Die Hüterin der Krone - Elizabeth Chadwick - E-Book

Die Hüterin der Krone E-Book

Elizabeth Chadwick

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Beschreibung

In einer unbarmherzigen Zeit kämpfen zwei Frauen um Krone und Glück

England im 12. Jahrhundert. Der Kampf um die höchste Macht verbindet zwei sehr unterschiedliche Frauen: Matilda, Tochter Henrys des Ersten, ist bestimmt, die Krone Englands zurückzugewinnen. Und ihre Stiefmutter Adeliza, die nach dem Tod ihres Mannes einen Krieger der Opposition heiraten musste. Beide sind stark und bereit, für das einzustehen, an was sie glauben. Aber kann Adeliza in einer Welt, in der das Wort eines Mannes Gesetz ist, gleichzeitig ihrem Ehemann gehorchen und Matilda beim Kampf um die Krone unterstützen?

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Buch

England im 12. Jahrhundert: Matilda ist noch jung, als ihr Ehemann, ein deutscher Hochadeliger, stirbt. Sie ist das einzige Kind Henrys I. und somit seine rechtmäßige Erbin – außer seine Frau Adeliza wird endlich schwanger.

Die zwei unterschiedlichen Frauen verbindet bald eine tiefe Freundschaft, doch sie werden wieder getrennt, als Matilda mit Geoffrey verheiratet wird, einem Mann, der viel jünger ist als sie und den sie selbst nie erwählt hätte. Als dann auch noch Matildas Vater Henry stirbt, Adeliza mit einem anderen Mann verheiratet wird und zugleich ihr Cousin Stephen den Thron an sich zu reißen droht, noch bevor sie überhaupt nach England zurückkehren kann, muss Matilda um die Krone kämpfen.

Dazu braucht sie Adelizas Hilfe. Doch darf diese sich ihrem neuen Ehemann, einem Krieger der Opposition, widersetzen, um Matilda zu unterstützen?

Autorin

Elizabeth Chadwick lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Nottingham. Sie hat zahlreiche historische Romane geschrieben, die allesamt im Mittelalter spielen. Vieles von ihrem Wissen über diese Epoche resultiert aus ihren Recherchen als Mitglied von Regia Anglorum, einem Verein, der das Leben und Wirken der Menschen im frühen Mittelalter nachspielt und so Geschichte lebendig werden lässt.

Von Elizabeth Chadwick bei Blanvalet lieferbar:

Die normannische Braut (36015) · Der Ritter der Königin (36903) · Der scharlachrote Löwe (36904) · Der Falke von Montabard (36777) · Das Banner der Königin (37235) · Die Rose von Windsor (37707) · Die englische Rebellin (37708)

ELIZABETH CHADWICK

Die Hüterin der Krone

Roman

Aus dem Englischenvon Nina Bader

Die Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »Lady of the Englisch« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, an Hachette UK Company, London

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2013 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2011 by Elizabeth Chadwick

Copyright © 2013 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von Richard Jenkins Photography und Tupungato/Shutterstock.com

Redaktion: Friederike Arnold

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-09619-9

www.blanvalet.de

1

Speyer, Deutschland, Sommer 1125

Matilda hielt die Kaiserkrone ihres verstorbenen Mannes in den Händen. Sie spürte den kalten Druck der Juwelen und des harten Goldes. Das Licht, das durch das bogenförmige Fenster hereinströmte, ließ die warme Patina des Metalls erstrahlen. Heinrich hatte diese Krone an Festtagen und zu offiziellen Anlässen getragen. Sie besaß ein Gegenstück aus Gold und Saphiren, das von den besten Goldschmieden des Reichs für sie angefertigt worden war, und hatte im Laufe ihrer elfjährigen Ehe gelernt, ihr Gewicht mit Würde und Anmut zu tragen.

Ihre Untertanen nannten sie »Matilda die Gütige«. Im Gegensatz zu früher sah sie sie nun als ihre Untertanen an, und sie betrachteten sie als ihre Herrscherin. Einen Moment lang zog sich ihr Herz vor Kummer so stark zusammen, dass ihr der Atem stockte. Heinrich würde diese Krone nie wieder tragen, ihr nie wieder dieses Lächeln schenken, bei dem sich seine Lippen in belustigtem Ernst kräuselten. Sie würden nie wieder zusammen in ihrer Schlafkammer sitzen und kameradschaftlich über Staatsangelegenheiten diskutieren oder sich bei einem Bankett einen goldenen Becher teilen. Kein seinen Lenden und ihrem Schoß entsprungener Nachkomme würde einst auf dem Kaiserthron sitzen, weil es Gott für richtig gehalten hatte, ihren Sohn noch in der Stunde seiner Geburt zu sich zu nehmen, und nun ruhte Heinrich selbst hier in der roten Steinkathedrale in seinem Grab, und ein anderer Mann herrschte über alles, was einst ihr gehört hatte.

Matilda, die Gütige. Matilda, die Kaiserin. Matilda, die kinderlose Witwe. Die Worte hallten dumpf in ihrem Kopf wider wie Schritte in einer Gruft. Wenn sie blieb, würde sie ihrer Liste von Titeln noch Matilda, die Nonne, hinzufügen müssen, und sie hatte nicht die Absicht, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, jung, kräftig und vor Energie sprühend, und in der Normandie und England, dem Land ihrer Geburt, an das sie sich jetzt nur noch verschwommen erinnerte, erwartete sie ein neues Leben.

Sie drehte sich um und reichte die Krone ihrem Haushofmeister, damit er sie in ihre Einzelteile zerlegen und in dem ledernen Reisekästchen verstauen konnte.

»Herrin, wenn es Euch beliebt … Eure Eskorte ist bereit.«

Matilda musterte den weißhaarigen Ritter, der sich auf der Türschwelle verneigte. Ebenso wie sie hatte er für die Reise einen dicken Reitumhang angelegt und trug feste Stiefel aus Kalbsleder. Seine linke Hand ruhte leicht auf dem Griff seines Schwertes.

»Danke, Drogo.«

Während die Diener ihre restlichen Gepäckstücke forttrugen, schritt sie langsam durch die Kammer und betrachtete die kahlen, ihrer leuchtend bunten Behänge beraubten Wände, die leeren Bänke am Kamin und das ersterbende Feuer. Bald würde nichts mehr davon zeugen, dass sie jemals hier gelebt hatte.

»Abschied zu nehmen ist immer schwer, Herrin«, bemerkte Drogo voller Mitgefühl.

Matilda blieb an der Tür stehen. Ihr Blick schweifte immer noch wie in einem unsichtbaren Netz gefangen durch das Zimmer. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit acht Jahren am Ende der langen Reise von England vor Erschöpfung zitternd in der großen Halle in Liège gestanden hatte. Noch immer vermochte sie sich die Furcht ins Gedächtnis zu rufen, die sie damals empfunden hatte, und sie spürte den auf ihr lastenden Druck, als sie aus ihrem sicheren Nest gestoßen, in ein fremdes Land geschickt und mit einem erwachsenen Mann verlobt worden war. Die Verbindung war arrangiert worden, weil sie den politischen Plänen ihres Vaters zupasskam, und sie hatte gewusst, dass sie ihre Pflicht erfüllen musste und nicht seinen Unmut erregen durfte, indem sie ihn enttäuschte, denn er war ein großer König und sie eine Prinzessin von hohem königlichen Geblüt. Alles hätte in einer Katastrophe enden können, doch stattdessen hatte diese Ehe sie geformt und aus dem verängstigten, aber lernbegierigen Mädchen eine majestätische Frau und würdige Gefährtin des Kaisers von Deutschland gemacht.

»Ich bin hier glücklich gewesen.« Sie berührte den geschnitzten Türpfosten; eine Geste, mit der sie sich an diesen Ort band und zugleich Abschied von ihm nahm.

»Euer Vater wird sich freuen, dass Ihr wieder nach Hause kommt.«

Matilda ließ die Hand sinken und strich ihren Umhang glatt. »Du musst mich nicht beruhigen wie ein nervöses Pferd.«

»Das lag auch nicht in meiner Absicht, Herrin.«

»Was wolltest du denn dann?« Drogo war seit jener ersten langen Reise zu ihrem Verlobten bei ihr, er war ihr Leibwächter und der Anführer ihrer Rittergarde: stark, von unerschütterlicher Treue und verlässlich. Als Kind hatte sie ihn wegen seiner weißen Haare für steinalt gehalten, obwohl er erst dreißig Jahre gezählt hatte. Er sah heute noch fast so aus wie damals, nur dass ein paar neue Furchen sein Gesicht durchzogen und ältere tiefer geworden waren.

