Die englische Rebellin - Elizabeth Chadwick - E-Book

Die englische Rebellin E-Book

Elizabeth Chadwick

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Beschreibung

Elizabeth Chadwick überzeugt mit einem einfühlsamen Blick auf das alltägliche Leben im Mittelalter

England im Jahre 1204. Die 14-jährige Mahelt Marshall, geliebte älteste Tochter von William Marshall, Earl of Pembroke, wird mit Hugh Bigod verheiratet, dem Erben der Grafschaft von Norfolk. Die Eheschließung verbindet zwei der mächtigsten Familien von England. Und obwohl die Hochzeit der beiden von politischen Gedanken bestimmt ist, eint Mahelt und Hugh eine tiefe Liebe. Doch die Zeiten sind unruhig, und schon bald überschatten weitreichende politische Ereignisse das junge Glück …

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Copyright

1

Caversham, Berkshire, der Landsitz der Familie Marshal, Januar 1204

»Das ist ungerecht!« Die zehnjährige Mahelt Marshal funkelte ihre älteren Brüder finster an, die in ihr Spiel vertieft und dabei waren, eine feindliche Burg anzugreifen. »Warum kann ich kein Ritter sein?«

»Mädchen sind keine Krieger«, erwiderte Will mit der überheblichen Selbstsicherheit eines fast vierzehnjährigen Jungen, der der Erbe der Grafschaft Pembroke war.

Sie versuchte, die Zügel seines Pferdes zu packen, und er zog sie rasch weg. »Mädchen bleiben zu Hause, sticken und bekommen Kinder. Nur Männer ziehen in den Krieg.«

»Frauen müssen die Burg verteidigen, wenn ihre Männer nicht da sind«, schoss Mahelt zurück. »Mama tut das  – und ihr müsst ihr gehorchen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und sah Richard an. Er war zwölf und ließ sich manchmal dazu bewegen, ihre Partei zu ergreifen, aber heute sprang er ihr nicht bei, obwohl sich sein sommersprossiges Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog.

»Aber sie muss unserem Vater gehorchen, wenn er zurückkehrt«, trumpfte Will auf. »Papa schickt sie nicht mit einer Lanze los, während er selbst daheimbleibt, nicht wahr?«

»Ich kann ja so tun, es ist ohnehin nur ein Spiel.« Mahelt war fest entschlossen, nicht klein beizugeben. »Und du bist noch kein Mann.«

Richards Grinsen wurde noch breiter, als Will errötete.

»Na schön, aber sie ist kein Ritter, und sie reitet Equus nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Sie kann ein Franzose sein. Wir sind die Engländer.«

»Das ist ungerecht«, protestierte Mahelt erneut.

»Dann spiel eben nicht mit«, erwiderte Will gleichmütig.

Mahelt warf ihren Brüdern einen erzürnten Blick zu. Sie wollte zu gern Wills neues Pferd reiten, weil es ein großes, kräftiges Tier mit schimmerndem Fell war, kein Pony. Sie wollte wie Will mit ihm über Hecken springen und herausfinden, wie schnell es galoppieren konnte. Sie wollte den Wind in ihrem Haar spüren. Will hatte es Equus genannt, was, wie er sagte, die lateinische Bezeichnung für »Schlachtross« war. Richards sanftmütiger Grauer stellte nicht dieselbe Herausforderung dar, und für ihren untersetzten kleinen Kastanienbraunen, der mit einer Muskelzerrung im Bein im Stall stand, war sie schon fast zu groß. Mahelt wusste, dass sie genauso gut reiten konnte wie ihre beiden Brüder.

Sie seufzte und stapfte missmutig davon, um ihre »Burg« zu verteidigen, für die die Hütte des Hundepflegers herhalten musste. Hier wurden die Halsbänder und Leinen der Hunde, alte Decken, Jagdhörner, verschiedene Gerätschaften, Körbe und Tiegel aufbewahrt. Auf einem Regal in Mahelts Augenhöhe standen bauchige irdene Töpfe, die Salbe zur Behandlung von Wunden enthielten. Mahelt nahm einen davon herunter, hob den Deckel aus geflochtenem Stroh an und schrak im selben Moment vor dem Gestank von ranzigem Gänsefett zurück, der ihr entgegenschlug.

»Bist du so weit?«, hörte sie Richard rufen.

Den linken Arm um den Topf geschlungen kam Mahelt aus dem Schuppen und trat den Jungen, die ihre Pferde bestiegen, energisch entgegen. Beide hielten aus Eschenholz gefertigte provisorische Lanzen in den Händen und hoben ihre kleinen Schilde. Unter wildem Geschrei griffen die Brüder an. Da Mahelt wusste, dass sie damit rechneten, dass sie den Mut verlieren und in den Schuppen fliehen würde, wich sie nicht von der Stelle. Sie griff nach einer Hand voll Fett, das sich kalt und glitschig zwischen ihren Fingern anfühlte, und schleuderte es den heranpreschenden Pferden entgegen. Will duckte sich hinter seinen Schild, der den ersten Klumpen abfing, aber der zweite flog darüber hinweg und traf seinen Umhang und seinen Hals. Der nächste Wurf klatschte gegen die Schulter von Richards grauem Pferd. Da er Mühe hatte, das scheuende Tier unter Kontrolle zu bekommen, konnte er sich nicht mit den Händen schützen, und der vierte Fettklumpen landete mitten in seinem Gesicht.

»Hah! Ihr seid beide tot!« Mahelt hüpfte triumphierend auf und ab. »Ich habe gewonnen, ich habe gewonnen!« Ihre Augen glühten. Sie hatte es ihnen gezeigt.

Will sprang blitzschnell von seinem Pferd. Mahelt schrie auf und versuchte in den Schuppen zu flüchten, aber er war schneller und packte ihren Arm. Sie fuhr in seinem Griff herum, schlug mit ihrer mit Salbe bedeckten Hand nach seiner Brust und schmierte ranziges Fett auf seinen Umhang.

»Es ist ehrlos, eine Lady zu schlagen!«, schrie sie, als er drohend eine Faust hob.

Will blickte auf seine weiß angelaufenen Knöchel, ließ den Arm sinken und versetzte ihr stattdessen einen Stoß.

»Sieh dir an, was du mit meinem Umhang gemacht hast! Mir tut der Mann leid, den du einmal heiratest. Du bist eine Hexe!«

Entschlossen, keine Reue zu zeigen oder klein beizugeben, streckte Mahelt das Kinn vor.

»Aber ich habe euch trotzdem besiegt«, beharrte sie. »Euch beide.«

»Lass sie, Will.« Richard wischte sich entnervt über das Gesicht. »Komm, wir verschwinden. Es ist besser, wir üben woanders, und in einem echten Kampf müssen wir mit Schlimmerem rechnen als mit ein paar Klumpen altem Fett.«

Mit einem letzten bösen Blick wandte Will sich ab und stieg wieder auf sein Pferd.

»Sieht aus, als hättest du am Ende doch verloren«, höhnte er, als er nach den Zügeln griff.

Durch einen Schleier von Zornestränen sah sie ihren davonreitenden Brüdern nach. Als sie die Hand hob, um sich über die Augen zu wischen, empfand sie den Gestank der Salbe an ihren Fingern plötzlich als unerträglich. Ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Ihr Sieg bedeutete nichts, und sie würde Ärger bekommen, weil sie die Salbe des Hundepflegers verschwendet und die Kleider ihrer Brüder beschmutzt hatte. Sie stellte den Topf auf das Regal zurück und schloss die Tür. Als sie sich umdrehte, schrak sie zusammen, weil Godfrey, der zweite Haushofmeister ihres Vaters, direkt hinter ihr stand.

»Eure Eltern suchen Euch, junge Mistress.« Er rümpfte die Nase. »Was in Gottes Namen habt Ihr angestellt?«

»Nichts.« Sie setzte eine gebieterische Miene auf, um ihr Schuldbewusstsein zu verbergen. »Ich habe die Burg verteidigt.«

Godfrey erwiderte nichts darauf, aber sein Blick sprach Bände.

»Was wollen sie denn?« Beiden Elternteilen gegenübertreten zu müssen hieß für gewöhnlich, dass sie sich etwas Ernstes hatte zuschulden kommen lassen. Ihrer Mutter entging fast nichts, aber von den Fettgeschossen konnte sie noch nichts wissen, und Mahelt war sich keines anderen Vergehens bewusst, das so einen Befehl nach sich zog.

»Ich weiß es nicht, junge Mistress. Eure Mutter hat mich nur angewiesen, Euch zu holen.«

Voller Argwohn folgte Mahelt ihm und blieb nur stehen, um sich die Hände im Wassertrog zu waschen und an einem an der Stallwand befestigten Netz mit Heu abzutrocknen.

