanzig gehandelt hatte. Nichtsdestotrotz reichten sie aus, um eine kleine englische Gemeinschaft zu überwältigen, die ihre besten Krieger im Norden beim Kampf gegen Hardrada verloren hatte. Osric war weder ein Märtyrer noch all seiner Prahlerei zum Trotz aus dem Holz geschnitzt, aus dem große Anführer und Helden gemacht waren. Als die Normannen in die Halle strömten, sprang er über den Tisch, riss einen brennenden Scheit aus der Feuerstelle und setzte die Binsen, die den Boden bedeckten, in Brand. Als aus den kleinen Flammen Rauch und Gestank aufstiegen, rannte er zum Fenster am Rand des erhöhten Podestes und kletterte durch die Öffnung. Seine sogenannte Kriegertruppe folgte seinem Beispiel.
Christen zog hustend ihren Schleier vor Nase und Mund. »Geh hinaus ins Freie!«, rief Lyulph ihr zu. »Lauf in den Wald und versteck dich, bis ich komme, um dich zu holen.«
»Ich lasse dich nicht allein«, erwiderte sie entschlossen, dann hustete sie so heftig in das Leinen, dass sie würgte und ihn nur noch durch einen beißenden, verschwommenen Vorhang sehen konnte.
»Für Widerworte ist keine Zeit, tu, was ich dir sage«, befahl er und versetzte ihr einen derben Stoß.
Christen stolperte über ihr Kleid, richtete sich auf, taumelte mit brennenden Augen durch die Halle und über die Gestalten in Rüstungen, die Osrics dürftige Sperre aus Rauch und Feuer durchbrachen, und floh.
In ihrer Schlafkammer griff Christen nach ihrem Umhang, stopfte ihren Schmuck in einen Stoffbeutel und rannte zum Fenster. Sie zuckte mit einem Aufschrei zurück, als sich ein normannischer Soldat rittlings auf das Fensterbrett schwang und mit erhobenem Schwert, in dessen Klinge sich das Licht fing, in den Raum sprang. Draußen schrie jemand auf Englisch und erhielt eine Antwort in normannischem Französisch, das sie nicht verstand. Voller Entsetzen wich sie vor dem Mann zurück.
Der Normanne hingegen kam mit erwartungsvoll geöffneten Lippen näher. Christen schleuderte den Stoffbeutel nach ihm, den er lachend auffing, aber entsetzt herumfuhr, als Lyulph in den Raum hinkte. Die Klinge seiner Axt war leuchtend rot verfärbt, dunkle Rinnsale rannen am Stiel hinunter und besudelten seine Hände. Vor Wut brüllend stürzte er sich auf den Normannen und kämpfte in der Hitze und Verzweiflung des Augenblicks wieder so, wie er es bei Stamford getan hatte. Christen spürte, wie etwas Heißes auf ihr Gesicht spritzte, bevor ihr Angreifer mit zerfetztem Kiefer vor ihren Füßen zusammenbrach.
Sie schrie auf und rannte zu Lyulph. Er hielt sie einen Herzschlag lang fest, bevor er sie herumdrehte, zum Fenster schob und kurz innehielt, um ihre Juwelen aus der noch immer zuckenden Hand seines Opfers zu reißen und die Schnur des Beutels an ihrem Gürtel zu befestigen. »Wir sind verraten worden«, keuchte ihr Mann. »Gyrth, der Schmied, ist zu den Normannen gelaufen, hat ihnen berichtet, dass wir Rebellen beherbergen, und ihnen die Tore geöffnet.«
Er hob sie hoch, zog die Kraft aus seiner Verzweiflung, und seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Hüften. Christen brauchte nicht zu fragen, warum der Schmied zu den Aggressoren gegangen war. Sie waren momentan diejenigen mit den guten Pferden und allen Rechten, und sie zahlten mit hartem Silber für Informationen. Leider hegte Gyrth einen Groll gegen ihren Mann, seit Lyulph, der in Ashdyke Befehle erteilen durfte, ihm im letzten Monat wegen einer Schlägerei im besoffenen Zustand eine Strafe auferlegt hatte.
»Wir treffen uns bei den hundert Eichen«, sagte Lyulph, als sie das Fensterbrett zu fassen bekam. »Wenn ich nicht komme, geh zu dem Nonnenkloster …«
Christen schrie eine Warnung, und Lyulph wirbelte herum. Seine Axt beschrieb einen glitzernden Bogen. Der Normanne heulte auf, als die Klinge seinen Schild durchschnitt, als bestünde er aus Butter, und ihm das Bein bis auf den Knochen aufschlitzte. Vergeblich versuchte Lyulph erneut zuzuschlagen, doch sein verletztes Bein gab unter ihm nach, und ein zweiter Normanne nutzte die Gelegenheit und rammte Lyulph sein Schwert so brutal in die Seite, dass es sich tief in sein Fleisch fraß.
