Der Schmerz bleibt - H.C. Scherf - E-Book

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H.C. Scherf

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Beschreibung

Nichts ist vergessen – Die Zeit der Vergeltung ist gekommen Die Frauen besitzen alle das gleiche Äußere. Doch das ist nicht das einzig Gemeinsame – sie sterben alle einen grausamen Tod. Der Serienmörder foltert seine Opfer bestialisch, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Er macht den ersten Fehler, als einem Opfer die Flucht aus dem schrecklichen Kerker gelingt. Doch die Ermittler Rita Momsen und Peter Liebig erleben eine tiefe Enttäuschung, als sie auf die Hilfe des Opfers und erste Spuren setzen. Der geheimnisvolle Mörder bleibt nicht nur weiter ein Phantom, sondern wird selbst für sie zur tödlichen Bedrohung.

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Der Schmerz bleibt

 

Band 5 der Liebig/Momsen-Reihe

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Der Schmerz bleibt

Band 5 der Liebig/Momsen-Reihe

 

© 2020 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166 – 45699 Herten

http://www.haraldschmidt-ebooks.de

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von: designnatures / clipdealer.com

enzobo / clipdealer.com

nchlsft / clipdealer.com

1048417081 / shutterstock

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

Der Schmerz bleibt

Band 5 der Liebig/Momsen-Reihe

 

von H.C. Scherf

Gutes wird mit Gutem vergolten,

Böses mit Bösem.

Nichts wird vergessen,

denn die Zeit der Vergeltung wird kommen.

 

- Aus China -

1

Bitte, lieber Gott, lass mich endlich sterben.

Sie formte diese Gedanken mit ihren Lippen, während sie den Blick zur Decke dieses modrig riechenden Raumes gerichtet hatte. Über ihr, an der feuchten, von Moos bewachsenen Decke, klebten Armeen von widerlichen Spinnentieren, die nur darauf zu warten schienen, dass sie endlich über Maras totes Fleisch herfallen konnten. Maras irre Gedanken stellten sich bereits vor, wie ihr Körper mit Seide eingehüllt und ihr Blut aus dem Körper gesaugt würde. Einige der kleinen Monster hatten nicht abwarten können, saßen bereits in den tiefen Wunden, die ihr die Bestie in den letzten Wochen zugefügt hatte.

Sie spürte die breiten Sisalgurte an den Armen schon längst nicht mehr, die in ihr Fleisch schnitten und die Blutzirkulation unterbrachen. Mara hatte diesem Umstand sogar etwas Positives abgewinnen können, denn sie ertrug dadurch die Schmerzen besser, die ihr etliche Rattenbisse in den Füßen verursachten. Auch die Kälte, die vor allem nachts tief in ihren fast nackten Körper eindrang, empfand sie längst nicht mehr. Immer und immer wieder richtete sie ihren Blick auf den schmalen Eingang, hinter dem sie wildes Gestrüpp und vergammelnden Müll erkennen konnte, den Anwohner schon vor langer Zeit dort entsorgt hatten. Diese Ruine, unweit des Fulerumer Südwestfriedhofs, war längst in Vergessenheit geraten und für Besucher durch ein Gitter abgesperrt. Ihr Peiniger hatte sich das zunutze gemacht und sie hierher verschleppt. Die Schreie, mit denen sie auf ihr unvorstellbares Leid aufmerksam machen wollte, endeten schon am schmuddeligen Knebel, den ihr dieses Tier in den Mund gestopft hatte. Doch selbst wenn sie hätte frei schreien können, wäre es mehr als fraglich gewesen, ob sie überhaupt von jemandem gehört worden wäre. Bald würde sie genauso tot sein wie dieses Haus. Sie wäre nur noch Geschichte, ein Akteneintrag mehr in einem Polizeibericht. Dabei setzte sie voraus, dass dieser Wahnsinnige jemals gefasst würde. Schließlich trieb er sein Unwesen schon recht lange, was die vielen Körperteile bewiesen, die er schon zuvor geschändet hatte. Mindestens vier bereits mumifizierte Leichen konnte Mara in den Ecken des zumeist dunklen Raumes ausmachen. Dieses Grauen war für sie ein Blick in die eigene Zukunft.

