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Um die Wende zum Jahr 2000 entwerfen drei Männer ein diskret tragbares Gerät zur elektronischen Partnersuche. Sie, die selbst nach der Richtigen suchen und sie in Vera bald zu finden glauben, wagen viel für diese Idee. Und die attraktive Vera tut ein Übriges, die Situation und die drei Männer zu verwirren. Wolfgang Schreyer, erfahrener und vielgelesener Autor zeitgeschichtlich-abenteuerlicher Bücher, schrieb einen Gegenwartsroman mit utopischer Komponente. Die Geschichte einer Entdeckung, die unser Liebesleben zum Besseren wenden könnte: Mit dem Auto kann man jeden aufsuchen, per Telefon jeden sprechen, mit dem neuen Gerät jeden finden, der halbwegs zu einem passt. Ein großer Entwurf, aber Traum und Wirklichkeit kollidieren. Ehe es gelingt, ein Serienmodell zu fertigen, riskiert das Team im Selbstversuch das Chaos im eigenen Haus. Die Idee stößt auf Unverständnis, Bürokratie, ja auf Karrierismus, Ehrgeiz und Charakterschwächen der Schöpfer selbst. Das Allzumenschliche fordert seinen Preis. Das stark autobiografische, DDR-kritische Buch schrieb Wolfgang Schreyer 1980, durfte es aber, mit großem Widerwillen der zuständigen Behörden, erst 1987 beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig veröffentlichen. Unter dem Titel "Harmo 88" schrieb er für einen Verlag in der BRD eine Erzählung mit der brillanten Idee der Partnersuche über ein Armband mit Mikrochip. Dieser Verlag gab die Geschichte an den Playboy weiter, der sie 1978 unter dem Titel "Die Staatsmacht regelt den Verkehr" veröffentlichte. Ein ausführliches Nachwort schildert die Repressalien, denen der Autor danach ausgesetzt war.
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Seitenzahl: 540
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Wolfgang Schreyer
Der sechste Sinn
Roman
ISBN 978-3-86394-112-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 beim Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Angesichts der vorhersehbaren Bereitschaft, hinter den Figuren dieses Romans lebende Personen zu vermuten, erklärt der Verfasser, dass er – mit Ausnahme der eigenen Person – nur von Prototypen ausgegangen ist; wobei eingeräumt sei, dass wirkliche Menschen manchmal wie Prototypen handeln.
Für Ingrid, ohne deren Dasein und Mitarbeit manche Zeile nicht geschrieben worden wäre, im Leben wie im Buch
Die Verzerrung der Realität im Bericht ist der wahrheitsgetreue Bericht über die Realität
Karl Kraus
Stets hatte Alexander Woelk etwas Zwiespältiges, ja Undurchschaubares an sich. Er konnte scheu, verschlagen und auch sehr ironisch sein. Seine wenigen Freunde wurden aus ihm nie ganz schlau; manchmal verstand er sich selber nicht. Klar ist, es fehlte ihm an jener Klugheit, ohne die man auch als Schreiber kaum Karriere macht. Hitzig griff er in Dinge ein, die sich gar nicht ändern ließen, zumindest nicht von ihm; was er in der Regel zu spät begriff. Meist lief die Einmischung seinen Interessen glatt zuwider. Dazu schadete ihm sein Drang, alles, was er einmal aufgegriffen hatte, zu Ende zu führen; ein Zug von Pedanterie. Nie trennte er sich von einem missglückten Manuskript, sondern versuchte, es irgendwie zu retten: aus Geiz, der Gedanke an sinnloses Bemühen und an vergeudete Zeit war ihm zuwider. Er war kein guter Verlierer.
Bei all dem Einfühlungsvermögen, das ein Schreiber braucht, reichte sein Blick nie besonders weit. Er durchschaute oft nicht einmal das, was sich in seiner nächsten Umgebung zutrug. Aber ein anderer Teil seines Kopfes, der ziemlich berechnend war, glich den Mangel an Scharfblick aus; das hatte ihn bislang vor beruflichem und persönlichem Unglück bewahrt. Sein Lektor, Dr. Tredup, beklagte an ihm eine gewisse Verzettelung, die Lust am Experiment, gepaart mit einer Glätte, an der viel Widerspruch abglitt, auch wohldurchdachter Rat. Die Schüchternheit, die man privat an ihm wahrnehmen konnte, wich einem Ausdruck von rechthaberischem Stolz und tiefem Überzeugtsein, wenn er glaubte, das schützen zu müssen, was er für sein Werk hielt. Er meinte immer, das nötig zu haben, und öffnete dann zum Ärger seiner Ratgeber die Schleusen seiner Beredsamkeit.
Eindringlich hielt ihm Tredup vor, seine Chance liege auf dem Feld des "Aktionsromans", das hierzulande niemand von Rang bestelle. Er galt als Kenner Afrikas, doch anstatt seine wuchernde Phantasie auf den schwarzen Erdteil zu beschränken, versuchte er sich auf allen möglichen Gebieten, griff nach den Sternen hoher Kunst und ließ auch die Medien nicht aus. Er sah eben seine Grenzen nicht, so dass er sich in das verstrickte, wovon im Folgenden die Rede ist. Gewiss hätte er besser daran getan, sein schlichtes Erzähltalent zu nutzen und damit vorliebzunehmen, ein erfolgreicher Unterhaltungsautor zu sein.
In seinen eigenen Augen war Alexander Woelk freilich mehr – ein politischer Mensch: Radikaldemokrat und Moralist. Tugenden wie Treue, Anstand, Ehrlichkeit und Zivilcourage bedeuteten ihm viel. Er glaubte an das Gute im Menschen, ohne das Durchschnittliche oder Böse zu übersehen. Als Erzähler liebte er große Stoffe, starke Persönlichkeiten – Menschen und Dinge, die etwas bewegten und deren Schwächen er selten verschwieg. Hinter der Erscheinung das Wesen, den Charakter aufzuspüren, das war er der Wahrheit, seinem Gewissen und seiner Schreiblust schuldig. Brachte ihn dies in Bedrängnis, so wuchs ihm daraus doch anderes zu: Einblick und Erfahrung. So wurde man weiser, ein guter Autor und gütiger Mensch. Ja, nach dem Bild, das Woelk von sich hatte, stimmten Leben und Werk bei ihm fast völlig überein.
Und jetzt, in der Fremde, beim Mittagsmahl im Hotel Bayerischer Hof, geriet das Bild ins Wanken, wie von Geisterhand berührt. In seinem sechsundvierzigsten Jahr erhob sich vor ihm die Frage, wer er denn sei – verlässlicher Ehemann und Vater, loyaler Bürger seines Landes und Favorit vieler Leser, die sich immer wieder ein neues Buch von ihm wünschten? Schwerlich! Er war studienhalber hier in München, doch anstatt sich in den Bibliotheken umzutun, jagte er seit Stunden einer Frau nach, die nicht seine eigene war. Stumpf gegen die Speisedüfte, ließ er das Menü passieren. Durch die Glasscheiben sah ihm der mächtige spätgotische Backsteinbau der Frauenkirche zu, das Wahrzeichen der Stadt, als spotte es mit dem symbolischen Doppelphallus der Türme Woelks hektischer Suche, dem Kampf in seiner Brust.
Fest stand, Vera war in der Stadt, die Frau, zu der es ihn trieb, immer schon und mit wachsender Macht, seit sie aus seinem Leben verschwunden war. Nun streiften sich noch einmal ihre Wege, frühmorgens hatte er von ihrem Aufenthalt in dieser Stadt gehört und Schritte unternommen, sie zu finden. Wenn ihm das glückte im Laufe des Tages – was ziemlich sicher schien dank des Meldewesens und dieses kleinen Spürgeräts in seiner Hand –, was geschah dann? Wie eh und je würden sie einander in die Arme sinken! Kaum denkbar aber, dass sie ihm zurück in die Heimat folgte, oh, Woelk kannte sie zu gut, ihr neues Wertgefühl, die spät erwachte Energie. Sie würde fordern, dass er bei ihr blieb und alle Brücken hinter sich abbrach.
Woelk versuchte, klaren Kopf zu behalten, sein Denken und Tun wieder in Einklang zu bringen. Ihn plagte das Gefühl, verloren zu sein, falls das Bild zerfloss, das er von sich hatte; und es verschwamm ihm ja schon, die Konturen lösten sich auf. Zu bleiben, über die Frist des Visums hinaus, das wäre endgültig, ein Schritt ins Dunkle, die Folgen unabsehbar. Eine Schreibhemmung von ungewisser Dauer wäre noch die geringste gewesen. Der Eindruck von Torheit und Selbstzerstörung drängte sich ihm auf, flankiert vom Verdacht einer Sucht! Als öffne sich da eine Falltür in den Untergrund der Seele... Was war er letztlich für ein Mensch? Wortbruch, das lief seinem Wesen ganz zuwider, dem, was er unter Fairness und Redlichkeit verstand.
Aber etwas, das sich seiner Kontrolle entzog, trieb ihn, tastend die Möglichkeit des Übertritts zu prüfen. Fast zwanghaft spielte er den Fall jetzt durch. Was ließ sich zu seiner Entlastung sagen? Dass man ihm sein bestes Buch daheim partout nicht druckte. Es schilderte den Zerfall eines Forschungsteams, das Scheitern jener Erfindung, deren Resultat dennoch dort funkelnd vor ihm lag. Sollte er sein Hierbleiben damit begründen? Gewiss nahm man's ihm ab, doch konnte er, der Wahrheitssucher, sich schlecht selbst belügen. Ja, es quälte ihn, dass aus dem Manuskript kein Buch geworden war. Wie jedes Misslingen lastete es auf seiner Seele. Veras Weggang aber hatte ihn mit Wucht getroffen, ihn dauerhaft verletzt.
Ach, der Magnetismus, die Anziehungskraft dieser Frau! Unterlag er ihr, warf es ihn aus der Bahn, er wurde sich untreu und enttäuschte Menschen, die ihm vertrauten... Er winkte dem Ober, ohne dass der ihn wahrnahm. Woelk war sonst kein Mann, den man leicht übersah: groß und schlank, gut gekleidet, mit altmodisch kurz geschnittenem Haar und tief liegenden olivgrünen Augen. Sein durchfurchtes Gesicht trug einen rauen, derben Ausdruck von Tatkraft und höflich verdeckter Überlegenheit. Er liebte hellblaue Hemden zu seinem dunklen, weiß gepunkteten Seidenschlips, was zumal im Winter dem Teint etwas Frische gab. Das breite Kinn mit dem Grübchen schien ihm Respekt zu verschaffen. Er war sich bewusst, durch das Leben zu hasten, als hätte er sich bei der Geburt um einiges verspätet. Von dem Ehrgeiz erfüllt, beruflich gut zu sein, strahlte er Ungeduld und Besessenheit aus.