Lyulph, der seine Axt noch immer umklammerte, starrte ungläubig auf das Blut, das seine Tunika durchtränkte. Er drehte sich zum Fenster um zu Christen, aber aus seinem Mund drangen keine Worte, sondern nichts als ein Blutschwall. Der Normanne hieb noch einmal auf ihn ein, sodass er in sich zusammensank.
Gleichzeitig schwang Christen ein Bein über das Fensterbrett und ließ sich in die Tiefe fallen. Der Aufprall verschlug ihr den Atem und jagte einen sengenden Schmerz durch ihre Knöchel und Knie, dabei war sie zum Glück nicht verletzt. Vor Angst und Schock schluchzend blickte sie sich um. Ihre Finger krallten sich fest um die Schnur des Juwelenbeutels.
Die Halle brannte lichterloh, da das Holz in den langen Sommertagen trocken wie Zunder geworden war, und die Normannen unternahmen nichts, um die Flammen zu ersticken. Sie sah die auf dem Boden verstreuten Leichen von Lyulphs Männern und die der männlichen Dienerschaft, die bei dem Versuch zu fliehen niedergestreckt worden waren, und andere, die um ihr Leben rannten und trotzdem gefangen und abgeschlachtet wurden. Sie konnte nichts tun für ihre Leute, es gab keine Fluchtmöglichkeit. Da war nichts als Feuer und Blut, begleitet von grölenden, triumphierenden Stimmen, die auf Französisch johlten. Und Lyulph war tot.
Ein Reitertrupp passierte die offenen Tore und donnerte über das Gelände direkt auf sie zu. Der Hengst an der Spitze war so schnell bei ihr, dass sie von seiner breiten, gescheckten Schulter umgestoßen wurde wie die Strohpuppe eines Kindes. Sie lag einige Meter entfernt, kaum bei Bewusstsein und mit dem Gesicht nach unten im Schmutz. Trotz ihrer Benommenheit nahm sie das Prasseln der Flammen und das Vibrieren von Hufschlägen unter ihrer Wange wahr. Ebenso die Schreie und die flehentlichen Bitten, das Triumphgebrüll und das schadenfrohe Gelächter.
Sie lag ganz still da, wagte nicht, sich zu rühren, und betete zu Gott und der Heiligen Jungfrau um Erbarmen und Beistand gegen diese Diener der Hölle.
Wachposten hatten die Tore gesichert, und weitere Normannen ritten nunmehr diszipliniert auf ihren stämmigen Schlachtrössern auf das Anwesen. Sie sah zu, wie sie abstiegen, und wusste, dass es keinen Ausweg gab, selbst wenn das Töten zu Ende war, wie es schien. Was sollte sie bloß tun? Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer noch die Bilder vor sich, wie Lyulph niedergemetzelt wurde. Den Schwertstoß, den Ausdruck auf seinem Gesicht in dem Moment, als er starb.
In der Nähe stritten sich zwei Normannen. Einen erkannte sie als den Mann, der Lyulph getötet hatte. Er war hochgewachsen und dünn, hatte ein ausgeprägtes Kinn und gestikulierte wütend mit geballter Faust. Seine Stimme war ein harsches Schnarren. Sein Gegner stand regungslos da und hob die Stimme nie über ein bestimmtes Maß hinaus, wenngleich er genauso entschlossen war, seinen Willen durchzusetzen wie der andere. Christen verstand ein wenig Französisch, da ihr Vater in friedlicheren Zeiten mit normannischen und angevinischen Weinhändlern Geschäfte gemacht hatte. Er hatte sogar eine Zeit lang erwogen, sie mit einem von ihnen zu verheiraten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, als ihr Vater gestorben war und König Edward sie Lyulph gegeben hatte.
»Ja, ihr wart zuerst hier«, sagte der eher ruhige Mann, in dessen Stimme unüberhörbar Abscheu mitschwang. »Für das hier gab es eigentlich keinen Anlass.«
»Die Leute haben Rebellen Zuflucht gewährt, wie Ihr sehr wohl wisst. Der alte Mann hat Sir Everard mit einer Streitaxt getötet, und Ihr sagt, es gab keinen Anlass?«
»Geschenkt, da ich Everard de Nantes kannte, würde ich sagen, der englische Lord hatte mehr als einen guten Grund.«
Der kampfeslustige Normanne griff nach seinem Schwert, während die Hand des ruhigen Soldaten vorschoss, um sich um die halb gezogene Waffe zu schließen. »Das wäre äußerst unklug. Meine Männer würden keine Sekunde zögern, dich zu töten, und ich kann mich auf sie mehr verlassen, als du dich je auf deine verlassen könntest. Ich übernehme hier das Kommando.«
Die Augen des Mannes flackerten. »Ich werde mich deswegen an den Earl of Hereford wenden«, drohte er und riss sein Handgelenk los. »Er hat befohlen, diesen Ort einzunehmen und wie üblich damit zu verfahren. In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, le Gallois.«
»Wende dich von mir aus an den Papst persönlich, nur verschwinde jetzt von hier, solange du noch über das notwendige Rüstzeug verfügst, um zu laufen und Söhne zu zeugen.«
»Wenn Sir Everard nicht tot wäre …« Der adlige Soldat mit Weisungsbefugnissen wandte sich zu seinem Pferd und schob den Fuß in den Steigbügel.