Schwach zog sie an den Handfesseln, die tief in ihr Fleisch schnitten und ihre Arme immer nach oben zogen. Wenn sie die Schmerzen ignorierte, konnte sie sich auf den kalten, feuchten Boden setzen. Allerdings sackte das Blut dann aus den Armen in den Rumpf und machten sie völlig gefühllos. Sie wünschte sich sehnlichst, dass dies auch mit den Wunden geschehen würde, die ihr der Kerl an Unterleib und den Brüsten zugefügt hatte. Die tiefen Schnitte waren längst verschorft, wobei die Schmerzen jedoch blieben. Lediglich die nie endende Kälte dämpften sie ein wenig. Mara hatte aufgehört, die Tage zu zählen, die sie schon hier dem Martyrium des Mörders ausgesetzt war. Sie hatte sogar den Ratten, die sie regelmäßig besuchten, bereits Namen gegeben. Immer wieder baute sich vor ihren Augen die Szenerie auf, wenn das menschliche Ungeheuer sie besuchte. Anfangs hatte sie befürchtet, dass er sie brutal vergewaltigen und anschließend töten würde – eine unerträgliche Vorstellung für eine Sechzehnjährige, die noch wenig Erfahrung in Sachen körperlicher Liebe besaß. Doch dass es so grausam werden würde, hätte sie sich in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Dieser Kerl, der sein hübsches Gesicht offen zeigte, war nur bedingt an Maras weiblichen Reizen interessiert. Er beschränkte sich mit beeindruckender Geduld darauf, ihr mit einem scharfen Messer tiefe Wunden zuzufügen. Wenn ihr das Blut über Brust oder Scheide lief, begann er sich mit verklärtem Blick zu entkleiden. Am ersten Tag beschränkte er sich darauf, ihr die gesamte Körperbehaarung abzurasieren, sodass sie absolut haarlos und nackt vor ihm stand. Am nächsten Tag tat er es zum ersten Mal. Sie konnte ihren Würgereiz kaum kontrollieren, als der Mann damit begann, zu masturbieren. Seinen Samen strich er mit einem Lächeln über ihr Gesicht, verteilte ihn dann über den gesamten Körper. Währenddessen war immer dieser Singsang zu hören, der keiner ihr bekannten Melodie folgte. Nur selten sprach er zu ihr. Mara erinnerte sich daran, dass es genau diese angenehme Stimme und das hübsche Aussehen waren, die Schuld daran waren, dass sie ohne Bedenken in sein Auto gestiegen war – ein Fehler, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Mara sah das Gesicht vor sich, dieses geheimnisvolle Lächeln, als er ihr an der Theke der Diskothek Komplimente machte. Ein Tänzer, wie sie ihn schon lange nicht mehr erleben durfte. An diesem Tag bedauerte sie es, dass keine ihrer Freundinnen Zeit hatte, sie zu begleiten. So gerne hätte sie mit ihrer Eroberung eines weitaus älteren Mannes bei ihnen angegeben. Seine sportlich-elegante Erscheinung war selbst für diesen Nobelschuppen nicht alltäglich. Ihr fiel diese allmählich einsetzende Müdigkeit gar nicht auf. Doch gerne nahm sie das Angebot ihres Begleiters an, sie nach Hause zu fahren. Schon auf dem Beifahrersitz schlief sie friedlich ein. Am Haus ihrer Eltern kam sie niemals an.

Die Geräusche von Schritten rissen sie aus ihren Gedanken. Verzweifelt versuchte sie, sich aufzurichten. Sie stöhnte auf, als die Fesseln wieder tief in ihre Handgelenke einschnitten. Ein Schatten verdunkelte die schmale Öffnung dieser Folterkammer, verdeckte die wenige Sonne, die Mara ein letztes Vorhandensein von Leben da draußen verdeutlichten. Der stumme Schrei blieb in ihrem Knebel stecken, als sie das lange Messer in der Hand des Mannes aufblitzen sah, begleitet von einem perfiden Lächeln.

Oh Gott, hast du mein Bitten nicht gehört?

2

Oberkommissar Klaus Spiekermann schrak hoch, als er den Atem von Kommissarin Rita Momsen an seinem Ohr und den Geruch eines angenehmen Parfüms in der Nase spürte.

»Verdammt, musst du dich immer so anschleichen? Ich habe ein schwaches Herz. Was willst du von mir?«

Noch immer war Ritas Blick auf den Computerbildschirm von Spiekermann gerichtet, der aktuelle Angaben zu einer Vermisstenmeldung betrachtete und mit älteren verglich. Rita biss ein Stück von ihrem Müsliriegel ab und las mit. Irgendwann zeigte sie mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt und murmelte.

»Die Mädels scheinen sich fast alle in einer Altersklasse zu befinden, bis auf wenige Ausnahmen. Ja, mein lieber Klaus – das ist ein gefährliches Alter für die Jugendlichen. Ich erwähne das ja nur, da du dich wohl nur noch schwach an diese Zeit erinnern wirst, in der man die Welt erobern will, ohne viel über deren Gefahren zu wissen.«

Ritas Lächeln vertiefte sich, wobei ihr Blick weiter auf dem Bildschirm ruhte. Ihr war das Zucken im Gesicht ihres Kollegen nicht entgangen, der gerade einmal die Mitte vierzig erreicht hatte. Sie konnte es nur schwer unterlassen, ihn des Öfteren daran zu erinnern, dass sie etwa zwanzig Jahre voneinander trennte. Heute schluckte Klaus die Frotzelei, sehr zum Missfallen Ritas, ohne weitere Kommentare. Er sortierte die Vermisstenlisten um und erhielt eine Sammlung von fünf Personen, bei denen die Beschreibungen auffallend genau übereinstimmten. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er das verführerische Parfum Ritas genüsslich einatmete.