Nun war das wie weggewischt. Recht geschah ihm, man nahm keine Notiz von ihm, weil er mit sich nicht im reinen war. Es fing an zu schneien, hinter den Scheiben des Restaurants sanken Flocken um die Frauenkirche, zerschmolzen auf dem Platz. Bedrückt sah Woelk zu; worum ging es ihm, was war ihm wichtig? Wirken wollte er, etwas bewirken wie ein paar seiner Romanfiguren, gewaltlos, durch die sanfte Macht der Träume, der Bilder, durch Verführung zum Denken. Spüren, dass man ihn brauchte, ihn ernst nahm und einlud, jene Dinge zu bewegen, die ihn bewegten und die er für bewegbar hielt. Er hatte sich mehrmals geirrt, oft blieben Menschen und Dinge unlenksam, natürlich. Hier aber war der Versuch schier aussichtslos, im reißenden Fluss, im Marktgedränge zu navigieren, dem Konsumrausch von Leuten zuwider, denen zu all den übrigen Vergnügungsreizen nach entnervender Arbeit auf bloßen Knopfdruck hin ein Dutzend Fernsehprogramme nebst Videofilmen und Telespielen und abgefeimter Reklame über den Bildschirm zuckten. Nur eine Handvoll Autoren wirkte durch Bücher und lebte davon. Die lockende Vielfalt des Wortes hieß ja nicht Wirkung, im Gegenteil, solche Freiheit war Ursprung und Folge der Ohnmacht! Keine Kunstäußerung berührte den Kern, half etwas zu verändern, denn eine hob die andere auf, alles lief im Kreise, verschwand im Strudel einer geschäftlich erhitzten, scheinbar sich selbst steuernden Strömung von Information, Unterhaltung, Akustischem, Elektronischem und bunt bebildert Gedrucktem: die Medienspeisung der schönen neuen Welt.
Vorgestern in Bamberg, ehe die Nachricht ihn hoch peitschte, hatte er Stefan Prätorius besucht, den alten Freund, Schreiber wie er, schon an die Sechzig; seit zwanzig Jahren kannten sie sich von gelegentlichen Begegnungen von Autoren aus Ost und West. Dieser Mann gab ihm seine Memoiren und schrieb, auf Woelks Fehlschlag anspielend, hinein: "Dies zu veröffentlichen hat mich viel gekostet; der Preis, es nicht zu tun, wäre höher gewesen."
"Und, wie verkauft es sich?", hatte Woelk gefragt, sogleich peinlich berührt von der Banalität, ja dem Boshaften der Frage – gewiss kam dieses Werk, das Lebensbuch des Freundes, über die Erstauflage nie hinaus. Er merkte, wie viel Unwesentliches sie einander sagten, deshalb fügte er hinzu: "Nimm einmal an, Stefan, ich käme meines abgelehnten Buches wegen zu euch, bliebe hier, da würdet ihr es drucken und vergessen."
"Das könnte durchaus passieren."
"Es geht also einer mit dem Kopf durch die Wand, und was fängt er in der Nachbarzelle an?"
"Sie ist geräumiger, mein Lieber."
"Du meinst, die Wände sind elastisch."
"Transparent, Alexander."
"Je durchlässiger die Wand, desto schwächer das Echo."
"Ein paar tausend Leser, das muss halt genügen."
Alexander Woelk, dem Kind des Erfolgs, würde es nicht reichen. Dies hätte ihn erwartet im Nachbarland zu der Jahrtausendwende: Mangel an Echo und eisig-erdrückende Konkurrenz, die einem den Atem nahm und schon das Dabeisein, das äußere Überleben in Frage stellte, vom geistigen ganz zu schweigen. Bücher zu schreiben war ineffektiv, ein Luxus, es gab sie wie Sand am Meer, die Themen des Ostens kümmerten keinen, waren passé... Nur, auch dies wollte beantwortet sein, was richtete er daheim denn aus mit dem, was man ihm dort druckte? Plötzlich, als versage sein Gedächtnis, wusste Woelk es gar nicht mehr. Alles schien gelöscht, ihm fiel nicht das kleinste Beispiel ein. Er fühlte sich ratlos, wie entwurzelt, in der Schwebe. Sollte er's nicht doch wagen, in der Lebensmitte das Ruder herumzureißen und dem inneren Kompass zu folgen? Vorausgesetzt, dachte er, der Kompass sitzt einem nicht bloß in der Hose.
Seine Gedanken schweiften zurück. Hatte er bisher wirklich so viel erreicht, dass sich ein Neubeginn verbot? Gott, was Literatur vermochte, das war bei ihm zu Haus gründlich erörtert worden. Einst, in den siebziger Jahren, als er naiv und fortschrittsfroh über seinem ersten Manuskript saß, da hatte sich auch die Wissenschaft geregt. Damals begann sie, die Schreiber zu erleuchten, indem sie den Zweck und das Ziel ihres Tuns beschrieb. Gemeint war ein höherer Zweck, jenseits der flüchtigen Befriedigung des Publikums und der Ernährung der Autoren. Ältere Erkenntnisse wie die, dass ein Roman kein Leitartikel sei, wurden entstaubt, reichten aber nicht mehr aus zur Errichtung theoretischer Gebäude. Die Gelehrten ertasteten die Spuren, die das Wort im Kopfe des Lesers, falls es dort haftete, hinterließ; sie folgten all den wunderbaren Reizen, Impulsen und Gedankenketten. Welch Irrgarten, welch rätselhaftes Netz der Kausalität! Jahrzehnte brauchten sie, die Fäden zu entwirren und deren Verknüpfung darzutun, in einschüchternden Schriften mit Titeln wie Aspekte einer Funktionsspezifik und Wirkungsästhetische Prozesse der Literatur.
Allmählich jedoch zündete der Funke. Staunend las man, welche Kraft in einem stecke, was sich beim Leser entfachen ließ, einige Meisterschaft vorausgesetzt. Wer die Sprache der Wissenschaft verstand, dem schwoll die Brust. In Woelks Heimatstadt erklärte ein ihm gleichaltriger Autor namens Würzner, ihre Macht sei groß im Guten wie im Bösen. Würzner neigte zu melodramatischen Gesten. Mit beschwörender Stimme schloss er: Wer wie er selber auch für die Bühne, den Rundfunk und das Fernsehen schreibe, der trage schwere Verantwortung, strengste Selbstprüfung tue not, bei jeder Zeile müsse man sich fragen, was sie auslösen könne.
In Woelks Ohren klang das lebensfremd, er erwiderte dem Kollegen: Halb so schlimm, das Theater sei schwach besucht bei gewissen Stücken, das Hörspielpublikum laufe zum Fernsehen über, dort wieder wisse man nie, welcher Knopf gedrückt werde. Auch gebe es reichlich Leute – Redakteure, Dramaturgen, Sendeleiter, Intendanten –, die lebhaft danach drängten, die Bürde mit uns so zu teilen, dass jenes Böse, das den Vorredner erschaudern lasse, keine Chance habe... Gelächter. Nach der Tagung giftete ihn Würzner an: "Du hast uns blamiert, Woelk, das werden wir uns merken."
Und so geschah es, er merkte es sich seit zwanzig Jahren. Blieb Woelk tatsächlich hier, würde Würzner daheim zwischen Zorn und Schmerz versichern, er habe dies anhand der Haltungsschäden kommen sehen. Schwer erträglich, sich solch eine Szene im Bezirksverband der Schriftsteller vorzustellen. Würzner log nämlich nie, er schauspielerte nur ein bisschen, für den Nachwuchs überzeugend. Ihm mochte es seit damals scheinen, als verdamme Woelk scharfzüngig Dinge des Lebens und der Kunst, die ihnen teuer waren. Das traf nicht zu, nur hielt Woelk Schwätzern, sofern ihr Rang das zuließ, gern einmal Fakten entgegen. Ansonsten stellte er sein Urteil eher zurück, denn urteilen hieß ja, etwas durchdacht und erkannt zu haben. Zu vieles aber fragte er sich noch. Im Nebel lag ihm die Wirkung der elf Bücher, die er bisher schrieb. Hatten sie irgendjemanden gestärkt, etwas klären oder bessern helfen? Sich des Urteils enthalten hieß da noch hoffen.
Soweit Woelk auch zurückdachte, nur wenige Auswirkungen seines Schaffens kamen ihm in den Sinn. Es schienen überhaupt bloß drei Fälle zu sein, allesamt nicht rühmlich. Zuerst, noch in seiner Journalistenzeit, war es eine Serie über Geheimdiensthandlungen gewesen, die Folgen hatte. Die amerikanische Botschaft in Moskau nahm einen Punkt des Berichts, als der in russischer Übersetzung erschien, zum Vorwand eines förmlichen Ersuchens um Freilassung von Agenten: Woelk war westlichen Quellen gefolgt, sein Text gab an, man habe die Fallschirmagenten im Kaukasus gefasst: Der US-Botschafter musste wissen, dass das nicht stimmte. Ein Knalleffekt, es summten die Drähte, die Reuter-Agentur rief Woelk an, und der Chefredakteur seines Blattes, selber höheren Orts gerügt, forderte Zerknirschung, Selbstkritik, schriftlich, auf der Stelle! Er warf Woelk vor, die Entspannung zu sabotieren und solchen Unsinns mehr.