»Wenn das so wäre, würde ich ihn eigenhändig umbringen, das ist ein Versprechen.«
Christen sah eine Gruppe von Normannen fortreiten. Sie hatten ein paar Packpferde mit den Leichen von fünf Gefährten ihres Bruders bei sich, die wie erlegte Hirsche über die Sättel geworfen worden waren. Vermutlich als Beweis, um vom Earl of Hereford eine Belohnung zu fordern. Der zurückbleibende normannische Anführer verfolgte den Rückzug mit zusammengekniffenen Augen und in die Hüften gestemmten Händen, und Christen sah, wie er etwas vor sich hinmurmelte.
»Was soll mit diesen beiden passieren, Sire?« Ein Soldat zwang vor dem Normannen zwei gefesselte Gefangene mit einem Fußtritt auf die Knie, und Christen erkannte voller Entsetzen, dass es sich um Osric und seinen engsten Kameraden Hrothgar handelte.
»Hängt sie«, erwiderte der Ritter verächtlich. »Sie verdienen es nicht anders.«
»Nein!«, entfuhr es Christen. Sie sprang auf. Jeglicher Selbsterhaltungstrieb war verflogen; sie lief los, um sich mit ausgebreiteten Armen vor den gefesselten Männern aufzubauen, aber ihr beim Sprung aus dem Fenster verstauchter Knöchel gab nach, und sie fiel dem Normannen vor die Füße. »Im Namen unseres Erlösers, habt Erbarmen, ich flehe Euch an!«
Er betrachtete sie. Es war schwer, in seinem Gesicht zu lesen, weil die Nasenschiene seines Helms die Feinheiten verbarg. »Warum sollte ich das tun?«, wollte er wissen.
»Osric ist mein Bruder.« Christen schluckte und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Er ist das Einzige an Familie, was mir geblieben ist. Ihr habt meinen Mann getötet, der hier der Lord war, und mein Heim brennt. Ich habe schon zu viel verloren.«
»Wisst Ihr, was er und seine Kriegertruppe gestern einem meiner Dorfbewohner angetan haben?«, erkundigte er sich mit harter Stimme.
»Sie lernen von normannischem Beispiel«, gab Christen spontan zurück und vollführte eine Geste, die das verwüstete Gelände umfasste. Die Halle brannte immer noch, deshalb hatten Soldaten eine Eimerkette gebildet, die vom Brunnen zu dem Gebäude führte, und in diese Kette hatten sich auch die überlebenden Bewohner von Ashdyke eingegliedert.
»Das mag sein, bloß bezweifle ich manchmal, dass sie Anleitung benötigen.« Er nickte einem Soldaten, der seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, zu und machte Anstalten, sich abzuwenden.
»Ich bitte Euch, wenn Ihr einen Funken Mitgefühl in Eurer Seele habt, verschont ihn.«
Er maß sie mit einem harten Blick. »Ich bin nicht sicher, ob das der Fall ist.«
»Sire, ich habe gehört, wie Ihr zu dem anderen Mann gesagt habt, es gebe keinen Anlass für dies hier, und ich dachte, Ihr hättet vielleicht mehr christliches Mitgefühl. Bitte …« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr dafür entschädigt werdet.«
Seine Lippen verzogen sich vor Widerwillen. »Ich glaube nicht, dass Euer Bruder eine solche Entschädigung wert ist«, sagte er, »dennoch werde ich über das nachdenken, was Ihr gesagt habt, und gebe Euch den Rat, keinerlei Mutmaßungen über mich anzustellen. Sei es bezüglich christlichen Anstands oder wie offen ich für Angebote bin. Ihr könntet Euch leicht irren.« Er bückte sich, zog sie auf die Füße, nickte ihr knapp zu und ging mit raschen, geschmeidigen Schritten zu seinen Männern hinüber.