»Euch sagen, dass Euch eine neue Tür offen steht.«

»Und dass ich diese hier schließen soll?«

»Nein, Herrin, denn sie hat Euch zu dem gemacht, was Ihr heute seid – weshalb Euer Vater nach Euch geschickt hat.«

»Es ist nur einer seiner Gründe und beruht auf Notwendigkeit«, gab sie knapp zurück. »Ich mag meinen Vater ja viele Jahre nicht gesehen haben, aber ich kenne ihn nur zu gut.« Sie holte entschlossen Atem und verließ das Zimmer in würdevoller Haltung, als trüge sie ihre schwere Krone auf dem Haupt.

Ihr Gefolge, ein Halbkreis aus Dienstboten, Lehnsleuten und Beamten, erwartete sie bereits. Der größte Teil ihres Gepäcks war vor drei Tagen mit Karren vorausgeschickt worden, nur die engsten Mitglieder ihres Haushaltes begleiteten sie mit einer Handvoll Packpferden, die Vorräte und die notwendigsten Dinge trugen. Ihr Kaplan Burchard schaute immer wieder verstohlen zu dem Wallach hinüber, der mit den Teilstücken der tragbaren Kapelle beladen war. Matilda sah in dieselbe Richtung. Ihr Blick wanderte über eine Lederschatulle in einem Korb. Dann wandte sie sich ihrer Stute zu. Der prächtige lachsrote Sattel war ähnlich wie ihr Kaminstuhl gepolstert, mit Brokat bezogen und mit einer Rücken- und Fußstütze versehen. Auf diese Art kam sie vielleicht nicht allzu schnell voran, aber diese Ausstattung verlieh ihr Würde und unterstrich ihre prachtvolle Erscheinung. Die Bewohner der Städte und Dörfer, die sie durchquerten, erwarteten von der Witwe ihres Kaisers einen solchen offen zur Schau gestellten Prunk.

Matilda stieg auf, setzte sich zurecht und stellte die Füße nebeneinander auf die kleine Plattform. Sie saß seitlich, konnte also sowohl nach vorne als auch nach hinten blicken. Das war angemessen. Sie hob ihre schmale rechte Hand in Drogos Richtung, der das Signal mit einem Salutieren zur Kenntnis nahm und sich an die Spitze des Trupps setzte. Die goldenen, roten und schwarzen Banner entrollten sich flatternd, die Herolde trieben ihre Pferde zu einem leichten Trab an, worauf die Kolonne sich die Straße entlangwand wie auf eine Schnur gezogene Juwelen. Die Kaiserinwitwe Deutschlands verließ die Heimat ihres Herzens, um in die Heimat ihrer Geburt und zu neuen Pflichten zurückzukehren.

Adeliza krallte die Finger in die Bettdecke und unterdrückte ein Keuchen, als sich Henry aus ihr zurückzog. Er ging auf die Sechzig zu, war aber immer noch in guter körperlicher Verfassung. Die Wucht seiner Stöße hatte sie wundgescheuert und sein Gewicht sie tief in die Matratze gedrückt. Barmherzig ließ er von ihr ab und rollte sich schwer atmend auf den Rücken. Adeliza biss sich auf die Lippe, presste eine Hand auf ihren flachen Bauch und rang selbst nach Atem. Henry war gut bestückt und der Liebesakt oft sehr unangenehm, aber wenn es Gottes Wille war, hatte sie dieses Mal ein Kind empfangen.

Sie war seit über vier Jahren Henrys Frau und Königin von England, und noch immer stellten sich ihre Blutungen jeden Monat zur üblichen Zeit ein und Krämpfe, begleitet von einem Gefühl der Enttäuschung und des Versagens. Bislang hatten weder Gebete, Opfer noch Bußen oder Tränke etwas an ihrer Unfruchtbarkeit geändert. Henry hatte ein Dutzend Bastarde von verschiedenen Mätressen, demnach bestand an seiner Zeugungsfähigkeit kein Zweifel, aber nur ein einziges legitimes Kind, seine Tochter Matilda aus seiner ersten Ehe. Sein Sohn aus dieser Verbindung war gestorben, kurz bevor Henry Adeliza zur Frau genommen hatte. Er sprach selten von der Tragödie, die ihm den Sohn genommen hatte – er war in einer bitterkalten Novembernacht mit einem Schiff untergegangen und ertrunken. Aber seither wurde seine Politik von diesem Unglück bestimmt. Ihre Rolle bestand darin, ihm einen neuen männlichen Erben zu gebären, aber bislang war sie dieser Pflicht noch nicht nachgekommen.

Henry küsste ihre Schulter und drückte kurz ihre Brust, bevor er die Vorhänge auseinanderschob und aus dem Bett stieg. Sie beobachtete, wie er sich das lockige silberne Haar auf seiner breiten Brust kratzte. Seine stämmige Gestalt wies einen leichten Bauchansatz auf, aber sonst war sein Körper muskulös und wohlproportioniert. Er räkelte sich und gab ein Geräusch von sich, das an einen zufriedenen Löwen erinnerte. Unsere Vereinigung hat zumindest seine innere Anspannung gelöst, dachte sie, auch wenn keine andere Frucht daraus hervorgeht. Sein sexueller Appetit war nahezu unstillbar, und wenn er nicht in ihr Bett kam, vergnügte er sich regelmäßig mit anderen Frauen.

Aus der Karaffe, die auf einer bemalten Truhe unter dem Fenster stand, schenkte er sich einen Becher Wein ein und griff im Vorbeigehen nach seinem Umhang und warf ihn sich um die Schultern. Silberne und blaue Eichhörnchenfelle schimmerten im Kerzenschein. Adeliza setzte sich auf, schlang die Arme um die Knie und faltete die Hände. Das Brennen zwischen ihren Schenkeln ebbte zu einem dumpfen Pochen ab. Er bot ihr einen Schluck aus dem Becher an, und sie nippte vorsichtig daran.

»Matilda wird bald eintreffen«, sagte er. »Brian FitzCount wird ihr morgen auf der Straße entgegenreiten.«

Adeliza sah ihm an, dass er in Gedanken wieder an seinem politischen Netz wob.

»Es ist alles bereit für sie«, erwiderte sie. »Die Diener lassen in ihrer Kammer ein helles Feuer brennen, damit es angenehm warm wird und die Feuchtigkeit verfliegt. Ich habe Anweisung gegeben, Weihrauch zu verbrennen und Schalen mit Rosenblütenblättern aufzustellen, um einen süßen Duft im Zimmer zu verbreiten. Heute Nachmittag sind neue Wandbehänge aufgehängt worden, die Möbel stehen schon an ihrem Platz, und ich …«

Henry hob eine Hand, um ihr das Wort abzuschneiden.

»Ich bin sicher, dass es an der Einrichtung der Kammer nicht das Geringste auszusetzen gibt.«

Adeliza errötete und senkte betreten den Kopf.

»Ich denke, ihr werdet euch gut verstehen, ihr seid ja fast gleichaltrig.« Henry bedachte sie mit einem etwas herablassenden Lächeln.

»Es wird mir seltsam vorkommen, sie ›Tochter‹ zu nennen, wo sie doch kaum ein Jahr älter ist als ich.«

»Ich zweifle nicht daran, dass ihr euch schnell anfreundet.« Er lächelte immer noch, aber Adeliza merkte ihm an, dass seine Aufmerksamkeit anderen Dingen galt. Gespräche mit Henry bestanden nie aus belanglosem Klatsch, sondern verfolgten stets einen bestimmten Zweck. »Ich möchte, dass du ihr Vertrauen gewinnst. Sie war lange im Ausland, und ich muss über ihre Zukunft nachdenken. Manche Themen mögen sich ja für eine Ratsversammlung oder eine Unterhaltung zwischen Vater und Tochter eignen, aber anderes lässt sich besser von Frau zu Frau besprechen.« Er strich ihr mit einer kräftigen, schwieligen Hand über das Gesicht. »Du verfügst über großes Geschick im Umgang mit Menschen, sie öffnen sich dir sehr leicht.«

Adeliza runzelte die Stirn.