Das zweite Beispiel lag nicht so weit zurück. Es war im vorletzten Winter, als Woelk heimlich mit Vera über die Autobahn fuhr, sie am Steuer, zu einem Gespräch nach Berlin. Um den Verdacht seiner Ehefrau zu zerstreuen, hatte er ihr eine Bahnreise vorgetäuscht und Vera einen Leihwagen nehmen lassen. Sie waren wie immer sehr verliebt und sahen sich schon im Hotel. Bis es geschah: Reifglätte auf dem Beton, sie hatten ein Sprühfahrzeug überholt, ohne es zu bemerken – sie gedrängt von ihm, von seinem unchristlichen Verlangen. Da schleuderte der Wagen und schlug auf dem Grünstreifen um. Er nahm das gar nicht wahr, hörte nur Buschwerk und Blech knittern, während man auf dem Dach über die Gegenbahn glitt, die Böschung hinab. Ein Stoß vor seine Brust beendete die Fahrt. An einer zerfetzten Birke krochen sie aus dem Wrack. Vera hatte Dreck im Gesicht, sonst fehlte ihr nichts, Woelk war sauber geblieben – mit einer Serienfraktur rechts, wie sich zeigen sollte, sechs geknackten Rippen. Bloß eine Prellung vermutend, nahm er den Führer des Streifenwagens beiseite und bat kurzatmig, ihn herauszulassen aus dem Protokoll. Er sei nur mitgefahren, dies sei nicht seine Ehefrau, daher, falls es irgend gehe, wäre er dankbar, wenn sein Name nun nicht falle. Und obwohl in den Ausweisen die Berufsbezeichnung fehlt, sagte der Polizist: "Alexander Woelk...? Kollege Woelk, schreiben Sie nur weiter Ihre Berichte und Romane, wir machen das schon." Er hielt auch noch ein fremdes Auto an, damit es Woelk ans Ziel bringe. Kein behaglicher Vorgang, schon des Stachels wegen, den jede Vorzugsbehandlung ihm ins Gewissen trieb. Wohl zeigte sich, man las ihn bei der Polizei, hielt ihn am Ende für bedeutend. Hinzu kam vielleicht noch männliche Solidarität; der Streifenführer mochte auch eine Freundin haben, zumindest war ihm das Problem nicht fremd. Jedenfalls, man stand Woelk bei. Das Bündnis von Geist und Macht, das Redner oft beschwören, dort am Rande der Autobahn nahm es Gestalt an. Aber der Umstand, dass er sich flink aus dem Staub machte, trübte doch die Erinnerung. Johanna, seine Frau, hätte er kaum als arme Sünderin in einem Polizeiwagen zurückgelassen. Um des häuslichen Friedens, also seiner Ruhe willen ließ er Vera im Stich; erst auf dem Röntgentisch dämmerte ihm das. Und es bedurfte seiner ganzen Erfindungsgabe, Johanna anderntags die Bandagierung mit einem angeblichen Taxiunfall zu erklären, an dem sie niemals zweifelte.
Der dritte Fall von Kunstwirkung aber gab dem Buch, das man ihm abgelehnt hatte, den Stoff und den Namen. Es war der deutlichste und folgenschwerste gewesen, ein paar Leute wurden gleich hineingezogen, Hunderte auf dem Scheitel des Geschehens davon erfasst. Es bestand aus einer Kette von Aufschwüngen und Skandalen, Woelk wurde zum Urheber messbarer Veränderungen im Guten wie im Bösen. Das hatte ihn verblüfft, berauscht und bedrückt; nun verdunkelte es sein Leben. Ein Dammbruch! Und die letzte Welle der Flut, von ihm freigesetzt, erhob sich jetzt, um ihn mitzureißen.
Aus einem versteckten Ort seiner Gedankenwelt empfing er den Wink, es trotzdem zu wagen, es durchzustehen, im Namen der Kunst den Becher zu leeren. Egal, wie es ausging, ihm blieb noch immer die Zuflucht des Schreibers, das Schlachtfeld zu verlassen, sei er auch verletzt, und die Niederlage darzustellen. Was ihn nicht zerbrach, das stärkte ihn, so war es stets gewesen. So leicht zerbrach ja kein Mensch. Welch ein Vorzug des Berufs und seiner Natur, sie erlaubten ihm, sich zuletzt doch in manches zu schicken und aus dem Verbliebenen das Beste zu machen: jedenfalls ein neues Buch. Dazu freilich musste er das Ende kennen.
Die Antwort beruhigte ihn. Als Rechercheur und Chronist würde er versuchen, den Akteuren gerecht zu werden, jenseits von Gut und Böse. Vollkommene Ernsthaftigkeit, kühle Urteilsfindung, das überstieg seine Kraft, dazu war er selbst zu tief verstrickt. Doch nahm er sich vor, keine Satire zu schreiben. Ironie nämlich war oft nur ein flirrender Selbstschutz der eigenen Ratlosigkeit und Sensibilität, untauglich dort, wo es um Wahrheit, um den Kern von Menschen und Dingen ging... Woelk zahlte, stand auf und ging der Versuchung entgegen, jener Frau, die sein Schicksal war. Mit jeder Faser spürte er, seine Stunde hatte geschlagen.
Die Entwicklung, die dann zur Affäre wurde, ja zum markerschütternden Skandal, fing acht Monate vorher an, in einem regnerischen Mai. Manches liegt unter Verschluss, ruht im Dunkel der Archive, doch zweifellos ist Vera Bald der Katalysator gewesen. So nennt die Chemie einen Stoff, der das Tempo einer Reaktion steigert, ohne selbst in das Endprodukt einzugehen. Viele Reaktionen finden spät statt oder nie, wenn solch eine Beigabe fehlt; da können Jahre vergehen. Fräulein Bald hat die Rolle mit Glanz gespielt, sie war kontaktfroh, aufgeschlossen, teilnahmsvoll, wie dafür geschaffen, die Atmosphäre zu erhitzen. Eine glückliche Begabung! Wohin sie auch kam, es folgten ihr stets Schwingungen der Phantasie. Um sie war jenes Knisternde, das seelische Abläufe beschleunigt: eine Empfindsamkeit für die Verheißungen des Lebens. Immer schien sie etwas zu erhoffen und diese kindhafte Bereitschaft auf andere zu übertragen. Warm spiegelte sich in ihren großen Augen all das Köstliche der Welt.
Ihr selber kam es nachträglich so vor, als habe die Sache mit dem Tag begonnen, an dem sie etwas für Professor Faust ins reine schrieb. Der Text hieß Klima für Spitzenleistungen. Nichts Bewegendes, der übliche Beitrag für die Samstagsbeilage der Bezirkszeitung, mit dem Untertitel: Grenzen gegenwärtiger Erkenntnis durchbrechen. Ganz so, wie es dann auch am Institut geschah. Aber wenn man nicht an den Zufall glaubt, hatte es schon früher angefangen. Vielleicht auf der Feier zum 8. März, dem Frauentag, als Vera Bald den Dr. Herbst geneckt und ihm erklärt hatte, hilfreich für Dienstreisende – nein, für jeden, der auf Brautschau ging – wär so ein Zeichen, ein stummes Signal wie ein Bändchen am Knopfloch oder ein Ring, an dem man einander erkenne, als jemanden, der Anschluss sucht.
Ach, Vera, hatte Herbst geseufzt, so einfach ist das nicht. Man will als Suchender ja unerkannt sein, nicht dem Spott derer ausgesetzt, die schon gefunden haben oder meinen, sie hätten es. Ein heimliches Zeichen muss her, sichtbar nur dem, der selber sucht; welch ein Problem. Mehr sagte er nicht, aber da sie Männer meist ungewöhnlich gut verstand, begriff sie dies gleich als Teil der scheuen Werbung, mit der er sie umgab. Er war Ende Dreißig, vierzehn Jahre älter als sie, seit ewig geschieden, aus seiner Sicht kam er in Frage. Ernsthaft, er war für sie zu haben... Aber sie nicht für ihn.
Im Augenblick, kurz vor Dienstschluss, stand er hinter ihr und behinderte sie. Schwer genug, den Kram des Sektionsdirektors abzutippen. Der Text schleppte sich hin, in seiner Gleichförmigkeit lag die Gefahr, ganze Sätze wegzulassen in dem unbewussten Wunsch, ihn zu verkürzen. Wenn Faust das merkte, würde er sich erregen – innerhalb der Grenzen, die der Mangel an guten Sekretärinnen seinem cholerischen Charakter zog. Wer wenig strebsam war wie Vera Bald, den schüchterte keiner ein. Schon während ihrer Lehrzeit in der Stadtbibliothek hatte sie dies erkannt und es im Stadtbauamt erprobt – die Kraft der Schwachen, laut Alexander –: Zuspätkommen, auf jeden Tadel pfeifen und erst im Büro frühstücken, wo man ihr einen Schreibtisch mit Telefon gegeben hatte, also Bedeutung, ein bisschen Macht, deren Gebrauch sie spielerisch genoss.
Ein paar Häuser weiter, im Kindergarten der Technischen Hochschule, öffnete Alexander jetzt – sie wusste es – die Tür zum Schlafsaal, um nach Anke zu sehen, ihr zuzunicken. Und prompt stand die auf, zog sich an, schlich hinaus zu dem seltsamen Vater; manchmal vergaß sie ein Kleidungsstück und weinte draußen auf der Straße, was Alexander peinlich war. Er kam immer dienstags und freitags, erst zu Anke, dann zu Vera Bald, kam und ging wie ein Naturereignis, unabwendbar, als sei das sein gutes Recht.
In immer stärkerem Maße ist es gelungen, die Aufgaben der Forschung aus den perspektivischen Anforderungen der Praxis abzuleiten und, unter Einbeziehung der Studenten, unter dem Gesichtspunkt einer konkreten Anwendung erzielter Ergebnisse zu betreiben. Fräulein Bald radierte, bei solchen Sätzen schlichen sich Fehler ein. Kaum ein Drittel des Artikels, und nun hielt auch Herbst nicht mehr an sich. "Gefasel", rief er, hustete sich die Kehle frei und sah Fräulein Bald von der Seite an, leicht hündisch, offenbar dabei, sich mit ihr gegen Faust zu verbünden. Sie nahm die Finger von den Tasten und stellte sich vor, dass ihre Tochter jetzt Alexander zum Eckladen zog und ihn listig durch das Glas blicken ließ, damit er im Regal die Schokolade sah, um die Anke eben nicht mehr betteln sollte. Sie kannte, mit vier, doch schon ein paar Tricks. "Zeilenschinderei", fuhr Dr. Herbst fort. "Mein Gott, 'die Lösung fundamentaler Probleme mit dem Ziel einer Gewinnung neuer Erkenntnisse'! Früher hieß das noch Grundlagenforschung."
"Bitte, Werner, ich muss fertig werden."
Doch sein Feingefühl schien dahin. "'Konzentrierter Einsatz des Forschungspotentials', geradezu militärisch. 'Interdisziplinäre Zusammenarbeit' – stramm an der Wahrheit vorbei!" Dr. Herbst klapperte mit der Mappe, ein gutes Zeichen. Vielleicht war ihm eingefallen, dass ja nicht Faust dies verzapft hatte, sondern Hofmann, dessen Assistent; Faust schrieb oft bloß den Namen drunter. Aber nein, Herbst blieb. "Weißt du, was das ist? Beschönigung aus Angst. Uns werden Gelder gestrichen, Planstellen, weil's eben nicht so läuft."