Ihre Mutter und ihr Vater saßen in ihrem Privatgemach vor dem Feuer, und sie bemerkte, dass sie einen Blick wechselten, als sie eintrat. Sie spürte, dass etwas in der Luft lag, aber es war nichts Bedrohliches. Ihre beiden jüngeren Brüder Gilbert und Walter saßen auf dem Boden und waren in ein Würfelspiel vertieft, und eine Kinderfrau kümmerte sich um ihre kleinen Schwestern, die vierjährige Belle und die zweijährige Sybire.

Ihre Mutter deutete auf die Bank, und nachdem sie ein Stück zur Seite gerückt war, nahm Mahelt Platz. Das Feuer umfing sie mit Wärme. Die Vorhänge waren zugezogen, und das Licht zahlreicher Bienenwachskerzen verlieh dem Raum eine behagliche, einladende Atmosphäre. Ihre Mutter duftete nach Rosen. Sie legte einen Arm um Mahelt und zog sie liebevoll an sich. Sollten ihre Brüder doch ihr dummes Spiel spielen. Elterliche Aufmerksamkeit war viel besser, vor allem, wenn man nicht in Schwierigkeiten steckte. Aber sie fand es seltsam, dass ihr Vater ihre alte Stoffpuppe in seinen großen Händen hielt und sie nachdenklich betrachtete. Als er merkte, dass sie ihn beobachtete, legte er die Puppe weg und lächelte, aber seine Augen blickten ernst.

»Du erinnerst dich an das Weihnachtsfest am Hof von Canterbury vor ein paar Wochen?«, fragte er.

Sie nickte.

»Ja, Papa.« Es war herrlich gewesen  – das Essen, die Tänze, die Unterhaltung. Und sie hatte sich so erwachsen gefühlt, weil sie sich unter die Gäste hatte mischen dürfen. Vor König John war sie auf der Hut gewesen, da sie wusste, dass ihre Mutter ihn nicht mochte, aber sie hatte die Juwelen bewundert, die er um den Hals getragen hatte. Saphire und Rubine, hatte ihre Base Ela gesagt, die aus dem Land Serendib stammten.

»Und du erinnerst dich an Hugh Bigod?«

»Ja, Papa.« Die Hitze des Feuers schien plötzlich auf ihrem Gesicht zu brennen. Sie griff nach ihrer Puppe und drehte sie zwischen den Händen hin und her. Hugh war älter als sie, aber er hatte einen Reigen mit ihr getanzt, später Spiele wie Blindekuh und Pantoffelsuchen für die Kleinen organisiert und sich selbst voller Begeisterung daran beteiligt. Er hatte eine schöne Singstimme und ein Lächeln, das in ihrer Magengegend ein Kribbeln auslöste, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Eines Tages würde er der Earl of Norfolk sein, so wie Will einmal den Titel Earl of Pembroke führen würde.

»Hughs Eltern suchen eine passende Frau für ihn«, erklärte ihr Vater. »Und deine Mutter und ich halten eine eheliche Verbindung der Familien Marshal und Bigod für äußerst wünschenswert.«

Mahelt blinzelte. Sie spürte das weiche Kleid der Puppe unter ihren Fingern, die Wärme des Feuers, den Arm ihrer Mutter. Sie sah ihren Vater an. Wenn das Gesetz es erlaubte und wenn es unter Gottes Himmel möglich war, dann würde sie Hugh heiraten. Sie wusste, dass von ihr erwartet wurde, eine gute Partie zu machen, die ihrer Familie zum Vorteil gereichte. Es war ihre Pflicht, und sie war stolz, sie zu erfüllen, aber sie hatte nicht erwartet, dass der Zeitpunkt so schnell kommen würde  – an einem ganz normalen Tag, an dem sie kurz zuvor noch mit ihren Brüdern gespielt hatte. Ihr Magen fühlte sich plötzlich flau an.

»Vorerst handelt es sich nur um eine Verlobung«, versicherte die Mutter ihr. »Nichts wird sich ändern, bis du älter bist, aber dein Vater muss das Angebot jetzt schon machen.«

Mahelts Erleichterung darüber, dass sie nicht sofort verheiratet werden würde, wich augenblicklich Neugier.

»Warum musst du das Angebot jetzt machen, Papa?«

Ihr Vater warf ihr einen ernsten Blick zu, er sprach mit ihr wie mit einer erwachsenen Frau.

»Weil ich mir ein Bündnis mit dem Earl of Norfolk sichern möchte, Matty. Er verfügt über große Macht, ist ein Ehrenmann, und seine Landgüter werfen gute Erträge ab. Er kennt die Gesetze dieses Landes besser als jeder andere, und sein Sohn ist ein wohlgeratener junger Mann. An seiner Seite wirst du sicher und behütet sein, und das ist mir wichtig. Wenn ich das Angebot jetzt nicht mache, wartet der Earl vielleicht nicht länger. Er könnte Hugh auch in andere Familien vorteilhaft einheiraten lassen. Er ist die beste Wahl für dich.«

Mahelt verstärkte den Griff um ihre Puppe  – nicht weil sie aufgeregt war, sondern weil sie nachdachte. Will war mit der erst fünf Jahre alten Alais de Béthune verlobt. Mahelts Base Ela, die Countess of Salisbury, hatte mit zehn William Longespee geheiratet. Mahelt war jetzt fast elf, beinahe zwei Jahre älter.

»Ich mag Hugh Bigod«, meinte sie und baumelte mit den Beinen. Sie mochte auch Countess Ida, die ihr zu Weihnachten eine Emaillebrosche mit roten und blauen Blumen geschenkt hatte. Und Hughs Vater Earl Roger trug immer prächtige Hüte.

»Dann bin ich froh«, erwiderte ihr Vater. »Und sehr stolz auf dich. Ich werde dem Earl mein Angebot unterbreiten, und wir werden sehen, was passiert.«

Sein Lob löste eine wohlige Wärme in Mahelt aus. Er umarmte sie, und sie ließ die Puppe los, um ihn im Gegenzug so fest wie möglich an sich zu drücken. Er tat so, als würde er nach Atem ringen, dann gab er ein undefinierbares Geräusch von sich und wandte sich mit einer Grimasse ab. »Kind, was hast du gemacht? Was ist das für ein Gestank?«

Mahelt bemühte sich, eine unbekümmerte Miene aufzusetzen. »Das ist nur die Salbe, die Tom für die Hunde nimmt, wenn sie sich verletzt haben.«

Er hob die Brauen.

»Und wie kommt sie an dich?«

Sie wand sich.

»Will hat gesagt, ich müsste die Burg gegen Angreifer verteidigen. Er wollte nicht, dass ich ein Ritter bin und Equus reite.« Ihre Augen blitzten. »Er sagte, ich müsste ein Franzose sein, und dann wurde er böse und ritt weg, weil er nicht gewonnen hat.« Sie unterdrückte ein Beben, als ihr einfiel, dass er gesagt hatte, sie habe eigentlich verloren. Das stimmte nicht.

»Und die Salbe?«

Mahelt streckte das Kinn vor.

»Ich hatte sonst nichts, womit ich werfen konnte. Und ich wollte mich nicht ergeben, weil sie mich sonst gefangen genommen und Lösegeld für mich erpresst hätten.«

Ihr Vater wandte den Blick ab und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Als er sich wieder umdrehte, wirkte er sehr ernst.

»Du weißt, dass Tom jetzt neue Salbe anrühren und darauf warten muss, dass die nächsten Schweine geschlachtet werden? Und er muss Kräuter suchen.«

Mahelt nestelte an ihrem Zopf herum.

»Es tut mir leid, Papa. Ich werde ihm helfen.« Das würde Spaß machen, dachte sie. Besser, als immer nur nähen.

Er lächelte schief.

»Wahrscheinlich ist es ein Glück, dass nach der Verlobung bis zur Hochzeit noch einige Zeit vergehen wird.«

»Ich würde meinen Mann nicht mit Fett bewerfen«, versicherte sie ihm.

»Es freut mich, das zu hören«, erwiderte er mit leicht gepresster Stimme. »Geh jetzt, und wasch dir die Hände, dann rösten wir Brot über dem Feuer.«

Erleichtert, so glimpflich davongekommen zu sein, sprang Mahelt von der Bank. Außerdem hatte sie furchtbaren Hunger.