»Ich soll sie also aushorchen?«

»Ich will wissen, was in ihr vorgeht. In den letzten fünfzehn Jahren habe ich sie ein einziges Mal gesehen, und das auch nur für wenige Tage. Ihre Briefe halten mich zwar über Neuigkeiten auf dem Laufenden, aber sie sind in der Sprache der Schreiber verfasst, und ich möchte etwas über ihren wahren Charakter in Erfahrung bringen.« Ein hartes Glitzern trat in seine Augen. »Ich muss wissen, ob sie stark genug ist.«

»Stark genug wofür?«

»Für das, was ich mit ihr im Sinn habe.« Er wandte sich ab und begann, in der Kammer umherzugehen. Dann nahm er eine Schriftrolle, legte sie wieder weg, um mit einem juwelenbesetzten Stab herumzuspielen. Adeliza, die ihn beobachtete, musste an die Jongleure denken, die er zur Unterhaltung seiner Höflinge anheuerte und die ihre Bälle mühelos durch die Luft wirbelten. Sie wussten immer genau, wo welcher Ball war, während sie behände einen weiteren in die Höhe schleuderten und einen anderen verschwinden ließen, wenn sie ihn nicht mehr benötigten. In Ermangelung eines legitimen Sohnes musste er nach einem anderen möglichen Nachfolger Ausschau halten. Er bereitete seinen Neffen Stephen auf diese Rolle vor, aber nun, wo Matilda verwitwet war und es ihr freistand, nach Hause zu kommen und eine neue Ehe einzugehen, hatte sich das Blatt wieder gewendet. Die Überlegung, Matilda als Erbin Englands und der Normandie einzusetzen, übertraf an Kühnheit alles bisher Dagewesene – angesichts der Vorstellung, sich einer Frau unterwerfen zu müssen, würden sich auch die liberalsten seiner Barone an ihrem Wein verschlucken. Adelizas Brauen zogen sich zusammen. Ihr Mann beschritt oft ungewöhnliche Wege, aber er handelte nie übereilt, und er war es gewohnt, jedermann seinen eisernen Willen aufzuzwingen.

»Sie ist jung und gesund«, fuhr er fort. »Und sie hat bereits ein Kind zur Welt gebracht, auch wenn es die Geburt nicht überlebt hat. Sie wird wieder heiraten und weitere Söhne gebären, wenn Gott sich gnädig zeigt.«

Ein heißer Stich durchzuckte Adeliza. Wenn Gott sich gnädig zeigte, würde sie selbst Söhne gebären, aber sie verstand, dass er sich andere Möglichkeiten offenhalten musste.

»Schwebt dir schon ein bestimmter Kandidat vor?«

»Mehrere«, entgegnete er obenhin. »Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.«

»Aber wenn es so weit ist, erwartest du von mir, dass ich dir den Weg ebne.«

Henry stieg wieder in das Bett und zog die Decke über sie beide, dann küsste er sie mit harten Lippen.

»Es ist die Pflicht, das Vorrecht und das Privileg einer Königin, als Friedensstifterin zu fungieren«, versetzte er. »Und ich zweifle keinen Moment lang daran, dass du mich nicht enttäuschst.«

»Das werde ich nicht«, versicherte ihm Adeliza. Als er die Kerze neben dem Bett ausblies, tastete sie mit der Hand zwischen ihre Schenkel, spürte seinen klebrigen Samen und betete, dass ihr sehnlichster Wunsch diesmal in Erfüllung ging.

2

Straße nach Rouen, Normandie, Herbst 1125

Der Morgen war nass und unfreundlich gewesen, doch nach Osten hin hatte es immer mehr aufgeklart, während sich Matildas Gefolge durch die Wälder des Beauvais auf die große Stadt Rouen zubewegte, das Herz der Normandie am Ufer der Seine. Jetzt, eine knappe Stunde vor Sonnenuntergang, war der Himmel tiefblau, aber der Wind hatte aufgefrischt und kam in heftigen Böen. Heute Abend würden sie ihr Lager am Straßenrand aufschlagen. Gegen Mittag hätten sie mit einer von Brian FitzCount, einem der Barone ihres Vaters, angeführten Abordnung aus Rouen zusammentreffen sollen, aber bislang war von dem Trupp noch nichts zu sehen, und Matildas Verdruss und Ungeduld wuchsen stetig. Ihre Stute lahmte auf einem Hinterbein, sodass sie hinter Drogo auf der Kruppe seines Pferdes reiten musste, als sei sie eine gewöhnliche Dienerin und nicht seine Lehnsherrin. Ihre Ritter und ihr Gefolge hüteten sich, ihr zu nahe zu kommen. Drogos beschwichtigende Bemerkung, dass sie die nächste Nacht in einem komfortablen Quartier in Rouen verbringen würden, hatte ihre Laune auch nicht verbessert. Sie war es gewohnt, dass die Dinge nach Plan verliefen.

Eine Windbö traf sie in die Seite, und sie musste sich an Drogos Gürtel festklammern.

»Ich weigere mich, so in die Stadt einzureiten!«, zischte sie.

»Herrin, wenn es zum Schlimmsten kommt, überlasse ich Euch dieses Pferd und lasse mein Ersatzpferd satteln, aber solange es noch hell ist, besteht dazu kein Anlass.« Er sprach mit der ruhigen Gelassenheit eines Mannes, der mit ihren Ansprüchen und Forderungen seit langem vertraut war.

Sie musterte die im Westen versinkende Sonne, die wie geschmolzenes Gold aussah, und musste ihm Recht geben, trotzdem ärgerte sie sich. Warum konnten die Leute ihre Versprechen nicht halten?

Plötzlich zog der Ritter die Zügel mit einem Ruck an, woraufhin sie gegen seinen Rücken prallte.

»Bitte um Verzeihung, Herrin«, entschuldigte er sich. »Wie es aussieht, ist unsere Eskorte endlich eingetroffen.«

Matilda spähte an ihm vorbei und sah einen Reitertrupp in stetigem Trab auf sie zukommen.

»Hilf mir beim Absteigen«, fauchte sie. »Ich denke nicht daran, sie hinter dir auf dem Pferd sitzend zu empfangen!«

Drogo glitt aus dem Sattel und half ihr rasch vom Pferd. Sie schüttelte ihr Gewand aus, zupfte ihren Umhang zurecht und richtete sich auf. Der Wind zerrte an ihrem Schleier, der aber zum Glück sorgfältig an der Kappe darunter festgesteckt war. Sie musste die Beine in den Boden stemmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Der sich nähernde Trupp machte Schlamm aufspritzend Halt. Der Anführer sprang von seinem prächtigen schwarzen Hengst, zog seinen Hut und sank vor ihr auf ein Knie.

»Ihr habt Euch verspätet«, stellte Matilda mit eisiger Stimme fest. »Wir halten seit Mittag nach Euch Ausschau.«

»Ich bin zutiefst betrübt, Herrin. Wir wären früher hier gewesen, aber ein Wagenrad brach, und ein umgestürzter Baum versperrte uns den Weg. Der Wind hat uns die Reise erschwert, und wir kamen langsamer voran als geplant.«

Sie fror, war erschöpft und nicht in der Stimmung für Ausflüchte.

»Erhebt Euch«, befahl sie mit einer brüsken Geste.

Er richtete sich auf. Seine endlos langen Beine steckten in Reitstiefeln aus feinstem Leder mit roten Schnüren. Das schwarze Haar lockte sich um sein Gesicht, seine Augen waren so dunkelbraun wie Torf, während sein Mund sich nach oben bog, was ihm den Anschein verlieh, als würde er lächeln.

»Herrin, ich bin Brian, der Sohn von Count Alan of Brittany, und der Lord von Wallingford Castle. Ich glaube nicht, dass Ihr Euch an mich erinnert. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, wart Ihr mit Eurem Vater in Nottingham. Ich war gerade erst in das Gefolge des Königs aufgenommen worden.«

»Das ist lange her«, erwiderte sie immer noch verstimmt.

»In der Tat, Herrin.« Er deutete über seine Schulter hinweg zu den Männern seiner Truppe hinüber, die gleichfalls abgestiegen und niedergekniet waren. »Wir haben ein schönes Zelt und Vorräte mitgebracht. Es wird nicht lange dauern, das Lager aufzuschlagen.«

»Es würde sogar noch schneller gehen, wenn Ihr Eure Männer anweisen würdet, sich von den Knien zu erheben und mit der Arbeit anzufangen«, versetzte sie spitz. »Meine eigenen Leute werden Euch zur Hand gehen, falls das nötig sein sollte.«

Seine Miene blieb unbewegt, als er sich verneigte und sich abwandte, um ein paar knappe Befehle zu erteilen. Eine Gruppe von Arbeitern und Sergeanten begann, Teile eines großen, runden, rotblauen Zeltes aus einem zweirädrigen Karren zu laden. Die äußere Zeltleinwand war mit goldenen Löwen bedruckt, das Innere mit heller Seide ausgekleidet, und an gebogenen Stäben hingen kostbare wollene Behänge. Der Wind blähte die Leinwand wie das Segel eines in einen Sturm geratenen Schiffes. Matilda sah zu, wie die Männer mit ihrer Last kämpften, und schüttelte im Geist den Kopf. Wenn sie nicht so müde und missmutig gewesen wäre, wäre sie in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Ein Mitglied von Brians Truppe, ein breitschultriger junger Mann, untersuchte ihre Stute, ließ die Hand an ihrem lahmen Hinterbein hinuntergleiten und sprach dabei beruhigend auf sie ein. Als er bemerkte, dass Matilda ihn beobachtete, verbeugte er sich.