Ach, da verriet er ihr nichts Neues; nur wagte sie nicht, ihn zu bremsen. "Genau so ein Mann hat mir mal die Weichen gestellt, da oben an der Küste", hörte sie ihn sagen. "Und der Zug fuhr aufs tote Gleis. Seitdem ist mir der Typ geläufig. Damals am Institut für Fischforschung... Ultraschall, nicht wahr. Du kannst damit Schwärme orten, man nennt es Sonar."
Es war nicht leicht, ihm zu folgen. Herbst war ein unsicherer Erzähler, er gestikulierte, schweifte ab, teilte die Luft schlecht ein, seine Stimme belegte sich schon wieder, manchmal blieb sie ihm auch weg. Aber Vera Bald war nicht mehr so jung, dass sie so was nur komisch fand. Sie zog befangene Männer den selbstherrlichen vor. Während er sprach, spähte sie durch den Staub der Maisonne hinüber in sein Zimmer, wo das zweideutige Ding stand. Befangen war Herbst ihretwegen; das tat gut.
"Wir hatten ein Sonargerät entwickelt, 'Netzauge' hieß es, über dem Weltstand von damals. Es saß am oberen Rand der Schleppnetzöffnung und ortete nach vorn: Wo ist der Fisch? Nach unten: Wie weit zieht das Netz über Grund, zerreißt es dort die Flora nicht? Und nach hinten: Füllt es sich schon? Ein Knüller, das wussten wir... Mussten natürlich mit runter, tauchten stundenlang beim Test."
Vera Bald schöpfte Atem, als stehe auch ihr ein Tauchgang bevor. Habe Geduld! Sie sah auf den Schreibtisch nebenan. Weder war der demonstrativ leer wie bei Dr. Kelly, noch absichtlich voll gepackt wie bei Faust – bloß unaufgeräumt. Man bekam mit der Zeit einen Nerv dafür, wie Chefs sich darstellten, womit sie sich umgaben. Dr. Herbst ließ wenig für sich sprechen, abgesehen von dem Vollbart, der sein Kinn schwerer, energischer machte. Aber etwas schmückte doch seinen Platz, ein kleines Standbild aus Hartholz, Mitbringsel von der einzigen Dienstreise in ein fernes Land, die ihm gewährt worden war. Die Statuette kam aus Moçambique: der schmal aufragende Kopf eines Afrikaners mit langem dicken Hals und wulstigem, seltsam frisierten Haar. Vera Bald hatte darin nie etwas Unanständiges erblickt, bis Hofmann und Kelly ihr einmal enthüllten, tatsächlich sei dies ein Phallus, ein männliches Glied im bestmöglichen Zustand; also ein Sinnbild negroider Liebeslust und Zeugungskraft. Das sagten die zwei natürlich, um sich an ihrer Verlegenheit zu weiden und Herbst madig zu machen. Den freilich störte die wahre Natur des Schnitzwerks gar nicht, abends schloss er es zwar weg, denn es hatte ihn viel Geld gekostet, vom Munde abgespart. Doch jeden Morgen holte er die Statuette heraus und pflanzte sie vor sich auf, den Gegnern zum Trotz wie ein Banner, ein Symbol der Fruchtbarkeit seiner wissenschaftlichen Bestrebungen und Versuche.
"Keine Kunst, Vera, mit Pressluft zu tauchen. Man muss nicht mal ein guter Schwimmer sein. Im Stechlinsee fingen wir an und kamen bis Ostafrika..." Sein Bericht verzweigte sich schon wieder. Mehr am Klang als durch den Inhalt der Sätze merkte sie, dass er von einem längst versunkenen Gipfel seiner Laufbahn sprach. Die Statuette war ein Talisman für ihn. Und solange sie dort stand, ihm als Glücksbringer wichtig blieb, ließ er jedenfalls die Hände noch nicht sinken. "... ein Team von Arbeiterforschern: Dreher, Fischer, Techniker, Mikroelektroniker. Unsere ganze Freizeit ging drauf."
Halb drei! Auch Höflichkeit und Mitgefühl hatten ihre Grenzen. Bestimmt war Alexander schon nervös, er konnte einfach nicht warten, jede Minute fehlte ihm an der Zeit, die sie beide hatten. Und neuerdings untergrub Anke seine Stimmung mit kleinen stichelnden Erzählungen von jungen Männern, die sie, Vera Bald, irgendwann getroffen hatte. Das war Ankes Art, sich für die Vernachlässigung an ihm zu rächen. Er fragte sie aus und wurde dabei sauer – Schluss, sonst verdarb noch Eifersucht den Nachmittag.
"Regelrechte Zyklopenkämpfe", hörte sie Herbst sagen, ohne ihn zu begreifen. "Bis hinauf nach Berlin zum Büro des Ministerpräsidenten. Die Clique am Institut hielt zusammen wie ein Rudel Wölfe. Wir wiesen ihr Unkenntnis des Weltstands nach, nicht mal die Dokumentation war auf dem Laufenden. Da blockierten sie erst recht, keine Freistellung für mich, keine Mittel zur Patentanmeldung im Ausland. Sie hatten die besseren Karten, Kontakte bis hoch zur Spitze. Zyklopenkampf! Das Bollwerk der Ignoranz blieb heil, wir sind daran zerbrochen... In Sachen 'Netzauge' haben sich die Briten und die Japaner dann den Markt geteilt, der uns schon sicher gewesen ist."
Vera Bald zog das Blatt aus der Maschine und packte ein. Das war zu hoch, zu groß für sie. In derlei hatte sie noch nie wer eingeweiht, Zyklopenkampf, was hieß denn das? Es klang gewaltig, nach Sturmwirbel, etwas aus dem Wettergeschehen. – "Entschuldige, Werner, ich nehm das mit nach Hause. Die Kleine wartet auf mich. Schönes Wochenende!"
Herbst lächelte wie ein scheuer Mensch, den man grundlos unterbricht. Einen Moment lang schien es, als würde er versuchen, sich mit ihr zu verabreden. Sie hätte sogar zugestimmt, wenn er Anke in Kauf nahm; die mochte ihn ja. Sie selber war frei, Woelks Wochenenden gehörten seiner Familie. Aber Herbst schwang sich nur dazu auf, "Dann bis Montag" zu sagen – so, als habe sich ihm der Verdacht bestätigt, dass es ihm nicht gegeben sei, Frauen zu fesseln, selbst wenn er sich die Brust aufriss und von seinen Niederlagen sprach.
Auf der Treppe war es ihr, als sei sie rücksichtslos gewesen. Aber das Gefühl verflog, kaum dass sie unten Alexander Woelk sah, die Tochter an der Hand. Nun beugte er sich zu Anke herab, putzte ihr die Nase wie ein richtiger Vater – ach, einmal würde er's auch sein, davon ließ Vera nicht ab. Während sie ihm entgegenging, spürte sie das Lächeln um den Mund, unaufhaltsam stellte es sich ein, immer wieder bei ihr und spiegelgleich bei ihm. Dieses Aufstrahlen, heute noch, nach den sechs Jahren; ein Ausdruck, der jedem hier alles über sie verriet.
"Entschuldige", sagte sie genau wie eben im Büro, "Herbst hat kein Ende gefunden. Was der aber auch erlebt hat; das wär ein Stoff für dich. Du, was sind eigentlich Zyklopen?"
"Einäugige Riesen."
Sie konnte schwer etwas für sich behalten, die Kürze aber sagte ihr genug. Alexander hatte Ankes Geschichten gehört, er wollte keine neue, schon gar nicht von und über Dr. Herbst, der jünger war als er und außerdem noch frei. Wie üblich drängte er zum Auto, das schon in Fahrtrichtung stand, wollte, so schnell es ging, über die Brücke, dann scharf rechts ab und zu ihr ins Bett. Der verdammte Brauch, das zielstrebige Verlangen... Etwas in ihr, das war klar, wurde da missachtet. Danach erst ließ sich mit ihm reden, sie hätte es gern umgekehrt gehabt. Was Alexander überhaupt nicht sah: Seine Ungeduld baute in ihr Widerstände auf, eine Hürde, die zu nehmen immer schwerer fiel.
Wenn Werner Herbst brütend über Papieren saß, ohne etwas aufzunehmen, schweifte sein Blick zu der Kastanie draußen, hinter den Fenstern des Büros. Ein mächtiger Baum, eben brachen die Knospen auf, flaumig weiß, bald würden Kerzen daraus steigen. Daneben ein Stück Himmel, wolkenlos. Der Anblick berührte ihn; in Momenten der Untätigkeit und des Erlahmens beeinflusste dies seine Stimmung. Bei verhangenem Himmel, das wusste er, war seine Wochenend-Depression meist weniger tief. Wohl weil da kein Neid entstand auf die, denen der Sonnenschein mehr versprach als ihm. Er ließ sich von Wolkenbildern fesseln, sogar Regen tat ihm gut.
Früher hatte er sich oft eingeredet, mit dem Frühling beginne das Leben wieder einmal ganz von vorn. Nun nicht mehr. Es gab keinen Gleichklang mit der Natur, man war von ihr getrennt... Das junge Grün, das Sprießen dort, müsste es nicht auch seine Kräfte wecken? Die der übrigen vielleicht, ihn drückte es eher nieder. Er fühlte halt anders als der Rest. Wenn andere ergriffen waren, vor Rührung schier erstickten, konnte ihn ein Lachreiz plagen, in allgemeiner Fröhlichkeit aber konnte ihm hundeelend sein.
Das war schon immer so gewesen. Als Fünfjähriger, am Grab seiner Großmutter, hatte er ihr zwar nachgetrauert, zumal der Märchen wegen, die ihm nun keiner mehr vorlas. Doch der Druck vorn im Hals, der dann später wiederkehrte, rührte noch von etwas anderem her. Immer, wenn seine Mutter den Grabhügel von Unkraut säuberte, blickte er auf einen Hochspannungsmast, der sich hinter den Lebensbäumen, dem Wacholder fern im Sonnenglanz erhob. Dieser Mast hatte es ihm angetan, die hängenden Kabel gaben ihm durch ihren Schwung ein Gefühl von Weite, als führten sie hinaus in die Welt. Und das rief eine ziellose Sehnsucht hervor, bis an den Rand der Tränen. Was hatte ihn so aufgewühlt damals, als alles erst Ahnung gewesen war? Ein Fernweh, das Unermessliche der Schöpfung, die Rätsel des Daseins? Er kam nicht dahinter.