»Sie ist noch so jung«, murmelte William Marshal später, als er und seine Frau vor dem Zubettgehen ihre schlafende Tochter betrachteten. Im Kerzenschein schimmerten rötliche Lichter in ihrem dichten braunen Haar. Sie hielt ihre Puppe fest an sich gepresst.

Isabelle zog ihn weiter, bevor das Licht Mahelt wecken konnte.

»Du musstest eine Entscheidung treffen, und es war die richtige.«

Er setzte sich auf die Kante ihres Bettes und rieb sich das Gesicht.

»Roger Bigod ist ein Freund, ja, aber für ihn haben seine eigenen Interessen stets Vorrang  – wie für mich auch.«

»Natürlich«, stimmte Isabelle zu, als sie die Kerze in eine Nische stellte. »Aber ich gehe davon aus, dass er dein Angebot dankbar annehmen und es nicht als zweite Wahl betrachten wird.«

»Das will ich auch hoffen«, entrüstete sich William. »Mahelt ist eine der besten Partien im Land.«

Isabelle legte ihm beruhigend eine Hand auf den Nacken. »Sicher ist sie das, und du hättest keinen besseren Mann für sie wählen können als Hugh Bigod.« Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen, denn sie erkannte, dass ihn der bevorstehende Verlust schmerzte. Ihre anderen Töchter waren noch klein, Mahelt war bei der Geburt ihrer ersten Schwester schon sieben und daher lange Zeit Williams einzige Tochter gewesen. Sie war ihm so ähnlich; sie hatte seine unerschöpfliche Energie, seine Bedingungslosigkeit und sein starkes Ehr- und Pflichtgefühl, aber leider nicht seine Geduld und seinen Takt geerbt. Sie kannte ihren Platz in der Welt  – den Platz als geliebte älteste Tochter des Earl of Pembroke. Isabelle liebte Mahelt sehr, wusste aber auch, dass Hugh Bigod mit ihr eine harte Nuss zu knacken hatte.

»Norfolk und Yorkshire liegen weitab jeder Gefahr«, meinte William, aber seine Stimme klang besorgt.

Isabelle kaute auf ihrer Lippe. Ihre Beziehung zu König John stand auf unsicheren Füßen. Weder mochte John William, noch traute er ihm, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber ein Treueeid war bindend, und John hatte ihm als Gegenleistung für diesen Eid die Grafschaft Pembroke zugesprochen. Williams Stärke hatte immer in seiner bedingungslosen Loyalität gelegen, aber er diente einem Mann, der dem Ehrgefühl anderer nicht traute und diese Tugend selbst kaum besaß. In der Normandie brodelte es unter der ruhig erscheinenden Oberfläche. Ostanglien jedoch war ein sicherer Hafen und sein Earl ein vorsichtiger Mann, der seine Landsitze fest in der Hand hatte.

William schüttelte den Kopf.

»Vor zehn Jahren habe ich sie zu ihrer Taufe getragen. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, und jetzt arrangiere ich ihre Hochzeit. Die Zeit ist wie ein Pferd in vollem Galopp, das nicht auf die Zügel reagiert.«

»Dein Pferd reagiert vielleicht nicht auf die Zügel, aber wenn du im Voraus planst, läufst du nicht so schnell Gefahr, aus dem Sattel zu stürzen.«

William grunzte belustigt, streifte sich die Tunika über den Kopf und legte sich rücklings auf das Bett.

»Ich bin froh, dass du ›nicht so schnell‹ gesagt hast, Liebes.« Er sah zu, wie sie ihren Schleier abnahm und ihr Haar löste, sodass ihr die schweren goldenen Zöpfe über den Rücken fielen. »Gott weiß, es gibt genug Hindernisse, die auch den geschicktesten Reiter zu Fall bringen. Morgen weise ich den Schreiber an, einen Brief an die Bigods aufzusetzen, und dann sehen wir weiter.«

2

Settrington, Yorkshire, Februar 1204

Hugh Bigod stieg von seinem Pferd, um die Wölfin zu inspizieren, die er gerade getötet hatte, und wischte seinen Speer an dem struppigen Wintergras ab. Silbergraues Fell sträubte sich im Wind. Ihre Zähne waren gefletscht, und noch im Tod glitzerten ihre bernsteinfarbenen Augen böse. Sie hätte dieses Jahr Junge gehabt, aber ihr geschwollener Bauch war kein Zeichen von Fruchtbarkeit, sondern rührte von dem trächtigen Mutterschaf her, das sie und ihr Gefährte am Tag zuvor gerissen und verzehrt hatten. Während der Zeit des Lammens stellten Wölfe ein ständiges Problem dar. Grau wie das Zwielicht schlichen sie um die Schafpferche herum und warteten den günstigsten Zeitpunkt ab. Die Schäfer und ihre Hunde gaben gut Acht, aber sie konnten nicht überall zugleich sein, und so erlitten sie häufig Verluste.

Mit Graupeln durchsetzter Regen peitschte ihm ins Gesicht, und er wandte den Kopf vom Wind ab. Obwohl er Fausthandschuhe trug, fühlten sich seine Finger taub an. Es war eine eisige Jahreszeit, in der viel Hunger herrschte, der Winter wollte nicht weichen, obwohl es früher hell wurde und die Dunkelheit später hereinbrach.

»Jetzt kann ich mir ein Wolfsfell neben das Bett legen.« Die dunkelgrauen Augen seines dreizehnjährigen Bruders Ralph glänzten.

Hugh lächelte.

»Und zum Ausgleich ein Schaffell auf die andere Seite  – um dich daran zu erinnern, warum wir Wölfe jagen.«

»Ich begreife nicht, was du mit einem Wolfspelz willst. Er stinkt«, meinte William. Mit fast fünfzehn stand er Hugh altersmäßig am nächsten.

»Nicht, wenn er gut gegerbt und gelüftet ist«, hielt Ralph dagegen.

William schüttelte den Kopf.

»Der einzige gute Platz für einen Wolf ist eine Jauchegrube.«

Hugh, der an derlei Auseinandersetzungen gewöhnt war, schenkte den beiden keine Beachtung. Sie stritten sich ständig, manchmal kam es sogar zu Handgreiflichkeiten, aber der Zwist hielt nie lange an, und gegen einen gemeinsamen Gegner verbündeten sie sich immer.

Hugh stieg wieder auf Arrow. Die Stute war so genannt worden, weil sie aus dem Stand heraus in einen schnellen Galopp verfallen konnte. Sie konnte es mit jedem Wolf aufnehmen und war sein Stolz und seine Freude. Er zog die Zügel an und musterte die von der Ostküste heranziehenden Wolken, während er darauf wartete, dass Ralph den blutigen Kadaver auf das Packpony lud. Der Wind war so schmerzhaft wie der Biss eines wilden Tieres. Es war ein Tag, an dem jeder vernünftige Mann am Feuer sitzen bleiben und nur ins Freie gehen würde, um seine Blase zu entleeren  – oder um Wölfe zu jagen.

Hugh war seit fünf Jahren der Lord von Settrington, seit ihm sein Vater nach König Johns Krönung zehn Ritterlehen zugestanden hatte. Er war damals sechzehn gewesen, alt genug, um unter Anleitung Verantwortung zu übernehmen, und er hatte sich hier in Yorkshire auf den Tag vorbereitet, wo er ausgedehnte Flächen fruchtbaren Landes und Küstendörfer in Ostanglien sowie die Burg Framlingham mit ihren dreizehn großen Türmen erben würde. Sein Vater war immer noch gesund und rüstig, aber eines Tages würde Hugh der Earl of Norfolk sein und mehr als hundertsechzig Ritterlehen besitzen.

Er blieb bei den Hütten der Hirten stehen, um den Männern die gute Nachricht bezüglich der Wölfe zu überbringen, und ritt dann zum Gutshof. Als der Nachmittag in die Dämmerung überging, trotteten die Pferde durch den eisigen Matsch. Dampfwolken stiegen von ihren Nüstern und Flanken auf. Laternenlicht fiel durch die Ritzen der Fensterläden des Hauses, und Stallburschen standen bereit, um die Jägertruppe zu begrüßen und ihre Pferde zu versorgen.

»Sir, Euer Vater ist hier«, teilte der Stallmeister Hugh mit, als er abstieg.

Hugh hatte die Pferde im Stall und die erhöhte Anzahl der Diener bereits bemerkt. Er hatte seinen Vater erwartet, weil sich König John und der Hof in York aufhielten und Settrington nur zwanzig Meilen entfernt lag. Hugh nickte den Stallburschen zu, streifte seine Handschuhe ab, blies in seine Hände und betrat das Haus. Sein Haushofmeister, der auf ihn gewartet hatte, reichte ihm einen Becher mit heißem, gewürztem Wein, den Hugh dankbar entgegennahm. Sein Vater saß mit übereinandergeschlagenen Beinen am Feuer und nippte an seinem Wein, erhob sich aber, als er Hugh sah.