»Sie braucht Ruhe und einen warmen Kleieumschlag, Herrin. Ihr fehlt weiter nichts, die Reise hat sie nur zu sehr angestrengt.« Behutsam kraulte er den Hals der Stute.

Er konnte kein Stallbursche sein, denn sein Umhang war mit Pelz gesäumt und seine Tunika aufwändig bestickt. Die haselnussbraunen Augen verliehen seinen Zügen etwas Faszinierendes.

»Wart Ihr auch mit Lord FitzCount in Nottingham?«, erkundigte sie sich.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Herrin, aber mein Vater ist wahrscheinlich dort gewesen. Sein Name ist William D’Albini, Lord von Buckenham in Norfolk und einer der Haushofmeister Eures Vaters.«

»Ich erinnere mich nicht an ihn, aber ich kenne Eure Familie«, gab sie zurück. Anscheinend war er einer der am Hof entbehrlichen jungen Männer, den man FitzCounts Eskorte zugeteilt hatte, damit er Erfahrungen sammelte. »Und wie lautet Euer Name?«

»William, Herrin, wie der meines Vaters.«

»Nun denn, William D’Albini … Ihr scheint Euch mit Pferden auszukennen.«

Er bedachte sie mit einem breiten Lächeln, wobei er gesunde, kräftige Zähne entblößte.

»Ziemlich gut, Herrin.« Er streichelte das weiche Maul der Stute.

»Ich hoffe, Lord FitzCount besitzt ein überzähliges Pferd?«

»Da bin ich mir ganz sicher, Herrin.«

Matilda hegte in diesem Punkt jedoch ihre Zweifel. Der Lärm einer hitzigen Auseinandersetzung drang zu ihnen herüber. Jemand hatte die Zeltpflöcke verlegt, und nun gab jeder jedem die Schuld.

»Am Hof meines Mannes wäre so etwas nicht vorgekommen«, bemerkte sie ungehalten.

D’Albini zuckte gleichmütig die Achseln.

»Es gibt Tage, an denen alles schiefgeht, was man anfasst. Heute scheint einer dieser Tage zu sein.« Er schnalzte mit der Zunge und führte die Stute davon, um sie bei den anderen Pferden anzubinden.

Die Zeltpflöcke tauchten in einem anderen Tragekorb als vermutet auf, wurden nach weiteren Flüchen in den Boden getrieben und die Zeltwand befestigt. Brian FitzCount überwachte die Arbeit, fuhr sich hin und wieder durch das Haar und wirkte zusehends verlegener und aufgebrachter.

Doch nach und nach nahm in dem Chaos eine gewisse Ordnung Gestalt an, und Matilda konnte ihr Zelt beziehen, wo sie wenigstens nicht mehr dem Wind ausgesetzt war, auch wenn die Seitenwände flatterten wie Vogelschwingen, die sich bemühten, das ganze Gebilde in die Luft hochzuziehen. Ihre Zofen machten sich daran, ihr Bett herzurichten, stapelten mehrere Matratzen auf den bespannten Rahmen und bezogen sie mit sauberen Laken und legten weiche Decken bereit. Ein Diener hakte in der Mitte des Zeltes einen Trennvorhang fest, ein anderer brachte einen Stuhl mit einem Kissen, eine Bank und einen kleinen Tisch. Matilda blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen.

Brian FitzCount betrat das Zelt, gefolgt von Dienern, die eine Karaffe nebst Bechern, Brotlaiben und eine Auswahl an Käse und geräuchertem Fleisch trugen.

»Die Männer errichten einen Windschutz«, sagte er. »Wenigstens regnet es nicht.«

»Nein«, stimmte sie zu, während sie dachte, dass Regen die Krönung dieses furchtbaren Tages gewesen wäre. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder. Die Diener deckten den Tisch mit einem bestickten Tuch und trugen Speisen und Getränke auf. Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, bedeutete sie Brian, ihr Gesellschaft zu leisten. Es konnte sich als nützlich erweisen, das Neueste vom Hof zu erfahren, bevor sie dort eintraf.

Er zögerte, trat zum Zelteingang, bellte noch ein paar Befehle, ließ den Vorhang fallen und kam zu ihr, um sie eigenhändig zu bedienen. Als er Wein in die silbernen Becher goss, betrachtete sie seine langen Finger. An einem glitzerte ein Smaragdring, an einem anderen ein Ring aus geflochtenem Gold. Seine Hände waren sauber, er hatte kurz geschnittene Nägel, aber sie wiesen Tintenflecke auf, als wäre er ein gewöhnlicher Schreiber. Sie versuchte, sich aus ihrer Kindheit an ihn zu erinnern, aber es wollte sich kein Bild einstellen. Es war zu lange her, und er war nur einer von vielen Jünglingen bei Hof gewesen.

»Meinem Vater geht es gut?« Sie trank einen Schluck und spürte, wie sich Wärme in ihrem Magen ausbreitete.

»Jawohl, Herrin, und er freut sich, Euch wiederzusehen, auch wenn die Umstände traurig sind.«

»Ich habe ihn nur ein Mal gesehen, seit ich ein kleines Mädchen war«, erwiderte sie kurz. »Und ich weiß, warum er sich über meine Rückkehr freut.«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Der Windschutz schien Wirkung zu zeigen, weil die Böen seltener an den Zeltwänden rüttelten. Sie brach ein Stück Brot ab, verzehrte es mit einem Streifen geräuchertem Wildbret und bedeutete ihm, ebenfalls zuzugreifen.

»Wärt Ihr lieber in Deutschland geblieben?«

Die mit solcher Direktheit gestellte Frage traf sie unverhofft. Sie hatte erwartet, dass er sich auch weiterhin wie ein ehrerbietiger Höfling verhalten würde.

»Es war meine Pflicht, auf das Geheiß meines Vaters hin nach Hause zurückzukehren. Und was wäre mir denn ohne meinen Mann in Deutschland noch geblieben? Sein Nachfolger hat seine eigenen Günstlinge, von denen ich entweder einen hätte heiraten müssen, was nicht im politischen Interesse meines Vaters gelegen hätte, oder ich wäre gezwungen gewesen, in ein Nonnenkloster einzutreten und den Rest meiner Tage im Dienste Gottes zu verbringen.«

»Eine solche Entscheidung hätte Euch zur Ehre gereicht.«

»Ich bin aber noch nicht bereit, der Welt zu entsagen.« Sie maß ihn mit einem scharfen Blick. »Hat mein Vater mit Euch über seine Pläne für meine Zukunft gesprochen?«

Er sah sie unverwandt an.

»Der König formuliert seine Vorstellungen sehr allgemein, aber selbst wenn ich wüsste, was wirklich in ihm vorgeht, stünde es mir nicht zu, es weiterzugeben. Ihr müsst Euch doch über einige seiner Absichten selbst im Klaren sein, Herrin. Wenn er keine Pläne mit Euch hätte, wärt Ihr noch in Speyer.«

»Oh, ich weiß, dass er Pläne verfolgt, aber nicht, wie sie konkret aussehen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und begann sich ein wenig zu entspannen. Auf der anderen Seite des Vorhangs unterhielten sich ihre Zofen leise miteinander.

Auch Brian lehnte sich zurück.

»Als Ihr England verlassen habt, wart Ihr ein ernsthaftes, pflichtbewusstes und lernbegieriges kleines Mädchen. Ich kann mich noch gut an Euch erinnern, auch wenn das umgekehrt nicht der Fall ist. Ihr wolltet nicht gehen, aber Ihr habt die Zähne zusammengebissen und gute Miene zum bösen Spiel gemacht, weil Ihr Eure Pflicht kanntet. Daran hat sich nichts geändert, aber jetzt seid Ihr eine Kaiserin, eine erwachsene Frau, die es gewohnt ist, die Zügel der Macht in der Hand zu halten.«

Ein zynisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Mit Narren habe ich wenig Geduld, das ist richtig.«

»Ihr seid die Tochter Eures Vaters«, erwiderte er mit unbewegtem Gesicht, aber seine Augen funkelten.

Matilda schlug hastig die Hand vor den Mund, weil sie beinahe laut gelacht hätte. Es liegt am Wein, dachte sie, und ich bin erschöpft. Plötzlich schnürte sich ihre Kehle vor Kummer zusammen. Diese Mischung aus Politik und Kokettieren erinnerte sie allzu sehr daran, was sie einst mit Heinrich geteilt hatte, und der Schmerz über den Verlust flammte erneut auf. Sie bemühte sich, ein Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Ich bin in der Tat meines Vaters Tochter. Wenn Ihr mir nicht sagen könnt, was die Zukunft für mich bereithält, dann erzählt mir wenigstens etwas über den englischen Hof, damit ich vorbereitet bin.«

Er bot ihr mehr Wein an, und als sie den Kopf schüttelte, schenkte er sich selbst nach.