Was aber jetzt in ihm hochstieg bei diesem unsinnigen, quälenden Himmelsblau, war das Bild eines anderen Frühlings, gut fünfzehn Jahre zurück. Da hatte er an der Küste gelebt, beschäftigt mit seiner Diplomarbeit am Institut für Fischforschung. Eine Zeit der Zuversicht, des Vertrauens in die Zukunft, in die Tüchtigkeit der Leitung und in die eigene Kraft. Die Zeit der Arbeitsgemeinschaft Netzauge. Ein Nichtakademiker hatte sie geführt, die Gruppe junger Arbeiterforscher, der Taucher und Dreher Erwin Graustein: zäh, flink, an die Sechzig, mit Seehundsbart. Ein drahtiger Kerl, Haudegen auf den ersten Blick. Dachte man an Graustein, fiel einem gleich dessen markige Sprechweise ein. Der Ursprung war klar, Graustein war noch Kampfschwimmer bei der Wehrmacht gewesen, ein gewisses Landsknechtstum legte er nie ab, doch selbst damit kam er bei der Crew gut an. Sie blickten sämtlich zu ihm auf, brachte er ihnen doch die Kniffe bei, fing heimlich Aale an den Buhnenköpfen und erzählte abends beim Räuchern von Ein-Mann-Torpedos und wie sie im Rücken der Amerikaner eine Rheinbrücke gesprengt hatten, vom Wasser aus.
Manches verwunderte an ihm. Ein Froschmann, der zerstört und getötet hatte und ohne Reue davon sprach. Erstaunlich aber sein Einsatz für das Team, seine Art, sich für das Projekt zu schlagen, als es – laut Graustein – unter Beschuss kam. Und als dann alles zerbrach, bei der großen Pleite am Schluss, da hatte er ihnen gezeigt, wie man mit Anstand verliert und noch das Beste daraus macht. Den Sonarfachmann hatte er angeschnauzt: "Eine Niederlage, Mann, das ist doch das Mindeste, was du verkraften musst! Wer die Hitze nicht abkann, der soll sich aus der Backstube scheren." So hielt er die Crew zusammen und brachte sie über die Gesellschaft für Sport und Technik zur Grenztruppe an die Berliner Randgewässer, wo es nicht mehr um Fischfang ging.
Den Schluss aber wurde Herbst nicht mehr los, Vera war weg, obwohl es ihm eben so vorgekommen war, als hülle sie nebenan, mit der Kunststoffhaube raschelnd, ihre Schreibmaschine ein. Nur der Beutel, von ihr vergessen, stand noch da. Bestürzt blieb er stehen, unglaublich, sie hatte ihm doch schönes Wochenende gewünscht, wieso war ihm das entfallen? Solche Fehlleistungen häuften sich in letzter Zeit. Manchmal war ihm, als sehe er die Menschen seiner Umgebung wie durch beschlagenes Glas, nur noch schwach erreichten ihn Signale, und ziemlich folgenlos blieb, was er selber sagte oder tat. Etwas musste geschehen, aber was? Einen Arzt aufsuchen? Welchen, und was dem sagen? Wie schwer es doch fiel, eine seelische Störung zu schildern, auch nur sich selbst einzugestehen.
Vor einem Monat hatte das bei ihm begonnen. Seit April nahm Werner Herbst Veränderungen wahr, Folgen des Verlusts, der ihn getroffen hatte. Sein zehnjähriger Sohn Ralf, das einzige Kind, war ganz aus seinem Leben verschwunden. Eva, seine geschiedene Frau, fuhr mit Ralf in den Irak zu ihrem zweiten Mann, einem Botschaftsangestellten. Zunächst hatte Herbst dies verschmerzt, es ließ sich ja nicht ändern. Die Erschütterung kam nach dem dritten oder vierten Sonntag ohne Ralf. Er merkte, dass er aufhörte, nach Dienstschluss weiterzuarbeiten – nicht, weil er erschöpft gewesen wäre, sondern weil es ihn langweilte. Die Hochschule kam ganz gut ohne seine Überstunden aus. Auf Besprechungen ergriff er kaum mehr das Wort. Er magerte sogar ab, obwohl er nicht schlechter aß als zuvor, nur es schmeckte ihm nicht mehr.
Wie mancher Mensch hatte Herbst eine sehr persönliche Idee von sich selbst. In seiner Vorstellung war das Gehirn der wahre Sitz seines Ichs. Alles, was ihn bewegte, Lust wie Schmerz, trug sich dort zu, im Kopf (und soweit hielt er daran fest). Dieses Zentrum umgaben drei Schutzzonen: Gesundheit, Geld und Liebe; sie schirmten es gegen Einbrüche von außen ab. Körperlich unversehrt zu sein, geldlich gesichert und Teil einer wärmenden Partnerschaft, das, so fand er, sollte genügen. Nun aber war ihm, als sickere das Unglück durch die Linien – zwei waren ganz intakt – und niste schon in seinem Kopf. Von dort nämlich ging etwas Lähmendes aus, eine Schwächung, gewisse Wahrnehmungen trübten sich, während das Denken klar blieb und ihn zwang, die Ausbreitung des Übels zu sehen. Morgens beim Aufstehen bereits fühlte er Überdruss, Müdigkeit, ein Netz aus Verzweiflung, das ihn umfing.
Womöglich kam dies auch von innen. Die Zirbeldrüse etwa, das geheimnisvolle Organ im ältesten Teil des Hirns, erzeugte bekanntlich das schlaffördernde Sekret Melantonin, mit steigendem Alter immer weniger, so dass Säuglinge die meiste Zeit verschliefen und alte Menschen fast schlaflos blieben. Sonderte die Drüse dazu noch etwas ab, das einen traurig machte? Dies fragte sich Dr. Herbst. Vieles war ihm ja sinnlos geworden. Sein Diplom, die Patente, das Eigentum, erworben in soviel Arbeitsjahren, Wissen, Talent und Intelligenz, was half ihm das jetzt? Sein Name, die schwer errungene Wertschätzung der Sektion, die Achtung einiger Studenten, wozu? All diese Größen schrumpften in der Bitterkeit des Verlusts. Er hatte nicht geahnt, wie sehr er an Ralf hing, wie dringend er den brauchte. Ein Lied verfolgte ihn mit dem Kehrreim: Und wenn das Glück mich verlässt, halt ich die Scherben noch fest... So eine Scherbe, ein Anreiz zum Weiterleben mochte Ralf gewesen sein; das letzte, was ihm von seiner Ehe geblieben war.
Voriges Wochenende war er an die See gereist. Dort auf der Halbinsel zwischen Meer und Bodden hatte er den Urlaub mit Ralf verbracht. Er lieh sich ein Fahrrad und suchte die alten Plätze auf, das Quartier, den Hochstand, in den sie die Gleichung geritzt hatten: W+R=V+S (Werner und Ralf sind Vater und Sohn). Den Vogelbeerbaum nahe den Dünen, unter den sie ihre Räder zu stellen pflegten. Die Mulde am Strand, wo ihre Burg aus Treibholz gestanden hatte. Im Klatschen der Wellen war Ralf ihm nahe, hier waren sie beide froh gewesen. An diesen Plätzen, die er unverändert fand, beruhigte er sich. Das Dauerhafte der Natur schien ihm Beständigkeit zu versprechen, einmal würde er mit Ralf zurückkehren... Diese Hoffnung strömte ihm im Duft des Waldbodens zu, wo junger Farn sich entrollte.
Daheim hatte der Trost sich verflüchtigt, als Wunschdenken enthüllt. Herbst biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen. Für wen lebte er? Keine Ahnung. Ach, er begriff es schon, Millionen teilten seine Erfahrung. Was ihm da zustieß, war Massenschicksal und keineswegs neu. Ringsum ging man auseinander, Ehen zerbrachen, Freunde wurden getrennt, Partner vergaßen sich, Kriege tobten auf der Welt, Krankheit riss einem die liebsten Menschen weg, unaufhörlich, immer schon; das Leben ging weiter. In seinem Alter, sollten Wunden da nicht heilbar sein?
Plötzlich merkte er, dass er Veras Einkauf hochhob und ans Telefon trat, im Begriff, sie anzurufen. Er würde sich erbieten, ihr den Beutel auf dem Heimweg vorbeizubringen – vielleicht hatte sie morgen Zeit für ihn? Flucht nach vorn. Er hatte nichts zu verlieren. Mehr als ihre Ablehnung fürchtete er die Qual, die ihn überfallen würde, allein in seiner Wohnung, von Freitagabend bis Montagfrüh.
Als Vera zum Telefon ging, blieb Woelk allein auf der Couch zurück, durchwärmt und gesättigt. Im nachpulsierenden Wohlgefühl, dem Augenblick der Wunschlosigkeit, fiel ihm der Satz ein: Das bisschen Sex, das er brauchte, fand er überall. Den hatte Hans Seiboldt, sein Kollege, einem amerikanischen Offizier zugeschrieben, der irgendwo im Pazifik Bilanz zog über Leben und Karriere. Der Satz passte in das Bild, das Seiboldt vom Feind zu geben pflegte. Leute wie dieser Offizier, die hauptsächlich ihr Fortkommen im Auge hatten, mochten ja wirklich so denken. Woelk nicht; er fand seit sechs Jahren den Frieden nur hier.
Gibt es die Droge Mensch? Eine Liebesbindung kann so unabweisbar sein wie die Lust auf Alkohol oder der Zwang, ein Rauschgift zu nehmen. Damals, als er in das erste Stadium des Verlangens geglitten war, hatte er einmal zu Vera gesagt, sie sei für ihn der Zucker im Kaffee. So war es bei den zwei, drei Mädchen vor ihr auch gewesen. Inzwischen aber wirkte sie wie eine Droge, die Symptome zeigten es ihm: Zerstreutheit und Antriebsschwäche, wenn er sie eine Woche lang nicht sah, Schlafstörungen und Herzschmerzen, wenn das Band zu zerreißen drohte. Zweimal hatten sie Schluss machen wollen – zu spät, die Sucht war da. Diese Couch übrigens hatte er ihr geschickt, weil die vorige zu schmal gewesen war; ein kompromittierendes Geschenk. Manchmal benahm er sich wie ein Fixer, der um den weißen Stoff bangt. Und das erschien ihm so dürftig, so ohne Kultur im Sinne von Freundlichkeit, dass er sich schämte.