»Vor neun Wochen wurde diese – warte einmal – ja, diese Mara Veil von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Vor drei Wochen kam die Meldung rein, dass ein weiteres Mädchen vom Tanzabend nicht nach Hause kam. Zufall? Das würde mich schon sehr wundern.« Spiekermann winkte ab, als Rita an dieser Stelle einhaken wollte. »Ich weiß schon, was du mir jetzt sagen willst. Die Mädels hauen manchmal nur für einige Zeit ab, weil sie sich auf dem pubertären Selbstfindungstrip befinden. Klar, kommt das vor. Und sie tauchen auch irgendwann wieder bei Mami auf, weil sie gemerkt haben, dass es mit der Versorgung über Papis Konto auch besser klappte. Doch hier habe ich ein komisches Gefühl, Rita.«

»Gibt es Abschiedsbriefe? Ich meine damit nicht unbedingt die, die einen Suizid ankündigen. Viele beschreiben darin ja nur, dass sie mal eben mit einem absolut tollen Lover unterwegs sind, oder es zuhause einfach scheiße finden. Die sind harmlos. Also – gibt es welche?«

Klaus Spiekermann scrollte durch die Dateien und schüttelte den Kopf.

»Es gibt mir viel zu viele Übereinstimmungen. Das macht mich stutzig. Da werden sich ja bestimmt nicht alle Mädels im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn, mit auffallend blonden und langen Haaren verabredet haben, im Abstand von etwa sechs Wochen von zuhause zu verduften. Oder täusche ich mich da? Warte mal. Ich hole mir die Bilder alle zusammen auf den Schirm.«

Während Klaus auf die Tastatur einhämmerte, schob sich Rita den Rest ihres Riegels zwischen die Lippen. Gespannt starrten sie auf die Bildergalerie, die sich Stück für Stück vor ihnen aufbaute.

»Wow. Das könnten ja fast Klone sein«, entfuhr es ihr, »die Ähnlichkeit ist ja frappierend. Geschwister sind das zumindest nicht. Vielleicht hat sich der Vater nicht ganz an sein Treuegelöbnis gehalten und ...«

»Kannst du nicht einmal dein loses Mundwerk im Zaum halten? Männer sind von Natur aus eigentlich äußerst monogame Wesen. Ihr Frauen sorgt ständig mit euren Verführungskünsten dafür, dass sie die Vorzüge ihrer Ehepartner vorübergehend vergessen. Ihr seid es, die die größte Schwäche von uns ausnutzen.«

Keiner von beiden hatte bemerkt, dass sich Hauptkommissar Peter Liebig genähert und die letzte Bemerkung mitbekommen hatte. Allerdings entging Spiekermann nicht, dass Liebigs Hand – wie zufällig – auf Ritas Schulter lag. Trotzdem verblieb eine kurzzeitige Unsicherheit bei den beiden.

»Was ist denn so interessant an diesen Vermissten? Ach so, ich sehe schon. Die Ähnlichkeit. Das ist in der Tat recht ungewöhnlich. Und von denen ist bisher noch keine wieder aufgetaucht? Seht ihr irgendwelche Ansatzpunkte, um mögliche Ermittlungen in Gang setzen zu können?«

Rita trat einen Schritt zurück und berührte dabei mehr zufällig den Arm ihres Vorgesetzten.

»Darf ich vorschlagen, dass wir beide, also Klaus und ich, einmal die Eltern aufsuchen, um dort mehr ins Detail zu gehen? Gibt es Beziehungen der Familien untereinander? Kennen sich die Mädchen? Gehen sie auf die gleiche Schule, besuchen sie vielleicht die gleichen Kneipen oder Jugendheime? Da gibt es sicher einen Riesenfragenkatalog. Ich finde zumindest, dass es ein Ansatz wäre. Du selbst hast uns ja beigebracht, dass der Täter, so es einen gibt, in den meisten Fällen im Familien- oder Freundeskreis zu finden ist. Also schauen wir uns das einmal an und vergleichen die Beziehungen zueinander. Wäre das in deinem Sinne, Herr Hauptkommissar?«

Für Liebig war es wie eine Befreiung, dass er seine Beziehung zu Rita ab sofort nicht mehr verheimlichen musste. Das betraf zumindest die Personen, die zu seinem engeren Team zählten. Kriminalrat Rösner tappte scheinbar immer noch im Dunkeln, was Liebig nicht unbedingt bedauerte. Die Gefahr bestand immerhin, dass man sie beide trennte, also in verschiedene Dezernate versetzte. Der Vorteil lag allerdings darin, dass er sich um Rita nicht so viel Sorgen machen musste, wenn sie zum Beispiel in ein Dezernat für leichtere bis mittlere Kriminalität versetzt würde. Der Kontakt zu Mord und Totschlag birgt immer wieder hohes Gefahrenpotenzial. Dazu hatten beide in der relativ kurzen Zeit der Zusammenarbeit schon reichlich Erfahrung sammeln dürfen.

»Gut, das machen wir so. Über wie viele Mädchen sprechen wir bisher?«, wollte Liebig noch wissen und beugte sich Richtung Bildschirm. Spiekermann antwortete ihm.