»Wenn Ihr mit dem Hof Eures Mannes vertraut wart, dann werdet Ihr Euch rasch eingewöhnen. Es ist derselbe Menschenschlag.«

»Aber wer ist Freund, und wer ist Feind? Wem kann ich trauen, und wer verfügt über nützliche Fähigkeiten?«

»Darüber müsst Ihr Euch selbst ein Urteil bilden, Herrin, und Euch auf den Rat Eures Vaters verlassen.«

»Also wollt Ihr mich auch in diesem Punkt im Ungewissen lassen?«

Er stieß vernehmlich den Atem aus.

»Euer Vater ist von Männern umgeben, die ihm treu dienen. Euer Bruder, der Earl of Gloucester, wird sich aufrichtig über Eure Rückkehr freuen. Und Eure Vettern Stephen und Theobald werden gleichfalls dort sein.«

Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte. Matilda konnte sich verschwommen an ihre Blois-Verwandtschaft erinnern. Ältere Jungen, die ihr, einem Mädchen, wenig Beachtung geschenkt hatten, wenn sie sie und ihre Mutter nicht gerade im Rahmen ihrer Knappenausbildung bei Tisch bedienen mussten.

»Stephen hat vor kurzem geheiratet, nicht wahr?« Sie hatte einen Brief erhalten, war aber zu sehr in der Sorge um ihren kranken Mann gefangen gewesen, um sich eingehender damit zu befassen.

»Das hat er, und zwar Maheut, die Erbin von Boulogne. Ein politischer Schachzug, den Euer Vater eingefädelt hat. So werden seine nördlichen Grenzen gestärkt.«

Matilda runzelte nachdenklich die Stirn. Maheut of Boulogne war ihre Base mütterlicherseits, Stephen der Neffe ihres Vaters – die Familienbande waren in der Tat sehr stark. Was bezweckte ihr Vater mit all den Fäden, die er spann? Er war ein Meister in der Kunst, raffinierte politische Muster zu weben.

»Wie ist Stephen denn heute so?«

Brian zuckte die Achseln.

»Seit seiner Heirat etwas ruhiger und gesetzter. Er ist ein guter Reiter und Soldat, gewinnt leicht Freunde, und Euer Vater ist ihm sehr zugetan.«

Seine Einschätzung flößte Matilda Unbehagen ein. Stephen hatte, im Gegensatz zu ihr, die Zeit gehabt, sich bei ihrem Vater einzuschmeicheln und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Ihr auch?«

Er zögerte merklich.

»Auf der Jagd ist er ein guter Kamerad, und wir verstehen uns recht gut. Er weiß, wann er mich meinen Büchern und Gedanken überlassen muss, und ich weiß, wann er die Gesellschaft anderer Männer vorzieht. Seine Frau gibt ihm Rückhalt und vernünftige Ratschläge.« Brian hob seinen Becher an die Lippen und trank. »Euer Vater hat Waleran de Meulan eingekerkert, weil er sich gegen ihn aufgelehnt hat, und er wird immer noch von William le Clito bedroht.«

»Das ist mir bekannt.« Sie winkte ungeduldig ab. »William le Clito wird niemals König werden, weil er gar nicht die Fähigkeiten dazu hat, und es war ein Fehler von Waleran de Meulan, ihn zu unterstützen.«

»Mag sein, aber trotzdem wird das die Politik Eures Vaters beeinflussen und seine nächsten Schritte bestimmen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er Stephen so gefördert hat – als Gegengewicht.«

Eine Windbö zerrte an der Zeltwand. Ihre Kraft belebte Matilda. Sie wollte, dass sie alles mit sich riss und die Welt makellos zurückließ. Ihr Vater hatte seinen Thron gegen mächtige Gegner verteidigt. Er hatte seinem unbesonnenen älteren Bruder Robert England und die Normandie abgerungen und ihn ins Gefängnis geworfen, wo er bis zum heutigen Tage schmachtete. Doch Robert hatte einen Sohn, William le Clito, einen weiteren Vetter von Matilda, der Ansprüche auf den Thron erhob. Einflussreiche junge Hitzköpfe wie Waleran de Meulan standen auf seiner Seite, und obwohl ihr Vater den Aufstand so mühelos niedergeschlagen hatte, wie ein Soldat ein gefährliches kleines Feuer austritt, hing der Rauch noch in der Luft. Und wo ein Feuer schwelte, würden weitere aufflammen. Waleran hatte einen Zwillingsbruder, und die Interessen der Familie umfassten sowohl England als auch die Normandie. Weben, dachte sie. Alles drehte sich darum, die Fäden miteinander zu verflechten und ein Auge auf lose Enden zu haben, während es galt, zugleich anderen das Handwerk zu legen, die ihre eigenen Muster woben.

Nachdenklich betrachtete sie Brian. Ihr Vater hielt ihn eindeutig für einen nützlichen Mann und hatte ihm den Aufstieg ermöglicht. Durch die arrangierte Heirat mit Maude of Wallingford war er zum Herrn über mehr als hundert Ritterlehen geworden. Aber welchen Eindruck hatte sie während dieses kurzen Gesprächs von ihm gewonnen? Bei seiner Ankunft hatte er sich reichlich tollpatschig gezeigt, aber William D’Albini schien der Meinung zu sein, sie solle nicht zu vorschnell über ihn urteilen. Sie vermutete, dass er seine Gedanken geschickt zu verbergen wusste und dass diese Tiefgang hatten. Nein, bei diesem Mann handelte es sich nicht um einen tumben Tölpel, auch wenn ihre erste Begegnung den Schluss nahegelegt hatte.

Als Brian seinen Becher abstellte, fiel ihr Blick erneut auf die Tintenflecken an seinen eleganten Fingern.

»Seid Ihr Euer eigener Schreiber, Mylord?«

»Manchmal«, erwiderte er mit einem zaghaften Lächeln. »Mit einer Feder in der Hand fällt mir das Nachdenken leichter, und ich mache mir gern Notizen, auch wenn ein Schreiber die Endfassung anfertigt. Meine Erziehung und Ausbildung verdanke ich Eurem Vater, dafür stehe ich tief in seiner Schuld.«

»Er schätzt Euch offensichtlich sehr.«

»So wie ich ihn ehre und ihm nach Kräften diene.« Brian räusperte sich, bevor er sich erhob. »Ich bitte Euch, mich jetzt zu entschuldigen, Herrin. Ich muss dafür sorgen, dass morgen früh alles bereit ist.«

»Ihr dürft gehen«, erwiderte sie hoheitsvoll. »Ich hoffe, dass Eure Bemühungen auch die Suche nach einem passenden Pferd für mich einschließen.«

»Das ist mein erstes und vordringlichstes Bestreben, Herrin.« Er verneigte sich und verließ das Zelt.

Sowie er fort war, eilten Matildas Zofen Emma und Uli herbei. Sie halfen Matilda aus ihrem Kleid und kämmten ihr das Haar. Dann entließ Matilda sie mit einem Fingerschnippen, weil sie allein sein wollte, um in Ruhe nachzudenken. Sie zog die Decke von ihrem Bett und schlang sie um sich. So eingehüllt setzte sie sich auf den Stuhl, zog die Knie an und presste eine Faust gegen die Lippen.

Draußen stand Brian im Wind und stieß hart den Atem aus, um seine Anspannung zu lindern. Er hatte sich die Tochter des Königs nicht so temperamentvoll und scharfsichtig vorgestellt. Sie hatte eine messerscharfe Zunge, und er kam sich vor, als habe er zum Beweis dafür am ganzen Leibe Schnittwunden davongetragen. Bei seiner Ankunft hatte sie ihn gemustert wie einen unfähigen Tölpel, was immer noch an ihm nagte. Er hoffte, die Situation gerade noch gerettet zu haben, aber er wusste, dass sein Ruf endgültig ruiniert sein würde, wenn er morgen früh kein Pferd für sie bereithalten konnte. Ihm blieb keine andere Wahl, er würde ihr sein Schlachtross überlassen und sich mit dem Pferd seines Knappen begnügen müssen. Der Junge konnte mit einem der Sergeanten reiten.

Der weißhaarige Ritter, der Matildas Eskorte anführte, trat aus seinem Zelt, in dem er anscheinend auf Brian gewartet hatte.

»Meine Herrin reagiert jedes Mal gereizt, wenn nicht alles so glatt läuft, wie sie es wünscht.« Die Worte waren nicht als Entschuldigung für ihr Verhalten, sondern eher als Tadel gemeint.

»Ich habe mich entschuldigt und mein Bestes getan, um alle Fehler zu beheben«, gab Brian zurück. »Seid versichert, dass die Kaiserin in voller Würde in Rouen einziehen wird.«

Der Ritter maß ihn mit einem harten Blick.

»Sire, Ihr werdet noch herausfinden, dass meine Herrin keine Kompromisse kennt.«

Brian verbiss sich eine scharfe Antwort.