Christen musterte das rußverschmierte Gesicht und das zugeschwollene blaue Auge ihres Bruders und empfand eine Mischung aus Mitleid und Feindseligkeit. »Warum hast du seine Ländereien ausgeplündert?«
Osrics haselnussbraune Augen weiteten sich vor Verwunderung. »Er ist ein Normanne! Was für einen anderen Grund brauche ich bitte?«
Sie blickte über ihre Schulter hinweg zu der Halle hinüber, die trotz der Eimerkette immer noch brannte, und dachte an den Hass und die Häme, die den Überfall begleitet hatten. Sie bildeten zwei Seiten derselben Münze. »Du solltest dir schnell einen Grund einfallen lassen, oder du wirst hängen. Du hast all das über uns gebracht. Denk einmal darüber nach.« Ohne ihm die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, ging sie davon, um dabei zu helfen, die Toten aufzubahren und die Verwundeten zu versorgen.
Osric und sein Freund wurden in die Eimerkette eingereiht und unter den wachsamen Augen eines mürrischen Wachpostens zum Arbeiten angetrieben.
Der Angriff war schnell und brutal erfolgt, die meisten von Ashdykes Kriegern waren mit Lyulph gestorben. Darunter Goddard, der an der Seite seines Lords bei Stamford gekämpft und ihn vom Schlachtfeld heruntergeschafft hatte, als Lyulph von einem Speer in den Oberschenkel getroffen worden war. Sein Vetter Edwin mit dem fröhlichen Lachen und der übermäßigen Vorliebe für Würfelspiele. Nun würde er nie wieder an einem Spielbrett sitzen, die Dienerinnen necken oder kleine Holzfiguren für die Kinder schnitzen. Der Koch Asmund war tot, genau wie die beiden Jugendlichen, die mit ihm gearbeitet hatten. Die vierzehnjährige walisische Gänsemagd Nesta war von einem wuchtigen Hieb am Hinterkopf getroffen worden und augenblicklich neben ihrer heruntergefallenen Schüssel mit Geflügelfutter gestorben.
Christen wusch Nestas Körper mit einem Lappen und wischte Blut und Schmutz ab. Sie kreuzte ihre Arme auf der Brust und bedeckte das Mädchen mit dem leuchtend roten Umhang, den sie immer bei ihrer Arbeit getragen und den sie über alles geliebt hatte.
Als das Feuer in der Halle und den angrenzenden Kammern endlich unter Kontrolle war, wurden die Leichen herausgebracht. Einige von ihnen waren rußgeschwärzt und entstellt, und bereits lange ihren Verwundungen im Feuer und im Rauch erlegen. Lyulph wurde in dem schwächer werdenden Nachmittagslicht auf einem Tisch aufgebahrt.
Christen holte frisches Wasser und wusch ihn, so gut sie konnte. Sie kämmte sein Haar und seinen Bart, glättete das goldene und silberne Geflecht, küsste Lyulphs kalte Wange und faltete seine Hände über einer der schrecklichen Wunden auf seiner Brust. Kräftige Hände, die nach jahrelangem Gebrauch knorrig zu werden begannen. Hart, wenn sie sich um den Stiel einer Axt schlossen, sanft dagegen auf ihrer Taille. Leb wohl, Lyulph, persönlicher Krieger des Königs. Ihre Augen waren trocken, als sie seinen Leichnam anblickte, sie war jenseits aller Tränen, zu tief war ihre Trauer. Kein Übermaß an Wehklagen würde die Toten begleiten. Zunächst waren es die Lebenden und ihr weiteres Überleben, worum es sich zu kümmern galt.
»Ich habe Euch etwas gebracht, um ihn zu bedecken«, sagte der normannische Anführer und reichte ihr eine wollene Decke. Es war ein walisisches Plaid von guter Qualität mit geflochtenem Rand.
»Lyulph«, sagte sie. »Sein Name ist Lyulph.« Nicht war, sondern ist. »Er sollte mit seinem eigenen Umhang zugedeckt werden.«
»Ja, aber leider ist das nicht möglich, weil alles verbrannt ist.«
Christen nahm ihm die Decke daraufhin schweigend ab und breitete sie über den Leichnam ihres Mannes. Sie würde genügen müssen. Und der Normanne hatte sie wenigstens ihr gegeben, statt den Toten selbst zu bedecken. Das hätte sie nicht ertragen.
»Der Priester kommt am nächsten Morgen«, fügte er hinzu.
Sie nickte zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte, und betete, dass er gehen möge. Als er das endlich tat, hob sie eine Ecke von der Decke an, drückte die weiche Wolle gegen ihre Wange und betrachtete Lyulphs geschlossene Augen, die noch vor wenigen Stunden offen und lebendig in die Welt geblickt hatten.