»Vater.« Hugh kniete nieder und neigte den Kopf.

»Mein Sohn«, erwiderte Roger Bigod. Stolz schwang in seiner Stimme mit. Er zog Hugh auf die Füße und küsste ihn auf beide Wangen. Hugh spürte den festen Körper seines Vaters durch den pelzgesäumten Mantel, als sie sich umarmten. Er war so hart und kräftig wie ein gekappter Baum.

William und Ralph trafen ein, wurden genauso begrüßt, und eine Weile lang drehte sich das Gespräch um das schlechte Wetter und die Wolfsjagd. Mehr Wein sowie Platten mit heißen Pasteten wurden gebracht. Da Fastenzeit herrschte, waren sie weder mit Käse gefüllt noch mit Zucker oder Gewürzen bestäubt, aber dank der Hitze und der Knusprigkeit trotzdem ein Genuss für Männer, die in der klirrenden Kälte einer anstrengenden körperlichen Tätigkeit nachgegangen waren. Hughs Hände und Füße begannen kribbelnd zum Leben zu erwachen. Frostbeulen waren ein weiterer Grund, sich an einem eisigen Februartag nicht vom Feuer zu entfernen. Er schob die Nase eines hungrig bettelnden Hundes weg.

»Wie geht es meiner Mutter?«

Sein Vater betupfte sich mit einer Serviette die Lippen. »Recht gut, aber wie wir alle sehnt sie den Frühling herbei  – und wartet natürlich auf Neuigkeiten von dir.«

»Sobald das Wetter besser wird, reite ich nach Framlingham und besuche sie.«

»Vielleicht sogar schon früher.«

»Oh?« Hugh hob fragend eine Braue.

Der Earl blickte zu seinen anderen Söhnen hinüber.

»Nach dem Essen. Ich will unter vier Augen und ungestört mit dir reden.«

Er ließ sich nicht umstimmen, und Hugh blieb nichts anderes übrig, als seine Neugier zu bezähmen.

Nach einer bescheidenen Fastenmahlzeit, die aus Fischsuppe und Brot bestand, verschwand Ralph, um seine Wölfe abzubalgen. William zog es vor, mit den Rittern zu würfeln, nachdem ihm bedeutet worden war, sich zu entfernen.

Hughs innere Anspannung wuchs, während er darauf wartete, dass sein Vater das Gespräch eröffnete. Irgendetwas Bedeutendes stand an.

Der Earl kehrte dem Feuer den Rücken zu und räusperte sich. »William Marshal ist an mich herangetreten und hat mir angeboten, dir seine älteste Tochter zur Frau zu geben.«

Die Neuigkeit kam nicht überraschend, trotzdem verspürte Hugh ein flaues Gefühl im Magen. Sein Vater hielt schon seit einiger Zeit nach einer passenden Braut Ausschau. Marshals Tochter war einer von mehreren Namen auf der Liste.

»Ich habe ihm gesagt, ich würde über seinen Vorschlag nachdenken und ihm meine Antwort geben, nachdem ich mit dir gesprochen hätte.«

»Sie ist noch keine elf Jahre alt.« Hughs erster Gedanke kam ihm über die Lippen, obwohl er ihn gar nicht hatte aussprechen wollen.

»Sie wird schnell heranwachsen, und du bist auch noch jung und kannst dir Zeit lassen mit dem Heiraten. Ich war über dreißig, als ich deine Mutter heiratete, und William Marshal war doppelt so alt wie du, als er Isabelle of Leinster zur Frau nahm. Was zählt, ist die Ehre und das Ansehen einer Verbindung mit den Marshals und die Verwandtschaft, die uns das Mädchen beschert.«

Hugh dachte daran, wie er beim Weihnachtsfest in Canterbury mit Mahelt Marshal getanzt hatte. Sie war groß für ihr Alter und schlank und geschmeidig wie ein Jagdhund. Vor allem ihr Haar hatte ihn fasziniert  – glänzend dunkelbraun mit einem Bronzeschimmer. Er hatte ihre Gesellschaft genossen, aber sie war ein ausgelassenes Kind, keine Frau, die man heiratete und mit ins Bett nahm. Tatsächlich kamen ihm, wenn er an die Familie Marshal dachte, der Earl und die Countess in den Sinn, nicht Mahelt. Bei Hof hatte er sich immer stark von Countess Isabelle angezogen gefühlt, die mit Anfang dreißig eine starke und reizvolle Frau war.

»Irgendetwas macht dir Sorgen, das sehe ich dir an.«

Hugh stützte das Kinn in die Hand.

»Es mag ja nicht mehr lange dauern, bis das Mädchen eine erwachsene Frau ist, aber was, wenn sie in der Zwischenzeit stirbt? Dann verlieren wir ihre Mitgift, und andere Angebote sind uns entgangen.«

»Das Risiko müssen wir eingehen«, räumte sein Vater ein. »Aber Mahelt Marshal ist nicht kränklich … alle ihre Brüder und Schwestern sind so robust wie Schlachtrösser.« Ein Funke glomm in den Augen des älteren Mannes auf. »Gutes Zuchtmaterial.«

Hugh stieß den Atem aus und grinste hämisch.

Sein Vater wurde ernst.

»Wir werden kein besseres Angebot erhalten.«

Hugh wusste, dass der scharfe Verstand seines Vaters und seine Fähigkeit, logisch zu argumentieren, der Grund dafür waren, dass der König ihn als Richter und Berater schätzte. Er hatte jegliche Vor- und Nachteile dieser Verbindung mit Sicherheit genau abgewogen und würde auf jeden Einwand von Hugh eine Antwort haben.

»Ich füge mich deinem Willen, Vater«, sagte er. »Ich kenne meine Pflicht gegenüber der Familie, und meine Bedenken sind nicht von Belang.«

Die Lippen seines Vaters verzogen sich zu einem leisen Lächeln.

»Trotzdem sind sie verständlich. Ich bin froh, einen Sohn großgezogen zu haben, der selbstständig zu denken vermag. Lord Marshal wünscht im Moment nur eine Verlobung. Die Heirat soll ausgesetzt werden, bis das Mädchen alt genug ist, um die Pflichten einer Ehefrau zu übernehmen.«

»Wird sie bei uns leben?« Hughs Ton klang gleichmütig, obwohl ihn die Vorstellung, eine Kindfrau an seiner Seite zu haben, insgeheim beunruhigte, auch wenn seine Mutter sie größtenteils unter ihre Fittiche nehmen würde.

»Nicht vor der Hochzeit, die erst stattfinden wird, wenn sie alt genug ist und Kinder bekommen kann. Der Earl of Pembroke meint, die Verlobung könnte nach der Fastenzeit in Caversham gefeiert werden.«

»Wie du willst.« Hugh war zutiefst erleichtert, dass er eine Gnadenfrist erhalten hatte.

Sein Vater hielt ihm seinen Becher zum Nachschenken hin. »Gut, dann sind wir uns also einig und müssen nur noch die Einzelheiten der Mitgift und des Brautpreises besprechen. Der König muss natürlich auch sein Einverständnis geben, aber da sehe ich keine Schwierigkeiten. Wir stehen in seiner Gunst, und er weiß unsere Unterstützung zu schätzen. Ich habe in weiser Voraussicht einen juwelenbesetzten Stab und eine Ausgabe von Äsop besorgt  – aufgrund seiner Vorliebe für Edelsteine und das Lesen sollte ihn das in gute Stimmung versetzen.«

»Gibt es Neuigkeiten aus der Normandie?« Als Hugh zuletzt am Hof gewesen war, war König Philip von Frankreich in die Provinz eingefallen, und nicht nur die Bigod-Ländereien in der Nähe von Bayeux waren bedroht, sondern auch die wesentlich größeren Besitzungen William Marshals.

Sein Vater schüttelte den Kopf.

»Keine guten. Solange die Burg von Gaillard nicht fällt, ist Rouen vor den Franzosen sicher, aber wir haben keine eigenen Siege zu verzeichnen, und wenn die Zeit der Feldzüge beginnt …« Er vollführte eine Geste, die beschrieb, in welch misslicher Lage sich König John befand. Die Ostnormandie war von den Franzosen überrannt worden, Anjou verloren. »Königin Eleanor ist achtzig Jahre alt und kränkelt. Stirbt sie, gibt es Krieg in Poitou.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich dachte immer, sie würde auf ewig ein Teil des Landes bleiben, aber Menschen sind vergänglicher als Steine.«

Hugh erwiderte nichts darauf, denn so sah er seine Eltern  – unverwüstlich wie Felsgestein  –, während sie in Wahrheit so verletzlich waren wie Bäume im Wald.