»Die Kaiserin wird mit dem Empfang zufrieden sein, der ihr bereitet wird.«

»Ich diene meiner Herrin, seit sie ein Kind war«, antwortete der Ritter. »Ich habe verfolgt, wie sie zur Frau herangereift ist und als Gefährtin eines Kaisers Macht ausgeübt hat. In ihr wohnt wahre Größe.« Er spähte zu dem Zelt hinüber, das Brian soeben verlassen hatte, und dämpfte die Stimme. »Aber innerlich ist sie zart und zerbrechlich und bedarf liebevoller Fürsorge. Wer soll ihr diese zuteilwerden lassen, wenn ihr Stolz ihr Schild wie auch ihr Schwert ist? Wer wird hinter ihre Fassade blicken und das verängstigte Kind und die verletzliche Frau sehen?«

In Brian regte sich etwas, das er nicht benennen konnte: weder Mitleid noch Bedauern, sondern ein Schimmer von etwas Komplexerem, das ihn beunruhigte. Ihre Augen waren so grau wie Lavendelblüten, aber klar wie Glas, und sie hatten seinem Blick mit unverwandter Herausforderung und sogar Geringschätzung standgehalten. Er konnte nicht das in ihr ausmachen, was der alternde Ritter sah, aber er kannte sie ja auch nicht. Aber er erkannte ihre Aufrichtigkeit und Integrität, und ihm war, als habe sie ihm mit einer gespitzten Schreibfeder diese Worte unauslöschlich in die Haut geritzt.

3

Turm von Rouen, Herbst 1125

Der Sturm war abgeflaut, das Zaumzeug und Geschirr der Pferde funkelte im friedlichen Sonnenlicht. Matildas rotes Seidengewand schimmerte im hellen Schein, ebenso wie die geschmeidigen Hermeline an ihrem Umhang und der juwelenbesetzte Stirnreif, der den weißen Seidenschleier hielt. Die Einwohner von Rouen waren in Scharen herbeigeströmt, um Zeuge ihrer Ankunft zu werden, und sie ließ die Ritter in ihrem Namen Almosen und andere Gaben verteilen, während die Herolde unter Fanfarenklängen vorausritten und verkündeten, dass die Kaiserinwitwe von Deutschland und Tochter des Königs Einzug in die Stadt halten werde. Ihr Herz schwoll vor Triumph und Stolz, als sie die Gasse entlangritt, die die jubelnde Menge gebildet hatte, und obwohl sie den Kopf würdevoll erhoben hielt, gestattete sie sich ein leichtes, dem Anlass angemessenes Lächeln.

Sable, Brian FitzCounts Schlachtross, war ein temperamentvolles Tier, aber gut geschult und gehorsam. FitzCount selbst ritt einen kräftigen, gedrungenen Kastanienbraunen, der für seine langen Beine etwas zu klein war, aber er gab vor, es nicht zu bemerken. Nach den Missgeschicken des gestrigen Tages hatte es keine weiteren Schwierigkeiten mehr gegeben, und alles war nach Plan verlaufen. Sie war noch nicht bereit, sich endgültig ein positives Urteil über ihn zu bilden, sie würde abwarten, wie er sich machte.

Als sie in den Hof des Herzogspalastes einritten, übertrug sich ihre innere Anspannung auf das Pferd, das mit den Ohren spielte und zu tänzeln begann. Ihr letzter Besuch kurz vor ihrer Verlobung lag sechzehn Jahre zurück, und damals hatte sie nur wenige Tage hier verbracht. Ihre Erinnerungen glichen nebulösen Geistern, die über die massiven Steine und das Pflaster huschten.

Ein Stallbursche eilte herbei und griff nach Sables Zügeln. Drogo stieg ab, um ihr aus dem Sattel zu helfen, doch Brian FitzCount kam ihm zuvor. Als er ihre Hände nahm, bemerkte sie die frischen Tintenflecke. Demnach hatte er noch in seinem Zelt gearbeitet, nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte. Sie empfand die Vorstellung, dass er in den dunklen Nachtstunden, während die anderen schliefen, noch wach und emsig tätig war, als merkwürdig tröstlich.

Ein hochgewachsener, breit gebauter Mann kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie starrte ihn einen Moment lang verwirrt an, dann schien sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen, und die Vergangenheit verschmolz mit der Gegenwart, als sie ihren älteren Halbbruder erkannte. »Robert?«, flüsterte sie, dann nannte sie noch ein Mal laut seinen Namen. »Robert!«

Seine dunkelblauen Augen leuchteten auf, als er ihre Hände ergriff und sie mit herzlicher Wärme und trotzdem in der Öffentlichkeit den Anstand wahrend auf beide Wangen küsste. »Schwester! Hattest du eine gute Reise?«

»Größtenteils ja. Allerdings fing meine Stute gestern an zu lahmen.«

»Ich habe mich schon gewundert, dich auf Brians Sable zu sehen.« Er blickte zu Brian hinüber. »Ich gehe davon aus, dass er sich um dich gekümmert hat?«

»Er hat alles getan, was in seiner Macht stand«, erwiderte sie mit unbewegter Miene.

Brian hob die Brauen, und Robert kicherte.

»Das verheißt nichts Gutes.«

»Ich bin zu spät zum Treffpunkt gekommen«, erklärte Brian. »Und der Sturm letzte Nacht hat das Aufbauen der Zelte nicht unbedingt leichter gemacht, um es vorsichtig auszudrücken. Ich dachte, wir würden bis Outremer geweht!« Er entschuldigte sich mit einer Verneigung, um dafür zu sorgen, dass Matildas Gepäck in ihre Kammer geschafft wurde.

Robert wurde ernst.

»Du kannst Brian dein Leben anvertrauen. Ich verbürge mich für ihn. Er ist einer der klügsten Männer im Gefolge unseres Vaters.«

»Ich nehme dich beim Wort«, lächelte sie. Robert war zwölf Jahre älter als sie und bei ihrer Abreise nach Deutschland schon ein junger Mann gewesen, dennoch herrschte zwischen ihnen vom ersten Moment an wieder die alte Vertrautheit von damals. Es war, als lege man ein altes Lieblingsgewand an, das jahrelang in einer Truhe gelegen hatte, und fühle sich augenblicklich wieder wohl darin.

»Ich weiß ja nicht, inwiefern Brian deinen Unmut erregt hat, aber ich hoffe, du gehst nicht zu hart mit ihm ins Gericht.«

»Er hat nicht meinen Unmut erregt, im Gegenteil, ich bin mit seinem Pferd sehr zufrieden. Es ist nur … meine ganze Welt ist aus den Fugen geraten.«

Ihr Halbbruder warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, als sie auf den Turmeingang zusteuerten.

»Es tut mir leid, dass du als trauernde Witwe heimgekommen bist. Ich hätte mir auch glücklichere Umstände gewünscht.«

»Schon gut«, murmelte sie. »Es stimmt, ich trauere sehr um meinen Mann, aber ich muss nach vorne schauen und an die Zukunft denken. Deswegen bin ich schließlich hier, nicht wahr? Mein Vater hat aus Gründen nach mir geschickt, die nichts mit meinem Kummer zu tun haben.«

Robert erwiderte nichts darauf, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Die Türen der großen Halle standen zu ihrem Empfang weit offen, und ein mit Blumen bestreuter langer roter Läufer war für sie ausgelegt worden. Zu beiden Seiten standen die Höflinge Spalier. Kleider raschelten, und Juwelen klirrten leise, als sie nacheinander auf die Knie sanken. Matilda schritt majestätisch, den Blick starr nach vorne gerichtet, an ihnen vorbei, die Verkörperung kaiserlicher Würde. Das Zeremoniell und die ihr entgegengebrachten Ehrenbezeugungen waren Balsam für ihre Seele.

Am Ende der Halle standen auf einem Podest zwei kunstvoll gearbeitete Throne. Während ihr Vater mit einem mit Edelsteinen besetzten Stab in der Hand auf dem größeren Thron Platz genommen hatte, saß seine in ein mit Perlen und Amethysten verziertes Gewand aus schimmernder silberner Seide gehüllte Königin auf dem kleineren neben ihm. Matilda blieb am Fuß des Podestes stehen, kniete nieder und senkte den Kopf. Robert, der sich einen Schritt hinter ihr hielt, tat es ihr nach.

Sie hörte das Gewand ihres Vaters über den Boden schleifen, als er aufstand. Mit leisen Schritten stieg er die Stufen hinunter.