Im Traum zügelte Miles sein Pferd auf dem Gipfel des Hügels und sah zu, wie sich ein blutroter Sonnenaufgang aus dem Nebel des Oktobermorgens erhob und den Hang unter ihm in ein Farbenspiel tauchte. So weit das Auge reichte, war der Boden mit Leichen übersät, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren und nun als leblose, verstümmelte Opfer der Landschaft ihren Reiz und ihre Würde nahmen. Es war die Kampfelite von König Harolds Engländern, die mächtigen, axtschwingenden Krieger, Mitglieder seiner Leibgarde, die man Huscarls nannte. Auch eine große Anzahl ihrer normannischen Feinde hatte die Schlacht nicht überlebt. Eine leichte Brise ließ die Wimpel an zurückgelassenen Lanzen flattern und bauschte das Gefieder der aasfressenden Vögel auf, die zwischen den Toten umherhüpften und auf steifen Schultern und reglosen Brustkörben hockten, um sich ihr Festmahl zu holen.
In der Ferne irrte eine Gruppe dunkel gekleideter Frauen zwischen den Gefallenen herum. Sie erinnerten ihn an die Mätresse des Königs und seine Mutter, die in seinem Traum auf Geheiß von Herzog William nach dem verstümmelten Leichnam ihres Lords suchten.
Das Klirren des Zaumzeugs von seinem Hengst Cloud schreckte ihn auf. Miles hatte sich, um dem fürchterlichen Anblick zu entgehen, zu anderen erschöpften Kameraden ins Gras gelegt und war sofort vom Schlaf übermannt worden und hatte einen neuen Albtraum erlebt.
Er sah, wie sich blutige Lumpen hinter ihm aufrichteten und eine Axt in Richtung seines Rückgrats geschwungen wurde. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd, erwachte Miles le Gallois, ein Krieger aus dem Gefolge William des Eroberers, aus seinem Minutenschlaf.
Nach Atem ringend, desorientiert und panikerfüllt lag er da. Eine in einen Umhang gehüllte Gestalt neben ihm grunzte, wälzte sich herum, fand eine bequemere Schlafposition und begann wenig später zu schnarchen. Miles holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Obwohl die Schlacht von Hastings drei Jahre her war, wurde er gelegentlich von Albträumen wie diesem heimgesucht. Dabei war es nicht die erste Schlacht, an der er teilgenommen hatte, doch er war dem Tod noch nie so nah gekommen wie in den Sekunden, bevor er seinen Hengst Cloud aus der Reichweite einer Axt getrieben hatte und der englische Krieger tot auf den blutgetränkten Boden gefallen war.
Als er erneut durchzuatmen versuchte, schmeckte er Rauch in der Kehle. So eine nutzlose Verschwendung, die hier stattgefunden hatte. Die Strafmaßnahmen, die FitzOsberns Männer so bereitwillig vollzogen hatten, waren mit ein Grund, warum die Engländer so widerborstig waren und man mit ihnen keine Einigung erzielte. Vergewaltigung und Plünderung waren keine geeigneten Mittel, um mit Menschen zu verhandeln, nur kannte der Earl of Hereford keine andere Sprache. Allerdings war seines Wissens nach der verheerende Brand von der Gegenseite, von den beiden englischen Gefangenen ausgelöst worden, die daraufhin an den Pfosten im Hof gefesselt worden waren.
Miles schob seine Decke weg, stand auf und streckte sich. Im Osten war der Himmel bereits heller und würde bald den rötlichen Hauch der Morgendämmerung zeigen. Ein Wachposten zündete unter einem kleinen Kessel ein Feuer an. Miles nickte ihm zu, gähnte, rieb den schmerzenden Arm, mit dem er seinen Schild trug, und schlenderte zu der Abortgrube, um sich zu erleichtern, bevor er zu der Palisade hochstieg, von der aus er die Lage im Umland kontrollierte.
Das zunehmende Licht ermöglichte ihm einen Blick über die Ansiedlung in der unmittelbaren Umgebung und das Land. Unter dem Steilhang, auf dem das große Haus, der Besitz für die ganze Familie, erbaut worden war, glitzerte der Fluss Wye wie eine frisch gehäutete Schlange. Hinter seinen Windungen führte die alte römische Straße im Osten Richtung Hereford und westlich nach Wales. Zwischen Straße und Fluss lagen fruchtbare Felder. Vieh graste auf den Feuchtwiesen und Schafe auf dem höher gelegenen, felsigeren Grund zwischen Dorf und dem Anwesen des Lords, der über alles befehligte.
Miles blickte über seine Schulter hinweg zu der vom Feuer beschädigten Halle und der hinteren Palisade, die von einem Laubwald gesäumt wurde, und kniff nachdenklich die Augen zusammen. Im Laufe der nächsten halben Stunde wanderte sein Blick, während der Himmel sich von einem matten Rosarot zu gelblichem Gold verfärbte, konzentriert zwischen Fluss, Straße und Feldern hin und her, bevor er zu der Palisade und dem angekohlten Gebäude zurückkehrte, das sie noch schützte. Als die Sonne den Rand der Mauer erreichte, verließ er den schmalen Weg auf dem schützenden Wall und begab sich wieder in den Hof hinunter.