»Bisher sprechen wir von diesen fünf Mädchen. Ich hoffe nur, dass man hier nicht dem Gesetz der Serie folgt und der zeitliche Abstand beibehalten wird. Dann wäre in den kommenden Tagen die nächste fällig. Lasst uns an die Arbeit gehen. Den letzten Fall von Suizid bei diesem Ralf Feltau habe ich Ihnen auf den Tisch gelegt. Dabei scheint es wirklich keine Fremdeinwirkung gegeben zu haben. Das ist in meinen Augen abgeschlossen. Können wir, Rita?«

3

Das Café in Kettwig war nur spärlich besucht. Helga Körner schaute mehr gelangweilt aus dem Fenster, um die vorbeieilenden Passanten zu beobachten. Sie versuchten, teilweise mit hochgehaltenen Schirmen, sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Immer wieder schlugen einige Schirme um, was Helga ein Lächeln auf das Gesicht zauberte, das jedoch Mitleid und Verständnis ausdrücken sollte. Sie hatte während des Einkaufens bereits Ähnliches erleben müssen. Nachdem sie die beiden Taschen neben dem Tisch abgestellt hatte, rieb sie noch einmal ihre klammen Hände und sah zur Kellnerin hoch, die mehr lustlos nach ihren Wünschen fragte und sich scheinbar enttäuscht wieder zur Theke entfernte. Ihr schien die Bestellung eines schnöden Kaffees nicht motivierend genug, um Freundlichkeit an den Tag zu legen. Helga sollte es egal sein. Ihr würde das hoffentlich heiße Getränk guttun.

Sie legte ihre Finger um die Tasse und genoss die Wärme, die von dort weiter in die Arme floss. Ihre Gedanken bewegten sich um den unnötigen Streit mit Reinhard, den sie selbst wegen einer Lappalie lostrat. Eigentlich war Reinhard ein herzensguter Mensch, der eher nachgab, als sich zu streiten. Doch diesmal hatte sie ihm eine Szene gemacht – alles nur, weil er seine Stiefel direkt vor der Haustür platziert hatte und sie darüber gestolpert war. Seine Entschuldigung hatte sie ignoriert und an ihm den Ärger abreagiert, den sie wegen des angebrannten Brotes aus dem Backautomaten in sich hineingefressen hatte. Jetzt erinnerte sie sich an seine Traurigkeit, als er das Haus verließ, um ohne Abschiedskuss zur Arbeit zu fahren. Es war das erste Mal in ihrer Ehe, dass dies geschah. Sie hatten sich versprochen, niemals einen Streit ungeklärt zu lassen. Heute Abend würde er sicher mit Blumen auftauchen, um die Wogen zu glätten, die sie selbst verursacht hatte. Ein etwas frivoles Lächeln umspielte Helgas Mund, als sie sich ausmalte, auf welche Art sie das wieder gutmachen würde. Da mochte ihr schon das Passende einfallen. Sie schrak zusammen, als sie die Berührung an ihrem linken Fuß spürte. Im gleichen Augenblick bemerkte sie die Bewegung neben sich und blickte in die blauesten Augen, die sie jemals zu sehen bekam.

»Entschuldigung, wenn ich Sie erschreckt haben sollte, aber Ihre Tasche war umgekippt. Ich habe sie nur ...«

»Danke«, war alles, was Helga in diesem Augenblick über die Lippen brachte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, diesen hilfsbereiten Mann zu analysieren. Immer wieder erwischte sie sich dabei, Menschen in Schubladen stecken zu wollen, zumindest, was das Äußere betraf. Dieser Mann passte definitiv in die Brad Pitt-Kategorie. Dieser Blick, diese Gesichtsform, die Ausstrahlung – alles passte haargenau.

»Es tut mir leid – ich scheine Sie wirklich gestört zu haben. Darf ich das mit einem weiteren Kaffee oder einem Kuchenstück ausgleichen? Da könnte man hier wunderbar aus dem Vollen schöpfen. Es war nicht meine Absicht, Sie zu ...«

Statt einer Antwort hob Helga nur abwehrend beide Hände und damit irrtümlich an, dass sie wohl keine Unterhaltung wünschte. Die passenden Worte fand sie nicht auf Anhieb. Erst als sich der junge Mann mit federnden Schritten wortlos entfernen wollte, stammelte sie die ersten Worte.

»Es ... es ist wirklich ... bitte entschuldigen Sie, aber ich war gerade völlig in Gedanken. Warten Sie bitte.«

Helga drehte sich mit der Absicht zur Seite, ihre Verlegenheitsröte vor dem Fremden zu verbergen, was allerdings nur das Gegenteil bewirkte. Am Liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken.

Verdammt – ich benehme mich wie ein pubertierender Teenager, der zum ersten Mal von dem Traumprinzen zum Tanz aufgefordert wird.

Unbeholfen zeigte sie auf den Stuhl neben sich und hätte sich im gleichen Augenblick dafür ohrfeigen können.

Was tue ich gerade? Ich bin eine glücklich verheiratete Frau, die sich gerade von einem gut aussehenden Fremden zum Kaffee einladen lässt. Wenn mich jemand dabei sieht und es Reinhard erzählt?

Ihre Röte verstärkte sich ein weiteres Mal, als sie die Hand des Mannes auf ihrer spürte.

»Was habe ich gerade angerichtet. Sie sind ja völlig durcheinander. Ich werde mich wieder an meinen Tisch setzen und Sie allein lassen. Den Kaffee bestelle ich Ihnen trotzdem.«

Als Helga bemerkte, dass es dem Mann ernst mit dieser Absicht war, reagierte sie wieder völlig unbewusst, obwohl ihr jede Silbe sofort auf der Zunge brannte.