»Der König wird eine Armee zusammenziehen und versuchen, Philip zurückzutreiben, aber ob ihm das gelingt…« Roger starrte ernst in das Feuer. »Die unbedeutenderen normannischen Vasallen werden zu Philip überlaufen, damit sie ihr Land behalten können. Warum sollten sie einem Herrn die Treue halten, der über das Meer geflohen ist und sie ihrem Schicksal überlassen hat? John wird all die kleinen Leute verlieren, und die sind es, die die Großen stützen.«

»Was ist mit unseren eigenen Landsitzen? Und dem Gestüt?«

»Darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich denke, es ist an der Zeit, die Pferde nach England zu bringen. Selbst wenn ich Carbon und Montfiquet einbüße, überlasse ich dem König von Frankreich nicht meine Pferde. Sowie sich das Wetter bessert, möchte ich, dass du sie zurückholst.«

»Und was ist mit unseren Leuten?«

»Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist.« Sein Vater schob die Arme in seinen pelzverbrämten Mantel. »Dein Urgroßvater kam nach England und kämpfte bei Hastings, weil ihn seine Ländereien in der Normandie nicht ernährten. Sie sind ein nützliches Zubrot, aber kein nennenswertes Erbteil.« Er schürzte die Lippen. »Den Marschall wird es schwer treffen, wenn wir die Normandie verlieren, denn er besitzt dort Burgen und Landsitze von großem Wert. Er läuft Gefahr, das Erbe seines Sohnes zu verlieren. Der Junge ist dreizehn Jahre alt, und der Marschall muss durchhalten, bis er ihn in die Normandie schicken kann, damit er dort auf eigenen Füßen steht.« Er seufzte tief. »Unser aller Schicksal steht auf die eine oder andere Art auf Messers Schneide, deswegen brauchen wir starke Verbündete. Das verringert das Risiko, von den Wölfen gefressen zu werden.« Er hob seinen Becher, um einen Trinkspruch auszubringen. »Auf deine Verlobung.«

»Auf meine Verlobung«, erwiderte Hugh trocken.

3

York, Februar 1204

John, König von England, rieb anerkennend mit dem Daumen über die geschnitzten Elfenbeintafeln, die den Einband des Buches in seiner Hand schützten.

»Meine Großgrundbesitzer beklagen ihre Armut, haben aber immer noch die Mittel, mir Geschenke wie dieses zu machen.« Er schlug das Buch auf und deutete auf eine kunstvolle Zeichnung. »Lapislazulipulver und Gold«, stellte er fest. »Wie viel das den Earl of Norfolk wohl gekostet hat?«

»Ich kenne den Inhalt seiner Truhen nicht, Sire.« William Longespee, Earl of Salisbury, schüttelte die Würfel in seiner Faust und warf sie auf das Spielbrett.

»Nicht?« Ein sardonischer Funke glomm in Johns Augen auf. »Du verbringst doch genug Zeit bei den Bigods. Ich dachte, du hättest vielleicht eine ungefähre Ahnung.«

»Der Earl spricht nicht über sein Vermögen, und danach sollte ein Gast auch nicht fragen.«

»Aber du bist ja nicht nur ein Gast, du gehörst zur Familie«, sagte John mit samtweicher Stimme.

Longespee fluchte stumm, als er eine Eins und eine Zwei würfelte. Auf anderen Gebieten mochte es mit Johns Glück nicht zum Besten stehen, aber beim Würfeln hatte er den ganzen Abend gewonnen. Die so freundlich ausgesprochenen Worte sollten ihn treffen wie Nadelstiche, das wusste er. Sein königlicher Halbbruder war sich der widersprüchlichen Gefühle durchaus bewusst, die Longespee seinen Bigod-Verwandten entgegenbrachte, und er nutzte sie bedenkenlos aus. »Ich gehöre auch zu Eurer Familie, weiß aber trotzdem nicht, wie viel Silber sich in Euren Schatztruhen befindet.«

John lachte böse. »Du weißt, dass bald wenigstens eine Silbermark hinzukommen wird.« Er deutete mit seiner freien Hand auf das Spielbrett. »Das Schlimme ist, dass ich dir immer mehr leihen muss, um es zurückzugewinnen. Leiht der Earl of Norfolk dir auch Geld, wenn ihr spielt?«

Longespee errötete.

»Wir spielen nicht.«

»Nein, vermutlich nicht. Roger Bigod würde das Risiko nicht eingehen.« John blätterte die Seiten des erlesenen kleinen Buches behutsam um.

Longespee griff nach seinem Wein. Es war ein Privileg, dass er John Gesellschaft leisten durfte, dass er in seinem Privatgemach in der Burg von York sitzen, rubinroten Wein trinken und sein Silber beim Glücksspiel verlieren durfte. Aber wäre er nicht als Bastard geboren worden, wäre er selbst ein Prinz. Seine Mutter war fünfzehn gewesen, als Johns Vater, König Henry, sie zur Mätresse genommen und geschwängert hatte. Sie hatte Roger Bigod, den Earl of Norfolk, geheiratet, als Longespee ein Kleinkind gewesen war, und Longespee war im Haushalt des Königs aufgewachsen. Sie hatte ihm erzählt, wie sehr sie unter der Trennung von ihm gelitten, sein Vater, der König, ihr aber in dieser Angelegenheit keine Wahl gelassen hatte. Ihrem rechtmäßigen Ehemann hatte sie eine Schar legitimer, aber rangniedrigerer Kinder geboren und sie weit entfernt von höfischen Kreisen in Yorkshire und Ostanglien aufgezogen. Longespee verachtete seine Halbgeschwister und beneidete sie zugleich um das, was sie besaßen und er nicht. Er stattete ihrer großen Festung Framlingham gelegentlich Besuche ab, was ihn stets mit einer Mischung aus Freude und Schmerz erfüllte.

»So.« John klappte das Buch vorsichtig zu  – er brachte Literatur und dem geschriebenen Wort mehr Respekt entgegen als Menschen. »Was hältst du von diesem Ehekontrakt zwischen der ältesten Marshal-Tochter und deinem Halbbruder?«

»Es klingt nach einem geschickten politischen Schachzug«, erwiderte Longespee ausweichend.

John fuhr mit der Zunge durch den Mund. Ein verächtlicher Unterton schlich sich in seine Stimme.

»Bigod war schon immer auf seinen Vorteil bedacht, aber natürlich nur im Rahmen des Gesetzes.« Er musterte Longespee abwägend. »Deine Ela war bei eurer Hochzeit neun Jahre alt, nicht wahr?«

Longespee nickte zögernd.

»Ungefähr.«

»Und jetzt ist sie süße sechzehn. Wie lange hast du gewartet?«

Longespees Miene verfinsterte sich.

»Lange genug.«

»Trotzdem schwillt ihr Bauch noch nicht an.« John grinste wölfisch. »Aber sie hält dich auf Trab, nicht wahr? Du wirst deinem Bruder viele Ratschläge erteilen können, wenn es so weit ist.«

Longespee erwiderte nichts darauf, aber seine Züge erstarrten. Er hasste es, wenn John in diesem Ton über sein Privatleben sprach. Genau hier lag das Problem: John betrachtete es nicht als persönliche Angelegenheit, Longespee dagegen sehr wohl. Er betete Ela an und wollte sie um jeden Preis beschützen. Da er wusste, wie John Frauen nachstellte, brachte er sie selten an den Hof, und er achtete darauf, möglichst nicht von ihr zu sprechen, da er bemerkt hatte, wie eifersüchtig John über jene wachte, die er als seinen ureigenen Besitz ansah. Longespee wusste, dass auch er gewissermaßen zu Johns Besitztümern zählte, störte sich aber nicht sonderlich daran, weil ihm dies hohes Ansehen verlieh und einen zentralen Platz am Hof verschaffte. Man musste für alles im Leben einen Preis zahlen. Er selbst trachtete danach, sich stets ehrenhaft zu verhalten, und sah weg, wenn sich Dinge ereigneten, auf die er keinen Einfluss hatte.

Lächelnd griff John nach den Würfeln, schüttelte sie in der Faust und warf eine Sechs und eine Fünf.

»Komm schon«, sagte er. »Mach nicht so ein Gesicht, ich habe nur gescherzt. Ich wünsche deinen Marshal- und Bigod-Verwandten viel Glück. Sie haben einander verdient.« Die Bemerkung klang wie eine Kränkung, was sie wahrscheinlich auch war.