»Meine geliebte Tochter.« Er beugte sich zu ihr, nahm ihre Hände und küsste sie auf beide Wangen. Dann zog er sie auf die Füße. »Willkommen daheim.«

Matilda musterte ihn verstohlen. Während der letzten sechs Jahre hatten sich die Falten in seinem Gesicht vermehrt und vertieft. Sein Haar war grauer und schütterer geworden, die Tränensäcke unter seinen Augen größer, doch seine grauen Augen waren immer noch hart und durchdringend. Jetzt allerdings leuchteten sie warm auf, und sein Lächeln war echt.

»Sire«, murmelte sie, bevor sie sich abwandte, um vor ihrer Stiefmuter Adeliza, ein Jahr jünger als sie und zart und schmal wie ein junges Reh, zu knicksen und von ihr in die Arme geschlossen zu werden.

»Ich bin so froh, dass du hier bist, Tochter«, begrüßte Adeliza sie liebevoll.

»Mutter.« Das ungewohnte Wort kam ihr nur mühsam über die Lippen.

Adelizas belustigt funkelnde Augen verrieten ihr, dass ihre Gedanken in dieselbe Richtung gingen.

»Ich hoffe, dir wirklich eine Mutter sein zu können«, sagte sie. »Aber noch stärker hoffe ich, dass wir Freundinnen und Gefährtinnen werden.«

Matildas Vater bot ihr seinen Arm, führte sie an den Reihen der versammelten Höflinge vorbei und stellte sie den bedeutendsten von ihnen vor. Nicht alle waren vertreten; einige hatten anderswo zu tun oder waren in England geblieben, aber die Anzahl derer, die sich eingefunden hatten, war dennoch beachtlich: Bigod, D’Albini, Aumale, de Tosney, Martel, der Erzbischof von Rouen, der Abt von Bec, ihre beiden Blois-Vettern Theobald und Stephen. Letzterer war durch seine junge Frau Maheut zum Grafen von Boulogne aufgestiegen.

»Es tut mir leid, dass dich ein so schwerer Verlust getroffen hat, Base«, sagte Stephen. »Ich möchte dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen.« Seine Stimme klang ernst und feierlich, dennoch blieb Matilda argwöhnisch, denn vieles war nicht das, was es zu sein schien. Sie würde Stephens Bemerkung vorerst als bedeutungslose Höflichkeitsfloskel werten.

»Ich sehe dich noch als kleines Mädchen mit langen Zöpfen vor mir«, fügte er lächelnd hinzu.

Eine verschwommene Erinnerung stieg in ihr auf.

»Du hast immer daran gezogen«, versetzte sie vorwurfsvoll.

Er verzog gekränkt das Gesicht.

»Nur aus Spaß – ich habe dir nie wehgetan. Dein Bruder William hat dich auch an den Zöpfen gezogen.«

Bei der Erwähnung von Matildas Bruder trat einen Moment lang Stille ein – fast, als hätten Stephens Worte den vom Meer zerfressenen Leichnam des jungen Mannes im Hafen von Barfleur auferstehen lassen. »Möge seine Seele in Frieden ruhen«, fügte Stephen hastig hinzu. »Ich denke immer noch oft an ihn und unsere früheren gemeinsamen Spiele.«

»Neffe, du bist mir ein Trost und eine große Stütze«, warf Henry ein, dessen scharfen grauen Augen wie üblich nichts entging. »Ich weiß, dass ich immer auf dich zählen kann, und gehe davon aus, dass sich deine Loyalität ab jetzt auch auf meine Tochter erstreckt.«

»Selbstverständlich, Sire.« Stephen verneigte sich erst vor Henry, dann vor Matilda.

Das Gespräch wandte sich Boulogne und Stephens dortigen Fortschritten als oberster Lehnsherr zu. Matilda empfand angesichts der offenkundigen Kameradschaft, die zwischen ihrem Vater und seinem Neffen herrschte, eine leise Besorgnis. Stephens Gesten wirkten selbstsicher und beredt, und er wusste, wie er das Interesse ihres Vaters wecken und ihn zum Lachen bringen konnte. Die Männer in seinem Umkreis fielen stets in dieses Lachen mit ein – abgesehen von ihrem Bruder Robert, der sich zurückhaltend und wachsam verhielt. Stephens kleine, plumpe Frau hing an seinen Lippen, als wären seine Worte aus Gold, doch obwohl sie ein schickliches, bescheidenes Verhalten an den Tag legte, beobachtete sie die Männer in ihrer Umgebung abschätzend und spitzte die Ohren, um ihren Gesprächen zu lauschen.

Matilda hielt Stephens Vorstellung für allzu geschliffen. Wie viel davon ein bloßes Lippenbekenntnis und wie viel ehrlich gemeint war, blieb abzuwarten.

Matilda blickte sich in der ihr zugewiesenen Kammer um. Die größeren Möbel und Gepäckstücke, die vorausgeschickt worden waren, waren schon im Zimmer arrangiert worden: ihr Bett mit dem Bettzeug und den Vorhängen, die kostbaren Wandbehänge aus ihren kaiserlichen Gemächern, die Lampen, Kerzenleuchter, Truhen und Kisten. Auch das leichtere Gepäck, das sie selbst mitgebracht hatte, konnte nun ausgepackt werden. Danach würde sie die Tür schließen und sich – wenn auch nur einen Moment lang – einreden, sie sei wieder in Deutschland. Ein plötzlicher Anflug von Heimweh bewirkte, dass sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete.

»Ich hoffe, du hast alles, was du brauchst«, vergewisserte sich Adeliza besorgt. »Ich möchte, dass du dich hier zu Hause fühlst.«

»Du bist sehr nett zu mir.«

»Ich erinnere mich noch gut, wie mir zumute war, als ich aus Louvain hier eintraf und alles fremd und neu für mich war. Es hat mich sehr getröstet, vertraute Dinge um mich zu haben.«

Adelizas Stimme glich dem silberhellen Klang eines Glöckchens. Ihre Zierlichkeit und unschuldige Ausstrahlung verliehen ihr die Aura eines Kindes, aber Matilda vermutete, dass die Frau ihres Vaters über mehr Facetten verfügte, als auf den ersten Blick ersichtlich war.

»Du hast Recht, mir geht es genauso«, bestätigte sie. »Ich bin dir für deine Umsicht sehr dankbar.«

Ohne zu zögern, zog Adeliza Matilda warmherzig an sich.

»Ich freue mich so, mich einer anderen Frau in der Familie anvertrauen zu können.«

Voller Verwirrung erstarrte Matilda, aber sie wich auch nicht zurück. Adeliza duftete nach Blumen. Ihre eigene Mutter hatte nie Parfüm benutzt. Sie war eine strenge, asketische Frau gewesen, die sich nur ihren Studien und der hingebungsvollen Anbetung Gottes gewidmet hatte. Matilda konnte sich nicht erinnern, dass sie etwas Weiches, Zärtliches an sich gehabt hätte. Jegliche Zuneigungsbekundung war kühl und kalkuliert gewesen, daher trieb ihr diese liebevolle Umarmung fast die Tränen in die Augen.

Ein kalter Luftzug wehte herein, als die Tür aufgerissen wurde und ihr Vater erschien. Er winkte ab, als die Frauen in einem tiefen Knicks versinken wollten, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um, als wolle er eine Bestandsaufnahme machen, obwohl er die meisten Möbelstücke bereits gesehen haben musste, als Adeliza die Kammer eingerichtet hatte.

»Bist du gut untergebracht, Tochter?« Sein barscher Ton verlangte eine positive Antwort. »Hast du alles, was du brauchst?«

»Ja, danke, Sire.«

Er ging zu dem tragbaren Altar, den sie in ihrem persönlichen Gepäck mitgebracht hatte, griff nach dem in der Mitte stehenden goldenen Kreuz und betrachtete die Juwelen und die Filigranarbeit mit Kennermiene. Dann musterte er den goldenen Kerzenleuchter und das aus Blattgold und Lapislazuli angefertigte Bild der Jungfrau Maria mit dem Christuskind.

»Du hast heute Abend einen guten ersten Eindruck hinterlassen«, sagte er. »Ich war sehr zufrieden mit dir.« Sein Blick fiel auf eine längliche Lederschatulle auf einem Tisch neben dem Altar. »Ist es das, wofür ich es halte?« Ein gieriger Funke glomm in seinen Augen auf.

Matilda knickste vor dem Bild der Heiligen Jungfrau, bevor sie einen Schlüssel aus einer kleinen goldenen Schale auf dem Altar nahm und damit die Schatulle aufschloss.

»Ich wurde am Jakobitag getraut«, erwiderte sie. »Heinrich und ich haben diesem Tag immer eine besondere Bedeutung beigemessen. Dieses Kleinod hier gehört mir, ich kann damit verfahren, wie es mir beliebt, und es ist mein Wunsch, es zu Ehren der Seelen meines Bruders und meiner Mutter der Abtei Reading zu stiften.« Sie öffnete die Schatulle. Ein lebensgroßer hohler linker Unterarm aus Gold kam zum Vorschein, der auf einem mit Edelsteinen besetzten Sockel befestigt war. Der Arm war mit einem eng anliegenden Ärmel mit juwelengeschmückter Manschette bekleidet, Zeige- und Mittelfinger in einer segnenden Geste erhoben.