»Bleiben Sie bitte – es ist nichts. Zumindest nichts, was Sie betrifft. Ich war nur sehr tief in Gedanken. Ich heiße Körner, Helga Körner. Und Sie?«

Habe ich das wirklich gerade gesagt? Habe ich dem Mann ohne Aufforderung meinen Namen verraten? Was ist bloß mit dir los, Helga?

»Wenn wir gerade bei der Vorstellung sind – ich heiße Leonhard Freitag. Meine Freunde nennen mich einfach Leon. Wenn Sie möchten, können Sie mich einfach ...«

»Nein, nein, lassen wir es bitte bei dem Sie. Wir kennen uns ja nicht einmal fünf Minuten. Verzeihen Sie bitte, aber in diesem Punkt pflege ich altmodische Prinzipien. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel. Aber den Kaffee können wir trotzdem bestellen. Meiner ist sowieso leer. Aber den bezahle ich selber, schließlich haben Sie mir geholfen. Keine Widerrede, Herr Freitag.«

Um das zu untermauern, zeigte sie ihrem Gegenüber die offene Handfläche und einen strengen Blick. Der wiederum verlor seine Schärfe, als Helga in diese lachenden Augen mit dem so ungewöhnlichen Blau sah.

»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, wo wir uns gerade erst kennengelernt haben. Sie sind bestimmt verheiratet und haben zwei süße Kinder.«

Erstaunt blickte Helga auf und entdeckte plötzlich tief in ihrem Inneren ein gewisses Misstrauen. Diese Frage war ihr doch zum Gesprächsauftakt etwas zu intim. Unsicherheit machte sich in ihr breit und sie suchte nach einer Möglichkeit, sich zum Sortieren ihrer Gedanken zurückziehen zu können. Statt einer Antwort präsentierte Helga der Brad Pitt-Kopie eine Gegenfrage.

»Würden Sie mich für einen Augenblick entschuldigen. Ich möchte nur eben zur Toilette. Der Kaffee ist ja noch nicht da.«

Sie spürte die Blicke des Fremden in ihrem Rücken brennen, was ihren Gang verunsicherte. Als sie endlich die Toilettentür hinter sich schloss, lehnte sie sich dagegen und versuchte, Atmung und ihre Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.

Was ist mit dir los? Das ist doch nur eine zufällige Begegnung mit einem Fremden. Jetzt interpretiere bloß nichts hinein, was es gar nicht geben darf. Du gehst jetzt da raus und schickst den verdammten Kerl zurück in die Wüste.

Leonhard erhob sich wie ein Gentleman, als Helga wieder am Tisch erschien und den Mund zu einer Klärung der Situation öffnete. Seine Worte unterbrachen ihre Absicht, zerstörten all ihre guten Vorsätze mit diesen Sätzen.

»Ich muss mich ein weiteres Mal bei Ihnen entschuldigen. Es war sehr ungehörig von mir, Sie nach Ihrem Familienstand zu fragen. Es geht mich auch nichts an. Was sollen Sie jetzt von mir denken? Ich werde meinen Kaffee austrinken und Sie wieder mit Ihren Gedanken allein lassen, wobei ich hoffe, dass es gute Gedanken waren. Lassen Sie uns mit Kaffee anstoßen und alles vergessen. Das musste wie eine billige Anmache auf Sie wirken, was wirklich nicht in meiner Absicht lag. Aber es war mir trotzdem ein Vergnügen, einige Worte mit einer wunderschönen Frau wechseln zu dürfen.«

Was läuft hier gerade ab? Kopiert dieser verdammt gut aussehende Kerl eine Filmszene oder ist der wirklich so galant? Ich werde aber darauf nicht hereinfallen.

Wieder bekam sie keine Gelegenheit, das Gespräch weiter zu führen. Der Schwindel trat nur für einen Moment auf, irritierte Helga jedoch augenblicklich. Als sie die aufkeimende Müdigkeit spürte, vernahm sie die Worte des Mannes bereits wie durch einen schwachen Nebel.

»Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen? Kommen Sie, sagen Sie mir, wo Sie wohnen und ich fahre Sie schnell nach Hause. Ich bezahle schon einmal und werde mir dann Ihre Taschen schnappen. Die Kellnerin ist gerade nicht da. Dann lege ich das Geld auf den Tisch. Lassen Sie sich helfen.«

Helga nahm dankend die Hand des Mannes und ließ sich nach draußen führen. Nachdem Leonhard die hintere Tür für sie geöffnet und ihr auf den Rücksitz geholfen hatte, konnte sie nicht einmal sagen, in welchen Wagentyp sie eingestiegen war. Das Auto war schwarz und groß. Nur das blieb ihr im Gedächtnis haften. Kaum war der Wagen losgefahren, sank sie auf die Rückbank und schlief augenblicklich ein.

4

Das Haus der Familie Kaiser unterschied sich von den nebenstehenden Reihenhäusern angenehm dadurch, dass es einen blumenüberfüllten Vorgarten besaß, was Rita Momsen einen anerkennenden Pfiff entlockte. Sie stellte sich vor, wie fleißige Bienen und andere Insekten in der warmen Jahreszeit dieses Paradies umschwärmten. Rita bemerkte gar nicht, wie Klaus Spiekermann ungeduldig mit den Füßen im Kies scharrte. Seine Frotzelei ließ sie allerdings aufhorchen.