Christen fühlte sich schrecklich steif und zerschlagen, als sie aus einem kurzen, unruhigen Schlaf erwachte und sich kaum bewegen konnte. Mühsam und ein Stöhnen unterdrückend, setzte sie sich auf und nahm den Becher Ale entgegen, den ihr Wulfhild, eine der Dienerinnen, hinhielt, die den Brand unverletzt überstanden hatten. Die Morgendämmerung war noch nicht vollständig hereingebrochen, aber sie konnte erkennen, dass Wulfhild ein übermäßiges Interesse an den normannischen Männern hatte, die am Lagerfeuer saßen.
»Gefällt dir irgendetwas an ihnen?«, fragte Christen und massierte ihren Nacken. »Es sind immerhin unsere Feinde und haben viele unserer Leute umgebracht.«
Verlegen riss das Mädchen den Blick von den Soldaten los. »Das sind gute Männer, Mylady. Sie wollen uns nichts zuleide tun. Ich weiß, dass sie das nicht wollen«, behauptete sie, eine Meinung, die ihre englischen Stammesgenossen sicher nicht teilten. Prompt reagierte ihre Herrin.
»Ich nehme an, einer von denen hat dir das gesagt«, sagte Christen mit ätzendem Sarkasmus und trank einen Schluck Ale.
»Ja, Mylady«, antwortete Wulfhild arglos und naiv. »Er ist Engländer und heißt Leofwin, er wurde in der Nähe von Wigmore geboren und wuchs dort auf. Sein Herr ist Miles le Gallois, der Lord von Milnham-on-Wye, ein gebürtiger Engländer.«
»Gestern hat er allerdings eindeutig wie ein Normanne gesprochen«, entgegnete Christen, bei der Wulfhilds Auskunft durchaus Interesse geweckt hatte.
»An ihm ist nichts Englisches, Mylady.« Das junge Mädchen brannte darauf weiterzugeben, was sie wusste. »Sein Vater war einer der Normannen, die sich zur Zeit des alten Königs Edward hier niedergelassen haben, um die Grenze vor Überfällen aus Wales zu schützen, und in den Adern seiner Mutter fließt adeliges walisisches Blut.«
Daher der Name le Gallois, dachte Christen, die normannische Bezeichnung für einen Waliser. Als sie zu den Soldaten hinüberblickte, sah sie einen stämmigen jungen Mann mit schulterlangem dunklem Haar, der Wulfhild angrinste, und sofort erriet sie, wer das war.
»Das ist Leofwin«, bestätigte das Mädchen.
»Du hast keine Zeit verloren, wenn ich das richtig sehe«, sagte ihre Herrin mit leisem Vorwurf.«
Die Dienerin reagierte gekränkt. »Nicht alle Geschichten stimmen, Mylady«, erwiderte sie. »Diese Männer sind nicht so wie die andere Truppe.«
»Sie haben Speere und Schwerter und Schilde«, widersprach Christen heftig. »Sie sind zwar nicht fortgeritten, bloß erzähl mir nicht, dass sie unseretwegen noch hier sind. Sie bleiben nicht, um uns zu beschützen, sondern weil es ihren Plänen dienlich ist.«
Wulfhild zuckte die Achseln. »Sie haben uns das Leben gerettet«, sagte sie schlicht. »Ohne sie wären alle Männer getötet und wir vergewaltigt und danach höchstwahrscheinlich ermordet oder verkauft worden. Schaut Euch an, was passiert ist, bevor sie gekommen sind und die anderen verjagt haben. Und sie haben geholfen, das Feuer zu löschen.«
Christen blickte zu der Reihe der in Leichentücher gehüllten Körper hinüber, bei deren Aufbahrung sie am Tag zuvor geholfen hatte. Lyulph lag, durch die Plaiddecke gekennzeichnet, zwischen ihnen. Dann musterte sie die zusammengekauerten Überlebenden, von denen viele Verletzungen aufwiesen, und gab heimlich zu, dass Wulfhild recht hatte. Wenn sie die Geschehnisse noch weiter zurückverfolgte, dann saß die Wurzel des Übels an einen Pfosten gebunden in der Nähe des Misthaufens. Es war schwierig und schmerzlich, in diese Richtung zu denken. Sie wusste, was und wie Osric war, doch er war ihr Bruder und ihr Blutsverwandter. Es gab Momente in der Vergangenheit, wo er unterhaltsam und liebenswert gewesen war. Auch wild und verantwortungslos, das stimmte, trotzdem hatte sie diesen Wesenszug gemocht. Außerdem empfand sie ihm gegenüber immer noch Pflicht- und Verantwortungsgefühl, das war sie ihm schuldig, weil er selbst über beides nicht verfügte.