Ihr Vater stieß langsam den Atem aus.

»Die Hand des heiligen Jakob«, murmelte er ehrfürchtig. »Das hast du gut gemacht, meine Tochter.« Er machte keine Anstalten, die Reliquie von ihrem Sockel zu lösen, denn das hätte in dieser weltlichen Umgebung von mangelndem Respekt gezeugt, aber er legte die Finger besitzergreifend auf das Gold. »Sie haben sie dir widerstandslos überlassen?«

»Mein Mann sagte vor seinem Tod, ich solle sie bekommen«, wich Matilda aus.

Er warf ihr einen Blick zu. »Weiß der neue Kaiser davon?«

»Mittlerweile mit Sicherheit. Findest du, dass ich sie zurückgeben sollte?«

Ihr Vater schüttelte hastig den Kopf.

»Der letzte Wunsch eines Sterbenden sollte stets respektiert werden. Die Abtei Reading wird über dieses Geschenk einer Kaiserin – und vielleicht einer künftigen Königin – hocherfreut sein.« Er nickte ihr viel sagend zu.

Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber er begnügte sich mit einem rätselhaften Lächeln. »Diese Dinge müssen wir nicht hier und jetzt besprechen. Lebe dich erst einmal ein, dann reden wir weiter.«

Sie knickste vor ihm, er küsste ihre Braue und verließ mit beschwingten Schritten das Zimmer.

Adeliza folgte ihm nicht, sondern ging zu der Reliquie des heiligen Jakob, um sie eingehender zu betrachten.

»Verfügt sie über heilende Kräfte?«

»Man sagt es.«

Ihre Stiefmutter biss sich auf die Lippe.

»Glaubst du, dass sie einer unfruchtbaren Frau zu helfen vermag?«

»Ich weiß es nicht.« Matilda hatte den Heiligen selbst um Hilfe angefleht, und ihre Gebete waren erhört worden, aber das Baby war direkt nach der Geburt gestorben, und sie kannte Adeliza noch nicht gut genug, um ihr derartige Dinge anzuvertrauen.

Adeliza seufzte.

»Ich weiß, dass ich mich Gottes Willen fügen muss, aber das ist schwer, denn meine oberste Pflicht besteht ja darin, ein Kind zu empfangen.«

Matilda empfand plötzlich tiefes Mitleid mit ihr, da sie sich in einer ähnlichen Situation befunden hatte: Auch sie war mit einem älteren Mann verheiratet worden und Monat für Monat den prüfenden Blicken der Leute ausgesetzt gewesen, die darauf lauerten, dass ihr Bauch sich rundete. Hatte der Mann bereits mit anderen Frauen Kinder gezeugt, erhöhte sich der Druck noch.

»Er spielt mit dem Gedanken, dich zu seiner Erbin zu machen, das ist dir sicherlich klar.«

Matilda nickte.

»Ich weiß auch, dass ich nicht die einzige Kandidatin bin, die er in Erwägung zieht. Mein Vater hat immer einen Plan und einen Notplan und noch einen Plan, der sowohl den ursprünglichen als auch den Notplan stützt.« Sie musterte Adeliza abschätzend. »Ich respektiere ihn, und ich kenne meine Pflicht, aber er kann noch so oft behaupten, mich als seine Tochter zu lieben, ich weiß trotzdem, dass ich nur eine Figur auf seinem Schachbrett bin. So wie wir alle.«

»Er ist ein großer König«, hielt Adeliza bestimmt dagegen.

»Zweifellos«, stimmte Matilda zu, während sie dachte, dass der Nachfolger ihres Vaters, wer immer er auch sein mochte, noch mehr Größe zeigen musste, um die Lücke zu füllen, die der letzte Sohn William des Eroberers hinterlassen würde.

4

Hafen von Barfleur, Normandie, September 1126

Fröstelnd sah Matilda zu, wie der Abstand zwischen dem Kai von Barfleur und dem Deck, auf dem sie stand, immer größer wurde, und schlang ihren Umhang enger um sich. Von weißen Kämmen gekrönte Wellen rollten auf sie zu, und hinter der Hafenmündung bildete das Meer eine wogende graue Masse. Gischt schäumte um den Bug der königlichen Galeere, und der Wind blähte die quadratischen Segel, sodass der darauf gemalte riesige rote Löwe zu brüllen und die Klauen zu zeigen schien.

Mit acht Jahren war sie das letzte Mal an Bord eines Schiffes gegangen, um das Meer zu überqueren. Unweigerlich musste sie an die letzte Reise ihres Bruders denken, die in diesem Hafen begonnen hatte. Sein Leben war zu Ende gegangen, bevor es richtig begonnen hatte, als das Schiff in einer schwarzen Novembernacht auf einen Felsen in der Hafenmündung auflief und sank. Jetzt war es Tag und die Situation eine andere, doch obwohl sie den Kopf hob und versuchte, majestätische Würde auszustrahlen, wurde sie ihrer Angst nicht Herr.

Brian FitzCount gesellte sich zu ihr.

»England wird noch vor Sonnenuntergang in Sicht kommen«, bemerkte er. »Vor allem, wenn die Windverhältnisse so bleiben.«

»Für Euch muss die Überfahrt ja schon Routine sein, Mylord.«

»Das schon, aber ich bin trotzdem immer wieder froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Bei günstigem Wind wie heute ist es nicht so schlimm.« Ein Lächeln schlich sich in seine Stimme. »Außerdem stehen wir heute ja zusätzlich unter dem Schutz der Hand des heiligen Jakob.«

»Ihr macht Euch doch hoffentlich nicht über mich lustig?«

»Das würde ich nie wagen, Herrin.« Seine dunklen Augen funkelten.

Matilda hob die Brauen, sagte aber nichts. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie sich an seine Gesellschaft gewöhnt und genoss sie. Er war eine der Hauptstützen der Regierung ihres Vaters und ein enger Freund ihres Bruders Robert. Sie hatte oft mit ihnen und anderen bis in die Nacht hinein zusammengesessen und sich über alles Mögliche unterhalten, über die beste Methode, einen Hasen abzuhäuten, über heikle Aspekte der Kirchenpolitk oder das englische Rechtssystem, in dem Brian sehr bewandert war. Sie liebte es, ihm zuzuhören, wenn er in einer Debatte seinen Standpunkt vertrat.

»Dies ist die nächste Etappe Eurer Reise, Herrin.« Brians Gesicht war jetzt ernst, und in seinem Blick lag eine Intensität, die sie bewog, den Kopf zu senken, bevor ein Funke zwischen ihnen überspringen konnte.

»Und wer weiß, wo sie endet.«

»Ich bin sicher, Euer Vater weiß es.«

»Wie schade, dass nur er das Ziel kennt und es niemandem verrät.« Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der mit einer Gruppe von Höflingen auf der anderen Seite des Schiffes stand. Sie hatte ihn in Rouen begleitet, wenn er Recht gesprochen und sein politisches Netz gesponnen hatte. Er hatte sie insoweit mit einbezogen, als er darauf bestanden hatte, sie an seiner Seite zu haben, aber er fragte selten nach ihrer Meinung. Letzten Monat hatte er, ohne erst mit ihr zu sprechen, Bewerber um ihre Hand aus der Lombardei und Lothringen abgewiesen. Sie hatte fast ein Jahr an seinem Hof gelebt, doch die Zeit schien wie ein Spinnennetz zwischen zwei Zweigen in der Schwebe zu hängen und darauf zu warten, dass sich etwas anderes als Staub darin verfing. Er hatte sie einfach zu sich geholt, so als sei sie eine wertvolle Sicherheit, die es in der Reserve zu halten galt.

»Wenn wir in England sind, werden die Dinge schon ins Rollen kommen.«

Brians beschwichtigender Tonfall reizte sie.

»Wisst Ihr etwas, das ich nicht weiß?«

»Nein, Herrin, nur dass Euer Vater mit einigen Leuten über dringende Angelegenheiten sprechen muss. Zum einen mit Eurem Onkel König David, zum anderen mit dem Bischof von Salisbury.«

Matilda maß ihn mit einem zornigen Blick.

»Noch mehr Diskussionen unter Männern. Ich bin die Tochter des Königs, und die Lords meines Vaters haben mir die Treue geschworen, und trotzdem habe ich noch immer keinen Platz und keine Stimme in der Welt!«

»Aber das wird sich eines Tages ändern«, gab Brian ruhig zurück. »Jetzt ist die Zeit gekommen, Eure verfügbaren Resourcen zusammenzuziehen und den Boden dafür zu bereiten.«