Da Vera ihn warten ließ, legte er eine Schallplatte auf, doch die Besänftigung verflog. Nur oberflächlich haftend, löste sie sich ab von einem Gemütszustand des Unbehagens. War das seine chronische Unrast, die literarische Betriebsamkeit? Kürzlich hatte er ein Manuskript beendet und konnte nicht länger von der Genugtuung zehren, die jeder Abschluss bot. Hinzu kam die Unschlüssigkeit, sich für etwas Neues zu entscheiden. Zur Wahl standen zwei Stoffe, der Falklandkrieg und der Coup auf den Seychellen: Exotisches, gut abgelagert, viele Jahre her, lange genug, um überschaubar zu sein. Beides erforderte Studien, die lückenhaft blieben, da es ihm kaum glücken würde, sie vor Ort zu vollenden.
Aber gab es nicht fünf Bücher von ihm über Vorgänge in Afrika, obwohl er nur zwei afrikanische Länder bereist hatte? Vielleicht bekam man auch das noch fertig. Wegen ihrer Abgeschiedenheit hatten Inseln ihn stets verlockt. Was ihn zu den Seychellen zog, mochte eben das Begrenzte sein – hundert Söldner versuchen einen Coup, ihr Scheitern in klassischer Einheit von Ort, Zeit und Handlung... Falkland war vielschichtiger, es reizte ihn mehr. Allein schon die Maßlosigkeit, nie war für wenig soviel gewagt und geopfert worden. Menschen starben für den Fortbestand ihrer Regierungen! Der britische Gegenschlag, die Flottenbewegung, zeitlupenhaft wie eine Strafexpedition des 19. Jahrhunderts. Und der Sturz einer Militärdiktatur gerade durch den Kraftakt einer Waffentat; all das sollte man schildern.
Es wär freilich ein Griff in das Sachgebiet von Hans Seiboldt gewesen, der die Nähe der Pole, zumal die Antarktis, bevorzugte. Wie die alten Kolonialmächte hatten sie sich stillschweigend die Südhalbkugel geteilt. Doch Seiboldt wich Schwankendem meist aus wie ein Nichtschwimmer dem Sprungbrett. Ein bestrickender Fabulant, der Kopfzerbrechen scheute. Das Urteil stand fest für die Seychellen, nicht so für Falkland, gewiss ging Seiboldt auf einen Tausch der Inselgruppen ein. Er war als Vorsitzender des Bezirksverbandes der Schriftsteller stets um Ausgleich bemüht und auch sonst recht kollegial und kulant.
Nur, wozu so bald ein neues Buch? Noch eines, wo es schon so viele gab! Meist waren Woelks Stoffe fremd und schwer. Nehmt große Stoffe, hatte ein alter Schriftsteller zu Würzner, Seiboldt und ihm gesagt, damals, als ihre Erstlinge in den Schaufenstern lagen. Je kleiner der Gegenstand, Jungs, desto mehr müsst ihr können. Und sie waren, ihres Könnens wenig sicher, dem Rat gefolgt. Große Stoffe gab es reichlich, wer es verstand, sie anzupacken, der wurde ein bekannter Mann. Elf Bücher, anderthalb Millionen Exemplare, welch ein Beruf! Obschon man dabei das allein zu tun hatte, wofür es anderswo – etwa beim Film – ganze Stäbe gab. Man fing Feuer, grub etwas aus, fuhr umher, befragte Leute, erfand eine Story, schrieb das Drehbuch und inszenierte auch noch: Rechercheur, Szenarist, Spielleiter und Darsteller in einer Person, eben darin lag der Reiz. Wie ihm im Schwung der Begeisterung die Anfänge glückten! Und dann auf halber Strecke hing er durch, die Geschichte wurde fad, rief Zweifel und Widerstand hervor; ohne Schreibgenuss aber geriet da nichts. Der Rest war Disziplin, man konnte auch Routine dazu sagen... Woher die Tiefs, das Versiegen der Phantasie? Woelk kam einfach nicht dahinter. Die Unlust jetzt, war das ein Tal im Biorhythmus, ein Selbstschutz der Natur, oder fing er etwas falsch an, brachte sich selber um den Spaß?
Celia, you're breaking my heart, you're shaking my confidence daily... Vom Plattenspieler das Klagelied von Simon & Garfunkel. Daneben ein Manuskript, Vera hatte es mitgebracht. Sie wollte es zu Haus abschreiben, bei Pressetexten statthaft, sie schleppte aber auch schon mal Verschlusssachen an. Woelks Manuskripte blieben dann bei ihr liegen. Mit wem übrigens sprach sie so lange? Oh Cecilia, I'm down on my knees, I'm begging you please to come home. Come on home! Making love in the afternoon...
Mein Gott, was für ein Zeug. Klima für Spitzenleistungen, Grenzen der Erkenntnis durchbrechen, dieser Professor Faust war ein Schwadroneur. Achtmal benutzte er das Beiwort "hoch" und die Steigerungsgrade, hohe Erwartungen, in hohem Maße, hohe Ziele, höheres Maß an Verantwortung, Höchstleistungen und so fort. Als sei ihm das selbst aufgestoßen, nahm er ab und zu Sinnverwandtes: Ringen um anspruchsvolle Forschungsthemen, nötiger Leistungsanstieg, damit Spitzenleistungen in immer kürzerer Zeit... Es blieb trist, hohler Verkündungsstil. Wer las das schon, wen sprach es an? Da zündete nichts; auch ein Fachtext sollte prägnant und fasslich sein.
Allerdings, das fiel schwer, entweder man war zu dicht am Gegenstand oder an den Lesern, so dass der Brückenschlag misslang. Beim Romaneschreiben kam noch das Ich hinzu, der Erzähler war immer mit im Spiel. Woelk dachte sich dies als ein Dreieck um die Punkte Stoff, Autor und Leser. Irgendwo dazwischen bewegte er sich beim Schreiben, ohne recht zu wissen, wo genau er stand. Diese Ortsbestimmung, wichtig wie in der Seefahrt, schien das schwerste, manchmal zitterte ihm dabei die Hand. Aber hier keine Spur von Mühe, Sprüche und Worthülsen, leblos gereiht...
Vera kam wieder, sie erklärte, es sei nur der Doktor Herbst gewesen. Er habe sich mit ihr verabreden wollen, morgen würden sie zum Pferderennen gehen. Das sagte sie arglos wie immer, ohne erkennbaren Wunsch, ihn nervös zu machen. Der Name schien neu auf der Liste ihrer Verehrer. Woelk fragte nach ihm, er behielt gern die im Blick, mit denen zu rechnen war. Vera nahm selten Notiz vom Beruf eines Bewerbers, bei Herbst wusste sie zwar Bescheid, doch ließ sich dessen Tätigkeit schwer merken: Leiter des Wissenschaftsbereichs Bionik oder Biokommunikation, Bioingenieurtechnik? Und Fausts Sektion, hieß die nun Nachrichtentechnik, Technische Kybernetik, Elektronik oder Elektrotechnik? Die Struktur der Hochschule blieb Woelk dunkel, ein Gewirr von Termini technici. Wegen des häufigen Wandels dort, meinte er.
"Weil's dich gar nicht kümmert", sagte Vera mit ihrer leisen, bestrickenden Stimme, während das Duo sang: When I come back to bed, someone's taken my place... "Im Grunde ist dir doch mein Job egal."
Das traf zu, es war gegenseitig, auch ihr gab seine Arbeit nichts. Gefühllos schrieb sie die Manuskripte ab. Ja, wenn er Lyriker oder wenigstens noch Dramatiker gewesen wär! Keine Dichterlesung ließ sie aus und lief dauernd ins Theater, sah sich Stücke mehrmals an, die das kaum verdienten. – "Wenigstens kein Schauspieler diesmal."
"Was du nur gegen die hast."
"Es sind solche Gockel."
"Sei nicht dumm, Alexander, eitel bist du auch."
"Sie hocken stundenlang mit dir in der Kantine."
"Für die bin ich ein Kumpel, eben ein Theaterfan."
"Sie umklammern ihren letzten Zuschauer?"
Vera lachte, als hätte er etwas Geistreiches gesagt. "Jedenfalls, als Frau betrachten die mich nicht."
"Das ist doch aber schwer zu übersehen."
Jubilation! She loves me again... Wieder lachte sie, ein absurdes kleines Lachen, das einen Nerv in ihm traf. Es leuchteten ihre Augen, sie wurden größer wie oft, wenn sie von anderen Männern sprach; ihr Gesicht hatte einen zärtlichen Ausdruck, es schimmerte der geschwungene Mund, und ihre Stimme klang, als winkte ihr künftig ähnlich Begeisterndes – morgen etwa, nach dem Rennen... Er merkte, dass sie ihm Herbst als einen blassen klugen Mann beschrieb, der ziemlich einsam sei, ihr gegenüber gehemmt. Ihn fesselte mehr die Tonfolge als der Sinn ihrer Worte. Das Gespräch zerbröckelte. Denn sobald Vera schwieg und ihre Stimme ihn nicht erwärmte, begriff er, wie vage alles war, was sie mitgeteilt hatte. Ihre Verbindung war ständig von außen bedroht, das blieb als Stachel in Woelk zurück.
"Du sagst, die Hochschule interessiere mich nicht. Aber wen bei euch kümmert meine Arbeit? Keinen! Sonst hätte nämlich dein scheuer Chef kaum Mühe, Anschluss zu finden."
Sie sah ihn an, als hätte er seine Bücher als einen Born der Weisheit und Lebenshilfe hingestellt.
"Ja, denk nur, sein Problem wär längst gelöst."
"Das erklär mir erst mal."
"Der Doktor Herbst hätte bloß das lesen, nachprüfen und entwickeln müssen, was ich vor vielen Jahren mal beschrieben hab. 'Verführung auf Gamma' hieß die Geschichte. Aber das ist ja Fiktion, da steht er turmhoch drüber."
Neulich war Woelk auf das vergessene Heft gestoßen, als man für einen Sammelband etwas Kurzes von ihm wünschte. Die alte Story trug sich auf dem Planeten Gamma zu; ein Zukunftsstaat, in dem alles vollkommen war und man sogar den Ehepartner elektronisch fand. Da stand der Satz: Aufgebot im Magistratscomputer, Trauung und Glückwunsch durchs Videophon vom Band. Die Bürger von Gamma, ordnungsliebend, termitenhaft diszipliniert, waren so zufrieden und angepasst, dass sie das Walten der Staatsmacht kaum noch spürten, der sie all dies verdankten, gemäß dem Ausspruch des weisen Lao-Tse: Von den besten Führern nimmt das Volk keine Kenntnis, die zweitbesten ehrt und preist das Volk... Und wenn der beste Führer sein Werk vollbracht hat, so sagt es, das haben wir aus eigenem geschafft! Damals hatte Woelk die Kritik verfremdet, war ins Phantastische geschweift – unverbindlich, amüsant. Einmal aber würde er sich ein Herz fassen und die Geschichte zum Leidwesen der literarischen Berater nach hier verlegen, in sein eigenes Land.