Jetzt beobachtete sie, wie Miles le Gallois an das Feuer der Normannen trat, sich auf die Fersen kauerte und von dem Jungen namens Leofwin einen Becher entgegennahm. Er trug weder einen Helm noch eine gepolsterte Kappe, hatte kurze kohlschwarze Locken und eine olivfarbene Haut. Seine Züge waren fein geschnitten, und er schaute für einen Krieger sehr gelassen, wirkte eigentlich nicht anders als gestern während der Auseinandersetzung mit dem erzürnten Söldner. Er sagte kurz etwas zu Leofwin und erhielt eine Antwort, die ihn veranlasste, die Brauen hochzuziehen und in Richtung der Frauen zu lächeln. Dann leerte er seinen Becher, erhob sich und kam auf sie zu.
»Lady, würdet Ihr ein Stück mit mir gehen, wenn es Euch recht ist?« Er streckte Christen seine Hand hin.
Seine Stimme klang angenehm, dennoch war es ein als Bitte formulierter Befehl. Nach kurzem Zögern legte Christen ihre Hand in seine und gestattete ihm, sie auf die Füße zu ziehen. Seine Hände waren gut geformt, kräftig und hart, und als sie sich um ihre schlossen, musste sie gegen den Drang ankämpfen, sich loszumachen. Sie strich mit der freien Hand ihr Kleid glatt, registrierte die braunen Blutflecken und die Rußstreifen, und ihr wurde übel. Diese Kleider waren alles, was sie noch besaß. Die Truhe mit den anderen Gewändern, Hemden und Schuhen hatte das Feuer nicht überstanden.
Miles führte sie schweigend über den Hof auf die Palisade zu. Sein Griff war locker, aber sie gewann den Eindruck, dass er sich jeden Moment verstärken konnte, wenn es notwendig sein sollte, sie festzuhalten.
»Einige meiner Männer haben sich auf den Weg in das Dorf Ashdyke gemacht, um den Priester zu rufen, damit er sich um die Toten kümmert und sie in die Kirche schafft«, sagte er. »Es wird eine Totenmesse für sie gelesen, und sie werden anständig begraben.«
»Danke«, erwiderte sie und stellte fest, dass sie heute Morgen die Worte auszusprechen vermochte, die sie gestern nicht über die Lippen gebracht hatte. »Und danke noch einmal für die Decke, die ich für Lyulph bekommen habe.«
»Das hat mir meine Ehre geboten«, erklärte er. »Ich habe meine Männer angewiesen, nicht allein den Priester, sondern auch die Dorfbewohner mitzubringen.«
»Die Dorfbewohner?« Sie starrte ihn an. Das frühe Morgenlicht fiel voll auf sein Gesicht, und seine Augen schimmerten in einem lebhaften, blau gefleckten Grün. »Warum die Dorfbewohner? Was habt Ihr mit ihnen vor?«
»Nichts zu ihrem Nachteil«, beruhigte er sie. »Sie müssen in allen Einzelheiten erfahren, was letzte Nacht geschehen ist und wie die Konsequenzen für sie aussehen.«
»Was meint Ihr mit Konsequenzen?«, fragte sie mit aufflammendem, angstvollem Misstrauen.
»Nichts Schlimmes, das verspreche ich Euch. Ich besitze selbst Land, auf dem Engländer und Waliser siedeln, schon seit der Zeit vor der großen Schlacht.«
Sie nickte vorsichtig. »Ich habe davon gehört.«
»Sie werden im Übrigen die geschäftlichen Angelegenheiten dieses Morgens bezeugen«, fügte er hinzu.
»Was für geschäftliche Angelegenheiten?«, hakte Christen nach, die sich mit einem Mal vorkam, als hätte sich ein Stein in ihrem Magen festgesetzt.
»Das hängt von Euch ab.«
Sie hatten die Treppe zu der Palisade erreicht, und er gab ihre Hand frei, damit sie zu dem Weg hochsteigen konnte. Oben beschrieb er mit dem Arm einen Bogen, der das sich vor ihnen erstreckende Land umfasste. »Schaut«, sagte er. »Schaut Euch um.«
Verwirrt tat Christen, wie ihr geheißen wurde. »Seit Stamford und Hastings liegt ein Teil des Ackerlands aus Mangel an Arbeitskräften brach«, sagte sie, und ihre Miene verfinsterte sich. »Ohnehin gibt es nicht mehr so viele Münder zu füttern wie früher.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu, und sie erklärte, was sie meinte. »Lyulph hat sich nicht darum gekümmert«, sagte sie leise. »Sein Körper wurde bei Stamford verstümmelt, seine Seele bei Hastings, wenngleich er an der großen Schlacht gar nicht teilgenommen hat. Was danach von ihm blieb, war wenig mehr als ein Schatten. Warum sollte er dafür sorgen, dass die Felder bestellt wurden, wenn er keinen Sinn mehr darin sah und so viele Bauern, die er gekannt hatte, fort waren?« Ihre Kehle schnürte sich zu, und sie blickte auf ihre Hände hinunter.