»Wenn du mal groß bist und jemand um deine Hand anhält, kannst du dir bestimmt auch so ein schönes Heim gestalten. Doch bis dahin ...«

Beide wurden von dem hässlichen Geräusch unterbrochen, das die Haustür verursachte, die von einer Frau geöffnet wurde, die gleichzeitig ihre feuchten Hände an einer Schürze abtrocknete. Klaus rieb sich über die Gänsehaut, die sich immer dann bildete, wenn Steinchen über Fliesen gerieben wurden.

»Kann ich Ihnen helfen, oder möchten Sie sich nur diese Blumenpracht ansehen?«

Rita wechselte sofort in den Analysemodus. Sie betrachtete die Frau, die etwa Mitte vierzig sein durfte und mit ihren kurz geschnittenen, braunen Haaren und dem etwas traurigen Blick wenig Selbstbewusstsein ausstrahlte. Ihre Ansprache zeugte jedoch davon, dass man sich darin irren konnte. Rita zückte ihren Dienstausweis und stellte sich und ihren Partner vor. Im gleichen Augenblick veränderte sich der Ausdruck im Gesicht von Irma Kaiser. Sie schwankte plötzlich und tastete haltsuchend nach der Türfüllung. Klaus Spiekermann sprang vor und fasste nach dem Arm der überraschten Frau. Noch während er sie stützte, kamen die Worte über deren Lippen.

»Haben Sie ... ich meine, wurde Katrin endlich gefunden? Wo ist sie? Kann ich sie sehen? Jetzt sprechen Sie doch endlich mit mir. Ist sie ... ist sie tot?«

Rita und Klaus wechselten nur einen kurzen Blick, bevor er Frau Kaiser zurück in den Hausflur führte. Seine Worte schienen durch sie hindurchzugehen, da sie keinerlei Reaktion zeigte.

»Wir können Ihnen noch nichts Neues über Ihre Tochter berichten, Frau Kaiser. Dennoch hätten wir ein paar Fragen an Sie, um die Ermittlungen vorantreiben zu können. Dürfen wir ...?«

»Aber natürlich. Wie unhöflich von mir. Bitte entschuldigen Sie. Kommen Sie rein.«

Während Frau Kaiser ihnen das angebotene Glas Wasser aus der Küche holte, hatten die Polizisten Gelegenheit, sich ein Bild von der Wohnatmosphäre zu schaffen. Die Inneneinrichtung des Wohnzimmers unterschied sich bestimmt nur in wenigen Details von Abermillionen anderen Einrichtungen in deutschen Wohnungen. Sie befanden sich im Umfeld einer Nullachtfünfzehn-Familie, die sehnsüchtig auf eine Nachricht über den Verbleib ihrer einzigen Tochter wartete. Familie war vielleicht etwas weit gegriffen, da Irma Kaiser, wenn man den Unterlagen Glauben schenken durfte, kurz vor Verschwinden der Tochter, von ihrem Mann verlassen worden war. Sie stand diesem Problem nun allein gegenüber. Dieser Irrtum klärte sich Sekunden später auf, als die Haustür aufgeschlossen wurde und ein breitschultriger Mann mit fragendem Blick vor ihnen stand. Irma Kaiser erhob sich und hakte sich bei dem Rotschopf unter.

»Die Herrschaften sind von der Polizei und möchten mir ein paar Fragen zu Katrin stellen. Setz dich doch zu uns, Fredi. Das ist Oberkommissar Spiekermann und die junge Dame ist, so glaube ich, Kommissarin Momsen. Das ist mein ... na ja, mein neuer Partner Fredi Scheidig.«

»Was gibt es denn noch zu fragen?«, entfuhr es dem bärengroßen Mann, statt einer Begrüßung. »Ihr habt doch schon vor Monaten die Bude hier auseinandergenommen. Findet das Mädchen endlich und lasst die arme Frau nicht länger im Ungewissen. Habt ihr überhaupt schon mit der Suche angefangen, oder ist euch das durchgegangen? Also, was gibt es noch?«

Klaus Spiekermann ahnte schon, wie spontan Rita aufgrund fehlender Erfahrung reagieren würde. Er hielt sie deshalb an ihrem Arm zurück und verhinderte damit unbedachte Reaktionen. Statt ihr ergriff er das Wort.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie damals, als Katrin verschwand, schon hier eine Rolle spielten, doch werden wir uns zu gegebener Zeit auch mit Ihnen und Ihren Fragen beschäftigen. Jetzt möchten wir jedoch ausschließlich mit der Mutter sprechen. Ich hoffe, ich habe mich für Sie verständlich genug ausgedrückt. Und nun zu Ihnen, Frau Kaiser.«

Weder Rita noch Klaus Spiekermann hatten ernsthaft damit gerechnet, dass Scheidig das kommentarlos hinnehmen würde. Umso erstaunter waren sie, als sich der Riesenkerl umdrehte und im Nebenraum verschwand. Sein Gesicht bestand jedoch aus vielen Fragezeichen, so als hätte er nicht recht verstanden, was gerade passiert war. Rita wandte sich an die Mutter.