"Es spielt dann in der Jetztzeit?"
Das ließ ihn aufhorchen, Vera nahm Anteil, konnte es sein? Sie sagte Jetztzeit statt Gegenwart, ihr Wortschatz enthielt manche Seltsamkeit. So hatte sie Dichterabende, zu denen sie begierig lief, anfangs Schriftlesung genannt, was auf kirchlichen Einfluss zurückging. Sie war einst Mitglied der Jungen Gemeinde und des städtischen Domchors gewesen, bevor sie sich dem Schlagersingen verschrieb. Auch wirkten all die Gedichte, die sie las, stilbildend in ihr nach.
"Und es ist ein Gerät zur Kontaktaufnahme?"
"Ja, ein Minisender mit Empfänger und Signalisator. Ein kleines Ding für den Massenbedarf, nicht größer als das." Er tippte auf seine Armbanduhr, es wurde leider Zeit für ihn.
Vera seufzte; da half kein Trick, sie hasste diesen Blick zur Uhr am Schluss. "Das passt zu dir, Alexander. Eine Sexmaschine! Du hast eben nur das im Kopf."
Woelk beschrieb ihr das Gerät und seine Möglichkeiten. Es war bei ihnen Brauch, seinen Abgang mit Scherzen zu garnieren – so wie man einen Riss verdeckt. Gleich sieben, sein Wettlauf mit der Zeit begann. Zum Essen musste er daheim sein bei Johanna, das war er ihr schuldig, und den schwierigen Obstsalat zubereitet haben. Es dauerte eine halbe Stunde, wenn man dreißig Nüsse dazu nahm. Wie die Scherze hier täuschte der Salat dort Normalität vor.
"Sei vorsichtig", bat Vera an der Tür; dies gehörte zum Abschiedsritus. "Fahr langsam, versprichst du's mir? Knack lieber zehn Nüsse weniger."
"Viel Spaß auf dem Rennplatz! Halt die Röcke fest im Wind." Woelk küsste sie und vermied es wieder mal, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Das fiel ihm immer schwer, denn die Mutter wusste ja, wer ihr die Couch ins Haus geschickt hatte und zu welchem Zweck. Und er wusste, dass sie unter der Beziehung litt. Sie hatte deswegen sogar den Sitz im Kirchenvorstand verloren, und die meisten ihrer Freundinnen waren weggeblieben. Bei Ankes Geburt, nach der es nichts mehr zu verbergen gab, war ein junger Pfarrer aufgetaucht, um beiden Frauen und schließlich auch Woelk ins Gewissen zu reden. Ihn stellte er mit freundlichem Nachdruck vor die Wahl, die Scheidung einzureichen oder Vera aufzugeben – was, wie er zugab, innere Kraft erfordere. Woelk aber, taub gegen das Wort der Kirche, brachte soviel Kraft nicht auf, er blieb sündhaft und entschlusslos, bis zum bitteren Ende.
Vera Bald stand bei offenem Fenster vor ihrem Kleiderschrank, die Gardinen wehten herein, es gurrten Tauben. Der Samstag brach lau und windig gegen elf Uhr für sie an. Weiße Wolken segelten dahin, schoben Schatten über den Fluss. Noch im Bett hatte sie, von Anke gestört, Verführung auf Gamma gelesen und es belanglos gefunden; eine glatt erzählte Geschichte. Was Woelk schrieb, ging sie herzlich wenig an. Wohl spürte sie Kritik im Hintergrund, eine vertrackte Absicht, doch es gab ihr nichts. Schade, Übereinstimmung auch da wär eigentlich schön gewesen. Aber sie teilte nun mal nicht sein Faible für das Weltgeschehen. Ihr fehlte auch kein Kontaktgerät; alles, was sie brauchte, war in diesem Schrank. Wenn sie vorm Spiegel zufrieden war, fühlte sie sich frei, so beschwingt, als müsse der Tag gelingen, es sprangen Funken über – und den Blicken folgten Worte. Seit jeher fiel es ihr leicht, sich mitzuteilen und fremde Äußerungen aufzunehmen. Das hatte ihr die Herzen vieler geöffnet, wenn sie auch Zeit an hoffnungslose Fälle verlor. Schwache Menschen witterten ihr Mitgefühl und saugten sich fest; nur den Rücksichtslosen wich sie aus.
Als Dr. Herbst sie und Anke in das kleine Auto bat, trug sie ihr taubenblaues Wildlederkostüm, ein Geburtstagsgeschenk von Woelk. "Ich freue mich so", sagte sie auf der Brücke.
"Von klein auf ist Pferderennen meine Leidenschaft."
"Für mich ist es das erste Mal."
Doch, man konnte sich mit ihm zeigen. Er war ein bisschen herausgeputzt, lustig getupfter Schlips, der flotte Anzug überraschte an ihm. "Früher wollte ich sogar Jockei werden! Mein Taschengeld für die ganze Woche hat gerade gereicht für den Mindesteinsatz. Da war es schon hart, zu verlieren. Aber was willst du gegen das Wettfieber machen? Heute riskier ich schon mal mehr."
"Ist das nicht ein teurer Spaß?"
"Ich bin vorsichtig, setze eher auf Platz als auf Sieg."
Sie erklärte ihm die Regeln, merkte aber, dass er bloß so tat, als höre er zu. Ihr ging es nicht allein um das Wetten, sie liebte die ganze Atmosphäre. Hier beim Rennen, im Hufgetrappel und Schmettern der Blasmusik, war soviel Leben; davon bekam sie nie genug. Man sah alle Welt und wurde gesehen, man gab sich locker, bespöttelte den Aufzug anderer, deren neue Partner, traf hundert Bekannte und war, leistete man sich einen Logenplatz, der Hautevolee nahe, jener Handvoll reicher Leute, die es noch immer – oder schon wieder – gab in der Stadt: Pferdebesitzer, Chefärzte, Handwerksmeister, ehemals halbstaatliche Fabrikanten und Bonvivants (wie ihre Mutter sagte), alternde Männer in hellen Anzügen, die fürstlich lebten, ein paar hatten zum Freundeskreis ihrer Eltern gehört und grüßten sie, deutlich an ihr interessiert. Die meisten hätte sie ohne weiteres haben und um den Finger wickeln können; es tat gut, das zu wissen. Aber all diese Herren sahen ihr vergebens nach, sie war durchaus glücklich, war fein heraus mit Alexander Woelk. Konnte der auch jetzt nicht bei ihr sein, nun, umso unbekümmerter genoss sie die Bewegungsfreiheit. Wer hatte es so gut wie sie, welche junge Frau nahm es in dem Punkt mit ihr auf?
Der Rennplatz kam grün und lärmend auf sie zu, über den Stallungen bogen sich die Pappeln im Wind, Vera Bald war selig. Schon auf dem Parkplatz nickte man ihr zu, Erik war da mit Nadine, Norbert stieg mit seiner zweiten Frau aus dem eierschalenfarbenen Auto... An all den Hyazinthen- und Veilchenrabatten vorbei lief sie über knirschenden Kies dem Rondell entgegen, wo die Pferde des ersten Rennens paradierten. Herbst hob Anke hoch, die schnupperte den Stallgeruch und bestaunte wieder die Farben der Jockeis: apfelgrün, lavendel, zitronengelb, weinrot. "Mutti, ich möchte ein Eis."
"Jetzt nicht, nach dem Rennen!"
"Du hast es mir versprochen..."
Sie schüttelte den Kopf und hörte erleichtert Herbst sagen: "Na, dann gehen vielleicht wir zwei."
"Danach wieder hier", schlug sie ihm vor und stürzte durch Wolken von Staub, Parfüm- und Bratwurstdunst zum Wettbüro. An die dreißig Männer füllten den Raum, der zu Saisonbeginn immer muffig roch. Die Experten – zumeist Rentner, Zigarre im Mundwinkel, Fernglas vor der Brust – tauschten Vermutungen aus. Vera Bald überflog den Stand der Vorwetten, hörte auch ein paar Tipps, schrieb sie ins Programmheft und wollte zu den Kassen, als ihr jemand den Weg vertrat.
"Hallo Klaus", rief sie, "noch nicht im Dress?"
"Ich bin erst im fünften Rennen dran."
"Aber hier stehst du schon fürs zweite."
"Das Pferd ist krank geworden. Trinken wir 'nen Kaffee?"
"Na gut, ganz auf die schnelle..."
Klaus hakte sich bei ihr ein. "Hübsch bist du wieder!" Er sah sehr jungenhaft aus mit seinen Sommersprossen. Wohltuend an den Jockeis war, dass sie Vera Bald niemals überragten.
"Ist Diamant heute in Form?", fragte sie, als der Kaffee kam.
"Würde ich nicht sagen... Romero hat Chancen."
"Und im dritten Rennen, wie steht's mit Undine?"
Klaus grinste, er war Jockei in Berlin-Hoppegarten, sie kannte ihn nur gutgelaunt. Ein rundum positiver Mensch, wenn Alexander den beschrieb, würde er das Soll an Optimismus bringen. – "Träumst du immer noch vom großen Geld?"
"Man gibt die Hoffnung ja nie auf."
"Genau das gilt auch für mich", sagte Klaus beziehungsvoll. "Undine scheint im Kommen, Platz ist sicher drin... Was denn, willst du schon weg?"
"Meine Tochter steht am Rondell. Dank dir schön!"
"Was machst du heute Abend? Im Interhotel gibt's 'ne Feier, Udo hat Berufsjubiläum."
Er folgte ihr über die Terrasse, erst vor den Kassen wurde sie ihn los. Sie entschloss sich, zwanzig Mark zu setzen. Alles hastete zum Start. Von weitem schon sah sie, wie Werner Herbst ihrer Tochter den Schuh zuband. Anke strahlte ihn an, die zwei bemerkten sie gar nicht. "Mutti, er hat mir von einer Eisprinzessin erzählt... Gehen wir morgen wieder aus?"
"Du verwöhnst sie, Werner." Vera Bald nahm sich vor, ihm daheim etwas vorzusetzen. Wirklich, das hatte er verdient. Und abends ins Hotel? Was für ein Tag! Von der Tribüne aus zeigte sie den beiden ein schwarzes Pferd. "Seht mal, das ist Romero."