»In Wirklichkeit ist die Verwahrlosung rein oberflächlich. Dieses Land ist nämlich fruchtbar.« Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ihr seid eine junge Frau mit Landbesitz, und ich bin nicht der einzige Mann mit den Augen eines Soldaten. Dies hier ist der perfekte Ort, um einen Bergfried zu bauen, von dem aus kontrolliert werden kann, wer sich Hereford und der walisischen Grenze nähert. Solange er von einer starken Hand beherrscht wird, wird es dem König und dem Earl of Hereford gleichgültig sein, wer diese starke Hand ist.«
Christens Augen weiteten sich, als ihr dämmerte, worauf er hinauswollte. Sie würde in eine Ehe mit einem Mann gezwungen werden, der Ashdyke für sich beanspruchte, und es würde nicht darauf ankommen, wer er war, Hauptsache, er diente den Interessen seiner normannischen Herren.
»Eher würde ich sterben!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass das nicht notwendig ist. Ich übe hier die Macht aus und habe nicht die Absicht, sie wieder aufzugeben. Beim König finde ich ein offenes Ohr, und meine Familie ist mit dem Earl of Hereford gut bekannt. Es mögen einige harte Worte gefallen und erbittert gefeilscht worden sein, doch ich glaube, ich bin bei beiden Männern gut genug angesehen, um die Herrschaft über Ashdyke auf Dauer übertragen zu bekommen. Wenn Ihr einwilligt, mich zu heiraten, wird das mein Besitzrecht festigen und Eure Zukunft sichern.«
Sie starrte ihn schockiert an. »Euch heiraten?«
»Wenn ich hier alles aufbaue und für Wohlstand sorgen soll, benötige ich eine Person zur Unterstützung, der die Leute vertrauen.«
Sie schüttelte den Kopf und trat verschreckt einen Schritt zurück.
»Ich habe die Absicht, mir Ashdyke zu sichern«, beteuerte er unbeirrt. »Mit Eurer Kooperation wäre es für mich leichter, am Ende jedoch läuft es auf das schnellste Schwert und den schärfsten Verstand hinaus. Wenn Ihr mich akzeptiert, könnt Ihr weiterhin so leben wie mit Eurem früheren Mann. Die Haushaltsangelegenheiten würden Eure Sache sein, die militärischen meine.« Sein Blick wanderte zu einem beladenen Karren, der knarrend durch das Haupttor auf den Hof rumpelte. »Wenn Ihr Euch weigert, seht Ihr samt Euren Leuten einer ungewissen Zukunft entgegen, wenngleich ich davon ausgehe, dass Ihr ein Kloster finden werdet, das Euch aufnimmt.«
Christen blickte mit einem flauen Gefühl im Magen über die Palisade. Einen Mann heiraten, von dessen Existenz sie bis zum gestrigen Abend noch gar nichts geahnt hatte und von dem sie lediglich das Wenige wusste, was Wulfhild ihr kurz zuvor erzählt hatte? Ihr war, als würde sie zusehen, wie all dies jemand anderem widerfuhr. Gleich würde sie in ihrem Bett aufwachen, wo Lyulph noch neben ihr schlief und die Vögel ihren morgendlichen Gesang anstimmten. Der Moment verging, und sie stellte fest, dass sie immer noch neben diesem Fremden auf der Palisade stand. Als sie versuchte nachzudenken, kam sie sich vor, als würde sie unsicher durch Wolle waten.
Ihre Wahlmöglichkeiten waren beschränkt. Sollte sie ihn heiraten oder einen beliebigen anderen Mann, oder sollte sie es riskieren, sich auf der Straße durchschlagen zu müssen. Es gab noch einen Großvater in Staffordshire, den sie kaum kannte und der in einer Gegend lebte, wo es auf den Straßen von Räubern nur so wimmelte. Vielleicht war sein Vorschlag die beste von mehreren unangenehmen Lösungen ihres Problems.
»Wann würde die Hochzeit denn stattfinden?«
»Je eher, desto besser. Sagen wir übermorgen?«
»So bald?« Sie warf ihm einen bestürzten Blick zu und bemerkte das ungeduldige Glitzern in seinen Augen.