Am Morgen bereitete sich der Hof auf einen Jagdausflug vor, und Longespee bahnte sich einen Weg durch das Getümmel von Hunden und Pferden im Stall, um seinen Halbbruder zu suchen und ihm zu seiner bevorstehenden Hochzeit zu gratulieren. Eigentlich wäre er Hugh lieber aus dem Weg gegangen, aber er musste sich an die Gebote der Höflichkeit halten.

Longespee bemerkte zuerst die silbern schimmernde Stute mit dem Geschirr in den rot-goldenen Bigod-Farben. Sein Herz schwoll vor Neid. Sein Stiefvater unterhielt das beste Gestüt in ganz England, und als sein Erbe hatte Hugh natürlich die erste Wahl. Dieser war in ein angeregtes Gespräch mit einem Stallburschen vertieft, was Longespee ein abfälliges Kopfschütteln entlockte. Er hielt nichts von allzu vertraulichem Umgang mit Dienstboten. Er straffte sich, strich seinen Umhang glatt und trat vor.

»Bruder.« Er stieß das Wort hervor, bevor es ihm im Hals stecken bleiben konnte. »Wie ich höre, sind Glückwünsche angebracht.«

Hugh drehte sich um und lächelte, doch seine meerblauen Augen blickten wachsam. Sein Haar schimmerte im fahlen Wintersonnenlicht wie stumpfes Gold.

»Danke.« Seine Miene blieb skeptisch. »Ich muss mich an den Gedanken erst noch gewöhnen. Wie geht es Ela?«

»Gut«, erwiderte Longespee knapp, der sich an Johns Bemerkung über Ratschläge erinnerte und sich verlegen fühlte. »Kommt deine Braut nach Framlingham?«

Hugh schüttelte den Kopf.

»Nicht sofort. Ich kann noch ein paar Junggesellenjahre genießen.«

»Mach das Beste daraus  – aber ich denke, das Eheleben wird dir gefallen. Ela ist eine ständige Freude für mich.« Nachdem die Formalitäten beendet waren, ging Longespee um Hugh herum und inspizierte die Stute. »Ist sie schnell?« Mit geübten Handgriffen untersuchte er ihre Beine.

Hugh nickte und entspannte sich ein wenig.

»Sehr schnell. Über eine Meile schlägt sie jedes andere Pferd in diesem Stall.«

»Du glaubst, sie könnte de Braoses Schwarzen besiegen?« Longespee nickte in Richtung des Gefolges des Lords of Bramber. Ein Stallbursche betreute einen mächtigen spanischen Hengst mit gebogenem Hals und breiter Kruppe. Das Tier war ausgeruht, tänzelte und wollte losgaloppieren.

»Mühelos«, entgegnete Hugh stolz.

»Mühelos genug, um darauf zu wetten?« Longespee spürte die vertraute Erregung in sich aufsteigen, die er jedes Mal vor einer Herausforderung empfand. Er sah sich schon auf der silbernen Stute sitzen und ihre Schnelligkeit und Kraft erproben. Wie er Hugh kannte, hatte er ihre Fähigkeiten noch nicht einmal zur Hälfte ausgereizt.

Hugh zögerte.

»Oder war das nur haltlose Prahlerei?«

Hughs blaue Augen blitzten auf. »Nein!«

»Dann würdest du sie in einem Rennen antreten lassen?«

»Ich…«

Longespee drehte sich um, als ihm jemand auf die Schulter schlug, und sah sich einem seiner anderen Halbbrüder gegenüber: Ralph.

»Hah, die ganze Familie ist hier!« Er begrüßte den Neuankömmling wesentlich herzlicher als Hugh. Ralph konnte er ertragen, genoss sogar seine Gesellschaft. Der Bursche war jünger, brachte ihm offenkundige Bewunderung entgegen und war nicht der Erbe einer Grafschaft, die dreimal so groß war wie die Longespees.

Ralph lachte. Er befand sich mitten im Stimmbruch.

»Nein, nur ich, William, Hugh und unser Vater. Die anderen sind immer noch in Norfolk. Wir haben Hugh in Settrington bei der Wolfsjagd geholfen.«

»Habt ihr welche erlegt?«

»Einen Wolf und eine Wölfin. Hätten wir sie nicht getötet, hätten sie ein neues Rudel gegründet. Ich habe ihre Pelze.«

Longespees Nasenflügel bebten.

»Sie stinken.«

»Das behauptet William auch.«

Longespee rieb sich über das Kinn.

»So«, kam er auf sein Anliegen zurück. »Meinst du, die Stute deines Bruders würde de Braoses Schwarzen schlagen?«

»Was, Arrow?« Der Junge stemmte die Hände in die Hüften. »Natürlich würde sie das. In ganz England gibt es kein schnelleres Pferd.«

»Nun, dann hast du ja nichts zu verlieren.« Longespee wandte sich an Hugh. »Also, leihst du sie mir?«

»Mach schon, Hugh, tu es!« Ralphs graue Augen leuchteten vor Begeisterung.

»Und was ist mit der Jagd?«, wich Hugh aus.

»Du hast doch noch andere Pferde, oder?« Longespee winkte ungeduldig ab.

Widerwillig überließ Hugh ihm die Zügel.

»Geh behutsam mit ihr um.«

Longespee lächelte herablassend.

»Keine Sorge, ich verstehe etwas von Pferden. Ich konnte eher reiten als laufen.« Er tätschelte der Stute den Hals, schob einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Ein Hochgefühl durchströmte ihn, weil ihm seine Position nun die Möglichkeit gab, auf Hugh hinabzublicken  – so, wie es ihm gebührte, denn schließlich war er der Sohn eines Königs. Er schickte seinen Herold los, der de Braose die Herausforderung überbrachte, und setzte fünf Mark auf seinen Sieg.

De Braose nahm die Wette bereitwillig an, ließ aber aufgrund seiner massigen Statur und seines fortgeschrittenen Alters seinen Knappen in den Sattel steigen.

»Das muss man Euch lassen, Longespee  – Ihr schreckt vor nichts zurück, auch wenn die Chancen gegen Euch stehen.« Er lachte leise in sich hinein. Sein Atem bildete kleine Wölkchen. Er schlug mit der Hand auf den kräftigen Hals des Schwarzen, woraufhin der Hengst zusammenzuckte und mit den Hufen zu scharren begann.

Der König traf in Umhang und Stiefeln ein, bereit für die Jagd, und verfolgte das Geschehen mit einer Mischung aus Interesse und Geringschätzung, bevor er zu Longespee hinüberschlenderte.

»Ich schätze, de Braoses Hengst wird gewinnen.« Er reichte ihm seine Peitsche aus geflochtenem schwarzem Leder. »Du wirst sie brauchen, wenn du überhaupt eine Chance haben willst.«

Hughs Herz begann zu hämmern.

»Sire, ich peitsche meine Pferde niemals und mein Vater auch nicht…«

»Dann solltet Ihr vielleicht damit anfangen.« John maß ihn mit einem hochmütigen Blick. »Pferde, Hunde, Frauen, Bischöfe  – es schadet nicht, wenn man sie von Zeit zu Zeit antreibt.« Er winkte Longespee zu. »Bring sie zum Fliegen, Bruder, denn Lord de Braose wird dich nicht schonen.«

Longespee lenkte die Stute in einer engen Wende auf das Burgtor zu. Ralph sprang in den Sattel und folgte seinem Halbbruder in raschem Trab. Hugh verkniff sich eine weitere Warnung, da er wusste, dass man ihn für ein altes Weib halten würde, und fuhr stattdessen einen Stallburschen an, sein Ersatzpferd zu holen. Er musste zur Seite springen, als de Braoses großer Schwarzer an ihm vorbeikam. Schweiß bildete sich unter den Zügeln an seinem Hals. Hughs Magen fühlte sich flau an. Er wünschte, er hätte Arrow in Settrington gelassen oder wäre selbst dort geblieben. Wölfe zu jagen war weniger gefährlich.

Auf einem Feld hinter Micklegate Bar hatte sich eine Zuschauermenge versammelt, und andere Männer bereiteten sich darauf vor, ihre schnellsten Pferde gegen die Hauptfavoriten antreten zu lassen. Der Earl of Derby hatte seinen Knappen auf einen schlanken Kastanienbraunen gesetzt, und ein anderer Halbbruder des Königs, Geoffrey, der Erzbischof von York, ließ sein Schlachtross von einem jungen Stallburschen reiten.