»Als wir die Akte zu Katrins Verschwinden anlegten, war alles noch frisch und wir gingen davon aus, dass Ihre Tochter eventuell nur ausgerissen war. Darin liegen die Gründe, warum nicht sofort sämtliche Suchinstrumente in Bewegung gesetzt werden. Außerdem bestand damals, genau wie heute, keinerlei Anlass, an ein Gewaltverbrechen oder eine Entführung zu glauben. Nun haben sich aber Anhaltspunkte ergeben, die uns zwingen, der Sache noch intensiver nachzugehen. Dürfen wir Ihnen einige Fotos zeigen? Sie könnten uns sagen, ob Sie eine dieser Personen erkennen.«

Spiekermann legte vorsichtig die Fotos der vier anderen Mädchen auf den Tisch, ohne Frau Kaiser und ihre Reaktion aus den Augen zu verlieren. Das Erstaunen überraschte die beiden Beamten in keiner Weise. Zu ähnlich waren sich die Gesichter. Mit zitternden Händen griff Irma Kaiser zum ersten Bild, um mit der anderen Hand das zweite anzuheben. Ihre mehr geflüsterten Worte drückten die Überraschung aus, die sie in diesem Augenblick überwältigte.

»Katrin. Das ist nicht Katrin. Nein, woher haben Sie diese Bilder? Was ist mit den Mädchen geschehen? Wieso zeigen Sie mir das? Sie sehen nur aus wie Katrin, aber es sind andere ... Katrin hat hier ein Muttermal. Genau hier.«

Frau Kaiser zeigte auf einen Punkt am Hals. Sie wiederholte die Frage.

»Diese Mädchen ... sind die auch? Sind die tot? Nein, nein, das ist nicht meine Katrin. Sie lebt, hören Sie, sie lebt noch und wird bald wieder zurückkommen. Das weiß ich genau. Katrin würde niemals ...«

»Es ist gut, Frau Kaiser. Alles ist gut. Beruhigen Sie sich. Diese Mädchen sind nicht tot. Sie werden aber ebenfalls vermisst. Deshalb möchten wir Sie fragen, ob Sie die Jugendlichen schon irgendwann gesehen haben. Dass sie Ihrer Tochter so verdammt ähnlich sehen, kann, muss aber kein Zufall sein. Verstehen Sie, warum wir das fragen? Wir glauben einfach nicht an Zufälle.«

Die unangenehme Stimme aus dem Hintergrund unterbrach das Gespräch zwischen Irma Kaiser und Rita.

»Was soll das Gequatsche von die sind nicht tot? Sie würden doch Ihre Zeit nicht vergeuden, wenn sie sicher wären, dass die noch leben. Sagen Sie der armen Frau doch endlich, was los ist. Wir brauchen Gewissheit, damit die Scheiße endlich ein Ende hat. Dieses Hin und her geht mir gewaltig auf den Sack. Man kann ja mit der Frau kein vernünftiges Wort mehr reden, ohne dass die anfängt zu flennen.«

Verzweifelt versuchte Klaus Spiekermann erneut, Rita zurückzuhalten, die aufgesprungen war und deren Augen funkelten. Gefährlich leise kamen ihre Worte, wobei ihr anzusehen war, wie sie sich dabei gewaltig zurückhalten musste.

»Es ist immer wieder eine Freude, solchen Menschen zu begegnen, die nicht einmal in der Lage sind, das Wort Empathie zu buchstabieren. Als Gott menschliche Anteilnahme unter den Neugeborenen verteilte, steckte Ihr Kopf wohl bereits in der Kloschüssel. Und da wird er wohl noch gewesen sein, als diese arme Frau Sie kennenlernte. Wie groß muss das Elend jemanden treffen, um sich mit Menschen wie Sie zusammenzutun? Und bevor Sie jetzt weiter Müll reden, Herr Scheidig, will ich Ihnen Folgendes sagen: Ihre Meinung steht im Augenblick nicht zur Debatte. Sollten wir Fragen an Sie haben, werden wir Sie gerne ins Präsidium bestellen. Und jetzt lassen Sie uns hier weitermachen, damit wir unseren Job erledigen können. So ist doch Ihr werter Name, oder?«

Spiekermanns Gesicht zeigte eine auffällige Blässe und Anspannung. Er war bereit, sich jederzeit zwischen Rita und dem Riesenkerl zu werfen, der seine Kritikerin mit ungläubigem Blick anstarrte. Bevor dieser eine Reaktion zeigen konnte, fasste ihn Irma Kaiser am Arm und führte ihn wie einen kleinen Jungen aus dem Zimmer. Die beiden Beamten hörten kurzzeitig eine heftige Diskussion, bevor die Frau des Hauses wieder mit hochrotem Kopf erschien. Rita, die den vorwurfsvollen Blick Spiekermanns bereits bemerkt hatte, ging auf Frau Kaiser zu.