"Kennst du sie alle?"
"Auf den hab ich gesetzt."
Herbst fragte: "Woher nimmst du den Mut?"
"Ich mache bloß die Augen auf am Rondell."
"Und was sieht man da?"
"Genug", antwortete sie atemlos, ein Prickeln in sich wie von aufperlendem Sekt. "Ob das Fell glänzt, wie nervös das Tier ist und so weiter... Ein Dutzend Indizien."
"Hut ab, du bist ja Kenner!"
"Früh übt sich..." Sein Erstaunen tat ihr gut, nur konnte sie's nicht auskosten, da unten tänzelten die Pferde, mühsam zurückgehalten. Die Glocke schrillte, es begann! Und schon verklang der Hufschlag, wurde es still, als hielte das Publikum den Atem an. Staub über fernem Getrommel. Kaum bog das Knäuel aus Mensch und Tier in die Kurve, da zog es Vera Bald vom Sitz. Sie vergaß den Begleiter, vergaß ihr Kind. Auf der Gegenbahn lag Romero, das lila Trikot des Reiters zeigte es, an dritter Stelle – vielleicht. Nun hielt sie es auf der Tribüne nicht mehr aus. Näher heran! Das Programmheft knitternd, lief sie treppabwärts zum Ziel.
"Na, Vera", tönte es neben ihr, "heute in Familie?" Keine Zeit, sich umzudrehen. Es war eine Frau, die gesprochen hatte, ihr kam es so vor, als werde da Herbst mit Woelk verwechselt – absichtlich oder nicht, ach, das war völlig gleich. Lederjacken, Kostüme, graue und beigefarbene Hüte nahmen ihr sekundenlang die Sicht. Sie zwängte sich zum Balken durch und rief: "Romero, komm doch, komm!"
Ein Windstoß blies ihr das rotbraune Haar in die Stirn, sie strich es aus den Augen. Jetzt, auf der Zielgeraden, schien es, als liege ihr Favorit schon auf Platz zwei. "Du schaffst es, du schaffst es", schrie sie wie im Fieber. "Romero...!"
Der lila Jockei schoss vorbei, das Gesäß hochgereckt, scharf bedrängt, doch als erster. Vera Bald jauchzte auf, sprang in die Luft – ihr Pferd hatte gesiegt! Sie blickte sich zur Tribüne um, winkte den beiden zu, lief ihnen entgegen. Ihr Herz hämmerte, sie selber bebte vor Glück.
Daheim zog Werner Herbst die Zeitschrift aus der Tasche, ohne den Wunsch, darin zu blättern. Die hatte Vera ihm geliehen, beim Kaffee in ihrem verkramten Zimmer, das zu sehen ihn gereizt hatte. Gerade das zwanglos Nachlässige der Dinge, mit denen Vera sich umgab, sagte ihm viel; mochten sie brüchig oder poliert, prunkvoll wie die Silberleuchter oder grell wie das Plakat eines Jazzkonzerts sein. Schon im Flur wiesen zwei Ölbilder auf den einstigen Wohlstand der Familie hin. Es gab auch Kitsch: Woelks Porträt, sein verschwimmendes Profil, tragisch geneigt, hinter einer taufeuchten, scharf fotografierten Rose... All das verströmte einen zarten Duft, der sich lockend mit Veras Person verband. Sogar die Unordnung machte ihm Hoffnung.
Das Heft hatte er höflich eingesteckt, doch las er nun mal keine Schnurren, schon gar nicht aus der Feder dieses Herrn. Herbst schätzte anderes, Gedanken über das Leben, die Natur, die Gesellschaft; bedauerlich, dass Leute wie Woelk sich dem entzogen. Nach manchem Versuch brachte Herbst es kaum mehr fertig, sich der Literatur des eigenen Landes zuzuwenden. Die heutigen Schreiber, so fand er, machten es sich zu leicht. Spielte ihr Buch anderswo oder in der Vergangenheit, so suchten sie die Schuld für Konflikte und Katastrophen stets im Gesellschaftlichen. War es aber ein Gegenwartsbuch, so genügte es ihnen, Strauchelnde durch gesunde Kräfte der Gesellschaft zu läutern, damit sie sich aufrichteten und ihr Schicksal meisterten.
Ein bemerkenswerter Widerspruch. In punkto Gegenwart rangen die Autoren um Formung und Besserung des einzelnen; dem wiesen sie, recht ehrenwert, mögliche Wege zum Glück. Was jedoch formte den Staat, besserte die Gesellschaft, das allgemeine Dach des Glücks? Deren Güte stand für sie fest, da gab es keine Entfaltung, beklemmend endgültig erschien das große Ganze in seiner erreichten Beschaffenheit. Und das verlieh den Büchern etwas Statisches, manchmal fast Lebloses – kurzum, sie enttäuschten ihn. Denn in Wirklichkeit stand gar nichts still, die Menschheit war in raschem Wandel, ein Sturmwind der Wissenschaften, des technologischen Fortschritts fegte sie in das elektronische Zeitalter. Und dieser Wind blies jedem ins Gesicht.
Herbst roch an dem Heft, es atmete dieselbe trockene Beschränktheit wie seine Fachbroschüren. Verflogen schon der Duft, der ihn verzaubert hatte. Während er nun das Abendbrot bereitete, hörte er sich leise singen. Die Maisonne sank auf die Gipfel des Parks, sie fiel zum Fenster herein, gefiltert durch das erste zarte Grün, und Herbst sang zu seiner Verwunderung eines der Kinderlieder, mit denen er Anke beruhigt hatte, wenn ihre Mutter mal wieder im Gewühl verschwand. Dieselben Lieder wie damals bei Ralf... Vera Bald heute, welche Offenbarung! Dort auf den Rennwiesen neben der Tribüne, zwischen schiebenden Menschen, hatte sie sich ihm neu gezeigt, als impulsiver Mensch, der alles um sich her vergessen kann. Es war packend gewesen, ihre Erregbarkeit zu sehen. Ihr ging es einzig um den Rausch! Um ungestört zu fiebern, sonderte sie sich gleich nach dem Start immer ab. Einmal war er ihr gefolgt und hatte sie vorn am Balken schreien hören, sie rief Pferdenamen, inbrünstig, unbeherrscht, schwitzte in der Sonne, atmete wild und stürzte in den Pausen zur Kasse, als könne sie's nicht erwarten, ihr Geld zu riskieren.
Tatsächlich gewann sie und kaum, soviel hatte er begriffen, dank ihrer Kennerschaft; obschon sie angab, die Gangart im Rondell, der Glanz des Fells oder der Zustand des Pferdeschwanzes (sie sagte Schweif) verrieten ihr sehr viel. Eher profitierte sie durch Winke, durch hingeworfene Sätze von den Jockeis. Ha, die kleinen Rennreiter, die da in den Pausen paradierten, gaben ihr ja Tipps! Vera kannte sie alle, diese bunt kostümierten Wichte, denen ein Mädchen willkommen zu sein schien, das genauso entflammt, gewichtlos und leichtfüßig war wie sie selber. Und auch sonst, so viele Freunde! Dauernd wurde sie gegrüßt, schwatzte mit jungen Männern oder Paaren, Partybekanntschaften, von denen sie selten zu sagen wusste, was die beruflich überhaupt taten... Herbst hatte gespürt, wie man ihn musterte dort an ihrer Seite, als hielte man ihn schon für den Nachfolger dieses Woelk, der er vielleicht einmal sein würde.
Nun griff Herbst doch zu dem Heft, was blieb denn sonst? Diese dickwandige Wohnung im Altbau teilte er mit Benno, einem Aspiranten, der freitags zu seiner Verlobten fuhr. Allein zu essen, das ertrug man nur lesend oder vorm Bildschirm; da aber lief der Samstagsschwachsinn aus sämtlichen Kanälen. Ansonsten lebte es sich hier bequem: Ruhe, Dusche, der Gasofen, die vielen Bücher, der Blick auf den Park, dahinter das Hochschulgelände, noch immer wachsend, schon bis zum Fluss. Der Rest, nämlich das Kino, die Kaufhalle, das Krankenhaus, die Sozialversicherung, die Garage seines Kleinwagens – alles ganz in der Nähe. Der Park war einst ein Friedhof gewesen und würde, rechtzeitig für ihn, wieder einer sein. Diese Punkte markierten seinen Lebenskreis; während die Hochschule wuchs, war sein Aktionsradius geschrumpft. Je älter man wurde, desto weniger Illusionen, desto enger der Kreis, abgezirkelt, festgelegt... Oft kam ihm das trostlos vor, heute nicht. Heute fühlte er, es war noch nicht zu spät.
Sein Blick fiel auf das Wort eines italienischen Chemikers namens Primo Levi. Niemals darf man sich wehrlos ausgeliefert fühlen: Die Natur ist unermesslich und komplex, aber nicht undurchdringlich für den Verstand: Man muss um sie herumgehen, sie reizen, sondieren, den Zugang zu ihr suchen oder ihn sich selbst schaffen. Gut und schön, das Deutungsbedürfnis, der trotzige Optimismus des Naturwissenschaftlers. Sehr passend, in der Welt der Dinge, da teilte Herbst ihn unbedingt. Aber galt es auch für Menschen? Das erschien ihm doch zweifelhaft. Mochte es anderswo vorwärts gehen – hier, an diesem Ort, bewegte sich sehr wenig.
Wenn er jetzt nur an übermorgen dachte, an die Montagssitzung in der Hochschule, sank ihm schon der Mut. Die Lethargie der letzten Zeit war schlimm, all der Stumpfsinn, das zwanghafte Verwalten dahinsiechender oder bereits wegsterbender Projekte. Oft war ihm da, als führe er einen endlosen Krieg gegen akademische Windmühlenflügel, gegen ein ungeheures Heer, das ihn, gepanzert mit Tradition, durch die schiere Zahl erdrückte. Es bestand ja aus hunderttausend Schnecken, deren Gefährlichkeit darin lag, dass sie allmählich auch ihn zu ihresgleichen machten. Wer ein Gefecht nach dem anderen verlor, den ergriff doch Berührungsangst, der zog die Fühler ein und wich ins Haus zurück. Allenfalls malte er noch Ornamente aufs Konferenzpapier oder sonderte, dem Schneckenschleim gleich, Witze ab, für das Ohr des Nachbarn. Dieser Trott, der schon Stillstand war, der Beginn einer völligen Versumpfung!