Hugh biss sich auf die Innenseite seiner Wange, als die Strecke auf vier Achtelmeilen festgesetzt und ein Holzpfahl als Wendemarke in den Boden gerammt wurde. Er erwog, Longespee absteigen zu lassen und Arrow selbst zu reiten, aber dafür war es jetzt zu spät; er konnte nur noch hilflos zusehen und beten. Die Art, wie Arrow mit dem Schweif schlug und mit den Hufen aufstampfte, bereitete ihm ebensolche Sorgen wie das Funkeln in Longespees Augen und sein angespannter Körper.

Er wurde kurz abgelenkt, als sein Vater in Begleitung einiger Gefolgsleute auftauchte.

»Was geht hier vor?« Roger Bigod nickte zu den Männern und Pferden hinüber.

Hugh berichtete ihm, was geschehen war. Der Gesichtsausdruck seines Vaters blieb unverändert, aber Hugh spürte seine Missbilligung.

»Ich hätte ablehnen sollen«, räumte er ein.

Der Earl nickte.

»Ja, das hättest du tun sollen, aber für die Zukunft weißt du es jetzt besser. Zieh eine Lehre daraus  – was dich betrifft und andere Männer. William Longespee gelüstet es immer nach dem Besten. Er hat den Mut eines Soldaten und das Herz eines Spielers  – darum liebt Ralph ihn so.«

Reiter und Pferde drängten sich am Start der provisorischen Rennstrecke. Inzwischen waren es acht. Die Pferde schnaubten ungeduldig, die Reiter warfen sich einschüchternde Blicke zu. De Braoses Schwarzer schnappte nach jedem, der in seine Nähe kam, und keilte aus. Jemand spottete, das Pferd sei de Braoses zänkischer Frau bemerkenswert ähnlich. Auch über die unberührte Unschuld von Hughs Stute fielen Bemerkungen. Longespee lachte laut. Hugh rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihm noch nie in seinem Leben weniger nach Lächeln zumute gewesen war. Ihm wurde übel, als er sah, wie Longespee an Arrows Ohren zupfte und ihr fast mit Besitzerstolz den schweißfeuchten Hals tätschelte.

Mit Sand von dem Boden aus der Kammer des Königs war auf dem Gras eine Startlinie gezogen worden, hinter der die Pferde warteten. Ein Herold mit einem Horn erschien, setzte es an die Lippen und blies hinein. Wie von einem Katapult abgefeuert schossen Tiere und Männer über die Linie. Erdbrocken spritzten auf und ergossen sich über die Zuschauer. Hugh behielt Arrows weißes Hinterteil und ihren wehenden silbernen Schweif im Auge. Einen Moment lang verschwand sie in einem Meer von Pferden, dann setzte sie sich an die Spitze und ließ die anderen Tiere hinter sich.

»Er treibt sie zu sehr an!« Hugh stellte sich auf die Zehenspitzen und verrenkte sich den Hals, als die Pferde außer Sicht gerieten. »Er sollte ihre Kräfte schonen, sonst holen die anderen sie ein.« Als er die Anspannung in seiner Stimme hörte, nahm er sich zusammen, wohl wissend, dass die Leute ihn beobachteten. Als Erbe der Grafschaft Norfolk war es seine Pflicht, vor seinen Untertanen Stärke zu zeigen, vor allem, seit bezüglich der Verbindung mit den Marshals Mutmaßungen angestellt wurden. Ein Mann, der wegen eines Pferdes Schwäche zeigte, mochte auch auf anderen Gebieten Schwächen aufweisen.

Das Hufgetrommel vibrierte unter den Sohlen seiner Stiefel. Ralph brüllte mit einer Stimme wie eine rostige Messerklinge: »Sie gewinnen! Sie gewinnen! Mach schon, Mädchen, flieg wie der Wind!«

Arrow lag tatsächlich noch in Führung, als die Pferde auf die Startlinie zujagten, aber mit jedem Satz holte de Braoses Schwarzer auf, ebenso wie der Braune des Erzbischofs. Die Stute gab ihr Bestes, aber das anfängliche Feuer war erloschen, und sie geriet unter immer stärkeren Druck.

»Weiter!«, röhrte Ralph und schlug mit der Faust in die Luft. »Weiter!«

Arrow legte die Ohren an, als sie weiterjagte, während der Schwarze links und der Braune rechts von ihr immer näher kamen. Eine Länge, eine halbe Länge, eine Kopfeslänge. Longespee hob den Arm, die Peitsche sauste nieder, und die Stute presste sich fast auf den Boden, als sie noch schneller wurde und knapp vor den beiden anderen über die Sandlinie schoss. Noch mitten im Galopp, von ihrem eigenen Schwung getragen, stolperte sie, stürzte zu Boden und blieb wild auskeilend liegen. Longespee rollte sich zur Seite, als der Rest der Pferde vorbeidonnerte. Mit einem unartikulierten Aufschrei rannte Hugh zu Arrow und sank neben ihr auf die Knie. Scharlachrotes Blut strömte aus ihren Nüstern, und obwohl sie noch immer atmete und aufzustehen versuchte, wusste er, dass er ein sterbendes Pferd vor sich hatte.

Longespee rappelte sich auf und schwankte über das zertrampelte Gras auf die Stute zu.

»Großer Gott«, keuchte er mit aschfahlem Gesicht und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Großer Gott.«

Hugh hörte ihn gar nicht. Er sah zu, wie das Licht in Arrows Augen erlosch und sich das Zittern ihrer Beine beim Versuch, wieder aufzustehen, in Todeskämpfe verwandelte. Ihr Blut floss heiß um seine Knie. Er beugte sich über sie, umfasste ihren Kopf und strich ihr über die Haarkrone.

Sie stieß ein letztes Mal den Atem aus, und ihre Beine hörten auf zu zucken. Hugh spürte, wie sein eigenes Blut in den Adern gefror. Die Menge scharte sich um ihn, von dem Spektakel und der Tragödie angezogen. William de Braose kam herbei, kräuselte die Lippen und drückte Longespee einen schweren Beutel in die Hand.

»Freut Euch, dass die Strecke nicht länger war«, grollte er. »Was nutzt Euch ein schnelles Pferd, wenn es tot unter Euch zusammenbricht?« Er warf einen verachtungsvollen Blick über seine Schulter und stapfte in Richtung seines schwitzenden Hengstes davon.

Wut durchzuckte Hugh wie ein Blitz und riss ihn aus seiner Benommenheit. Er richtete sich auf. Der Saum seiner blauen Tunika war mit Arrows Blut durchtränkt.

»Du hast die Peitsche genommen«, beschuldigte er Longespee mit zornerstickter Stimme.

»Nur ein Mal.« Longespee atmete flach und presste eine Hand gegen seine Rippen. »Bei Gott, sie ist gestorben, weil sie nicht gesund war, nicht weil ich ihr einen Schlag versetzt habe. Es hätte jederzeit passieren können. Besser jetzt als bei einer Jagd oder auf einem Feldzug.«

Die Entschuldigungen ließen Hugh endgültig die Beherrschung verlieren. Seine Hände schlossen sich um Longespees Hals. »Du hast sie zu Tode geritten!«, schluchzte er mit brechender Stimme. »Ihr Blut klebt an deinen Händen!« Aber es war an seinen eigenen Händen.

Sein Vater zerrte ihn von Longespee weg und schob sich zwischen sie.

»Es reicht! Egal was gesagt oder getan werden muss  – wir wollen doch kein noch größeres Schauspiel daraus machen.«

Mit bleichem Gesicht und sichtlich unter Schmerzen nickte Longespee steif. Hugh bemühte sich, seine Wut zu zügeln.

»Ich entschädige dich für den Verlust«, bot Longespee an. »Ich kaufe dir ein anderes Pferd  – diesmal ein gesundes, das schnell ist wie der Wind.«

Hugh entblößte die Zähne.

»Ich will nichts von dir. Ich würde von dir noch nicht einmal Silber annehmen, wenn ich verzweifelt und am Verhungern wäre. Dieses Pferd war mir mehr wert als Geld  – aber das verstehst du nicht!«

Longespee erwiderte nichts darauf, obwohl sein Gesichtsausdruck besagte, dass er Hugh für einen Narren hielt, weil er sein Herz so an ein Tier gehängt hatte. Außerdem ärgerte er sich über die schroffe Zurückweisung seines Angebots.

Der König kam herbei. Jemand hatte seine Peitsche aufgehoben, die Longespee hatte fallen lassen, als er sich von dem gestürzten Pferd wegrollte, und nun hielt John sie in der Hand.