»Es tut mir leid, Frau Kaiser, dass ich gerade so ...«

»Nein, nein, Frau Momsen – ich muss mich für die Bemerkungen meines Partners bei Ihnen entschuldigen. Sie tun nur Ihre Pflicht und müssen sich dafür nicht auch noch beschimpfen lassen. Setzen wir uns wieder. Er wird sich wieder beruhigen. Und – Sie haben ja recht. Ich verstehe seine Wut auch nicht, denn eigentlich ist er ein friedliebender und fürsorglicher Mensch. Es ist sein Temperament und der Alkohol. Wo waren wir stehen geblieben?«

Auch Rita hatte sich wieder beruhigt und neben ihrem Partner Platz genommen. Klaus Spiekermann vermied jeglichen Blickkontakt zu ihr, um nicht zu zeigen, wie ihn Ritas Statement begeistert hatte. Nicht gerade ladylike, aber auf den Punkt gebracht. Er übernahm die Fortführung der Befragung.

»Sie wollten uns sagen, ob Sie eines dieser Mädchen kennen. Wir müssen jeder Spur nachgehen, um den Aufenthaltsort herauszufinden. Genau wie bei Ihrer Tochter, verschwanden diese Jugendlichen ohne jede Ankündigung. Wir wissen bereits, dass sie auf verschiedenen Schulen waren und die Wohnorte recht weit auseinanderliegen. Gemeinsamkeiten, mit Ausnahme des Aussehens, sind bisher unbekannt. Denken Sie bitte nach. Jede Kleinigkeit kann dabei wichtig sein.«

Immer wieder griff Frau Kaiser nach den vor ihr liegenden Fotos, wischte ab und zu einige Tränen fort, die sich unaufhaltsam aus ihren Augenwinkeln stahlen. Diese Frau hatte die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben, ihr Kind eines Tages wieder in den Armen halten zu können. Rita holte sie aus den trüben Gedanken.

»Bitte entschuldigen Sie die etwas intime Frage, die ich Ihnen stelle. Aber würden Sie uns den Grund verraten, warum Sie damals, so kurz vor dem Verschwinden Ihrer Tochter, von Ihrem Mann verlassen wurden? Hat er auf irgendeine Art reagiert, als er davon erfuhr, oder weiß er gar nichts davon?«

Sehr zögernd legte Irma Kaiser das letzte Bild wieder zurück und schien zu überlegen, ob sie überhaupt darauf antworten wollte. Als Rita schon längst die Hoffnung auf eine solche aufgegeben hatte und das Thema wechseln wollte, kamen die leise gesprochenen Worte der Frau. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als sie über diesen Augenblick berichtete, der ihr den Traum einer ewig geglaubten Liebe zerstörte.

»Er hat es mir im Bett gebeichtet, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Ja, Sie hören richtig. Er hat mich erst geliebt, um mir dann die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Er kam auch an diesem Abend von seiner Geliebten, mit der er schon seit Monaten ein Verhältnis hatte. Er muss noch den Geruch dieser Frau am Körper gehabt haben, was mir jedoch nicht aufgefallen war. Er nahm sich einfach eine Zigarette aus der Schachtel und ging auf den Balkon. Von dort aus gestand er mir, dass er eine andere Frau liebte und zu ihr ziehen würde. Er hat es so laut gesagt, dass sogar Katrin, die nebenan schlief, alles mitbekam. Sie war es, die ihn zur Rede stellte – nicht ich. Ich konnte kein Wort herausbringen. Katrin hat ihn geohrfeigt – sie schlug ihren Vater ins Gesicht und spuckte ihn sogar an. Er hat es hingenommen und seine Sachen gepackt, bevor ich ihn zurückhalten konnte.«

»Wollten Sie das denn wirklich? Ich meine, ihn zurückhalten.«

Lange überlegte Frau Kaiser, um schließlich in Tränen auszubrechen. Erstaunlich selbstsicher gab sie die Antwort.

»Ja, Frau Momsen, ich hätte trotzdem gewollt, dass er bleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich liebte ihn immer noch und hätte es ihm sogar irgendwann verzeihen können. Katrin konnte mich nicht verstehen und hat ständig auf mich eingeredet, dass ich froh sein sollte, diesen Mistkerl loszuwerden. Sie verstand einfach nicht, wozu Liebe fähig war. Zwei Tage danach verschwand sie dann.«

Die jetzt entstandene Stille im Raum empfand Spiekermann als unangenehm. Er sah hier einen Ansatzpunkt, die Befragung voranzutreiben.

»Es tut uns leid, was geschehen ist, Frau Kaiser. Ich möchte das Wort Zufall nicht zu sehr strapazieren, aber dieser zeitliche Zusammenhang zwischen Ihrer Trennung und dem Verschwinden von Katrin ist zumindest auffällig zu nennen. Wissen Sie, wo sich Ihr Ex-Mann derzeit aufhält? Haben Sie seine aktuelle Adresse? Ich bin mir sicher, dass die Kollegen schon damals dieser Möglichkeit nachgingen, doch möchten wir nochmals prüfen, ob sich Ihre Tochter vielleicht ...«

Der Widerspruch kam schon fast zu schnell nach Spiekermanns Empfinden.

»Auf keinen Fall ist Katrin bei ihm. Sie hasste ihn dafür, was er mir oder besser uns angetan hatte. Ich müsste seine Adresse in den Unterlagen haben, denn er musste ja Unterhalt für Katrin zahlen. Ich habe damals idiotischerweise darauf verzichtet und werde nun jeden Tag daran erinnert, wenn die Miete fällig wird.

---ENDE DER LESEPROBE---