»Ein bedauerliches Unglück.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Beileid, Bigod. Eure Stute war pfeilschnell, aber Schnelligkeit ist nicht alles.« Er warf Roger und Hugh einen viel sagenden Blick zu. »Ihr müsst auf die Blutlinien achten und bei der Züchtung der nächsten Generation aufpassen.«

»Danke für Eure Anteilnahme und Euren Rat, Sire«, erwiderte Roger in neutralem Ton. »Seid versichert, dass ich ihn beherzigen werde. Keine Blutlinie ist gegen Rückschläge gefeit.«

John wirkte säuerlich belustigt.

»In der Tat, Mylord.« Als er sich abwandte, warf er Longespee über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Du kannst dich in meine Kammer zurückziehen, während ich fort bin, um dich von deinen Verletzungen zu erholen.«

Longespee schüttelte den Kopf.

»Danke, Sire, aber ich werde an der Jagd teilnehmen.«

»Wie du willst. Deine Ergebenheit spricht für dich, wenngleich sie unvernünftig ist.« John tippte Longespees Arm leicht mit der Peitsche an und wandte sich ab.

Sowie der König außer Sicht war, reichte Longespee den Beutel mit den fünf Mark an Roger weiter, der ihn nicht zurückwies. »Ich bedaure, was geschehen ist«, beteuerte er noch einmal. »Aber das Pferd wäre früher oder später ohnehin zusammengebrochen.«

»Das sagtest du bereits, und ich akzeptiere es«, erwiderte Roger gleichmütig. Hugh brachte keinen Ton heraus, denn im Gegensatz zu seinem Vater akzeptierte er das überhaupt nicht.

Longespee brachte eine Verneigung zustande, ehe er unsicher zu seinem Pferd zurückging. Ralph, der das Geschehen vom Rand der Menge aus mit großen Augen verfolgt hatte, zog das Tier hastig zu dem Holzklotz hinüber, der dem leichteren Aufsteigen diente. Als sich Longespee in den Sattel schwang und nach den Zügeln griff, war er blass und schweißnass, wirkte aber entschlossen.

Als die Jagdgesellschaft davonritt, brachten Stallburschen der Bigods Seile herbei, um die Stute fortzuziehen. Angewidert betrachtete Hugh den Beutel in der Hand seines Vaters.

»Das ist Blutgeld.« Ein Muskel an seinem Kinn zuckte. »Er überlässt uns den Siegespreis der Wette, die meine Stute das Leben gekostet hat, und betrachtet seine Schuld als bezahlt, aber das eine sage ich dir, Vater  – ich werde ihm nie wieder etwas leihen oder überlassen, was mir gehört, und dieser Schwur gilt bis zu meinem Lebensende.«

4

Caversham, März 1204

Mahelt warf ihrem zukünftigen Mann verstohlen einen raschen Blick zu, als er ihr einen Goldring an den Ringfinger steckte. Vor drei Monaten hatte er beim Weihnachtsfest in Canterbury ihre Hand gehalten und mit ihr getanzt. Die Geste war ebenso Teil einer bindenden Zeremonie wie die Hochzeit selbst. Hughs Haltung war ernst und ließ jene Überschwänglichkeit vermissen, die sie sonst von ihm kannte. Diesmal war sie sich des Umstandes stark bewusst, dass sie sich in der Gesellschaft eines erwachsenen Mannes befand, mit dem sie außer ihrem gesellschaftlichen Status und der Pflicht, im Sinne ihrer Familie zu handeln, nichts gemeinsam hatte.

Mahelt presste die Lippen zusammen und versuchte, die in ihr aufkeimende Furcht zu ignorieren. Schließlich musste sie nicht sofort mit ihm zusammenleben. Dies war nur ein Versprechen für später. Wie bei der Schrittfolge eines Tanzes brauchte sie nur die richtigen Antworten zu geben. Sie zwang sich, ihn anzusehen. Seine Augen schimmerten so blau wie das Meer im Sommer, und als sich ihre Blicke kreuzten, glomm ein Funke des Humors darin auf, den sie vom letzten Weihnachtsfest her kannte. Beruhigt lächelte Mahelt ihm zu, ehe sie wieder sittsam zu Boden blickte.

Von der Kapelle von Caversham aus zog sich die Gesellschaft in die Halle zurück, wo zu Ehren der Verlobung ein Fest gefeiert wurde. Hughs Mutter zog sie in eine süß duftende Umarmung und hieß sie in der Familie willkommen. Hughs Vater gab sich vor Zufriedenheit aufgeschlossener als sonst und erinnerte sie an einen Hahn mit aufgeplustertem Gefieder. Wie üblich trug er einen prachtvollen Hut, heute rot und mit gekräuselten Federn geschmückt. Nach Beendigung der Formalitäten wirkte auch Hugh entspannter, aber sein Benehmen ihr gegenüber blieb höflich und distanziert, und er machte keine Anstalten, irgendwelche Spiele zu veranstalten, wie er es noch zu Weihnachten getan hatte. Mahelt hielt den Blick gesenkt, wie es sich für eine zukünftige Braut schickte, schwang aber unter dem Tisch die Beine hin und her. Wäre es nicht so unpassend gewesen, hätte sie ihre Röcke gerafft und wäre losgerannt, um ihre überschüssige Energie abzubauen.

Hugh legte ihr die appetitlichsten Happen vor, aber sie hatte keinen Hunger. Die Fastenzeit mochte vorüber und Leckerbissen wieder erlaubt sein, aber sie war zu angespannt und konnte die saftige junge Ente und die würzigen, mit Kardamom gesüßten Gerstenkörner nicht genießen.

»Wenn wir verheiratet sind, reiten wir aus, und ich zeige dir unsere Landsitze«, schlug er vor. »Würde dir das gefallen?«

Mahelt nickte.

»Ich habe ein neues Pferd«, gab sie zurück. »Sie heißt Amber.«

Seine Lider senkten sich, und sie befürchtete schon, etwas Falsches gesagt oder getan zu haben, aber dann glätteten sich seine Züge, und er lächelte.

»Oh ja, und ein sehr schönes Pferd noch dazu. Ich habe sie gesehen, als du angekommen bist, und festgestellt, dass du ausgezeichnet reitest.«

Sein Lob erfüllte sie mit Stolz.

»Hast du immer noch die weiße Stute, die du Weihnachten geritten hast?«

Seine Miene verfinsterte sich erneut.

»Nein«, erwiderte er. »Aber ich reise bald in die Normandie, um unsere Zuchtherde nach England zu bringen, und dann suche ich mir ein neues Pferd aus.«

Mahelt baumelte stärker mit den Beinen und spielte mit einem Stück Brot. Sie beschloss, nicht zu fragen, was mit der Stute passiert war, denn Hughs Gesichtsausdruck besagte deutlich, dass er nicht darüber sprechen wollte.

Gegen Ende des Festmahls traf ein Waffenschmied mit einigen Schwertern ein, auf die Mahelts Vater gewartet hatte, und die Männer gingen hinaus, um sie zu erproben, und überließen die Frauen ihrer Unterhaltung.

Mahelts zweite Base Ela nutzte die Gelegenheit und bewunderte den Verlobungsring.

»Sehr schön.« Ein Lächeln lag in ihren haselnussbraunen Augen. Ela war seit ihrem neunten Lebensjahr mit Hughs Halbbruder William Longespee verheiratet. Jetzt war sie sechzehn, eine bescheidene, aber selbstbewusste junge Frau. Ihr Mann diente am Hof des Königs, aber Ela hatte sich gefreut, der Verlobung beizuwohnen.

Während sie den Ring betrachtete, malte sich Mahelt aus, eine richtige Ehefrau zu sein, kam sich dabei aber vor, als probiere sie ein neues, viel zu großes Kleid an, von dem die Leute sagten, dass sie noch hineinwachsen würde.

»Weißt du schon, wann die Hochzeit stattfinden soll?«, fragte Ela.

Mahelt schüttelte den Kopf. »Erst in ein paar Jahren.«

»Countess Ida ist sehr freundlich«, versicherte Ela ihr, wobei sie ihrer Schwiegermutter einen liebevollen Blick zuwarf. »Sie hat mir so viel beigebracht.«

»Ich mag sie auch«, stimmte Mahelt zu, wohl wissend, dass niemand je an ihre eigene Mutter heranreichen würde.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »To Defy a King« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, an Hachette UK Company, London

1. Auflage Deutsche Erstausgabe August 2012 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2010 by Elizabeth Chadwick Copyright © 2012 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Konrad Bak/Shutterstock und Tomislav Stajduhar/Shutterstock Redaktion: Friederike Arnold LH · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-10110-7

www.blanvalet.de

www.randomhouse.de

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